Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse - Max

Werbung
Mathey, Emily et al. | Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Tätigkeitsbericht 2007
Immun- und Infektionsbiologie/MedizinNeurobiologie
Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Mathey, Emily; Derfuss, Tobias; Storch, Maria; Williams, Kieran; Hales, Kimberly; Woolley, David;
Al-Hayani, Abdulmonem; Davies, Stephen; Rasband, Matthew; Olsson, Tomas; Moldenhauer, Anja;
Velhin, Sviataslau; Hohlfeld, Reinhard; Meinl, Edgar; Linington, Christopher;
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Arbeitsbereich – Klinische Neuroimmunologie (Hohlfeld, Abteilung Neuroimmunologie)
Abteilung – Neuroimmunologie (Wekerle)
Korrespondierender Autor
Meinl, Edgar
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Wenn das Immunsystem anstatt Viren und Bakterien Zellen des eigenen Körpers angreift, so hat dies
meist Folgen. Im Fall der Multiplen Sklerose ist das Ziel dieser fehlgeleiteten Immunabwehr das
zentrale Nervensystem. Jetzt wurde ein Angriffsmechanismus dieser Krankheit entdeckt, durch den
Antikörper an die Nervenzellen andocken können und so zu ihrer Schädigung führen. Die Erkenntnisse könnten zu Therapieansätzen für Patienten führen.
Abstract
The function of the immune system is to defend against intruders such as viruses and bacteria. In case
of Multiple Sclerosis, however, the immune system attacks the central nervous system. A newly found
mechanism of this disease now reveals how the immune system’s antibodies can attack nerve cells
directly. The results could lead to new therapy approaches for some patients.
MS: Krankheit mit den tausend Gesichtern
Lähmungen, Empfindungsstörungen, Sehstörungen – nicht umsonst wird Multiple Sklerose (MS) auch
„die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt. Allein in Deutschland sind schätzungsweise
100.000 Menschen betroffen – und bei jedem von ihnen kann die Krankheit anders in Erscheinung
treten. Ihren Verlauf langfristig vorherzusagen ist deshalb meist schwierig. Eines haben jedoch alle
Patienten gemein: Durch den Angriff der Abwehrzellen des eigenen Immunsystems verlieren Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark ihre Umhüllung aus Myelin. Langfristig werden die so geschädigten Nervenzellen zunehmend geschwächt und anfällig für weitere Angriffe. Moderne bildgebende
Verfahren und mikroskopische Untersuchungen konnten kürzlich zeigen, dass es im Verlauf der
Multiplen Sklerose außerdem zu einer Zerstörung der Nervenzell-Axone kommt. Axone sind die
„Verbindungskabel“, die Informationen zwischen Nervenzellen und ihren Kommunikationspartnern
wie Organen und Geweben weiterleiten. Wissenschaftler sind sich nun einig, dass die irreversible
Zerstörung dieser Axone die Ursache für bleibende Behinderungen der Patienten ist. Interessanterweise sind auch Axone mit intaktem Myelinmantel von der Zerstörung betroffen.
© 2007 Max-Planck-Gesellschaft
www.mpg.de
Tätigkeitsbericht 2007
Mathey, Emily et al. | Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Suche nach Tätern und Opfern
Um den Ablauf der fehlgeleiteten Immunantwort bei Multiple Sklerose-Patienten besser zu verstehen,
haben sich Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und des Instituts für klinische
Neuroimmunologie (LMU) zusammen mit einem internationalen Team auf eine detaillierte Suche nach
angreifenden Antikörpern und ihren Zielstrukturen im Nervensystem gemacht [1]. Am Anfang dieser
Untersuchung stand die Frage, welche Myelinbestandteile von Antikörpern im Blut erkannt werden.
Zur Beantwortung dieser Frage reinigten die Wissenschaftler zunächst das Myelin. Hieraus konnten
dann Glykoproteine isoliert werden. Diese Proteine sind typischerweise an der Außenseite von Zellen
angebracht und sollten daher als mögliche Zielstrukturen für Antikörper zugänglich sein. Ausgestattet
mit diesem Material konnten die Wissenschaftler Antikörper mit hoher Empfindlichkeit nachweisen.
Spannende Ergebnisse ließen da nicht lange auf sich warten: Etwa 20 % der Multiple SklerosePatienten hatten Antikörper in ihrem Blut gegen ein Protein mit einem Molekulargewicht von etwa
150 kDa. Zur Identifizierung dieses Proteins kombinierten die Forscher verschiedene Trenn- und
Nachweisverfahren wie die zweidimensionale Gelelektrophorese und die Massenspektrometrie. Am
Ende war klar, dass es sich bei diesem Protein um Neurofascin handelt (Abb. 1).
Abb. 1: Dem Unbekannten auf der Spur. Zur Identifizierung des neu isolierten Proteins trennten die Forscher
das Protein-Gemisch mithilfe von zweidimensionalen Gelelektrophoresen in seine Bestandteile. Links sind nach
Silberfärbung die aufgetrennten Proteine sichtbar. Die schwarzen Flecken rechts (im Western Blot Verfahren
markiert) zeigen an, dass diese Proteine durch Antikörper von Patienten erkannt werden. Die massenspektrometrische Analyse der links in dem silbergefärbten Gel eingekreisten Spots erlaubte es, das unbekannte Protein
als Neurofascin zu identifizieren.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie/Meinl
www.mpg.de
© 2007 Max-Planck-Gesellschaft
Mathey, Emily et al. | Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Tätigkeitsbericht 2007
Die zwei Gesichter des Neurofascins
Dies war ein sehr spannender Fund, denn Neurofascin kommt nicht nur als Bestandteil des MyelinMantels vor (NF155-Form), sondern ist in einer zweiten Form auch direkt auf der Oberfläche der
Nervenfasern zu finden (NF 186-Form). Die Wissenschaftler, die ja zunächst nach Angriffsstrukturen
im Myelin-Mantel gesucht hatten, fanden sozusagen als Bonus gleichzeitig ein Zielprotein auf der
Nervenfaser. Auch in Bezug auf die Zugänglichkeit für Antikörper erwies sich die Nervenfaser-Form
als sehr interessant. Während die Neurofascin-Form NF155 versteckt an der Kontaktstelle zwischen
Myelin-Mantel und Nervenfaser sitzt, kommt NF186 an den Aussparungen des Myelinschilds, den
Ranvier’schen Schnürringen, vor (Abb. 2). Diese myelinfreien Schnürringe treten in etwaigem
Millimeterabstand entlang der Nervenfaser auf und sorgen für eine deutlich schnellere und effizientere
Impulsübertragung entlang der Nervenfasern.
Abb. 2: Die zwei Formen des Neurofascins. Nervenfasern sind fast vollständig von einem Myelin-Mantel
umgeben – aber eben nur fast, denn in etwaigem Millimeterabstand ist der Mantel durch kleine Lücken, die
Ranvier’schen Schnürringe, unterbrochen. Die Graphik verdeutlicht, dass die Myelin-Form des Neurofascins
(NF155) nach außen geschützt, während NF186 frei zugänglich in der Oberfläche der Nervenfaser verankert
ist. NF186 sorgt an den Ranvier‘schen Schnürringen für eine Ansammlung von Na-Kanälen, die dort für die
Nervenleitung gebraucht werden.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie/Schorner
Angriff an der Schwachstelle
Doch wie bedeutend war dieser Fund, dass Antikörper Neurofascin im Reaganzglas erkennen und
binden können? Um diese Frage zu beantworten, musste zunächst geklärt werden, welche der
Neurofascin-Formen von Antikörpern erkannt werden und welche Folgen solch eine Bindung hat.
Laboruntersuchungen ergaben, dass Antikörper aus dem Blut von Multiple Sklerose- Patienten
tatsächlich beide Neurofascin-Formen erkennen und binden können. Im gesunden Körper versperrt
der Myelin-Mantel jedoch den Zugang zu der dort eingebetteten NF155-Form. Ein Angriff an dieser
Stelle ist somit erst möglich, nachdem die Barriere schon durch andere Mechanismen geschädigt
wurde.
© 2007 Max-Planck-Gesellschaft
www.mpg.de
Tätigkeitsbericht 2007
Mathey, Emily et al. | Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Anders verhält es sich mit der NF186-Form, die direkt auf der Oberfläche der Nervenzelle an den
Ranvier’schen Schnürringen verankert ist. Hier ist Neurofascin nur noch durch die Blut-Hirn-Schranke
vor einem Angriff der entsprechenden Antikörper geschützt. Doch diese Schranke wird in einem
der frühen Stadien der Multiplen Sklerose porös und damit für Antikörper durchlässig. Antikörper
können sich so direkt an das Schnürring-Neurofascin anlagern (Abb. 3), was im Modellversuch zu
einer Blockierung der Nervenleitung, einer Schädigung der Axone und einer generellen Verstärkung
der Krankheitssymptome führte. Während die Ranvier’schen Schnürringe somit im gesunden
Organismus zu einer effizienteren Arbeit der Nerven führen, sind sie die Achillesferse der Nervenfasern bei fehlgeleiteten Immunangriffen.
Abb. 3: Neuer Angriffsmechanismus der Multiplen Sklerose. Im Bild sind die an den Schnürring angrenzenden
Abschnitte des Myelin-Mantels rot gefärbt. Sehr gut ist nun im Fluoreszensmikroskop zu sehen, dass die
grün markierten Antikörper an Neurofascin binden – und zwar genau zwischen den roten Myelin-Abschnitten
an den Ranvier’schen Schnürringen. Durch diesen Angriff werden die Nervenzellen geschädigt und die
Nervenleitung gestört.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie/Meinl
www.mpg.de
© 2007 Max-Planck-Gesellschaft
Mathey, Emily et al. | Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
Tätigkeitsbericht 2007
Möglicher Therapieansatz?
Die direkte Schädigung der Nervenzellen durch Antikörper offenbart einen völlig neuen Angriffsmechanismus der komplizierten Krankheit Multiple Sklerose und könnte zum Krankheitsbild einiger
Patienten beitragen. Zurzeit entwickeln die Wissenschaftler daher ein Testverfahren, mit dem sich die
Konzentration der Antikörper gegen Neurofascin im Blut ermitteln lässt. Dadurch könnte dann untersucht werden, ob ein Vorkommen oder eine Akkumulation von Neurofascin-Antikörpern tatsächlich
mit einem besonders schweren Verlauf der Krankheit beim Menschen korreliert. Langfristig könnte
dann zum Beispiel durch das Entfernen dieser Antikörper aus dem Blut ein neuer Therapieansatz
entstehen.
Literaturhinweise
[1] E. Mathey*, T. Derfuß*, M. Storch, K. Williams, K. Hales, D.Woolley, A. Al-Hayani, S. Davies,
M. Rasband, T. Olsson, A. Moldenhauer, S. Velhin, R. Hohlfeld, E. Meinl*, C. Linington*
(*Diese Autoren haben zu gleichen Teilen beigetragen):
Neurofascin as a novel target for autoantibody-mediated axonal injury.
The Journal of Experimental Medicine 204, 2363–2372.
Drittmittelfinanzierung
Multiple Sclerosis Society (CL), DFG (SFB 571), Gemeinnützige Hertie Stiftung,
Verein zur Therapieforschung für MS-Kranke, Hermann & Lilly Schilling Foundation
Referenzen und weiterführende Links
[1] Homepage der Abeilung „Immunpathogenese der Multiplen Sklerose“ (Prof. Dr. Meinl)
http://www.neuro.mpg.de/english/rd/ni/research/Immunopathogenesis_of_multiple_sclerosis/
index.html
[2] Homepage des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie
http://www.neuro.mpg.de
© 2007 Max-Planck-Gesellschaft
www.mpg.de
Herunterladen