Naturwissenschaft Martin Thomaschütz Der Erste Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel Diplomarbeit Der Erste Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg eingereicht von Martin Thomaschütz Salzburg, April 2001 Gewidmet der überabzählbar unendlichen Geduld meiner Eltern. Mein Dank gilt Prof. Czermak für die Betreuung dieser Arbeit, für viele interessante Vorlesungsstunden und für den pädagogischen Grundsatz: Wer ” sich fürchtet, traut sich nicht fragen und wird daher auch nichts lernen.“ Inhaltsverzeichnis 1 Die Grundlagenkrise der Mathematik 1.1 Cantors Mengentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Cantors Paradoxon (1899) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Russells Paradoxon (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Das Paradoxon des Epimenides (auch: Lügnerparadoxon, um 600 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Das Paradoxon des Proklos (um 450 n. Chr.) . . . . . . 1.2.5 Das Paradoxon von Grelling (1908) . . . . . . . . . . . . 1.2.6 Das Paradoxon von Berry (1906) . . . . . . . . . . . . . 1.3 Wege aus dem Dilemma der Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die Einschränkung des Mengenbegriffes . . . . . . . . . 1.3.2 Vermeidung von Selbstbezüglichkeit . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der Logizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Der Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Der Formalismus (Metamathematik) . . . . . . . . . . . 4 4 5 5 5 6 7 8 9 11 2 Grundlagen 2.1 Cantors Diagonalmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Überabzählbarkeit von R und P(N) . . . . . . . . . 2.1.2 Die Überabzählbarkeit von P(M) für unendliche Mengen 2.1.3 Die Beweisidee der Diagonalmethode . . . . . . . . . . . 2.2 Formale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das MIU-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das pg-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Formales Axiomensystem der Arithmetik (nach Peano) . . . . . 2.3.1 Formale Sprache des PA-Systems . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Axiome des PA-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Schlussregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Beispiele für Beweise im PA-System . . . . . . . . . . . 2.3.5 Ausdrückbar und repräsentierbar . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 ω-Unvollständigkeit und ω-Widersprüchlichkeit . . . . . 13 13 13 18 20 20 20 24 29 30 37 40 41 43 44 ii 1 1 3 3 3 INHALTSVERZEICHNIS iii 3 Der Beweis 46 3.1 Beweisidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.2 Schritt 1: Gödelisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.2.1 Ebene 1: Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.2.2 Ebene 2: Einfache Gödelisierungen . . . . . . . . . . . . 49 3.2.3 Ebene 3: Vollständige Gödelisierung des PA-Systems . . 57 3.3 Schritt 2: Aussagekraft des PA-Systems . . . . . . . . . . . . . 60 3.3.1 Ebene 1: Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.3.2 Ebene 2: Programme mit begrenzten Schleifen . . . . . 64 3.3.3 Ebene 3: Primitiv-rekursive Funktionen . . . . . . . . . 71 3.4 Schritt 3: Im PA-System repräsentierte Funktionen . . . . . . . 87 3.4.1 Ebene 1: Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.4.2 Ebene 2: Uninteressante“ Unvollständigkeit . . . . . . 87 ” 3.4.3 Ebene 3: Beweisidee für die Repräsentierbarkeit der primitiv-rekursiven Prädikate . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.5 Schritt 4: Diagonalmethode und Konstruktion von G . . . . . . 90 3.5.1 Ebene 1: Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.5.2 Ebene 2: Die Selbstbezüglichkeit im PA-System . . . . . 91 3.5.3 Ebene 3: Das Diagonallemma . . . . . . . . . . . . . . . 96 4 Folgerungen und Folgen 102 4.1 Folgerungen aus dem ersten Unvollständigkeitssatz . . . . . . . 102 4.2 Folgen für die Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 A Anhang A.1 Formales System der Peano-Arithmetik (PA-System): . . . . A.2 Einfache Gödelnummerierung des PA-Systems . . . . . . . . . A.3 Vollständige Gödelnummerierung des PA-Systems . . . . . . . A.4 Beweis für die Existenz nicht-primitiv-rekursiver Funktionen . A.5 Beweis für Lemma I aus 3.3.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 106 107 107 108 110 Kapitel 1 Die Grundlagenkrise der Mathematik 1.1 Cantors Mengentheorie In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gelang es Georg Cantor (1845– 1918), die verschiedenen Teilgebiete der Mathematik auf eine einheitliche Grundlage zu stellen: die Mengentheorie. Damit konnte man die natürlichen Zahlen definieren (als Äquivalenzklassen verschiedener Begriffsumfänge – Grundlage der Zahlentheorie), die ganzen und die rationalen Zahlen (als geordnete Paare ganzer Zahlen) und die reellen Zahlen (z. B. durch unendliche Dezimalbrüche oder mittels Dedekindscher Schnitte – Grundlage der Analysis). Die Geometrie ließ sich schon seit René Descartes (1596–1650) analytisch, d. h. mittels reeller Zahlen betreiben. Alles konnte zurückgeführt werden auf den Begriff der Menge, den Cantor folgendermaßen definierte: Unter einer Mannigfaltigkeit“ oder Menge“ verstehe ich nämlich all” ” gemein jedes Viele, welches sich als Eines denken lässt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher durch ein Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann,[. . . ] [2] Eine Menge ist also eine Zusammenfassung von bestimmten, wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen. Die Objekte heißen Elemente der Menge. Zwei Mengen sollen als gleichmächtig gelten, wenn es zwischen ihnen eine umkehrbar eindeutige (bijektive) Abbildung gibt, d. h. wenn man jedem Element der einen Menge genau ein Element der anderen Menge zuordnen kann. So lässt sich sehr leicht feststellen, ob die Anzahl der Studenten in einem Hörsaal (Menge A) gleich groß ist der Anzahl der Stühle im Hörsaal (Menge B), indem man die Studenten bittet, sich zu setzen. Bleibt kein Platz frei und muss kein Student mehr stehen, besteht eine umkehrbar eindeutige Abbildung zwischen der Menge A der Studenten und der Menge B der Stühle. Daher sind A und B gleichmächtig. KAPITEL 1. DIE GRUNDLAGENKRISE DER MATHEMATIK 2 Es ist also nicht notwendig, Mengen abzählen zu können, um den Begriff der Mächtigkeit zu definieren. Daher können die natürlichen Zahlen auch auf Basis des Mengenbegriffes definiert werden (nach Gottlob Frege, 1848–1925): Zu jeder Eigenschaft gibt es die Menge aller Dinge, die diese Eigenschaft besitzen (Fregesches Komprehensionsaxiom). So hat jeder Begriff einen Umfang, d. i. die Menge der Objekte, auf die der Begriff zutrifft. Zwei Begriffe heißen gleichmächtig, wenn die Mengen, die sie umfassen, gleichmächtig sind. Zwischen gleichmächtigen Begriffen A und B besteht also eine Äquivalenzrelation (A ∼ B), d. h. es gilt: A ∼ A, B ∼ B Wenn A ∼ B, dann B ∼ A. Wenn A ∼ B und B ∼ C, dann A ∼ C. Zu jedem Begriff A existiert somit die Äquivalenzklasse aller mit A gleichmächtigen Begriffe. Die Menge der natürlichen Zahlen N definiert man nun folgendermaßen: Die Zahl Null sei die Äquivalenzklasse des Begriffs von sich ” selbst verschieden“ (oder irgend ein anderer Begriff, der auf nichts zutrifft). Die Zahl Eins sei die Äquivalenzklasse des Begriffs Planet Erde“. Die Zahl ” Zwei sei die Äquivalenzklasse des Begriffs Geschlecht“ usw. Dadurch erhält ” auch jede Äquivalenzklasse eine Kardinalzahl (Schreibweise: card(A)). Für endliche Mengen entspricht die Kardinalzahl der Anzahl der Elemente der Menge. Die Kardinalzahl von N heißt ℵ0 (aleph null ). Alle Mengen, die gleichmächtig der Menge der natürlichen Zahlen sind (d. h. die Kardinalzahl ℵ0 besitzen), heißen abzählbar unendlich. Insbesondere sind auch echte Teilmengen der natürlichen Zahlen (z. B. die ungeraden Zahlen, die Quadratzahlen, die Primzahlen etc.) gleichmächtig wie die gesamte Menge der natürlichen Zahlen (ein Umstand, den Galileo Galilei (1564–1642) schon im 17. Jahrhundert bemerkte und den er als paradox empfand): 1, 2, 3, 4, . . . , n, . . . l l l l l 1, 4, 9, 16, . . . , n2 , . . . Diese Eigenschaft ist aber keineswegs paradox, sondern vielmehr typisch für unendliche Mengen. Sie wird daher auch verwendet, um unendliche Mengen elegant zu definieren. Durch geschicktes Anordnen der Elemente lässt sich zeigen, dass sowohl die Menge der ganzen Zahlen Z als auch die Menge der rationalen Zahlen Q abzählbar sind. Bei den reellen Zahlen R gelingt das nicht mehr, Cantor konnte vielmehr mittels seiner“ Diagonalmethode (siehe 2.1) zeigen, dass R eine ” größere Mächtigkeit besitzt als N . Weiters bewies er, dass die Potenzmenge P(M) (d. i. die Menge aller Teilmengen) einer Menge M ebenfalls eine größere Mächtigkeit besitzt als die Menge selbst. Somit hat auch die Potenzmenge der natürlichen Zahlen P(N) eine größere Mächtigkeit als ℵ0 (nämlich wie R 2ℵ0 ). KAPITEL 1. DIE GRUNDLAGENKRISE DER MATHEMATIK 3 Da man die Potenzmengenbildung beliebig oft fortsetzen kann, ergibt sich eine unendliche Vielfalt unendlicher Mächtigkeiten. 1.2 Die Paradoxa Kaum hatte sich Cantors Mengentheorie durchgesetzt, als auch schon erste Zweifel an der Gültigkeit der gesamten Konstruktion auftraten. Es ließen sich einige Paradoxa herleiten, die die Mengentheorie (und damit das gesamte auf ihrem scheinbar sicheren Grund errichtete Gebäude der Mathematik) ins Wanken brachten. 1.2.1 Cantors Paradoxon (1899) Dieses Paradoxon wurde von Cantor selbst im Jahre 1899 entdeckt: Wir betrachten die Menge aller Mengen (die laut dem Cantorschen Mengenbegriff existiert) und nennen sie M. Wir bilden die Potenzmenge von M, P(M). Da die Potenzmenge eine Menge ist, muss sie natürlich in der Menge aller Mengen enthalten sein, d. h. P(M)⊆M. Die Kardinalzahl einer Teilmenge kann aber höchstens gleich groß sein wie die Kardinalzahl der Menge, in der sie enthalten ist, also gilt: card(P(M)) ≤ card(M). (1) Andererseits hatte Cantor gezeigt, dass die Kardinalzahl der Potenzmenge immer größer ist als die Kardinalzahl der Menge selbst, daher: card(P(M)) > card(M) 1.2.2 im Widerspruch zu Gleichung 1. Russells Paradoxon (1902) Dieses Paradoxon wurde 1902 unabhängig voneinander von Bertrand Russell (1872–1970) und Ernst Zermelo (1871–1953) entdeckt: Wir betrachten die Eigenschaft von Mengen, nicht Element ihrer selbst zu sein (was sicher eine vernünftige Eigenschaft ist und daher im Sinne des Fregeschen Komprehensionsaxioms auch eine Menge definiert). Da es also solche Mengen gibt, macht es auch Sinn, die Menge aller dieser Mengen zu betrachten, also die Menge aller Mengen, die nicht in sich selbst enthalten sind. Wir nennen sie R. R = {X : X 6∈ X} Offenbar ist dann eine beliebige Menge M genau dann in R enthalten, wenn M nicht in sich selbst enthalten ist: M ∈ R ⇔ M 6∈ M KAPITEL 1. DIE GRUNDLAGENKRISE DER MATHEMATIK 4 Was ist aber mit R selbst? Wenn wir für M (das ja eine beliebige Menge war) R einsetzen, dann erhalten wir: R ∈ R ⇔ R 6∈ R also einen Widerspruch. Für dieses Paradoxon gab Russell selbst eine schöne Veranschaulichung an: In einem Dorf lebte ein Barbier. Er rasierte alle Bewohner des Dorfes, die sich nicht selbst rasierten, sonst keinen. (Das entspricht der Menge R.) Die Frage ist: Rasierte sich der Barbier selbst? (Der Barbier gehört genau dann zu R, wenn er nicht zu R gehört, und umgekehrt.) Die beiden genannten Paradoxa gehören zu den sogenannten syntaktischen Antinomien. Sie entstehen durch rein logisches Schlussfolgern auf Grund der Verwendung an sich schon widersprüchlicher Begriffe (Menge aller Mengen, Mengen, die sich selbst enthalten, Russells Barbier). Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl von semantischen Antinomien, die in der Umgangssprache auftreten, wenn verschiedene Sprachebenen vermischt werden, die sich aber in der naiven Mengenlehre“ Cantors nachbilden lassen. Einige von ihnen sind ” über zweieinhalbtausend Jahre alt. 1.2.3 Das Paradoxon des Epimenides (auch: Lügnerparadoxon, um 600 v. Chr.) Dieses Paradoxon wird den Philosophen Epimenides von Kreta (um 600 v. Chr.) zugeschrieben: Der Kreter Epimenides sagt: Alle Kreter sind Lügner.” ” oder strenger: Epimenides sagt: Was ich jetzt sage, ist eine Lüge“ ” Während man in der ersten Form noch die Voraussetzung braucht, dass ein Lügner jemand ist, der immer lügt, entgeht man dem Paradoxon in seiner strengen Form nicht mehr: Wenn Epimenides die Wahrheit sagt, dann ist seine Aussage wahr, d. h. er lügt gerade. Lügt Epimenides aber, dann ist seine Aussage eine Lüge, und somit spricht er die Wahrheit. 1.2.4 Das Paradoxon des Proklos (um 450 n. Chr.) Dieses Paradoxon geht auf Proklos (412–485) zurück ([13], S. 28): KAPITEL 1. DIE GRUNDLAGENKRISE DER MATHEMATIK 5 Protagoras lehrt einen Schüler die Rechte und trifft mit ihm die Ver” abredung, daß der Schüler die Studienkosten erst zu entrichten hat, nachdem er seinen ersten Prozeß gewonnen hat. Da er nach Abschluß seiner Studien keine Prozesse übernimmt, verklagt ihn P. schließlich auf Zahlung der Kosten. Er argumentiert: Gewinne ich den Prozeß, so erhalte ich mein Geld aufgrund des Urteilsspruches, verliere ich, so erhalte ich es aufgrund der früheren Verabredung. Der Schüler argumentiert umgekehrt, daß er die Studienkosten in keinem Fall zu zahlen braucht, entweder wegen der getroffenen Verabredung oder aufgrund des richterlichen Urteilsspruches.“ 1.2.5 Das Paradoxon von Grelling (1908) Dieses Paradoxon stammt von Grelling ([13], S. 28) Man teile alle deutschen Adjektive (Eigenschaftswörter) in folgende ” zwei Klassen ein: a) heterologische Adjektive, die nicht das sind, was sie bedeuten, z. B. das kurze Adjektiv lang“, das dreisilbige Adjektiv zweisilbig“, das ” ” deutsche Adjektiv französisch“. ” b) autologische Adjektive, die das sind, was sie bedeuten, z. B. das kurze Adjektiv kurz“, das dreisilbige Adjektiv dreisilbig“, das deutsche ” ” Adjektiv deutsch“. ” Die Frage, in welcher Klasse das Adjektiv heterologisch“ liegt, führt zu ” einem Widerspruch. Die Annahme, es liege in a), führt zu dem Schluß, daß es in b) liegt, und umgekehrt.“ 1.2.6 Das Paradoxon von Berry (1906) Dieses von Berry veröffentlichte Beispiel ist vor allem deswegen interessant, weil dabei das Paradoxon durch die Beschreibung einer natürlichen Zahl und dem Wechsel zwischen Syntax und Semantik dieser Beschreibung entsteht (eine Methode, die in dieser Arbeit noch eine große Rolle spielen wird): Betrachten wir den Ausdruck eine natürliche Zahl, die nicht mit we” niger als sechsundzwanzig Silben genannt werden kann“. Dieser Ausdruck benennt mit 25 Silben eine Zahl, die nicht mit weniger als 26 Silben benannt werden kann! 1.3 Wege aus dem Dilemma der Paradoxa Nachdem das Auftauchen von Paradoxa in der naiven Mengenlehre Cantors diese Grundlegung der Mathematik in Frage gestellt hatte, wurden mehrere KAPITEL 1. DIE GRUNDLAGENKRISE DER MATHEMATIK 6 Anläufe gemacht, einen sauberen und widerspruchsfreien Weg zu finden, die Mathematik auf ein sicheres Fundament zu stellen. 1.3.1 Die Einschränkung des Mengenbegriffes Da alle Antinomien auftreten, wenn der Cantorsche bzw. Fregesche Mengenbegriff zu sehr ausgereizt wird (Menge aller Mengen etc. ⇒ syntaktische Antinomien), oder verschiedene Bedeutungsebenen vermischt werden (Aussagen und Aussagen über Aussagen, Eigenschaften und Eigenschaften von Eigenschaften etc. ⇒ semantische Antinomien), lag der Gedanke nahe, den Mengenbegriff einzugrenzen und somit ein Entstehen der Paradoxa zu verhindern. Ähnlich der Begriffe Punkt“ und Gerade“ in Euklids Geometrie, ” ” wurde der Begriff der Menge axiomatisch eingeführt, also unter Angabe einer Anzahl von Bedingungen (Axiome), die zu gelten hätten, wenn von einer Menge die Rede sein sollte. Eines der ersten Systeme einer Axiomatischen Mengenlehre ist das von Zermelo 1908 angegebene und von Abraham Fraenkel (1891–1965) verfeinerte der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre. John von Neumann (1903–1957) gab eine Möglichkeit an, die natürlichen Zahlen darin zu definieren, indem man für jede Zahl eine bestimmte Menge als Repräsentanten auswählt (und nicht wie Frege antinomieverdächtige Äquivalenzklassen): Null sei die leere Menge (die einer widersprüchlichen Eigenschaft entspricht), Eins die Menge, die der Eigenschaft entspricht, gleich Null zu sein, Zwei die Menge, die der Eigenschaft entspricht, gleich Null oder Eins zu sein usw.: 0 sei {x : x 6= x}, Bezeichnung: ∅ 1 sei {x : x = 0}, also {∅} 2 sei {x : x = 0 ∨ x = 1}, also {∅, {∅}} 3 sei {x : x = 0 ∨ x = 1 ∨ x = 2}, also {∅, {∅}, {∅, {∅}}} .. . n + 1 sei {x : x = 0 ∨ . . . ∨ x = n} = n ∪ {n} Die gesamte Arithmetik lässt sich auf diesen Repräsentanten und auf den mengentheoretischen Funktionen Vereinigung, Durchschnitt, Elementsein usw. aufbauen. Tatsächlich ließen sich die bekannten Antinomien in der axiomatischen Mengenlehre nicht mehr herleiten. Allerdings hieß das noch lange nicht, dass nicht irgendwann wieder Antinomien auftreten würden. Eine durch keinen ” widerlegenden Widerspruch zu hemmende unrichtige Theorie ist darum nicht weniger unrichtig, so wie eine durch kein reprimierendes Gericht zu hemmende verbrecherische Politik darum nicht weniger verbrecherisch ist“ , meinte Luitzen Egbertus Jan Brouwer (1871–1953) [1]. Außerdem blieb die auf der