Kapitel 4 Analysis 143 Kapitel 4.1 Körper der reellen Zahlen 144 Wir kennen schon den Körper Q der rationalen Zahlen: a Q = { : a, b ∈ Z, b b 6= 0}. Die natürliche Ordnung É auf Q ist eine totale Ordnung. Überdies gilt folgendes für alle x, y, z ∈ Q: xÉy x É y, 0 É z ⇒ x+z É y+z ⇒ xz É yz Man sagt, dass (Q, É) ein geordneter Körper ist. 145 Für die Zwecke der Analysis ist Q nicht geeignet. p Bekanntlich bezeichnet x = 2 eine positive Zahl mit x2 = 2. Allerdings ist x nicht rational. (Satz 1.4). Es scheint, dass Q “lückenhaft” ist. Durch Übergang von Q nach R kann dieser Mangel behoben werden. 146 Die reellen Zahlen Definition 4.1 Die reellen Zahlen sind ein Körper (R, +, ·) zusammen mit einer Anordnung, gegeben durch den Positivitätsbereich R+ ⊆ R. Hierfür gelten die folgenden Axiome (A) Anordnungsaxiome (A.1) Für jedes x ∈ R gilt genau eine der Aussagen x ∈ R+ , x = 0, −x ∈ R+ (A.2) Wenn x, y ∈ R+ , dann ist auch x + y ∈ R+ (A.3) Wenn x, y ∈ R+ , dann ist auch x · y ∈ R+ (V) Vollständigkeitsaxiom Jede nicht leere und nach oben beschränkte Teilmenge von R besitzt eine kleinste obere Schranke. Wir zeigen nicht die Existenz von R. 147 Definition 4.2 Wir definieren für x, y ∈ R x > y genau dann, wenn x − y ∈ R+ . Weiterhin definieren wir x Ê y, wenn x > y oder x = y. Ferner definieren wir x < y, wenn y > x und x É y, wenn y Ê x. Satz 4.3 i) Die Relation É ist eine totale Ordnung ii) x < y impliziert x + z < y + z iii) x < y und z É w impliziert x + z < y + w iv) x < y und z > 0 impliziert x · z < y · z v) x < y impliziert −x > −y vi) x < y und z < 0 impliziert x · z > y · z 148 Was bedeutet das Vollständigleitsaxiom? Definition 4.4 (Obere Schranke, Supremum) Sei M ⊆ R und M 6= ;. Eine Zahl β ∈ R a heißt obere Schranke von M, wenn x É β für alle x ∈ M gilt. Eine Zahl β∗ heißt kleinste obere Schranke oder Supremum von M, wenn β∗ É β für alle oberen Schranken β von M. a β muss nicht aus M sein 149 Was ist jetzt p 2 Betrachte M ⊆ R mit M = {x ∈ R : x2 É 2}. M ist nicht leer, da 0 ∈ M. M ist nach oben beschränkt, für alle x ∈ M auch x É 2 folgt. Satz 4.5 Sei β eine kleinste obere Schranke von M, dann gilt β2 = 2 150 Definition 4.6 Sei M ⊆ R. Wir definieren x = max(M), wenn x ∈ M und x Ê m für alle m ∈ M gilt. Wir definieren x = min(M), wenn x ∈ M und x É m für alle m ∈ M gilt. Definition 4.7 Der Absolutbetrag von x ∈ R ist definiert als |x| := max{x, −x} 151 Lemma 4.8 Für x, y ∈ R gilt (1) |x| Ê 0. Es gilt |x| = 0 ⇔ x = 0. (2) |xy| = |x| · |y|, | xy | = |x| |y| falls y 6= 0 (3) (Dreiecksungleichung) |x + y| É |x| + |y| (4) | |x| − |y| | É |x − y| 152 Kapitel 4.2 Der Begriff des Grenzwerts 153 Literaturhinweis Ï Michael Spivak, Calculus, Kapitel 21 Ï Dirk Hachenberger, Mathematik Für Informatiker, Kapitel 13 Beide Bücher finden Sie in meinem Seminarapparat in der Bibliothek 154 Definition 4.9 Unter einer Folge reeller Zahlen versteht man eine Abbildung N → R, n 7→ an von der Menge der natürlichen Zahlen N in die Menge der reellen Zahlen R. Verschiedene Schreibweisen sind in Gebrauch: (an )n∈N , (an ), oder a0 , a1 , a2 , . . . Man nennt an das Folgenglied zum Index n oder n-tes Folgenglied. Manchmal beginnt die Folge mit dem Index 1 statt 0. 155 Betrachte die Zahlenfolge a1 = 1, 1 a2 = , 2 1 1 a3 = , . . . , an = , . . . . 3 n Keines der Folgenglieder an ist Null, aber mit wachsendem Index n kommen die Folgenglieder an immer näher an die Null heran. Man sagt: die Zahlen an konvergieren (oder streben) mit wachsendem n gegen 0 und schreibt lim an = 0 n→∞ oder an → 0 (n → ∞). 156 an 1 b b ε = 1/3 b b 0 −ε = −1/3 1 2 3 4 ε b b b b b 5 6 7 8 9 b n −1 Die Folgenglieder an = 1/n, die in dem grünen Streifen liegen, haben Abstand É ε = 1/3 von 0. Dies ist ab dem dritten Folgenglied der Fall. 157 Folgendes stellen wir fest: In jedes noch so kleine Intervall um 0 fallen alle Folgenglieder an mit Ausnahme endlich vieler hinein. Tatsächlich gilt für jede Toleranz ε > 0, dass |an | < ε, sobald n > ε1 . Somit existiert für jede Toleranz ε > 0 eine Schwelle nε (nämlich nε = ⌈1/ε⌉ + 1), so dass für jeden Index n Ê nε gilt, dass |an | < ε. Dieser Sachverhalt lässt sich mittels Quantoren folgendermassen knapp aufschreiben: ∀ε > 0 ∃nε ∀n Ê nε |an | < ε. 158 Die Archimedische Eigenschaft der reellen Zahlen In dem vorangehenden Argument haben wir stillschweigend angenommen, dass es für jedes ε > 0 aus den reellen Zahlen eine natürliche Zahl gibt, die mindestens den Wert 1/ε hat. Mit anderen Worten, kein 1/ε mit ε > 0 ist eine obere Schranke von N. Das wollen wir im folgenden noch beweisen. Satz 4.10 (Archimedische Eigenschaft) N ist nicht beschränkt. Beweis. Wenn N beschränkt ist, dann existiert nach dem Vollständigkeitsaxiom 4.1 eine kleinste obere Schranke β∗ von N. Allerdings ist β∗ − 1 keine obere Schranke von N. Daher existiert eine natürliche Zahl n ∈ N mit n > β∗ − 1. Die Zahl n + 1 ist auch eine natürliche Zahl. Es gilt aber n + 1 > β∗ . Ein Widerspruch! 159 Die zentrale Definition der Konvergenz und des Grenzwertes Definition 4.11 Eine Folge reeller Zahlen an konvergiert gegen die Zahl a, falls ∀ε > 0 ∃nε ∀n Ê nε |an − a| < ε. Die Zahl a heisst Grenzwert der Folge, und man schreibt a = lim an . n→∞ Folgen, die einen Grenzwert haben, heissen konvergent, andernfalls divergent. Bemerkung 9 Der Grenzwert einer Folge ist eindeutig bestimmt, falls er existiert. 160 Erläuterung an einem Bild an b ε b a b b b b b b b b 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 n Für alle n Ê 4 hat an Abstand kleiner als ε zu a. Setze nε := 4. Für alle n Ê nε gilt |an − a| < ε. 161 Beispiel 4.12 Betrachte die Zahlenfolge an = (−1)n . an 1 a 0 b 1 −1 b 2 b 3 b 4 b 5 b 6 b 7 8 n b Diese folge ist divergent. Für jede Zahl a ∈ R gilt max{|1 − a|, | − 1 − a|} Ê 1. Da 1 = an , wenn n gerade und −1 = an , wenn n ungerade gibt es für ε > 0 mit ε < 1 daher kein nε ∈ N mit |an − a| < ε für alle n Ê nε . 162 Beispiel 4.13 1. limn→∞ (−1)n /n = 0 (Oszillation) an konvergiert gegen 0. Beweis: Sei ε > 0. Wähle wieder nε = ⌈1/ε⌉ + 1. Dann gilt für alle n Ê nε 1/n É 1/(⌈1/ε⌉ + 1) < ε. Also gilt für n Ê nε |an − 0| = |an | = 1/n < ε. 2. Konstante Folgen an = β, n ∈ N sind konvergent. 163 Satz 4.14 (Bernoullische Ungleichung) Für h ∈ R, h > −1 und n ∈ N gilt: (1 + h)n Ê 1 + nh. Beweis. Induktion über n. n = 0: (1 + h)0 = 1 Ê 1 + 0 · h n > 0: (1 + h)n = IV (1 + h)n−1 · (1 + h) | {z } Ê0 Ê (1 + (n − 1) · h)(1 + h) Ê 1 + n · h. = 1 + n · h + (n − 1) · h2 | {z } Ê0 164 Beispiel 4.15 (Geometrische Folge) Sei q ∈ R, |q| < 1. Dann gilt lim qn = 0. n→∞ Analog wie oben zeigt man, dass die geometrische Folge (qn ) für |q| > 1 unbeschränkt ist. Insbesondere ist die geometrische Folge dann nicht konvergent. 165 Definition 4.16 Eine gegen Null konvergente Folge nennt man auch eine Nullfolge. Definition 4.17 Eine Folge (an ) heißt beschränkt, falls es eine Schranke M ∈ R gibt, so dass |an | É M für alle n gilt. Andernfalls heißt die Folge unbeschränkt. Satz 4.18 Wenn an eine konvergente Folge ist, dann ist an beschränkt. 166 Beweis Satz 4.18. Sei a ∈ R der Grenzwert von an . Für ε = 1 gibt es ein n1 ∈ N mit |an − a| < 1 für alle n ∈ N mit n Ê n1 . Nach Satz 4.8.(4) gilt somit |an | − |a| É |an − a| < 1 und folglich |an | < 1 + |a| für alle n Ê n1 . Setze M = max{|a0 |, |a1 |, . . . , |an1 −1 |, 1 + |a|}. Es gilt für alle n ∈ N |an | É M. Also ist an beschränkt. 167 Definition 4.19 Eine Folge reeller Zahlen an heisst monoton wachsend falls an É an+1 für alle n gilt. Die Folge an heisst monoton fallend falls an Ê an+1 für alle n gilt. Satz 4.20 i) Eine beschränkte und monoton wachsende Folge ist konvergent. ii) Eine beschränkte und monoton fallende Folge ist konvergent. 168 Beweis Satz 4.20. Wir zeigen i). Die Aussage ii) zeigt man ähnlich. Die Menge U = {an | n ∈ N} ⊆ R ist nicht leer und nach oben beschränkt. Sei β∗ eine kleinste obere Schranke. Wir zeigen limn→∞ an = β∗ . Sei ε > 0. Da β∗ − ε keine obere Schranke von U existiert ein n′ ∈ N mit an′ > β∗ − ε. Setze nε := n′ . Wenn n Ê nε , dann gilt anε É an und somit β∗ − ε < an ⇔ −(β∗ − ε) > −an Es folgt |an − β∗ | = < = Damit ist limn→∞ an = β∗ gezeigt. β ∗ − an β∗ − (β∗ − ε) ε. 169 Beispiel 4.21 Es gilt lim n→∞ p n n = 1. 170 Kapitel 4.3 Rechenregeln für Grenzwerte 171 Satz 4.22 Seien (an ) und (bn ) konvergente Folgen mit den Grenzwerten a bzw. b. Dann gilt: i) (an + bn ) ist konvergent mit Grenzwert a + b. ii) (an · bn ) ist konvergent mit Grenzwert a · b. iii) (an /bn ) ist konvergent mit Grenzwert a/b, falls b 6= 0. 172 Grenzwerte sind kompatibel mit der Ordnung der reellen Zahlen, wie der folgende Satz zeigt. Satz 4.23 Seien (an ) und (bn ) konvergente, reelle Zahlenfolgen mit den Grenzwerten a bzw. b. Gilt an É bn für alle bis auf endlich viele n, dann folgt a É b. Beweis Übung. 173 Nützlich sind ferner folgende, leicht zu beweisende Aussagen. Satz 4.24 1. Gilt limn→∞ an = a, so folgt lim |an | = |a| n→∞ 2. Gilt limn→∞ an = 0 und ist (bn ) beschränkt, so folgt limn→∞ an bn = 0. 3. (Eingabelung) Gilt an É xn É bn für alle n und lim an = lim bn = x, n→∞ n→∞ so folgt lim xn = x. n→∞ 174 Beweis 1. Sei ε > 0. Wir müssen ein nε bestimmen mit ||an | − |a|| < ε für alle n Ê nε . Da an gegen a konvergiert, gibt es N ∈ N mit |an − a| < ε für alle n Ê N. Es gilt ||an | − |a|| É |an − a| < ε für alle n Ê N. Setze nε := N. 2. Sei ε > 0. Jetzt sollte Ihnen klar sein, dass wir ein nε ∈ N suchen mit |an · bn − 0| < ε für alle n Ê nε . Sei M ∈ R+ mit |bn | < M für alle n ∈ N. Da an gegen 0 konvergiert gibt es ein N ∈ N mit ∀n Ê N |an − 0| = |an | < ε/M Es gilt für alle n Ê N |an · bn − 0| = |an · bn | = |an | · |bn | < ε/M · M = ε. Setze nε := N. 175 Weiter mit Beweis von Satz 4.24. 3) a Sei ε > 0. Es gibt ein N ∈ N mit |an − x| < ε und |bn − x| < ε für n Ê N. Es gilt an − x É xn − x É bn − x. Sei n Ê N. Wenn xn − x Ê 0, dann gilt auch bn − x Ê 0 und |xn − x| É |bn − x| < ε. Wenn xn − x < 0, dann gilt |xn − x| = −(xn − x) É −(an − x) = |an − x| < ε. Setze nε := N. a Wie in der Vorlesung erwähnt war der Beweis aus der Vorlesung unvollständig. Wir können nicht Satz 4.23 anwenden, da wir noch zeigen müssen, dass xn konvergiert. 176 Definition 4.25 Eine Folge reeller Zahlen an heisst uneigentlich konvergent gegen ∞, wenn ∀M ∃nM ∀n Ê nM an > M. In Worten: Für jede Schranke M gibt es eine Schwelle nM , so dass an > M für alle Indizes n Ê nM gilt. Man schreibt dann limn→∞ an = ∞. 177 Beispiel 4.26 1. limn→∞ n = ∞. 2. Die Folge ((−1)n n) ist nicht uneigentlich konvergent. Die Rechenregeln von vorher lassen sich bei geeigneter Festlegung des Rechnens mit dem Symbol ∞ auf uneigentlich konvergente Folgen erweitern. Wir gehen darauf nicht im Detail ein. Beispiel 4.27 Ist limn→∞ an = ∞ und (bn ) eine beschränkte Folge, so gilt limn→∞ (an + bn ) = ∞. Wenn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, verstehen wir unter Konvergenz immer eigentliche Konvergenz. 178 Kapitel 4.4 Teilfolgen und der Satz von Bolzano-Weierstrass 179 Definition 4.28 Eine Teilfolge von an ist eine Folge der Form an1 , an2 , an3 , . . . wobei die nj natürliche Zahlen sind mit n1 < n2 < n3 < · · · Definition 4.29 Der Grenzwert einer konvergenten Teilfolge von an heißt Häufungspunkt von an . 180 an b b b 1 0 b 1 −1 b 2 3 b 4 5 b 6 7 8 b 9 n b Die Teilfolge a2 n von an = (−1)n + 1/n konvergiert gegen 1 1 und −1 sind Häufungspunkte von an . 181 Definition 4.30 Eine Zahl n ∈ N heißt Peakpoint der Folge an , wenn für alle m > n am < an gilt. 182 an 4 b b 3 b b b b 2 b b b 1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 n −1 2 und 6 sind Peakpoints. 183 Lemma 4.31 Jede Folge an hat eine monoton wachsende oder monoton fallende Teilfolge. Beweis. Fall 1: Die Folge an hat unendlich viele Peakpoints. Seien dies die Zahlen n1 < n2 < n3 < · · · . Es gilt an1 > an2 > an3 > · · · Folglich ist ank eine monoton fallende Teilfolge. Fall 2: Die Folge an hat endlich viele Peakpoints. Sei n1 ∈ N größer als alle Peakpoints. Da n1 kein Peakpoint gibt es n2 > n1 mit an2 Ê an1 . Da n2 kein Peakpoint gibt es n3 > n2 mit an3 Ê an2 . Auf diese Art und Weise konstruieren wir eine monoton wachsende Teilfolge ank . 184 Der Satz von Bolzano-Weierstrass Satz 4.32 (Satz von Bolzano-Weierstrass) Jede beschränke Folge hat eine konvergente Teilfolge. Beweis. Sei an eine beschränkte Folge. Nach Lemma 4.31 hat an eine Teilfolge, die Monoton wachsend oder fallend ist. Nach Satz 4.20 ist diese Teilfolge konvergent. 185 Weierstrass * 31. Oktober 1815 in Ostenfelde bei Ennigerloh/Münsterland † 19. Februar 1897 in Berlin 186 Kapitel 4.5 Die Eulersche Zahl 187 Als Anwendung für die Erzeugung einer nicht vornherein charakterisierbaren Zahl betrachten wir die Summe Sn = 1 + 1 1 1 + +... + . 1! 2! n! Die Folge (Sn ) ist offensichtlich monoton wachsend. Ausserdem ist sie beschränkt, denn 1 1 1 1 + + . . . + n−1 = 1 + 2 − n−1 < 3. 2 22 2 2 Gemäss dem vorigen Satz existiert der Grenzwert Sn É 1 + 1 + e := lim Sn . n→∞ 188 Definition 4.33 Diese Zahl ³ 1 1 1´ e := lim 1 + + + . . . + ≈ 2.71828 . . . n→∞ 1! 2! n! heisst Eulersche Zahl. Wir geben eine andere Charakterisierung der Eulerschen Zahl. Satz 4.34 Es gilt ³ 1 ´n e = lim 1 + . n→∞ n 189 Kapitel 4.6 Das Konvergenzkriterium von Cauchy 190 Das folgende Cauchy-Kriterium garantiert die Konvergenz einer Folge unter Bedingungen, die sich überprüfen lassen, ohne dass man den Grenzwert kennt. Dieses Kriterium ist ein grundlegendes Werkzeug der Analysis. Definition 4.35 Eine Folge (an ) heisst Cauchyfolge, wenn ∀ε > 0 ∃nε ∀m, n Ê nε |am − an | < ε. Anschaulich besagt dies, dass sich die Werte der Zahlenfolge nur noch in einem kleinen Spielraum bewegen können, der beliebig klein wird, wenn der Index genügend gross gewählt ist. Satz 4.36 ( Cauchy-Kriterium ) Eine Folge (an ) ist genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchyfolge ist. 191 Beweis Satz 4.36 Sei an konvergent mit Grenzwert a und sei ε > 0. Wir suchen ein nε mit |am − an | < ε für alle m, n Ê nε . Da limn→∞ an = a existiert ein N mit |an − a| < ε/2 für alle n Ê N. Somit gilt für alle m, n Ê N |am − an | = |am − a + a − an | = |am − a − (an − a)| É |am − a| + |(an − a)| Dreiecksungl. < = ε/2 + ε/2 ε. Setze nε := N. 192 Beweis Satz 4.36 (Rückrichtung) Wir zeigen zunächst, dass jede Cauchy-Folge beschränkt ist. Mit ε = 1 ergibt die Definition der Cauchy-Folge, dass es ein n1 gibt mit |am − an | < 1 für alle m, n Ê n1 . Insbesondere gilt dann |am − an1 | < 1 für alle m Ê n1 . Also gilt |am | < 1 + |an1 | für alle m Ê n1 und da es nur endlich viele Folgenglieder a1 , . . . , an1 −1 vor an1 gibt, ist somit an beschränkt. Mit Satz 5.7 hat an also eine konvergente Teilfogle ank . Sei a der Grenzwert dieser Teilfolge. Sei nun ε > 0 gegeben. Wir suchen ein nε mit |an − a| < ε für alle n Ê nε . 193 Weiter mit Beweis Satz 4.36 (Rückrichtung) Da a eine Häufungspunkt von an gibt es für jedes ε′ > 0 unendlich viele Folgenglieder die Abstand < ε′ von a haben. Insbesondere gilt das für ε/2. Es gibt also unendlich viele n ∈ N mit |an − a| < ε/2. Da an Cauchy-Folge gibt es ein N mit |am − an | < ε/2 für alle m, n Ê N. (1) Es gibt mit obiger Eigenschaft ein n∗ Ê N mit |an∗ − a| < ε/2. (2) 194 Ende Beweis Satz 4.36 (Rückrichtung). Aus (1) und (2) schließen wir |am − a| = |(am − an∗ ) + (an∗ − a)| É |(am − an∗ )| + |an∗ − a| Dreiecksungl. < ε/2 + ε/2 = ε. Wir setzen also nε := N. 195 Kapitel 4.7 Die Landauschen Symbole 196 Zum Vergleich der Grössenordnung des Wachstums von Folgen verwendet man die folgende Notation. Definition 4.37 (Gross Oh) Seien f , g : N → R. Man schreibt f (n) = O(g(n)) (n → ∞) falls N ∈ N und C ∈ R>0 existieren, so dass ∀n Ê N |f (n)| É C |g(n)|. Bedeutung f (n) wächst höchstens so schnell wie g(n). 197 Diese nützliche Schreibweise wird in der theoretischen Informatik häufig verwendet (asymptotischer Vergleich von Rechenzeit, Speicherplatz etc. in Abhängigkeit der Eingabegrösse n). Indem man den Wert der Konstanten C ignoriert, vereinfachen sich Rechnungen oft erheblich. Beispiel 4.38 1. k = 21 n(n + 1) = O(n2 ) “höchstens quadratisches Wachstum” Pn k=1 2. Sei f (n) = 3n3 − 2n + 7. Es gilt f (n) = O(n4 ) f (n) = O(n3 ) aber nicht f (n) = O(n2 ) 3. Der Euklidische Algorithmus durchläuft O(size(a)) viele Iterationen durch die While Schleife, wobei size(a) die Anzahl der Bits in der Binärdarstellung von a. 198 Häufig verwendet man auch folgende Schreibweise f (n) = g(n) + O(h(n)) (n → ∞) Dies drückt folgendes aus: es gibt eine Funktion k : N → R mit f (n) = g(n) + k(n) für n ∈ N und k(n) = O(h(n)) (n → ∞) Beispiel 4.39 1 n(n + 1) = 12 n2 + O(n) 2 199 Definition 4.40 (klein Oh) Seien f , g : N → R. Man schreibt f (n) = o(g(n)) (n → ∞) f (n) falls limn→∞ g(n) = 0. Bedeutung f (n) wächst langsamer als g(n). Beispiel 4.41 Ï n = o(n2 ) Ï 1 n(n + 1) = 1 n2 + 1 n = 1 n2 + o(n2 ) 2 2 2 2 Ï Ï mit einer ähnlichen Interpretation wie oben p n + 3 n = n + o(n) n log n = o(n2 ) (vgl. später) 200 Die Schreibweise f (n) = O(g(n)) ist eine obere Abschätzung des Wachstums von f . Eine untere Abschätzung wird wie folgt geschrieben. Definition 4.42 (Gross Omega) Seien f , g : N → R. Man schreibt f (n) = Ω(g(n)) (n → ∞) falls N ∈ N und c ∈ R>0 existieren, so dass ∀n Ê N |f (n)| Ê c |g(n)|. Bedeutung f (n) wächst mindestens so schnell wie g(n). Bemerkung 10 f (n) = Ω(g(n)) ist äquivalent zu g(n) = O(f (n)) 201 Definition 4.43 (Theta) Seien f , g : N → R. Man schreibt f (n) = Θ(g(n)) (n → ∞) falls f (n) = O(g(n)) und g(n) = O(f (n)) (n → ∞) Bedeutung f (n) wächst genau so schnell wie g(n). Beispiel 4.44 1 4 n − 3n3 + 5n2 − 7n − 1 = Θ(n4 ) 2 202