Eine Ideengeschichte der „inneren Form“

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Universität Hildesheim – Institut für Philosophie
Wintersemester 08/09
Philosophisches Kolloquium: Wozu Schönheit?
Protokoll zum Vortrag am 22.01.09
Verfasst von: N.N., PKM 3. Sem.
Tanehisa Otabe (Tokyo) -
Eine Ideengeschichte der „inneren Form“
Die Innovation des Begriffs der Naturnachahmung bei Plotin
Die Neuplatonische Schönheitslehre prägt bis heute die westliche Ästhetik. Begründet wird
sie in der Spätantike durch Plotin, welcher zum ersten Mal den Begriff der „inneren Form“
einführt und dessen Gedanken maßgeblich von Platon beeinflusst sind:
In seiner Politeia konstruiert Platon eine dreistufig gegliederte Seinsordnung; diese Stufen
beschreiben unterschiedliche Entfernungen zur Wahrheit. Auf der ersten (und somit der
Wahrheit nächsten) Stufe befindet sich das wahrhaft Seiende, die Idee; auf der zweiten dieser
oder jener individuell bestimmte Gegenstand, sowie die Kunst (technê) – im Sinne von
Handwerk. Auf der dritten Stufe sind Nachahmungen der zweiten Stufe, Kunstwerke.
Während die ersten beiden Stufen dem Reich des Denkbaren bzw. des Sichtbaren
entsprechen, kann der Maler, welcher Produkte der dritten Stufe schafft, nur darstellen, wie
die Gegenstände scheinen; von der Wahrheit ist er am weitesten entfernt.
Dieser negativ besetzte Begriff der Naturnachahmung erfährt durch Plotin eine positive
Neudeutung. Die Nachahmung der Natur bedeutet nicht mehr eine Entfernung und
Entfremdung von der ursprünglichen Idee, sondern führt im Gegenteil das Nachgeahmte auf
die Idee zurück. Nach Plotin sind die Künste durch den Besitz der Schönheit zu einer
Idealisierung der Natur fähig.
Die „innere Form“ als ein schöpferisches Prinzip
Am Beispiel zweier Marmor-Steinblöcke – wobei einer vom Bildhauer bearbeitet ist, der
andere nicht – sucht Plotin nach einem Prinzip, welches durch die schöpferische Arbeit des
Künstlers (des Bildhauers) dem Kunstwerk Schönheit verleiht: Der gestaltete Stein ist in ein
einheitliches Gefüge gebracht, ihm muss also eine „innere Form“ zugrunde liegen, welche
einheitsstiftend ein Geordnetes herstellt. Durch Teilhabe an dieser dem Körper (des
Geschaffenen) vorausgehenden Form wird der Stein schön. Das gestaltete Kunstwerk hat also
eine innere und eine äußere Form. Die innere Form als das Ungeteilte ermöglicht der mit der
Vielheit verbundenen Form am Körper wieder zur inneren Form zurückzulaufen und lässt
somit Schönheit erscheinen. Dieser Prozess fügt sich in Plotins Gedanken des Ausströmens
und der Rückströmung des Einen.
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„Raphael ohne Hände“
Aus der neuplatonischen Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Form geht in der
Renaissance die Differenzierung von Theorie und Praxis, sowie von Geist und Körper hervor.
Während der Neuplatonismus noch die künstlerische Schöpfung mit der Schöpfung der Natur
vergleicht, besteht in der Renaissance, z.B. bei Lessing, eine unauflösbare Spannung
zwischen innerer und äußerer Form: Durch den Weg über den Körper (auch des Malers
selbst), d.h. durch die Verwirklichung in der Kunst, geht die innere Form verloren. Lessing
führt die Unfähigkeit der Kunst, die innere Form der plastischen Natur wiederzugeben, darauf
zurück, „dass wir nicht unmittelbar mit den Augen malen“.
Die durch die Materie bedingte Form
Doch sind innere Form und Materie wirklich Dinge, die unabhängig voneinander existieren
und ist der Körper immer das Gefängnis der inneren Form, oder geht nicht vielmehr der
Körper, das Material der inneren Form voraus? Ein Architekt beispielsweise erzeugt keinen
Entwurf, ohne zugleich das Material und dessen Eigenschaften mit einzubeziehen. Zwar gibt
es durchaus Formen, die dem Material scheinbar zuwider laufen, dann müssen jedoch neue
Konstruktionen, neue Formen entworfen werden.
Auch Gottfried Semper geht von einer wechselseitigen Bedingung von innerer Form und
äußerem Stoff aus und greift so den neuplatonischen Kunstbegriff wieder auf.
Während bei Plotin das Material das Produkt der Form ist, ist die Form für Semper allerdings
vom Material bedingt. So werden selbst durch nachteilige Eigenschaften des Materials neue
Formen erzeugt, das künstlerische Potential wird durch das Material als „Element der
Anregung zur Erfindung“ geweckt.
Auch bei Heidegger ist die Kunst eng mit ihrem Material verbunden. Die innere und äußere
Form bezeichnet er mit den Begriffen techné und physis (Welt und Erde). Der Bildhauer
unterscheidet sich insofern vom Maurer, als er durch den Gebrauch eines Stoffes diesen nicht
verbraucht; die physis wird zwar von der techné beherrscht, geht aber nicht verloren.
Die Einheit von innerer Form und Material und damit auch die Besinnung auf das eigene
Material ist auch für den Modernismus (mit dem Heidegger verwandt ist), charakteristisch.
Die in der Materie vollendete Form
Zu dem kausalen Zusammenhang von Theorie und Praxis gibt es die folgenden
gegensätzlichen Vorstellungen: Da jeder künstlerischen Schöpfung meist die klare, fertige
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Form im Kopf des Künstlers vorausgeht (so zumindest die traditionelle Auffassung), liegt es
nahe, die physische Tätigkeit der Umsetzung als Dienerin der inneren Form zu bezeichnen.
Die Theorie hat also Vorrang vor der Praxis. Im Gegensatz dazu lässt sich die innere Form
auch als Ergebnis der Wiederholung einer zur Routine gewordenen Technik begreifen und ist
somit andererseits eng mit dem Körper des Künstlers verbunden. Nach einem solchen
Verständnis ginge die Praxis der Theorie voraus.
Konrad Fiedler versucht nun, dieses Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis
dadurch aufzulösen, dass er die gesamte Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Form
in Frage stellt: In der Weiterführung des inneren Vorgangs durch die künstlerische
Umsetzung wird die Form durch die Materie vollendet. Mit dem Bild der Hand, die das Auge
ergänzt, kritisiert Fiedler Lessings Vorstellung eines Künstlers ohne Arme. Für Fiedler kann
erst die Hand des Künstlers die noch nicht klar bestimmte Form durch den körperlichen
Ausdruck weiterentwickeln. Auch andere Romantiker, wie z.B. Goethe, suchen eine
Hierarchisierung von innerer und äußerer Form aufzulösen.
Gegenschlag des Neuplatonismus im 20. Jahrhundert
Die Entmaterialisierung, welche das 20. Jahrhundert prägte, scheint dem neuplatonischen
Gedankengut zu neuer Legitimation zu verhelfen: Die „industrielle Formgestaltung“ geht mit
einer Trennung von Herstellung und Produkt einher, wobei das Endprodukt als eines unter
vielen der gleichen Art gegenüber der Konzeption des Produkts enorm an Gewicht verliert.
Diese Beobachtung ist analog zum neuplatonischen Gedanken der Trennung zwischen innerer
und äußerer Form. Explizit findet die Vernachlässigung des Schaffens und des Materials und
somit das Überleben der platonischen Kunstauffassung in den sogenannten „Ready-mades“
von Marcel Duchamp Ausdruck, durch welche alltägliche Gebrauchsgegenstände als Kunst
deklariert wurden. Eines seiner Werke – eine Schneeschaufel – mit dem Titel „In advance of a
broken arm“ treibt Schillers Bild des „armlosen“ Künstlers noch weiter. Die Parallele zum
Platonischen Gedanken liegt sowohl in der Vernachlässigbarkeit der künstlerischen
Schöpfung, als auch in der Abwertung des Künstlers als Urheber des Werkes.
Mit Fiedeler könnte man einer völligen Entmaterialisierung des modernen Designs
entgegenhalten, dass auch die Entwürfe zur Gestaltung von Prototypen aus der Erfahrung der
Produktivität hervorgehen. In der Annahme, dass die innere Form erst durch die Materialität
zu sich selbst kommt, ist eine Überwindung des Neuplatonismus im 20. bzw. 21. Jahrhundert
möglich.
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sehr gutes Protokoll. auch die sprachliche Form ist ausgezeichnet.
Nun könnte man weiter denken: eine eigene kritische Stellungnahme zur Gedankenentwicklung des Vortags; historisch und systematisch? Doch das ist eine Aufgabe der nächsten Jahre
für Sie.
27.01.09, tb
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