„Sucht und Psychosomatik“ Aktuelle Behandlungskonzepte Christoph Hennch Leitender Psychologe Komorbidität im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung (Weissinger, Bachmeier & Missel 2013): • 45% weisen mind. 1 Diagnose zur psychischen Komorbidität auf (41% Männer, 55% Frauen) • Die reguläre Behandlungsdauer ist bei psychischer Komorbidität durchschnittlich um bis zu 12 Tage länger (4 F-Diagnosen) • Die planmäßige Beendigung der Behandlung ist bei komorbider Persönlichkeitsstörung um 5% geringer • Die Arbeitsunfähigkeit bei Behandlungsende ist um 8% höher • Im Vergleich zu Patienten ohne komorbide psychische Störung zeigt sich ein erhöhter Behandlungsbedarf von bis zu 100% (Einzeltherapie, indikative Therapieangebote) 1 Psychische Komorbidität: Durchschnittliche Anzahl der Nebendiagnosen bei Hauptdiagnose F1x.2 in der AHG Klinik Hardberg 2012 (N=359) Anzahl Diagnosen 1,5 1,4 andere F1-Diagnose 1,0 andere F-Diagnose 1,1 0,8 Somatische Diagnose 0,5 0,0 1. bis 4. Nebendiagnose bei Hauptdiagnose Abhängigkeitse rkrankung Indikationen / Schwerpunkte Substanzstörung +Depression +Angststörungen +Traumafolgestörungen +Persönlichkeitsstörungen +remittierte Psychosen +Schmerzstörungen +Krankheitsverarbeitung bei chronischen Erkrankungen +Anpassungsstörungen bei chronischen Konfliktlagen +Besondere berufliche Problemlagen 2 Als Faustregel gilt: Wenn die Symptome einer psychischen Störung mehr als vier Wochen nach einer akuten Intoxikations-oder Entzugssymptomatik noch bestehen, wird von einer nicht-substanzinduzierten Störung ausgegangen, eine Doppeldiagnose diagnostiziert und der Patient entsprechend behandelt. (Moggi & Donati, 2004) Prognose bei komorbider Angststörung Kusher et al. 1999; prospektive epidemiologische Studie, 7 J. , N=454 Persistenz der Angststörung bei vorliegender Alkoholabhängigkeit: nach 4 Jahren Risiko 2.1-fach erhöht nach 7 Jahren Risiko 2.7-fach erhöht Persistenz der Alkoholabhängigkeit bei vorliegender Angststörung nach 4 Jahren Risiko 2.0-fach erhöht nach 7 Jahren Risiko 2.9-fach erhöht 3 Psychische Komorbidität: Ätiologie: „Henne oder Ei ?“ Suchterkrankung Psychische Störung gemeinsamer Faktor X Psychische Störung Störung 1 Suchterkrankung Störung 2 Suchterkrankung Störungsmodelle zu Doppeldiagnosen •Selbstmedikationsmodell Linderung von Beschwerdedruck bzw. sozialen Einschränkungen •Exazerbationsmodell Verschlimmerung von Symptomen durch Konsum •Suchtfolgemodell häufig durch soziale Verluste •Mischmodelle Teufelskreis aus psychischer Symptomatik und Konsum 4 „Wechselseitige Dynamisierung“: Der dysfunktional eingesetzte Suchtmittelkonsum wirkt sich besonders verstärkend (auf beide Störungsbilder) aus, da eine schnelle, entlastende Veränderung der Stimmungslage möglich ist (Schuhler, 2010). „Wir behandeln Menschen nicht Erkrankungen“: die Komplexität der Wechselwirkungen der komorbiden Störungen sowie der Vulnerabilität und Teilhabechancen erfordern „entsprechende Funktionalitäten bezogen auf den einzelnen Patienten zu berücksichtigen“. (Weissinger et al. 2013) 5 Grunddimensionen des Zusammenhangs von psychischen Störungen und Suchtverhalten •Beschwerden •Soziale Kontakte •Alltagskompetenz •Emotionsregulation •Selbstwertregulation •Aktivität •Funktion des Suchtverhaltens •Folgen des Suchtverhaltens Grunddimensionen des Zusammenhangs von Depression und Suchtverhalten • Beschwerden: z.B. Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen, Suizidalität (!) • Soziale Kontakte: sozialer Rückzug • Alltagskompetenz: Vernachlässigung von Körperpflege, Hauhalt, Freizeit • Emotionsregulation: positive Emotionen werden nicht wahrgenommen, abgeschwächt oder erinnert, negative Emotionen werden verstärkt (Bestätigung der negativen Sicht) • Selbstwert: vermindert • Aktivität: vermindert • Funktion des Suchtverhaltens: belastende Emotionen und Kognitionen vermindern, teilweise Aktivierung, ggf. Geselligkeit • Folgen des Suchtverhaltens: Wahrnehmung von Gefühlen gelingt immer weniger, innere Leere, wechselseitige Dynamisierung 6 Behandlungsstrategien bei Depression und Suchtverhalten • Erarbeitung eines Krankheitsverständnisses für die individuelle Funktionalität und wechselseitige Dynamisierung; hinterfragen monokausaler Attributionen; Biographische Hintergründe verstehen • Abstinenzentscheidung und funktionale Alternativen zur Bewältigung depressiver Symptome • Überwindung des sozialen Rückzugs und Förderung sozial interaktiver Kompetenzen • Förderung der Emotionswahrnehmung • Notwendigkeit antidepressiver Medikation im Behandlungsverlauf überprüfen • Aktivierende Angebote: Sport und Bewegungstherapie, selbst gesteuerte Genussaktivitäten, Körperwahrnehmung, Selbstfürsorge • Rückfallprophylaxe: „Notfallmaßnahmen“ für depressive Krisen und Suchtdruck • Realistische Zukunftsperspektiven, Sinnfindung, Lösung sozialer Probleme Grunddimensionen des Zusammenhangs von Angststörungen und Suchtverhalten • Beschwerden: Angst, Angespanntheit, Kognitive Einengung • Soziale Kontakte: sozialer Rückzug oder abhängige Beziehungen • Alltagskompetenz: Vermeidung von Alltagsanforderungen (Telefonate, Behörden, Freizeit ) • Emotionsregulation: Fokussierung auf Sorgen, emotionale Hyperreaktivität (spezifisch / generalisiert) • Selbstwert: vermindert • Aktivität: vermindert • Funktion des Suchtverhaltens: Ängste vermindern, Entspannung • Folgen des Suchtverhaltens: Aufrechterhaltung (vegetative Übererregbarkeit durch Entzugssymptome) Chronifizierung durch Vermeidungsverhalten (Reaktionsverhinderung) 7 Komplexes Teufelskreismodell der Entstehung von Angst- und Substanzstörung (Moggi 2002) Behandlungsstrategien bei Angststörung und Suchtverhalten • Erarbeitung eines Krankheitsverständnisses: die individuelle Funktionalität und wechselseitige Dynamisierung; hinterfragen monokausaler Attributionen; Biographische Hintergründe verstehen • 6 Wochen Abstinenz + Beobachtung der Angstsymptome (vegetative Übererregbarkeit durch Entzugssymptome; stützende Interventionen) danach störungsspezifische Behandlung der Angstsymptome (Konfrorontation) • Psychoedukation mit Humor: Coping durch Informationssuche und günstige innere Einstellung: • Überwindung des sozialen Rückzugs und Förderung sozial interaktiver Kompetenzen => Selbstwertstabilisierung • Förderung der Emotionswahrnehmung; Entkatastrophisierung; Differenzierung von Körpersignalen und Gefühlen • Schrittweiser Abbau von Vermeidungsverhalten • Konsequent Bedürfnis nach Medikation widerstehen • Aktivierende Angebote: Sport und Bewegungstherapie: Reframing von sympathikovegetativen Symptomen • Rückfallprophylaxe: Erkennen angstauslösender Kognitionen und Emotionen, Akzeptanz wiederkehrenden Phasen mit Angstsymptomen 8 Grunddimensionen des Zusammenhangs von Persönlichkeitsstörungen und Suchtverhalten •Beschwerden: am häufigsten selbstunsichere, Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörung (Baumeister 1994) •Soziale Kontakte: sozialer Rückzug oder sozial riskantes Verhalten, funktionale Interaktion und Anpassung beeinträchtigt •Alltagskompetenz: sekundäre Beeinträchtigung •Emotionsregulation: spezifisch eingeengt bis desintegriert •Selbstwert: vermindert oder übersteigert •Aktivität: vermindert oder gesteigert •Funktion des Suchtverhaltens: Stress- und Konfliktbewältigng, Emotionen, Selbstwert stabilisieren •Folgen des Suchtverhaltens: funktionale Anpassung scheitert Behandlungsstrategien bei Persönlichkeitsstörung und Suchtverhalten • Schwerpunkt der Behandlung = Persönlichkeit • Dimensionaler ressoucenorientierter Ansatz: Verzicht auf Pathologisierung; Persönlichkeit = individuelle Kompetenz zur Selbststeuerung und zur Steuerung der sozialen Interaktion (IG „Persönlichkeitsstile“) • Stabile Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten • Stützende und wohlwollend-fordernde Haltung: Verletzlichkeit der Patienten und Angst vor Veränderung akzeptieren • Behandlungsziel Abstinenz, jedoch mit den Foki: – Erkennen persönlichkeitsspezifischer Risikosituationen – Rückfallbewältigung • Erarbeitung eines Krankheitsverständnisses für die wechselseitige Dynamisierung; hinterfragen monokausaler Attributionen; Biographische Hintergründe verstehen • Förderung der Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation (Selbstsicherheitstraining, Skills-Gruppe) • Aktivierende Angebote: Sport und Bewegungstherapie, Körperwahrnehmung, Selbstfürsorge • Rückfallprophylaxe: „Notfallmaßnahmen“ für depressive Krisen und Suchtdruck 9 Grunddimensionen des Zusammenhangs von Psychose und Suchtverhalten • Beschwerden: Neuroleptika-Nebenwirkungen vs. Produktive Symptomatik; soziale Phobien als Auslöser für Suchtmittelkonsum • Soziale Kontakte: sozialer Rückzug • Alltagskompetenz: Vernachlässigung von Körperpflege, Hauhalt • Emotionsregulation: Mangel an Emotionen im Wechsel mit Reizüberflutung • Selbstwert: vermindert • Aktivität: vermindert • Funktion des Suchtverhaltens: Selbstmedikation, sich lebendig fühlen, sich betäuben • Folgen des Suchtverhaltens: Rezidive, Chronifizierung der produktiven psychotischen Symptomatik 10 Behandlungsstrategien bei Psychose und Suchtverhalten • Krankheitsakzeptanz, stabile Compliance • Realistische Einschätzung der erreichbaren Ziele: Würdigung kleiner Therapiefortschritte • Abstinenzentscheidung und funktionale Alternativen zur Bewältigung von Minus-Symptomatik, (sozialer) Reizüberflutung, Medikamentennebenwirkung • Flexibilisierung des Behandlungssettings (eher kurze strukturierende Interventionen, phaseweise Reduktion des Behandlungsprogramms, Intervallbehandlung (Akutpsychiatrie)) • Überwindung des sozialen Rückzugs; soziales Kompetenztraining, Erarbeitung sozial vermittelbarer Erklärungsmodelle; • Anpassung der neuroleptischen Medikation im Behandlungsverlauf überprüfen • Aktivierende Angebote: Sport und Bewegungstherapie, selbst gesteuerte Genussaktivitäten, Körperwahrnehmung, Selbstfürsorge • Rückfallprophylaxe • Realistische Zukunftsperspektiven, Sinnfindung, Lösung sozialer Probleme Behandlungssetting: Multimodale Behandlung • BZG interaktionelle Gruppentherapie • BZG themenzentrierte Gruppe zur psychischen Komorbidität • BZG Abhängigkeit und Rückfallprophylaxe • BZG Entspannung und Körperwahrnehmung • BZG Ergotherapie (handwerklich, gestalterisch, PC-Training) • BZG Bewegungstherapie mit psychotherapeutischer Zielsetzung • BZG Selbsthilfetraining • Indikative Therapien (Trauma, Angst, Depression, Skills etc.) • „Reflecting Team“ • Medizinische und Psychiatrische Behandlung nach Bedarf • Einzelgespräche • Sporttherapie • Nonverbale Therapie (Kunst-, Musiktherapie) 11