Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Aktuelle Entwicklungen in der Behandlung der Anorexia nervosa LWL-Klinik Marsberg 07.11.2012 Dr. med. Ulrich Hagenah Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Ärztl. Direktorin: Univ.-Prof. Dr. med. B. Herpertz-Dahlmann) Universitätsklinikum RWTH Aachen Anorexia nervosa: Epidemiologie Prävalenz ca. 0.3 – 1,2% bei Jugendlichen und jungen Frauen (Hoek & van Hoeken 2003; Currin et al. 2005; Bulik et al. 2006) Auftreten ab 8. Lebensjahr! (Nicholls & Bryant-Waugh, 2009) Vorverlagerung von Erkrankungsbeginn und/ - oder Behandlung (?) in die Kindheit (Favaro et al., 2009, Halmi et al., 2009, Nicholls et al., 2011) Häufigkeitsgipfel um das 14.-15. Lebensjahr, Erkrankungen in der Altersgruppe der 15 – 19- jährigen machen 40 % aller Neuerkrankungen aus (Hoek 2006) Sehr früher Beginn mit schlechterem Verlauf assoziiert (Wentz et al., 2009) Ca. 50 % aller Erkrankungen an Anorexia nervosa werden möglicherweise nicht diagnostiziert (Keski–Rahkonen et al. 2007) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 1 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Zeitlicher Beginn von Essstörungen (Hudson et al, 2007) Kumulative Lebenszeitprävalenz bei AN, BN und BED Kumulative Lebenszeitprävalenz bei AN, BN und BED für eine vorhandene Erkrankung BIOL PSYCHIATRY 2007;61:348–358 Veränderung der Diagnose im Verlauf Fairburn & Harrison, 2003 Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 2 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Zeitliche Trends Inzidenz für AN und BN (in allen Altersgruppen) (Currin et al., 2005) Inzidenz bei Kindern und Jugendlichen (Hoek, 2006) Verlauf und Folgen der Anorexia nervosa Chronischer Verlauf in > 20% - Hohes Risiko für die Entwicklung anderer psychiatrischer Erkrankungen und schlechte berufliche Integration (Wentz et al., 2009) - Höchste Mortalität aller psychiatrischen Erkrankungen im Langzeitverlauf (Agras et al., 2004) - - - Korrigierte Mortalitätsraten zwischen 1.2 und 12,82% Hohe Suizidraten im Langzeitverlauf Schwere medizinische Folgeschäden, z. B.: - Osteopenie und Osteoporose ( ca. 40%) Strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns Potentiell tödliche Komplikationen des Herz-Kreislauf-Systems Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 3 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Todesursachen bei Anorexia nervosa (21 Jahre-Katamnese) (Zipfel et al. 2000) Symptomatik Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 4 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Anorexia nervosa: Minnesota-Studie von Keys, 1950 Psychische Veränderungen Semistarvation bei jungen Männern * Gedankliche Beschäftigung mit Nahrung anfänglich Euphorie/ Leichtigkeit auffälliges Essverhalten Rigidität unflexibles Denken Depression Irritabilität sozialer Rückzug Nervosität geringe Spontaneität motorische Unruhe Verlust von Ambition Konzentrationsstörungen Libidoverlust wenig Initiative * Keys et al. (1950): The Biology of Human Starvation Kernsymptome Gewichtsphobie Kognitive Einengung auf die Themen „Essen“ und „Gewicht“ Körperschemastörung Bei Kindern und jüngeren Jugendlichen häufig nicht erfassbar! Bewegungsdrang Störungen auf der Hypophysen-HypothalamusGonaden-Achse prim. oder sek. Amenorrhoe Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 5 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Hunger-induzierte Hyperaktivität Exner et al. 2000 Buyse et al. (2001): Semistarvation und Laufrad Placebo ( subkutan) Leptin (subkutan ) Leptin vermindert exploratives Verhalten bei Ratten unter Nahrungsrestriktion Hillebrand et al. (2005): Leptin reduziert bei ABA*Ratten: - Laufrad-Aktivität - Nahrungsaufnahme Ratte reduziert Aktivität auf basales Niveau Ratte läuft weiter Leptin erhöht: - Körpertemperatur - Energieverbrauch * ABA = Activity Based Anorexia Ätiologie Genet. Fakt. Hohe Zwanghaftigkeit Hohe Ängstlichkeit Kulturelle Faktoren: Sorgen zu Figur/ Gewicht Persönlichkeit Angst vor Nahrungsaufnahme, Vermeidung von Nahrung Perfektionismus Umwelt Rigide Diätpraktiken Diäten mit niedriger Energiemenge und eingeschränkter Auswahl Starvation Gewichtsverlust (nach: Attia 2009) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 6 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Diagnostik Definition der Anorexia nervosa nach ICD-10 1. Körpergewicht mindestens 15 % unterhalb der Norm bzw. BMI ≤17,5 kg/m² 2. Der Gewichtsverlust ist selbst verursacht 3. Körperschemastörung und überwertige Idee, zu dick zu sein 4. Endokrine Störung auf der Hypothalamus-HypophysenGonaden-Achse 5. Bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät Störung der pubertären Entwicklung einschließlich des Wachstums, die nach Remission häufig reversibel ist. U. Hagenah, UK Aachen (2012) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 7 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 DSM-V: vorgeschlagene diagnostische Kriterien für die Anorexia Nervosa (307.1) ► A. Einschränkung der Energieaufnahme im Verhältnis zu den Anforderungen, welche zu einem signifikanten niedrigen Körpergewicht im Kontext von Alter, Geschlecht, Entwicklungskurve und körperlicher Gesundheit führt. Signifikant niedriges Körpergewicht ist definiert als ein Gewicht, welches niedriger als das minimale Normalgewicht, oder, für Kinder und Jugendliche, niedriger als das minimal erwartete Gewicht ist. ► B. Intensive Furcht vor einer Gewichtszunahme oder davor , fett zu werden, oder ein darauf basierendes Verhalten, welches sich störend auf eine Gewichtszunahme auswirkt, selbst bei einem signifikant niedrigen Gewicht. ► C. Störung im Erleben des eigenem Körpergewichts oder des Körperschemas, übertriebener Einfluss von Körpergewicht oder aussehen auf die Selbsteinschätzung, oder anhaltender Mangel an Einsicht in die Bedrohlichkeit durch das aktuelle, niedrige Körpergewicht. Quelle: http://www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/proposedrevision.aspx?rid=24 Updated April-17-2012 U. Hagenah, UK Aachen (2012) Unterteilung: DSM V Restriktiver Typ: während der letzten 3 Monate keine wiederkehrenden Episoden von Binge Eating oder PurgingVerhalten (z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxantien, Diuretika, Einläufen) Binge-Eating/Purging Type: während der letzten 3 Monate Phasen mit wiederkehrenden Episoden von Binge Eating oder Purging-Verhalten (z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxantien, Diuretika, Einläufen). Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 8 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Warnzeichen Veränderungen im Essverhalten: Zunehmendes Interesse für Nahrungszusammensetzung und Kaloriengehalt Beschränkung auf „ gesunde“ Nahrungsmittel, vegetarische Ernährung Auslassen von gemeinsamen Mahlzeiten (Ausreden: „ ich habe schon mit den andern gegessen..“) Langsames Essen, Rituale beim Essen Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen Zunehmende Leistungsorientierung Zunehmender Bewegungsdrang (exzessiver Sport) Häufiges Wiegen Veränderung der Stimmung Erhöhte Reizbarkeit, starke Stimmungsschwankungen, Depression Sozialer Rückzug Körperliche Veränderungen: Häufiges Frieren, „blaue Hände“ Kreislaufprobleme, Schwindel Haarausfall Ausbleiben der Menstruation Anorexia nervosa: Besonderheiten bei Kindern und jüngeren Jugendlichen z. B. aufgrund geringerer Fettreserven raschere Gefährdung schon bei milderen Gewichtsverlust Mangelernährung während der kritischen Periode von Wachstum und neuronaler Entwicklung besonders folgenschwer: Verringerte Knochendichte und erhöhtes Osteoporose-Risiko im Erwachsenen-Alter Auswirkungen auf den Prozess des neuronalen Umbaus des Gehirns (graue Hirnsubstanz) „biologische Narben“ (?) Geringere Fähigkeit zur (emotionalen und kognitiven) Einsicht in die Notwendigkeit von Untersuchungen und Behandlungen Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 9 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Komorbidität Anorexia nervosa Bulimia nervosa Ängste 20-60% 30-70% Zwänge 20-40% 8-33% Depression 15-60% 20-70% Substanzabusus + Störung der Impulskontrolle binge-purging Typ der AN ca. 23% Untersuchungen Körperliche Untersuchung obligat! Inspektion (Druckstellen, Ödeme, Speicheldrüsenschwellung?) Größe, Gewicht, BMI-Perzentile RR/ Puls, Körpertemperatur Psychopathologischer Befund: Gewichtsphobie, Körperschemastörung? Bewegungsdrang? Einsatz gegenregulierender Maßnahmen (Erbrechen, Laxantienabusus u. a.)? Komorbide Störungen (v. a. Depression, Ängste, Zwänge)? Suizidalität? Testpsychologische Verfahren: EDI-II , ChEDE, SIAB, ABOS (Elternurteil) (Semi-)strukturierte Interviews (Kinder-DIPS, K-SADS) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 10 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Erweiterte Diagnostik Bildgebung (craniales MRT): Bei präpubertärem Beginn Atypische Symptomatik bei jugendlichen Patientinnen Männliche Patienten EKG, Echokardiographie Bradykardie, Tachykardie bei Orthostase-Test, Schwindel, Elektrolytstörungen Labor: bei kachektischem Zustand, schneller Gewichtsabnahme, Verdacht auf bulimische Symptomatik BB, Elektrolyte, TSH, fT3, Kreatinin, Behandlung Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 11 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Datenlage zur Behandlung der AN: Studien zeigen nur eine mäßige bis geringe Evidenz, u. a. aufgrund: geringer Fallzahlen, fehlender valider Kontrollbedingungen, Anwendung von multimodalen Therapieansätzen mit fehlenden Aussagen zu einzelnen Behandlungselementen. große Effektstärken (> 1) im Hinblick auf Gewichtszunahme sowohl ambulant (260 g/Woche) als auch stationär (530 g/Woche) kontrollierte Studien liegen u. a. zur kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), zur interpersonellen Psychotherapie (IPT), zur psychodynamischen Therapie (PT) und zur familienbasierten Therapie (FT) vor. Die Studien erlauben jedoch keine Aussage darüber, welche Therapiemethode zu bevorzugen ist (Evidenzstärke Ib) eine störungsspezifische, auf die AN ausgerichtete Psychotherapie ist einem unspezifischen Vorgehen vorzuziehen (Evidenzstärke II). Antidepressiva können den Therapieverlauf der AN nicht verbessern (Evidenzstärke Ia) S3 – Leitlinien Essstörungen systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit den Zielen: Behandler und Patientinnen/Patienten bei der Entscheidung über angemessene Maßnahmen der Versorgung (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) zu unterstützen, zur Verbesserung der Versorgungsergebnisse beizutragen, Risiken zu minimieren Therapiesicherheit und Wirtschaftlichkeit zu erhöhen nicht-indizierte Diagnose-und Behandlungsmethoden vermeiden Langfassung: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 12 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Methodik (Beispiel: Anorexia nervosa) Methodik AN Außerdem Berücksichtigung bereits vorliegender Leitlinien und Cochrane-Reviews: Leitlinie des National Institute of Clinical Excellence NICE, England (2004), Leitlinie der American Psychiatric Association APA, USA (2006), S1-Leitlinien der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie 2000), Leitlinie des Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists (Beumont et al., 2003) 2 Cochrane-Reviews*: Hay et al., 2004: Individual Psychotherapy in the Outpatient Treatment of Adults with Anorexia Nervosa Claudino et al. (2006): Antidepressants for Anorexia Nervosa * ein weiterer Cochrane-Review zur familienbasierten Therapie (Fisher et al., 2010) war zum Zeitpunkt der LL-Erstellung noch nicht abgeschlossen. Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 13 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Gewichtung der Interventionsempfehlungen: klinische Relevanz? Umsetzbarkeit in der Versorgungsrealität? Nutzen/ Risiko? Empirische Evidenz? Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut Diagnostik und Therapie der Essstörungen Dtsch Arztebl Int 2011; 108(40): 678-85; DOI: 10.3238/arztebl.2011.0678 Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 14 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Entwicklung der S3-Leitlinien Essstörungen Herbst 2003: Beschluss der Konferenz der Hochschullehrer des Fach Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zur Entwicklung evidenzbasierter S 3-Leitlinien Frühjahr 2005: Start einer Arbeitsgruppe aus 23 Klinikern und Forschern mit Expertise auf dem Gebiet der Essstörungen einzelne Mitglieder wurden von den jeweiligen Fachgesellschaften als Mandatsträger autorisiert 2005 – 2010: 15 Expertentreffen: Untergruppen für Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge-eating-Störung Ergebnisse der Untergruppen wurden in der Gesamtgruppe diskutiert und konsentiert. 4 Treffen unter Moderation durch das AWMF (Professor Dr. Ina B. Kopp) Konsentierung von insgesamt 44 sogenannten Statements und Empfehlungen Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut Diagnostik und Therapie der Essstörungen Dtsch Arztebl Int 2011; 108(40): 678-85; DOI: 10.3238/arztebl.2011.0678 Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 15 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Empfehlungen zur Pharmakotherapie Neuroleptika sind zur Erreichung einer Gewichtszunahme bei AN nicht geeignet (B), bei erheblich auf Gewichtsängste und Essen eingeschränktem Denken und bei nicht zu beherrschender Hyperaktivität kann der Versuch eines Einsatzes niedrigdosierte Neuroleptika (Olanzapin) im Einzelfall gerechtfertigt * (B), Antidepressiva sind für das Erreichen einer Gewichtszunahme bei AN ebenfalls nicht zu empfehlen. Dies gilt sowohl für die initiale Therapie als auch für die Rückfallprophylaxe (A). * „Säulen“ der Behandlung 1. Somatische Rehabilitation, Ernährungstherapie und Psychoedukation 2. Psychotherapeutische Behandlung 3. Einbeziehung der Familie 4. Medikamentöse Therapie und Behandlung der Komorbidität Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 16 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Ambulante Diagnostik und Behandlung Wenn ambulanter Behandlungsversuch möglich: inkl.: Gewichtskontrollen (!) (AN , BN *) Kreislaufparameter + Labor (AN, BN) Frequenz der Heißhunger- und Brechattacken (BN) Ernährungsberatung + Psychoedukation (AN, BN) * AN = Anorexia nervosa BN = Bulimia nervosa U. Hagenah, UK Aachen (2012) Ambulante Behandlung Überprüfung des Behandlungserfolgs nach 4-6 Wochen: Gewichtsverlauf + körperliche Symptomatik Energiezufuhr + Essverhalten ? Heißhungerattacken / Erbrechen ? bei weiterer Gewichtsabnahme/ fehlender Gewichtszunahme bzw. unveränderter oder verschlechterter bulimischer Symptomatik stationäre Aufnahme! U. Hagenah, UK Aachen (2012) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 17 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Indikation zur stationären Behandlung medizinische Kriterien (kritisches Untergewicht und/ oder sehr rascher Gewichtsverlust) Andere körperliche Komplikationen Suizidgefahr Schwere andere psychiatrische Erkrankungen Scheitern ambulanter Behandlungsversuche soziale Isolation festgefahrene familiäre Interaktion U. Hagenah, UK Aachen (2012) Module der stationären Behandlung 1. Gewichtsmanagement 1.1. Wiegetermine 1.2. Gewichtsstufenpläne 2. Kalorienzufuhr/ Kalorienverbrauch 2.1. Planessen 2.2. Trinkpäckchen 2.3. Sondierung 2.4. Ruhezeiten/ Bewegung 3. Ernährungstherapie 3.1. Ernährungsberatung 3.2. Modellessen 3.3. Auswärts essen 3.4. Kochgruppe 3.5. Selber Portionieren 3.6. Freies Essen 4. Psychotherapeutische Arbeit mit Patientinnen 4.1. Einzeltherapie 1-2x wöchentlich 4.2. Essstörungsspezifische Gruppen 4.2.1. Psychoedukation 4.2.2. Ernährungsgruppe 4.2.3. Psychotherapiegruppe 5. Elternarbeit 5.1. 2-wöchentlich Eltern-/ Familiengespräche 5.2. Eltern-Psychoedukationsgruppe 5.3. Familienessen 6. Sonstige Gruppen 6.1. Ergotherapie 6.2. Entspannung 6.3. SKT 7. Vorbereitung auf die Entlassung 7.1. Belastungserprobung Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 7.2. Organisation ambulanter Hilfen 7.3. Wiederaufnahmevertrag 18 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Gewichtsaufbau bei schwer starvierten Patienten Langsam beginnen initial ca. 600-800 Kcal/ Tag Cave: „Re-Feeding“-Syndrom besonders bei zu rascher Alimentation (besonderes Risiko: parenterale Ernährung) Beschwerden der Patientinnen ernst nehmen (Übelkeit, Völlegefühl, Durchfall, Pankreatitis u. a.) Im Verlauf: Anzustrebende Gewichtszunahme pro Woche bei stationärer Behandlung von 0,5-1 kg. Weitere Aspekte: körperliche und psychische Folgen der therapeutischen Gewichtsrehabilitation Motilität des Magen-DarmTraktes Erhöhter Energiebedarf bei Erreichen des Zielgewichtes stamm- und gesichtsbetonte Zunahme der Fettmasse postprandiales Völlegefühl vergleichsweise große Mahlzeiten notwendig Verstärkung der Gewichtsphobie „Mondgesicht, Fettbauch“ U. Hagenah, UK Aachen (2012) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 19 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 „Verstärker“ in der Therapie Ambulante Behandlung Stationäre Behandlung Vermeidung einer Krankenhausaufnahme abgestufter Schulbesuch selbständiger Schulweg Teilnahme am Schulsport Freizeitaktivitäten (Kino, Theater, Disco u. a.) Verkürzung/ Wegfall von Ruhezeiten Teilnahme an Aktivitäten außerhalb der Klinik Besuchserweiterung Besuch der Klinikschule Externer Schulbesuch Wochenendbeurlaubung Urlaubsreise U. Hagenah, UK Aachen (2012) Individuelle Psychotherapie Im Zustand der Unterernährung wahrscheinlich nur bedingt wirksam Vorrangig in dieser Phase: Arbeit an der Motivation zur Überwindung der Essstörung Nach Stabilisierung von Ernährungs- und Gewichtsituation: Überprüfung und Hinterfragung fixierter Denkschemata bezüglich Figur und Gewicht Selbstakzeptanz Störungsspezifische Behandlung von Begleitstörungen (Zwangserkrankung, soziale Ängstlichkeit, Depressionen u. a.) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 20 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 „Positive“ Aspekte des Hungerns „Gefühl von Macht“ Hungern Anerkennung durch Umwelt Biologisch bedingte kognitive Einengung auf Thema „Essen“ Reduktion unangenehmer Gedanken U. Hagenah, UK Aachen (2012) “Gewichtsstufenplan” positive Verstärkung der Gewichtszunahme/ anfänglich: der bewältigten Energieaufnahme Keine Sanktionierung! Cave: Bettruhe: erhöht das Osteopenie-Risiko! 1800 Kcal/ Tag: Zusätzlicher 30 – Minuten-Spaziergang 1600 Kcal/ Tag: 1 h Schule 1400 Kcal/ Tag: Ergotherapie-Gruppe 1200 Kcal/ Tag: Mobilisationsgruppe Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 21 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Studien zum Behandlungssetting der adoleszenten AN Hinweise auf vergleichbare Effektivität des ambulanten vs. vollstationären Settings (Crisp et al., 1a991) Problem: 40% der vollstationär randomisierten Patienten akzeptierten Behandlungssetting nicht und brachen Behandlung ab Hinweise auf „Negativ“-Effekte vollstationärer Therapie: RCT-Studie mit 167 adoleszenten Patientinnen (Gowers et al., 2007): • kein Unterschied zwischen stationärer, störungsspezifischer ambulanter und herkömmlicher Behandlung • tendenziell schlechteres Outcome der vollstationären Therapie • Auch hier: hohes Dropout (50%) der stationären Gruppe! U. Hagenah, UK Aachen (2012) Vergleichsstudie von Gowers et al. (2007) Bislang einzige, randomisierte Studie zum Behandlungssetting (stationär vs. ambulant) bei Anorexia nervosa für diese Altersgruppe (11;11 – 17;11 Jahre) mit ausreichender Fallzahl (n= 167)l. extrem hohe Abbruchrate (51%, 29 von 57) bei den in die stationäre Behandlung randomisierten Probanden. deutlicher Unterschied im Body-Mass-Index zwischen den „Adherers“ (14.8 kg/m²) und den „non-adherers“ (15,8 kg/m²). Anteil der Anorexie-Patienten in den Kliniken bei 23% U. Hagenah, UK Aachen (2012) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 22 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Therapiestudien Familientherapie ambulante FamilienN = 121 therapie gut wirksam BMI: 16.1 ± 1.1 Alter 14,4 ± 1.6 J. U. Hagenah, UK Aachen (2012) Elternarbeit Eltern- und Familiengespräche Psychoedukation für Eltern Praktische Übungen, z.B. Familienessen Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 23 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Quelle: http://www.ksta.de/html/artikel/1 203599317850.shtml ….„Es ist einfach nur furchtbar, hilflos ansehen zu müssen, wie das geliebte Kind verfällt“, beschreibt es Sabine Mertens. „Man kann sie ja nicht zum Essen zwingen. Und gutes Zureden bringt auch nichts.“ Gerade als Mutter, die sich - wie in den meisten Familien - für das Thema Ernährung zuständig fühlt, habe sie es als ihr Versagen empfunden, dass „ich mein Kind noch nicht mal ordentlich ernähren kann“. ….Als große zusätzliche Belastung hat Sabine Mertens die von Unverständnis geprägten Reaktionen aus ihrem Umfeld empfunden. Außenstehende könnten meist überhaupt nicht begreifen, „warum das Kind nicht einfach wieder was isst“. Kaum jemand traute sich, Sabine Mertens auf die Magersucht ihrer Tochter offen anzusprechen oder ihr irgendeine Form von Beistand anzubieten. Eltern von Mitschülern, Bekannte und Nachbarn fingen an zu mutmaßen, „dass in der Familie wohl einiges aus dem Ruder läuft“ - was die Mutter aber nur „hintenrum“ mitbekam. Sie empfand all das als „Ausgrenzung, ja Stigmatisierung“. Sie ist zutiefst überzeugt, dass in ihrer Familie „nicht mehr und nicht weniger schief gelaufen ist als in anderen Familien auch“. Auswirkungen der AN auf die Familie Intensive emotionale Reaktionen auf die Erkrankung (Goldner & Birmingham 1994): - Angst, Schuldgefühle Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Selbstvorwürfe u. a. Hohe emotionale Belastung (Treasure et al. 2001): signifikant stärke psychische Belastung von Angehörigen und Betreuern erwachsener Patientinnen mit Anorexia nervosa gegenüber Betreuern von Patienten mit psychotischen Erkrankungen Veränderungen des familiären Lebens Intensive Suche von Eltern nach Informationen zur Erkrankung (Honey & Halse 2006) Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Essstörung Eskalierende Kontrollstrategien (Monitoring, z. B. hinsichtlich Erbrechen, Sport) (Honey & Halse 2006) Veränderte Ernährungs- und Essgewohnheiten in der Familie Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 24 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Aspekte der elterlichen Belastung Erschwerte Orientierung durch unterschiedliche Krankheitskonzepte: Geringer Konsens zur „besten Therapiemethode“ (Treasure & Schmidt, 2003) Stigmatisierung der Patienten und Angehörigen (z. B. Stewart et al., 2006, McMaster et al., 2004) Schuldgefühle und Selbstvorwürfe (Whitney et al., 2005) Psychoedukation in der Elterngruppe Teilnehmer: und Dauer: Hilfsmittel: Definition: 3-8 Elternpaare/-teile stationärer ambulanter Patientinnen 5 Sitzungen in wöchentlichem Abstand a´90 min Folien und „Hand-outs“ „Nicht-Therapie-Gruppe“ (Hagenah u. Vloet 2005) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 25 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Rückmeldungen der Eltern (n=86) Teilnahme a. d. Schulung hat: Väter sehr geholfen etwas geholfen kaum geholfen nicht geholfen 21 10 3 0 Mütter 41 11 0 0 Gesamt 62 21 3 0 empfehlen eingeschränkt nicht empfehlen Väter 34 0 0 Mütter 51 1 0 Gesamt 85 1 0 Würde anderen Eltern die Teilnahme: Pharmakotherapie Behandlung komorbider Störungen: Depression Zwänge Angststörung Nach ausreichender Gewichtsrehabilitation! Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 26 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Zwang in der Behandlung ► „Helfen durch Zwang“ vs. „Schaden durch Unterlassen von Zwang“ ► ► ► ► ► ► Kein Unterschied zu freiwillig behandelten Patientinnen bezüglich des Ergebnis, allerdings längere Behandlungsdauer zum Erreichen des Ziels 1, 2 Im Verlauf überwiegend Zustimmung der Patientinnen zur Behandlung 1, 2 Mehr Todesfälle (n=10/79) gegenüber n=2/78 bei den mit Zwang gehandelten Patientinnen bei Nachuntersuchung (mittlere Dauer, 5,7 Jahre nach Aufnahme) 1 Viele Patientinnen erkennen im Nachhinein die Notwendigkeit der Behandlung an 1, 2 Jüngere Patientinnen erleben subjektiv mehr Zwang (Guarda et al., 2007) Behandlung unter Zwang wurde als angemessen erlebt, wenn die Situation lebensbedrohlich war Ramsay et al., 1999 1, Watson et al.,2000 2 , Guarda et al. 2007 ³, Tan et al. 2010 4) Argumente gegen eine Zwangsbehandlung (Draper, 2000, Bioethics 14 (2), 120-133*) Betroffene sind länger krank als „üblich“ („üblich“ hier: > 1 – 8 Jahre) Bereits Erfahrung mit Zwangsbehandlung in der Vergangenheit Kompetent hinsichtlich Entscheidungen bezüglich Lebensqualität Verfügen über Einsicht bzgl. der Einflüsse der AN auf einige Aspekte ihres Lebens „are not at death´s door“ * Replik: Giordano Bioethics 17 (3), 2003 Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 27 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Rechtliche Rahmenbedingungen Bei Minderjährigen: Grundgesetz (GG) Artikel 2, Artikel 104 Kinderrechtkonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK) Artikel 37 b und c § 42 SGB VIII (Inobhutnahme) Bürgerliches Gesetzbuch (BGB):§ § 1631 b Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), gültig seit 01.09.2009 statt FGG §§ 151-167, § 312 Unterbringungsgesetze der Länder (in NRW: §§ 10 – 20 PsychKG NRW) Relevant für Ärzte: § 239 StGB (Freiheitsberaubung), § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) Mortalität Mortalität der adoleszenten Anorexie nervosa nach 10 Jahren: Überlebensraten von stationär behandelten Frauen mit Anorexia nervosa in Schweden in Abhängigkeit von der Periode der stationären Behandlung (Lindblad et al., 2006) Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa Theander et al. 1983: 11,7% Tolstrup 1985 6 % Strober et al. 1997 -- Wentz et al.* 1999 -- HerpertzDahlmann et al. 2001 -- *Wentz et al. 2009 -- (nach 18 Jahren) 28 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Ausblick ► Rehospitalisierung bei adulten und adoleszenten Patienten: – Häufigkeit: 25 – 63 % (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Castro et al. 2004, Steinhausen et al. 2007) Tagesklinische Behandlung evtl. Alternative? Zusammenfassung Diagnostik und Behandlung von Essstörungen: Soll frühzeitig angeboten werden Sollte möglichst störungsspezifisch und bei ausreichend erfahrenen Therapeut/innen bzw. an spezialisierten Zentren erfolgen. Sollte langfristig angelegt sein und eine möglichst hohe Kontinuität bei Wechsel des Behandlungssettings beinhalten. Sollte eine Normalisierung des Essverhaltens und Gewichts anstreben sollte im stationären Setting eine weitgehende Gewichtsrestitution (bei Kindern und Jugendlichen: 25. BMI-Perzentile) anstreben. Tagesklinische Behandlung möglicherweise gleichwertige Alternative Soll bei Kindern und Jugendlichen die Personensorgeberechtigten/ andere nahe Angehörige einbeziehen. Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 29 Dr. Hagenah - Vortrag am 07.11.2012 in Marsberg 08.11.2012 Fisher et al. 2010 Neuere Aspekte in der Behandlung der Anorexia nervosa 30