M E D I Z I N EDITORIAL Ist die Koronarsklerose eine Infektionskrankheit? Gedanken zur Chlamydien-Hypothese Berndt Lüderitz D ie provozierende These, daß die Koronarsklerose eine chlamydienbedingte Infektionskrankheit sein könnte, wurde anläßlich der 103. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden vielfach – und natürlich kontrovers – diskutiert, mit einem entsprechenden Echo in der Tagespresse. Dabei sind die Gedanken keineswegs neu - neu ist allerdings das Bemühen von Infektiologen, die Arteriosklerose einer Antibiotikatherapie zuzuführen. Schon Anfang der 90er Jahre wurde der Zusammenhang zwischen dem pathogenen Erreger Chlamydia pneumoniae vom Stamm TWAR und akuter wie chronischer koronarer Herzkrankheit in verschiedenen, meist europäischen Studien gezeigt (2,6). Brisanz erfuhr die Hypothese von der chlamydienbedingten Koronarsklerose Anfang vergangenen Jahres: Joseph B. Muhlestein aus der Arbeitsgruppe von Jeffrey L. Anderson von der University of Utah in Salt Lake City konnte durch direkte Immunfluoreszenz in Atherektomiematerial bei 71 von 90 Koronarpatienten die Chlamydia-Spezies im arteriosklerotischen Gewebe nachweisen (3). In nichtsklerotischem Koronargewebe wurde dagegen nur bei einem Patienten Chlamydia gefunden. Die Autoren vermuteten, daß eine Chlamydia-Infektion an der Atheriosklerose der Koronararterien ursächlich beteiligt ist, und sprachen sich für weiterführende Studien aus. Der Verfasser dieser Zeilen hielt sich im Mai 1996 zu Gastvorlesungen in Salt Lake City auf und erfuhr von Muhlestein eher beiläufig von den neuen Ergebnissen. Nach Lektüre der freundlicherweise zur Verfügung gestellten Druckfahnen der für das Journal of the American College of Cardiology vorgesehenen und im Juni 1996 publizierten Arbeit wurde aufgrund der heu- ristischen Bedeutung sogleich ein aktueller Bericht zu dieser Problematik initiiert. Die Mitteilung erschien im Deutschen Ärzteblatt am 28. Juni 1996 unter dem Titel „Pathogenese der Arteriosklerose – Sind Chlamydien auch daran beteiligt?“ (1). Naturgemäß griffen auch die deutschen Wochenmagazine die mutmaßlich sensationelle Problematik auf. Nach einjähriger gedanklicher Inkubationszeit gewinnt nun Chlamydia pneumoniae durch Kongreßpräsenz in Form zweier vorläufiger Studien höchste Aktualität. Zugleich werden kühne Hypothesen laut: „Die Arteriosklerose ist offenbar primär eine Infektionskrankheit durch Chlamydia pneumoniae“ oder „Langfristig wird es möglich sein, mit einer Schutzimpfung im Kindesalter dem Herzinfarkt vorzubeugen“ (W. Stille). Herzinfarkt, Schlaganfall und periphere Durchblutungsstörungen sind das Endstadium beziehungsweise Komplikationen der chronischen Chlamydien-Endarteriitis, schreiben Stille und Just-Nübling aus Frankfurt (5). Zugleich spekulieren die Autoren, daß sich die schnelle Restenosierung eines Bypasses, der rasche Verschluß eingesetzter Gefäßstützen (Stents) und auch die beschleunigte Arteriosklerose transplantierter Herzen durch chronische Chlamydien-Infektion erklären ließen. Schließlich werden auch regionale Unterschiede der Arteriosklerose-Inzidenz als chlamydienbedingt gedeutet. Logischerweise würden sich daraus neue Perspektiven der Antibiotikatherapie ergeben, zum Beispiel die Behandlung der Arteriosklerose mit Tetrazyklinen, Makroliden oder Chinolonen. Hierbei wäre die mögliche Resistenzentwicklung durch breite Antibiotikaanwendung zu bedenken. Mancher wird sich noch an die nachteiligen Folgen der (unkritischen) Beigabe von Penicillin zu Zahncreme und Kaugummi mit konsekutiver ResistenzentDeutsches Ärzteblatt 94, Heft 18, 2. Mai 1997 (33) A-1189 M E D I Z I N EDITORIAL/FÜR SIE REFERIERT wicklung erinnern! Die Hypothesen und Folgerungen mögen naheliegend, plausibel oder vielleicht auch verführerisch sein, bewiesen sind sie nicht. Allerdings besteht grundsätzlich kaum ein Zweifel daran, daß (Gefäß)-Entzündungen an der koronaren Herzkrankheit und speziell der instabilen Angina pectoris beteiligt sind. Dafür sprechen auch neuere Untersuchungen aus Boston zur prognostischen Bedeutung von C-reaktivem Protein für das Auftreten von Apoplexie und Herzinfarkt und den günstigen Einfluß von Aspirin bei der Infarktprophylaxe (4): Patienten mit deutlich erhöhtem C-reaktiven Protein erleiden nämlich offenkundig wesentlich häufiger einen Herzinfarkt. Die Tatsache, daß das C-reaktive Protein nur bei Entzündungen verstärkt vom Organismus gebildet wird, weist darauf hin, daß es sich bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße um einen (chronisch) entzündlichen Prozeß handelt. Hieraus würde sich konsequenterweise ein Nutzen entzündungshemmender Medikamente bei der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen ableiten. Was not tut, ist die Aufklärung der Pathogenese der Arteriosklerose der Koronarien und anderer Gefäßprovinzen. Ohne Frage ergibt sich ein höchst attraktives, multidisziplinäres Forschungsfeld für Kardiologen, Pathologen, Mikrobiologen und Epidemiologen. – Solange unklar ist, ob Chlamydien die Arteriosklerose tatsächlich auslösen oder den Krankheitsverlauf beschleunigen oder aber nur Begleitphänomene darstellen, das heißt Erreger, die im arteriosklerotischen Gewebe ohne Kausalbezug besonders gut gedeihen, sind therapeutische Konsequenzen nur mit größter Zurückhaltung zu ziehen. Allein in kontrollierten Studien kann der Effekt von chlamydienwirksamen Antibiotika in ihrem Einfluß auf die Arteriosklerose geprüft werden. Keinesfalls sollten bewiesene und bewährte Prinzipien der Primär- und Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit vernachlässigt oder gar aufgegeben werden. Eine konsequente Vor- beugung beziehungsweise Ursachenbehandlung des Infarkts umfaßt als unerläßlichen Aspekt prophylaktischer Bemühungen ärztlicherseits die Therapie der Risiken Hochdruck, Diabetes, Cholesterinerhöhung und patientenseitig Nikotinverzicht, Gewichtskontrolle, körperliche Aktivität und geregelte Lebensweise einschließlich eines vernünftigen Ernährungsverhaltens. Die Situation ist zu ernst, als daß therapeutischen Experimenten Raum gegeben werden könnte. Noch immer stehen die Herzerkrankungen an erster Stelle der Todesursachenstatistik in der Bundesrepublik. Fast jeder zweite Bundesbürger stirbt an Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems. Erst wenn die „Chlamydien-Hypothese“ wissenschaftlich zweifelsfrei bewiesen ist, werden auch Skeptiker bereit sein, einer pathophysiologisch begründeten Änderung des derzeitigen Therapieverhaltens zuzustimmen und die Anwendung von Antiobiotika bei koronarer Herzkrankheit ernsthaft in Betracht zu ziehen. Literatur: 1. Koch K: Pathogenese der Arteriosklerose – Sind Chlamydien auch daran beteiligt? Deutsches Ärzteblatt 1996; 93; A-1736 [Heft 26]. 2. Miettinen H, Lehto S, Saikku P, Haffner SM, Rönnemaa T, Pyörälä K, Laakso M: Association of Chlamydia pneumoniae and acute coronary heart disease events in non-insulin dependent and non-diabetic subjects in Finland. Eur Heart J 1996; 17: 682–688. 3. Muhlestein JB, Hammond EH, Carlquist JF, et al.: Increased incidence of Chlamydia species within the coronary arteries of patients with symptomatic atherosclerotic versus other forms of cardiovascular disease. J Am Cardiol 1996; 27: 1555–1561. 4. Ridker PM, Cushman M, Stampfer MJ, Tracy RP, Hennekens CH: Inflammation, aspirin, and the risk of cardiovascular disease in apparently healthy men. N Engl J Med 1997; 336: 973–979. 5. Stille W, Just-Nübling G: Argumente für eine AntibiotikaTherapie der Arteriosklerose. Chemotherap J 1997; (im Druck). 6. Yarnell J, Evans A: Chlamydia and coronary heart disease. Eur Heart J 1996; 17: 650–651. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Berndt Lüderitz Medizinische Universitäts-Klinik und Poliklinik Sigmund-Freud-Straße 25 · 53105 Bonn Identifizierung und Klonierung des MEN-1-Gens Die multiple endokrine Neoplasie Typ 1 (MEN-1) ist eine familiär auftretende Krebserkrankung mit autosomal dominantem Erbgang. Die betroffenen Patienten erkranken mit 94prozentiger Wahrscheinlichkeit bis zum 50. Lebensjahr und leiden an Tumoren der Neben- schilddrüsen, der Hypothyse und des enteropankreatischen endokrinen Gewebes. Durch positionale Klonierung konnte ein Gen auf Chromosom 11q13 identifiziert werden, das in 14 Familien mit dieser Erkrankung mutiert ist. Hierbei handelt es sich um ein 610 Aminosäuren großes Protein, A-1190 (34) Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 18, 2. Mai 1997 welches zu keinen bislang bekannten Proteinen Homologie aufweist. Die Autoren vermuten, daß das Protein ein Tumorsuppressor ist. me Chandrasekharappa SC et al.: Positional cloning of the gene for multiple endocrine neoplasia-type 1. Science 1997; 276: 404406. FS Collins, Laboratory of Gene transfer, National Institutes of Health, Bethesda, MD 20892, USA.