Fall 1 - Mediwiki - Universität zu Köln

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Universität zu Köln
Medizinische Fakultät, Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie
Kurs: Praktikum Psychosomatik/Psychotherapie
Leiter: Dr. med. J. Stratmann
Prüfungstermin: 26. Juni 2006
FALL 1
1. Differentialdiagnostik und Ausschluss organischer Krankheiten
Folgende Differentialdiagnosen sind auszuschließen bzw. zu belegen:
a) Psychiatrische Erkrankungen
- Essstörungen: Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa
Hinweise: niedriger BMI von 15,59; reduzierter AZ; kachektischer EZ der Patientin; dazu passend
erscheint zudem die Anamnese des Gewichtsverlaufs
- Intoxikationen, Alkohol- oder Tablettenabusus
Hinweise: Allgemeinerscheinung der Patientin (Kachexie und reduzierter AZ), akute Schwäche
- Schwere depressive Erkrankungen mit Appetitverlust
- psychotische Erkrankungen mit ernährungsbezogenen Wahn
- Angst- und Zwangserkrankungen mit ernährungsbezogenen Ängsten oder Zwangsgedanken
b) Internistische Erkrankungen
- endokrinologische Erkrankungen (Hypophysenstörungen, Thyreotoxikose, Hyperthyreose)
Hinweise: Gewichtsabnahme; Schwindel
- Stenosierende Prozesse im Intestinaltrakt, Malabsorptionssyndrome
Hinweise: Gewichtsabnahme; reduzierter AZ
- Anämie unterschiedlicher Genese (DD: Eisenmangel, Vit. B12-Mangel, Folsäuremangel,
Blutung, Hämolyse etc)
Hinweise: Schwindel; reduzierter AZ
- Bakterieller oder viraler Infekt
Hinweise: Schwäche; Schwindel; reduzierter AZ; Hypotonie; Dehydratation
- Onkologische Erkrankungen
Hinweise: reduzierter AZ und EZ; kranker Gesamteindruck; akute Schwäche
- Hypoglykämie:
Hinweise: orthostatische Dysregulation; Schwindel
- orthostatische Dysregulation aufgrund eines bestehenden Hypotonus oder aufgrund der
Dehydratation
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2. Weitere Anamnese und Befunderhebung
a) Anamnese
- Anamnese der Symptome der Essstörung: Gewichtsverlauf, Maßnahmen zur
Gewichtsreduktion (Kalorienrestriktion, aktive Maßnahmen wie Sport, selbstinduziertes Erbrechen)
Körperschema (Idealbild vs gegenwärtige Einschätzung); Vorhandensein, Häufigkeit und Ausmaß
von Essanfällen
- gynäkologische Anamnese (Menarche, Zyklusverlauf, Schwangerschaft),
- Medikamentenanamnese; insbesondere Gebrauch von Laxantien, Diuretika, Emetika
- Vorerkrankungen
- Ausführliche Familien- und Sozialanamnese
b) Körperliche Untersuchung und Befunderhebung
Gewicht, Größe, Blutdruck, körperliche Untersuchung inkl. Anamnese aller Organsysteme, Blutbild,
Differentialblutbild, Elektrolyte, BZ, Transaminasen, -GT, -HCG, T3, T4, TSH, BSG, Kreatinin,
Amylase, Urinstatus, EKG, Drogenscreening
c) psychologische Untersuchung
- evtl.: allgemeine Testdiagnostik (Leistungstests, Persönlichkeitstests)
- Erfassung der psychiatrischen Komorbidität (depressive Störungen, Persönlichkeitsstörung,
Alkohol-, Tabletten-, Drogenabusus, posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung,
Zwangsstörung): Spezifische Diagnostik mit Hilfe von Fragebögen (z.B. Eating Disorder Inventory,
Anorexia Nervosa Inventar zur Selbstbeurteilung, Eating Attitudes Test) und strukturiertem
Interview (z.B. SIAB-Jugendlichenversion)
3. Diagnose
- Diagnose: Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0; DSM-IV: 307.1), V.a. Aktive/bulimische Form
der Anorexia nervosa
- Definition: Die Anorexia nervosa ist eine komplexe Störung des Essverhaltens, bei der die
PatientInnen willentlich und ohne zugrundeliegende körperliche Ursache ihr Körpergewicht
dramatisch verringern.
- Diagnostische Kriterien:
Die Patientin erfüllt nach der vorliegenden Anamnese die folgenden Symptome für eine Anorexia
nervosa nach ICD-10:
1. tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten (hier: BMI = 15,59 kg/m²)
(Grenzwert für Diagnosestellung: 17,5 kg/m²)
2. Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Hungern und übertriebene körperliche Aktivität
3. Perzeptionelle und konzeptionelle Körperschema-Störung
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4. Somatische Folgen des Hungerns: AZ und EZ reduziert, Amenorrhoe (V.a. endokrine Störung),
Hypotonie, Hypothermie, reduzierter Hautturgor, Akrozyanose
5. Weiterhin typisch für das Vorliegen einer Anorexia nervosa wäre das weibliche Geschlecht der
Patientin sowie ihr Alter
4. Weitere klinische Auffälligkeiten und Komplikationen
- Hauptsymptomatik: Gewichtsverlust (< 85% der Norm) ohne erkennbare organische Ursache,
selbst verursacht, Körperschemastörung, Angst vor Gewichtszunahme, Komplexe
endokrinologische Funktionsstörung mit primärer oder sekundärer Amenorrhoe, Verlust der Libido,
evtl. Pubertas tarda
- Zusätzliche körperliche Symptomatik: Obstipation durch Nahrungsmangel oder
Laxantienabusus, Lanugobehaarung, Hypothermie, Hypotonie, Bradykardie, Akrozyanose,
Bradypnoe, Erniedrigung der Elektrolytwerte (K+↓, Na+↓, Cl-↓), Erhöhung von Serumalbumin,
Kreatinin, Amylase, erniedrigte Knochendichte, evtl. Herzrhythmusstörungen
- Psychische Auffälligkeiten: Depressionen, Zwangsstörungen, Lügen bei Fragen nach Gewicht
und Essverhalten, Vermeiden hochkalorischer Nahrungsmittel, Einhalten strenger Diäten mit
genauer Bestimmung von Kalorienzahlen, Vermehrte körperliche Betätigung
- Komplikationen: Suizid, Übergang in Bulimie, Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen,
Herzrhythmusstörungen, Nierenfunktionsstörungen
- Wichtig: Keine Krankheits- und Behandlungseinsicht!
5. Ätiologie
Es werden die folgenden ätiologisch relevanten Faktoren für die Anorexia nervosa diskutiert.
- Psychische Faktoren: Depression, Sexueller Missbrauch, Entwicklungsbedingte Faktoren:
Störungen in der Identitäts- und Autonomieentwicklung, mangelnde Wahrnehmung eigener
Bedürfnisse bei überangepasstem Sozialverhalten; Stolz auf Fastenleistung wirkt kurzfristig
emotional stabilisierend  Verstärkung
- Familiäre Faktoren: Alkoholismus und/oder affektive Störungen in der Familie, Betonung der
äußeren Erscheinung, überbehütende Familie, gestörte Beziehungsmuster in der Familie:
unbewusste Ablehnung der Mutter, Konflikt Vater/Tochter
- Soziokulturelle Faktoren: Schlankheitsideal in den Industrienationen, berufliche Risikogruppen
(Balletttänzerinnen, Models etc.)
- Biologische Faktoren: genetische Mitverursachung, neurobiochemische Abweichungen (Fasten
provoziert eine Änderung des ZNS-Milieus  positive psychische Erfahrungen durch
Transmitterveränderungen)
6. Therapeutisches Procedere
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Die Therapie gestaltet sich aufgrund der mangelnden Krankheits- und Behandlungseinsicht oft
schwierig. Es empfiehlt sich grundsätzlich ein multimodaler Ansatz
a) Interventions-Setting: Im vorliegenden Fall zunächst stationäre Behandlung aufgrund der
somatischen Komplikationen und des niedrigen BMIs; daran anschließende ambulante bzw.
tagesklinische Therapie
b) Behandlungsziele
Abwendung der akuten somatischen Komplikationen, Aufbau einer ausreichenden
Behandlungsmotivation, Wiederaufbau eines angemessenen Essverhaltens, Modifikation
dysfunktionaler Schemata im Bereich Figur, Gewicht, Ernährung; spezifische Behandlung
psychiatrischer Komorbiditäten falls vorhanden; Verhinderung einer Chronifizierung und
Abwendung gesundheitlicher Langzeitrisiken
c) Spezifische verhaltensbezogene Essstörungstherapie
Gewichtsmanagement zur Gewichtsnormalisierung, Psychoedukation und Ernährungsberatung,
regelmäßige Gewichtskontrollen
d) Psychotherapie: Einzel-, Gruppen- und Familientherapie (mit systemischen und
verhaltenstherapeutischen Elementen)
 Zunächst Voraussetzungen für Psychotherapie schaffen: AZ und EZ stabilisieren
 Kognitive Therapie: zur Behandlung eines gestörten Selbstwertgefühls, der Gewichtsphobie,
Gewicht und Figur betreffende dysfunktionaler Gedanken
 Psychodynamisch orientierte Therapie: orientiert sich an akuten/chronischen Konflikten und
Traumata, Störungen des Selbstwertgefühls, Reifungskrisen
 später: evtl. Selbsthilfegruppe zur Stabilisierung
e) Medikamentöse Therapie
Bei anhaltender depressiver Verstimmung nach ausreichender Gewichtszunahme: SerotoninReuptake-Hemmer (Fluoxetin).
7. Informationsquellen

AWMF (Hrsg.) (2000): Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Band 4:
Behandlungsleitlinie Essstörungen. Steinkopff: Darmstadt.

Kurzfassung unter: http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/038-011.htm (20.06.2005)

Fichter M (2000): Anorektische und bulimische Essstörungen. In: Berger S (Hrsg.) (2000):
Psychiatrie und Psychotherapie. Elsevier: München, Jena. S. 716-739.

Gastpar M et al. (2000) : Essstörungen: Neue Erkenntnisse und Forschungsperspektiven. Verlag
Wissenschaft & Praxis: Sternenfels.

Herzog W et al. (2003): Essstörungen - Therapieführer und psychodynamische
Behandlungskonzepte. Schattauer Verlag: Stuttgart.

Köhle K et al. (2002): Anorexia nervosa. In: Uexküll T v et al. (2002): Psychosomatische Medizin.
Elsevier: München, Jena. S.599-615.
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
Walsh B T et al. (2006) : Fluoxetine After Weight Restoration in Anorexia Nervosa. A Randomized
Controlled Trial. In: JAMA 2006; 295: 2605-2612.
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