Stationäre Behandlung der Anorexia nervosa im Spannungsfeld zwischen fehlender Krankheitseinsicht und Therapiebedürftigkeit Prof. Dr. Gabriella Milos UniversitätsSpital Zürich Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentrum für Essstörungen [email protected] 17.04.2016 1 Anorexia nervosa (AN) DSM-5 (2013) / ICD-11 (2017) Restricting Type Binge-Eating/Purging Type DSM-5 (2013) Mild BMI ≥ 17.5 • Untergewicht Moderate BMI 16-16.99 • Angst vor der Gewichtszunahme • Körperwahrnehmungsstörungen Severe BMI 15 – 15.99 - oft Bewegungsdrang Extreme BMI < 15 - wenig Krankheitseinsicht - bagatellisieren der Auswirkungen des Untergewichts und des pathologischen Essverhaltens Beginn in der Regel Pubertät, Adoleszenz Prävalenz (CH Daten, 2010) ca. 1% Frauen ca. 0.3% Männer Gull, Lancet 1888 Behandlungsbedürftigkeit Kaye, Am J Psychiatry 2009 17.04.2016 Seite 3 Anorexia nervosa (AN) Mortalität 5.35% Fichter & Quadflieg, Int J Eat Disord. 2016 7.7% in den ersten 10 Jahren Erkrankung Franko et al., Am J Psychiatry 2013 7.6 - 14.4% in den ersten 10 Jahren Erkrankung Huas et al. , Acta Psychiatr Scand. 2011 5,3% (SD 5.7) Steinhausen, Am J Psychiatry 2009 5.9%, danach nimmt die Mortalität um 5.6% pro Jahrzehnt zu Sullivan, Am J Psychiatry 1995 17.04.2016 Seite 4 Zentrum für Essstörungen (ZES) Spezialsprechstunde Abklärungen, ambulante Behandlungen Ambulantes multimodales Programm (AMP) – ca. 6 Personen Stationäres multimodales Programm (SMP) Station – 12 Betten Konsiliarische Betreuung Innere Medizin, andere Kliniken USZ 17.04.2016 Seite 5 MULTIMODALE PROGRAMME ZES – USZ Milieutherapie AMBULANT Strukturierte ausgewogene Mahlzeiten Somatische Abklärung und Behandlung Essnachbesprechungen Gewichtskontrolle Einzeltherapie Gruppengesprächstherapie Psychodidaktik Körperwahrnehmungstherapie Kreativtherapie Muskelaufbau Ernährungsberatung Essplanungstraining Kochtraining Achtsamkeits-Sozialkompetenz Training Essbegleitung ausserhalb der Klinik Arbeitstraining Sozialberatung Angehörigengruppe STATIONÄR 17.04.2016 Seite 6 Therapiemotivation Ambivalenz Zeit Motivation Einsicht, Leidensdruck 17.04.2016 7 Interdisziplinäre Behandlung bei somatisch gefährdeten uneinsichtigen Anorexie-Patientinnen: «Zwangsbehandlung»? 17.04.2016 Seite 8 Alarmzeichen bei AN vitales Risiko mittel hoch BMI kg/m2 < 15 < 13 Gewichtsverlust > 0.5 kg / W. > 1 kg / W. Puls/Min. < 50 < 40 Körpertemperatur (°C) < 35 < 34.5 Systolischer BD < 90 < 80 Fähigkeit aus der Hockestellung aufzustehen ohne Hilfe der Arme möglich unmöglich “These markers should be considered in the context of the complete clinical picture, and expertise of the treating team (…)” modifiziert nach Treasure et al. Lancet 2010Seite 9 17.04.2016 National Institut for Clinical Excellence (NICE) 2004 UK Feeding against the will of the patient: - Feeding against the will of the patient should be an intervention of last resort in the care and management of anorexia nervosa. - Feeding against the will of the patient is a highly specialised procedure requiring expertise in the care and management of those with severe eating disorders and the physical complications associated with it. This should only be done in the context of the Mental Health Act 1983 or Children Act 1989. - When making the decision to feed against the will of the patient, the legal basis for any such action must be clear. 17.04.2016 10 S3-Leitlinie D Diagnostik und Behandlung der Essstörungen 2011 Eine Zwangsernährung im engeren Sinne sollte die Ultima Ratio darstellen. Voraussetzung ist eine realitätsferne Einschätzung der lebensbedrohlichen Situation seitens der Patientin. In solchen Fällen ist die Zwangsernährung im Sinne einer Fürsorge für die Patientin zu betrachten. Zwangsernährung kann die Einnahme von normaler Kost oder Flüssigkost unter engmaschiger Supervision bedeuten. Nur wenn eine Patientin gar nicht zur Nahrungsaufnahme motiviert werden kann, kommen Alternativen in Frage, z.B. die Ernährung über eine Magensonde. 17.04.2016 11 «Zwangsbehandlung» Definition: Behandlung eines Erkrankten gegen seinen Willen. «Bei allen ernst zu nehmenden Bedenken und der gebotenen Zurückhaltung gegenüber einer Zwangsbehandlung können Ärzte und Psychotherapeuten sich nicht ihrer Verantwortung den Patienten gegenüber entziehen, wenn diese krankheitsbedingt nicht ausreichend für sich sorgen können. Die ethische Verantwortung der Therapeuten bezieht sich nicht allein auf ihr Handeln, sondern auch darauf, was sie unterlassen. Patienten haben ein „Recht auf Zwangsbehandlung”» Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa Thiel & Paul, Psychther Psych Med 2007 17.04.2016 Seite 12 Urteilfähigkeit bei schweren AN 17.04.2016 Seite 13 Psychiatrische Komorbidität der AN (primär – sekundär) − Depression − Zwangs- und Angststörungen − Persönlichkeitsstörungen − Somatoforme Störungen (oft Magendarm) − Suchterkrankungen − Autismus Spektrumsstörungen − AN, Untergewicht - neuropsychologische Auffälligkeiten 17.04.2016 Seite 14 Neuropsychologie bei AN - Kognitive Inflexibilität, Vorliebe für Details - Verlust des „Gesamtbildes“ - Schwierigkeiten Entscheidungen zu treffen - Schwierigkeiten Gefühle zu erkennen Tchanturia et al. 2004; 2007; 2008; 2011; 2012; 2014 Robets et al. 2007; Lang et al. 2012; 2015 Guillaume S 2010, 2015 17.04.2016 Seite 15 Zipfel et al. 2015 17.04.2016 Seite 16 Interdisziplinäres Vorgehen bei komplexen AN am USZ (in Bearbeitung) • Innere Medizin – Intensiv-Medizin • Psychiatrie – ZES • Medizinische Ethik • Rechtsdienst • Vertretungsberechtigte Personen 17.04.2016 Seite 17 Palliation bei chronische AN? “The ethical re-evaluation of treatments for anorexia nervosa might lead to a shift from cure to care for chronic anorexia nervosa” Thiels C1 & Curtice M Curr Opin Psychiatry 2009 17.04.2016 18 Palliation bei chronische AN? “The ethical re-evaluation of treatments for anorexia nervosa might lead to a shift from cure to care for chronic anorexia nervosa” Thiels C1 & Curtice M Curr Opin Psychiatry 2009 «Die Frage nach der Vergeblichkeit der Behandlung in Anorexia nervosa hat weitreichende biothetische Auswirkungen. (…). Es bestehen oft Bedenken gegenüber der Behandlungsverweigerung, dazu bestehen Versagenängsten sowie Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen (…) « Geppert Am J Bioeth 2015 17.04.2016 19 Outcome of Anorexia Nervosa in 119 Patient Series (N=3147) Steinhausen Am J Psychiatry 2002 17.04.2016 Seite 20 The Outcome of Anorexia Nervosa in the 20th Century Steinhausen AJP 2002 Dokumentname / Autor / Abteilung 21 / 17. April 2016 The Outcome of Anorexia Nervosa in the 20th Century Steinhausen AJP 2002 Dokumentname / Autor / Abteilung 22 / 17. April 2016 Ein wichtiges Ziel einer Hospitalisation bei AN ist die Verbesserung der Einsicht und die Fortsetzung der Behandlung ohne Zwang. modifiziert nach Morris & Twaddle Clinical Review – Anorexia nervosa BMJ 2007 17.04.2016 23 Literatur Zwangsbehandlung AN Die Hälfte der ES-Patientinnen, die zu Beginn der Therapie gegen ihren Willen behandelt wurden, sehen nach 2 Wochen einen Sinn in der Behandlung. Guarda et al. AJP 2007 Zwangsbehandlung zu Beginn des stationären Behandlungsprogrammes steht nicht in Zusammenhang mit Dauer der Behandlung und Gewichtszunahme. Auch die therapeutische Allianz scheint nicht kompromittiert zu sein. Schreyer et al. IJED 2015 Motivation zur Veränderung ist ein wichtiger Prädiktor für die stationäre Behandlung bei Adoleszenten. Hoher BMI und schwere Essstörungsspathologie bei Eintritt korrelieren mit niedriger Therapiemotivation. Hillen et al. BMC Psychiatry 2015 17.04.2016 24 Wer behandelt Menschen mit der Hauptdiagnose Anorexia nervosa im USZ? Medizinische Ethik Zentrum für Essstörungen PSY Rechtdienst Ernährungsberatung Klinik und Poliklinik für Innere Medizin IPS Endokrinologie Rheumaklinik und Osteoporose Zentrum ReproduktionsEndokrinologie Gastroenterologie Interdisziplinarität 17.04.2016 Seite 25 Zusammenfassung • Anorexia nervosa ist eine komplexe Erkrankung mit zahlreichen psychischen, neuropsychologischen und somatischen Auswirkungen • Die Urteilsfähigkeit kann bei schweren AN multifaktoriell reduziert sein • Das interdisziplinäre Vorgehen soll bei schweren AN vor einer Behandlung gegen den Willen der Patientin auch ethische und rechtliche Aspekte mitberücksichtigen • Verlaufsprädiktoren sind bei AN weitgehend noch unbekannt. Überraschende positive Verläufe sind möglich! 17.04.2016 Seite 26