1 Freiheit in Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloβen

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Das Böse: Fluch oder Segen?
Kant und Schelling über das Böse und die Freiheit des Menschen
Masterarbeit
Studiengang Philosophie (Research Master)
Universität Amsterdam
Betreuer: Victor Kal
Amsterdam, den 19. August 2010
Matthé Scholten (0272825)
Groen van Prinstererstraat 13-hs
1051 ED Amsterdam
[email protected]
06 17 308 772
Inhaltsaufgabe
Abkürzungen
3
Einleitung
4
1 Die Verwirklichung der Freiheit
9
1.1 Der systematische Kontext der Religionsschrift
9
1.2 Die Idee des höchsten Guts in der Welt
11
2 Kant: Die menschliche Freiheit al Grund des Bösen
16
2.1 Der Hang zum Bösen
16
2.2 Der Beweis des Hanges zum Bösen
18
2.3 Die intelligible Tat
26
3 Freiheit und System
29
3.1 „Als ob“ und System
34
3.2 Der Systemansatz der Freiheitsschrift
4 Von Kant Schelling: Die intelligible Tat als Mittelpunkt des Systems
36
4.1 Die Freiheitsschrift: Eine Übersicht der wissenschaftlichen Diskussion 36
4.2 Nochmals die intelligible Tat
38
4.3 Das Wesen des Böse
41
4.4 Die Umkehr zum Guten
46
4.5 Moralische und ontologische Freiheit
49
Schluss
51
Literaturliste
53
2
Abkürzungen
GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Seitenangaben nach Band IV der
Akademienausgabe.
KdrV Kritik der reinen Vernunft. Seitenangaben nach der Originalausgaben A und B.
KpV
Kritik der praktischen Vernunft. Seitenangaben nach der Originalausgabe.
KU
Kritik der Urteilskraft. Seitenangaben nach der zweiten Originalausgabe B.
MS
Metaphysik der Sitten. Seitenangaben nach Band VI der Akademienausgabe.
RGV
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Seitenangaben nach
der zweiten Originalausgabe B.
WF
Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Seitenangaben nach Band VII der
Sämtlichen Werke.
WA
Die Weltalter. Seitenangaben nach der Paginierung der Originaldrucke.
3
Einleitung
Das Böse ist ein Thema, zu dem man vielleicht lieber keine Masterarbeit schreiben
möchte. Warum würde einer das Böse in den Vordergrund stellen wollen? Wenn es
darauf ankommt, das Böse anzuerkennen, ziehen wir es vielmals vor, es heimlich
verschwinden zu lassen. Das zeigt sich schon am Sprachgebrauch: Während wir das
Wort „gut“ sehr häufig, mit großer Selbstverständlichkeit und spielender Leichtigkeit
benutzen, zögern wir offenbar so sehr mit dem Wort „böse“, dass wir es nur selten in
den Mund nehmen. Das Böse hat etwas Bedenkliches, etwas Abschreckendes sogar,
jedenfalls etwas, mit dem wir lieber nicht konfrontiert werden wollen. Das Böse fängt
an, wo unser Verständnis aufhört. Wenn uns „böse“ Taten vor die Augen geführt
werden, fragen wir uns: „Wie könnte man so etwas machen?“ Unser Unvermögen, böse
Taten verstehen zu können, führt uns oftmals dazu, dem Täter eine psychische
Krankheit zuzuschreiben. Wir sind uns dabei gleichwohl nicht bewusst, dass wir damit
die böse Tat zu einem bloßen Naturvorgang herabsetzen. „Böse“ ist eine moralische
Qualifikation und setzt als solche Freiheit voraus. Indem wir den Täter
unzurechnungsfähig erklären, ist das Böse annulliert. Hier zeigt sich das Paradox des
Bösen: Es scheint gerade nur da zu sein, wo es nicht ist.
Gerade weil das Böse eine marginale Erscheinung ist, vermag es auch zu
faszinieren. Wenn das Böse ästhetisiert wird – und damit auch gewissermaßen
unschädlich gemacht –, kann eine außerordentliche Anziehungskraft davon ausgehen.
Die Figur des großen Verbrechers aus der modernen Literatur zeigt uns mit seinem
unangepassten und gesetzesüberschreitenden Benehmen, dass er den Gepflogenheiten
der bürgerlichen Moral nicht unterworfen ist. Seine bösen Taten erbringen uns den
Beweis seiner radikalen Individualität. Indem wir uns mit dem Verbrecher identifizieren,
sind wir imstande, freilich ohne dazu böse Taten begehen zu müssen, die Vorurteile, in
denen wir befangen waren, abzulegen und wie unser Held eine absolute Einzigartigkeit
zu beanspruchen. Die bösen Handlungen, mit denen der Verbrecher seine Eigenheit
bezeugt, stellen zugleich die bürgerlichen Sitten in den Verdacht, trotz ihrem Anspruch
auf Vollkommenheit, nur „Scheingutes“ zu repräsentieren, denn wenn die bösen
Handlungen auf absoluter Individualität beruhen müssen, so auch die guten; und wie
können die „gewissenhaften“ Menschen, die alles „nach Sitten und Gebrauch“ tun, d. h.
lediglich pflichtmäßig handeln, behaupten, ein solches Individuum zu sein?
Diesbezüglich ist es nicht erstaunlich, dass vor allem in der Jugendkultur eine
4
„sympathy for the devil“ auftaucht. Die Faszination, die das Böse auszulösen vermag,
darf uns jedoch nicht dazu verführen, uns an den Teufel auszuliefern, denn der Preis,
den wir dafür zu zahlen hätten, wäre nicht weniger als unsere Freiheit.
Kehren wir zum Paradox des Bösen zurück: Das Böse ist gerade da, wo es nicht
ist. Dieser Paradox hat Metaphysiker veranlasst, die Frage nach dem Seinscharakter des
Bösen zu stellen: Auf welcher Weise „ist“ das Böse? „Ist“ das Böse überhaupt? Eine
Metaphysik des Bösen versucht solche Fragen zu beantworten. Die Versuche, die es in
der Geschichte der Metaphysik gegeben hat, sind, wenn es erlaubt ist sehr grob zu
vereinfachen, auf zwei Modelle zurückzubringen: Ein monistisches und ein
dualistisches Modell.
Das monistische Modell findet seinen exemplarischen Ausdruck in der
Emanationslehre Plotins. Nach der Emanationslehre kann alles, was ist, auf das Eine,
aus dem es im Prozess der Emanation hervor gequellt ist, zurückgeführt werden; alles
Seiende verdankt dem Einen sein Sein. Indem das Eine zugleich das Gute ist, ist alles,
was ist, insofern es ist, gut. Im Prozess der Emanation gibt es gleichwohl verschiedene
Abstufungen: Im Ablauf vom völlig Geistigen zu immer mehr Materiellen gibt es eine
graduelle Abnahme an Sein. Das Böse entsteht nun, indem die nicht-erleuchtete Materie
sich vom Einen löst, d. h. wenn sie als nicht seiend – denn nicht mehr in Kontakt mit
dem Einen – dennoch wirklich ist: Das Böse ist eine Privation oder Abwesenheit des
Guten. Der Unterschied zwischen guten und schlechten Handlungen ist, wie Schelling
sich ausdrückt, ein „bloßes Plus und Minus der Vollkommenheit“. (WF, S. 353) Im
eigentlichen Sinne „ist“ das Böse nicht. Anhand des monistischen Modells können wir
die Existenz des Bösen nur erklären, indem wir gerade leugnen, dass das Böse ist. Das
monistische Modell vermag das Paradox des Bösen nicht zu lösen.
Auch die Versuche, das Böse anhand des dualistischen Modells zu erklären,
laufen letztlich schief. Mani – dessen Lehre uns vor allem über Augustin bekannt ist –
nahm zur Erklärung des Bösen in der Welt zwei positive, substantivierte Mächte an: Ein
guter Gott und ein böser Gott. Der Streit zwischen Gut und Böse, den wir in dieser Welt
wahrnehmen können, spielt sich eigentlich zwischen den zwei himmlischen Feinden ab.
Mit diesem Kunstgriff wird jedoch der Mensch zum Spielball des guten und schlechten
Gottes gemacht: Die Manichäische Lehre bedeutet für den Menschen gerade so viel
Gewissensruhe als Freiheitsverlust. Mani bringt es nicht fertig, das moralische Böse zu
begründen, denn wenn die menschliche Freiheit ausgelöscht wird, so auch das
moralische Böse.
5
Auf Basis dessen, was bis jetzt erörtert worden ist, kann die Theodizee-Frage, die aus
theologischer Hinsicht gestellt wird, einsichtig gemacht werden. Wie kann Gott
angesichts des Bösen in der Welt gerechtfertigt werden? Oder: Wie ist die Allmacht und
Allgütigkeit Gottes mit der Existenz des Bösen in Übereinstimmung zu bringen? Wenn
das Böse als eine Gott gegenüberstehende, eigenständige Macht sein soll, so wäre dies
im Widerstreit mit der Allmacht Gottes. Soll das Böse dagegen ein Geschöpf Gottes
sein, so würde dies der Allgütigkeit Gottes widersprechen. Obwohl die Problematik
natürlich erheblich komplizierter ist, als ich sie dargestellt habe, scheint der Theodizee
darauf hinauszulaufen, dass Gott nur gerettet werden kann, indem das Böse geleugnet
wird. Es führt im Rahmen dieser Arbeit zu weit, hier die von Leibniz vorgeschlagene
Lösung zum Theodizee-Problem zu besprechen, zumal diese Arbeit sich keiner
theologischen Fragestellung annimmt.
Diese Arbeit fokussiert sich auf den moralischen Deutungsversuch des Bösen.
Ein moralischer Deutungsansatz stellt sich primär die Frage, wie der Mensch für das
Böse zur Rechenschaft gezogen werden kann. Zugegeben, auch bei metaphysischen und
theologischen Deutungsversuchen kommt die menschliche Verantwortung für das Böse
in den Betracht. Die menschliche Verantwortung für das Böse ist in diesen Kontexten
jedoch zunächst Antwort auf die Frage, die gestellt wird – sie bildet nicht die
Problemstellung.
Zwischen
metaphysischen,
theologischen
und
moralischen
Deutungsversuchen gibt es somit keine – oder jedenfalls nicht unbedingt – Konkurrenz:
Der Unterschied liegt vielmehr in der Fragerichtung.
Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und Schellings
Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und damit
zusammenhängenden Gegenstände sind klassische moralische Deutungsversuche des
Bösen. Die Problemstellung ergibt sich aus der praktischen Philosophie Kants, die er in
der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
dargelegt hat.
1
Kant unterscheidet in seiner praktischen Philosophie zwischen
verschiedenen Arten von Handlungen. Das moralische Gesetz funktioniert als das
Kriterium für die Unterscheidungen. Da es für Handlungen jeweils nur einen
ausschlaggebenden Grund geben kann, muss eine Handlung entweder aus Pflicht,
1
Ich beziehe mich im Folgenden auf Prauss (1983, v. a. S. 70 - 83). Prauss hält jedoch Kants „Theorie der
radikalen Bösen“ für einen „scheiternde[n] Lösungsversuch“. (Ebd. S. 83) Ich werde in dieser Arbeit
dagegen versuchen aufzuweisen, dass Kants Deutungsansatz in der Religionsschrift erfolgreich gewesen
ist. Prauss schließt auf das Scheitern, weil er unvermögend ist, den rekonstruktiven Charakter der
kantischen Untersuchung einzusehen. (Vgl. dazu § 2.2 und § 3.2 dieser Arbeit)
6
genauer gesagt um der Moralität der Handlung selbst willen, oder nicht aus Pflicht bzw.
aus Neigung, nämlich um willen der Befriedigung einer Neigung, geschehen. Obwohl
man weiter nuancieren könnte, kann man das menschliche Handeln in drei Kategorien
einordnen: 1.) moralische Handlungen, d. h. Handlungen aus Pflicht, 2.) bloß
pflichtmäßige Handlungen, d. h. dem Gesetz angemessenen Handlungen aus Neigung
und 3.) moralisch böse Handlungen, d. h. gesetzwidrige Handlungen aus Neigung.
Das Moralgesetz dient indessen nicht nur zur moralischen Qualifikation der
Handlungen, sondern wird von Kant auch als Prinzip zur Deduktion der Freiheit
eingesetzt. Kant leitet nicht das Moralgesetz aus der Wirklichkeit der Freiheit, sondern
umgekehrt die Wirklichkeit der Freiheit aus dem Moralgesetz als „Faktum der
Vernunft“ ab. Dementsprechend ist das Verhältnis des moralischen Gesetzes zur
Freiheit analytisch: „[…] ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist]
einerlei.“ (GMS, S. 447)2 Wenn freies Handeln mit moralischem Handeln identisch ist,
bleibt jedoch keine Freiheit für das nicht-moralische Handeln übrig: Das bloß legale und
das moralisch-böse Handeln wird zur reinen Heteronomie bzw. Fremdbestimmung
herabgesetzt. Handlungen, die nicht aus Pflicht und demzufolge nicht aus Freiheit
geschehen, kommen nicht für eine moralische Beurteilung in Betracht. Indem das
Sittengesetz sowohl das Kriterium zur Unterscheidung guter und böser Handlungen als
auch das Prinzip zur Deduktion der Freiheit ist, meint die Beurteilung einer bestimmten
Handlung als böse zugleich auch deren Aufhebung als Handlung. Aufs Neue scheint
das Böse sich nur dort aufhalten zu können, wo es gerade nicht sein kann.
Diese Arbeit stellt sich die Frage, wie der Mensch für das Böse zur Rechenschaft
gezogen werden kann. Sie hat sich damit zur Aufgabe gestellt, ein fundamentales
Problem der Autonomiephilosophie zu lösen. Das Böse stellt jedoch nicht nur ein
philosophisches Problem dar; es wird sich nämlich erweisen, dass gerade die Reflexion
auf das moralische Böse dem Philosophen Wege zu öffnen vermag, die ihm sonst
verschlossen bleiben müssten. Die Untersuchung wird erstens zur Einsicht gelangen,
dass das Böse ein gewisses Erklärungspotenzial hat: Das Böse vermag zu erklären,
warum die Freiheit, obzwar sie wirklich sein muss, dies in vielen Fällen nicht ist. Die
Untersuchung wird zweitens ein kritisches Potenzial des Bösen bloßlegen. Die
Anerkennung des Bösen vermag nämlich die Gewissensruhe des Menschen als
Selbstbetrug zu entlarven. Die Arbeit stellt sich gleichwohl noch eine kühnere Frage,
2
Vgl. auch KpV, S. 4 f., 52, 56, 59, 72, 79 f., 128.
7
nämlich: Was hat das moralische Böse positiv über das Wesen der menschlichen
Freiheit zu sagen? Es wird sich ergeben, dass mittels einer Analyse des moralischen
Bösen eine für die Moderne maßgebende Freiheit bloßgelegt werden kann, und zwar:
eine Freiheit als Selbstbestimmung. Ich werde die gestellten Fragen im zweiten Kapitel,
anhand Kants Religionsschrift, zu beantworten versuchen. Das erste Kapitel dient
vorerst dazu, den systematischen Kontext der Frage nach dem moralischen Bösen
darzulegen: Die Frage nach dem Bösen wird gestellt vor dem Hintergrund der
Problematik einer Verwirklichung der Freiheit. Das erste Kapitel unterstützt zudem die
Vorbereitung auf die Frage, die ich erst im dritten und vierten Kapitel zu beantworten
versuchen werde: Wie ist das moralische Böse mit einem Systemansatz in
Übereinstimmung zu bringen? Oder positiv formuliert: Welche Möglichkeiten eröffnet
die Reflexion auf das moralische Böse der Idealistischen Philosophie? Diese Fragen
stehen im Kontext der Frage, welche Konsequenzen die Anerkennung des Bösen für die
Methode der Philosophie hat. Ich werde behaupten, dass die Philosophie, wenn sie dem
moralischen Bösen gerecht werden soll, eine doppelte Methode, in der Deduktion und
Rekonstruktion sich gegenseitig ergänzen, in Anspruch nehmen muss. Das dritte Kapitel
dient dazu, der Systemansatz der Freiheitsschrift von anderen Systemansätze im
Deutschen Idealismus unterscheiden zu können. Das vierte Kapitel wird inhaltlich näher
auf die Freiheitsschrift eingehen.
Schellings Freiheitsschrift ist ein sehr komplizierter Text. Deshalb werde ich erst
eine Interpretation der Religionsschrift Kants herausarbeiten und diese dann als
heuristisches Instrument zur Interpretation der Freiheitsschrift heranziehen. Aus diesem
Grund habe ich entschieden, Kants Deutung des Wesens des Bösen und der Umkehr
zum Guten erst im vierten Kapitel, die eigentlich Schellings Freiheitsschrift gewidmet
ist, zu erörtern. (§ 4.3 und § 4.4) Ich beschränke mich in dieser Arbeit auf die folgenden
primären Texten: Kants Kritik der praktischen Vernunft und Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft und Schellings Abhandlung über das Wesen der
menschlichen Freiheit. In Einzelfällen erlaube ich es mir, aus anderen primären Texten
zu zitieren. Die Arbeit hat sich nicht zum Ziel gesetzt, die Grundbegriffe der
praktischen Philosophie Kants zu erläutern. Eine Bekanntschaft mit Begriffen wie
Sittengesetz, Pflicht, Imperativ und Autonomie – und mit deren ungeläufigen
Bedeutung – wird vorausgesetzt.
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1 Die Verwirklichung der Freiheit
Bevor auf das Thema des Bösen eingegangen werden kann, soll erst der systematische
Kontext der Frage nach dem Bösen geklärt werden. Die Frage nach dem Bösen wird
gestellt im Rahmen der Problematik der Verwirklichung der Freiheit. (§ 1.1) Eine
Analyse von Kants Idee des höchsten Guts in der Welt befähigt uns, diese Problematik
detailliert darzustellen. (§ 1.2)
1.1 Der systematische Kontext der Religionsschrift
Um den systematischen Kontext der Religionsschrift klären zu können, ist es hilfreich,
mit den drei Fragen anzufangen, welche sich die Vernunft, Kant zufolge, stellt: (KdrV,
S. A 805, B 833)
1. Was kann ich kennen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?
In diesem Buch über die Religion – als dem Teil des Lebens, worin Glaube und
Hoffnung einen Platz haben – wird offenbar der Versuch geleistet, die dritte Frage zu
beantworten. Die erste und zweite Frage sind der theoretischen beziehungsweise der
praktischen Philosophie Kants zuzuordnen.
In der Kritik der reinen Vernunft wird die erste Frage mittels einer Eingrenzung
– und das bedeutet zugleich die Freilegung – des Möglichkeitsraums des Erkennens
beantwortet. Die Erkenntnis von Gegenständen ist uns, der theoretischen Philosophie
Kants zufolge, nur möglich, sofern diese als Erscheinungen betrachtet werden, nicht
aber als Dinge an sich.3 Wenn die Dinge als Erscheinungen betrachtet werden, erfüllen
sie die notwendigen subjektiven Bedingungen für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis.
Sowohl unsere Anschauungsformen – Raum und Zeit – als auch die Kategorien des
Verstandes sind dadurch empirisch real. Eine dieser Kategorien des Verstandes ist die
3
Ich bin der Meinung, dass die kantische Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich von
methodologischer bzw. epistemologischer Art ist. Ich benutze die Formulierung „sofern sie betrachtet
werden als“, um mich von einer ontologischen Interpretation der Unterscheidung zu distanzieren. Es
spricht für sich, dass „betrachten“ nicht im Sinn der sinnlichen Erfahrung verstanden werden muss. Auch
Kant benutzt hier das Verb „betrachten“. (Vgl. KdrV, S. B XIX, GMS, 451 ff.).
9
Kategorie der Kausalität. Die Dinge, vorausgesetzt sie sind Gegenstände des Erkennens,
sind also immer in kausalen Beziehungen eingebunden. Dies hat zur Folge, dass auch
der Mensch, sofern er Gegenstand des Erkennens ist, immer in kausale Zusammenhänge
eingebunden, d. h. völlig determiniert ist.
Die Kritik der praktischen Vernunft versucht die zweite Frage zu beantworten:
Was muss ich tun? Um diese Frage beantworten zu können, muss aber der Mensch als
frei gedacht werden; denn wie könnte einem unfreien Wesen etwas moralisch befohlen
sein? Kant konzipiert die Freiheit des Menschen als Autonomie, d. h. als das Vermögen,
sich selbst das Gesetz geben zu können. Das Handeln des Menschen kann also nur
durch den Menschen selbst und nicht durch anderes bestimmt werden. Die Konzeption
des Menschen, einerseits als determiniertes, andererseits als freies Wesen, erscheint
widersprüchlich: Wie kann ein Mensch zugleich frei und determiniert sein? Er ist doch
entweder frei oder determiniert?
Die theoretische Lösung dieses Widerspruchs leistet Kant in der Kritik der
reinen Vernunft. (KdrV, A 444 ff., B 472 ff.) Seine Lösung läuft darauf hinaus, dass es
nur einen scheinbaren Widerspruch zwischen den beiden Aussagen – der Mensch ist frei,
der Mensch ist determiniert – gibt. In den Aussagen wird nämlich der Mensch in
verschiedener Perspektive betrachtet: einmal als Ding an sich und einmal als
Erscheinung. Der Mensch ist nur in dem Sinne, dass er auf zwei verschiedenen Weisen
betrachtet werden kann, „Bürger zweier Welten“. Der Widerspruch ist in theoretischer
Hinsicht gelöst.
Für die praktische Vernunft gibt es aber dennoch ein Problem. Das Sittengesetz
ist ein „Faktum der Vernunft“, d. h. der Mensch lebt in der unmittelbaren Sicherheit,
dass ihm etwas moralisch befohlen ist. Da die Idee einer prinzipiell unrealisierbaren
Pflicht widersinnig ist, kann aus dem Faktum, dass dem Menschen etwas zur Pflicht
gestellt ist, geschlossen werden, dass er diese Pflicht realisieren kann: „Du kannst, denn
du sollst.“ Aus dem Sittengesetz, als formaler Bedingung des Gebrauches der Freiheit,
kann mithin die Wirklichkeit der Freiheit gefolgert werden: Meine Freiheit muss in der
Sinnenwelt realisiert werden können. Vom Standpunkt des Sittengesetzes aus gesehen
bedeutet dies, dass die Verbindlichkeit des Sittengesetzes seine „objektive Realität“, d.
h. die Möglichkeit der Realisierung dessen Endzwecks in der Sinnenwelt, impliziert.
Soll die objektive Realität der Freiheit und des Sittengesetzes garantiert werden,
so muss das Sollen mit der Wirklichkeit, die Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität
der Natur verbunden werden. Keine Erfahrung kann mir indessen davon versichern,
10
dass meine Freiheit wirklich ist bzw. das Sittengesetz objektive Realität hat, denn wenn
wir von Erfahrung sprechen, sind wir wieder im Bereich der theoretischen Vernunft. Da
es in der Erfahrung nur Raum für die Kausalität der Natur gibt, kann die moralische
Qualität der Auswirkungen meines moralischen Handelns nie ihr Gegenstand werden.
Wenn der Mensch nicht in einen unmöglichen Spagat zwischen zwei „Welten“ geraten
soll, muss die „Kluft“ zwischen den ersten beiden Kritiken überbrückt werden.
1.2 Die Idee des höchsten Guts in der Welt
Traditionell wird – übrigens ganz zu Recht – zur Lösung des Problems einer
Vermittlung von Freiheit und Natur auf die dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft,
hingewiesen. Auch in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft versucht
Kant dieses Problem zu lösen. In dem Text versucht er das Sollen mit dem Wirklichen,
oder in der Terminologie der Religionsschrift: die „Pflicht“ mit der angemessenen
„Glückseligkeit“ zu verbinden. Gleich am Anfang des Buches macht Kant deutlich, dass
die Moral sich selbst genügt, und das heißt hier insbesondere, dass die Moral der
Religion nicht bedarf. Das moralische Gesetz an sich reicht als Bestimmungsgrund des
Willens schon aus. Dennoch schließt die Moral die Idee eines Endzweckes des
moralischen Handelns ein, dessen Realisierung, wie wir gesehen haben, außerhalb der
Grenzen der bloßen praktischen Vernunft liegt. Kant nennt diesen Endzweck, der die
Pflicht und die Glückseligkeit „zusammen vereinigt in sich hält“, „die Idee eines
höchsten Guts in der Welt“. (RGV, S. VII) Allein mit dieser Idee kann „der Verbindung
der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht
entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden […]“. (RGV, S. VIII)
Die Idee des höchsten Guts enthält die Vorstellung eines weltlichen Zustands, in
dem jeder auf vollkommene Weise sittlich und in präziser Proportion dazu glückselig ist.
Kant wird nicht müde zu betonen, dass die Idee des höchsten Guts, als Endzweck des
moralischen Handelns, kein Grund, sondern nur eine notwendige Folge des Gebrauches
der Freiheit ist. Da die Idee eines höchsten Guts in der Welt die Pflicht mit der
angemessenen Glückseligkeit verbindet bzw. die „Kluft“ zwischen der praktischen und
der theoretischen Vernunft, zwischen Freiheit und Natur, überbrückt, müssen wir zu
deren Möglichkeit „ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen
annehmen […] das allein beide Elemente desselben [Pflicht und Glückseligkeit]
vereinigen kann“. (RGV, S. VII) Nur bei der praktischen Annahme eines Gottes, der
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zugleich moralischer Gesetzgeber und Urheber der Welt ist, kann die Wirklichkeit der
Freiheit und die objektive Realität des Sittengesetzes gesichert werden. Zwar bedarf die
Moral um ihrer selbst willen der Religion nicht, aber sie „führt unumgänglich zur
Religion“. (RGV, S. IX) Wenn wir auch zur Realisierung des Endzwecks des
moralischen Handelns auf Hoffnung angewiesen sind, so werden wir nicht von unserer
moralischen Pflicht entlassen. Nur unter der Bedingung, dass wir im moralischen
Handeln den Beistand Gottes würdig werden, dürfen wir hoffen, dass Gott unsere
Anstrengungen vollendet:
Er [der Mensch] muß [...] so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur
unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner
wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen. (RGV, S.
141)
Die Idee des höchsten Guts – und damit die ganze Religionsphilosophie Kants – ist ein
großer Diskussionspunkt in der Kant-Forschung. Caswell (2006) verschafft uns eine
Übersicht der Diskussion. Auf der einen Seite gibt es die „Überflüssigkeitsthese“. Wie
oben schon erwähnt, ist die Idee des höchsten Guts immer nur Folge, nie aber Grund
des moralischen Handelns. Das einzige, was wir tun können, um unsere Glückseligkeit
zu fördern, ist versuchen, ihr würdig zu werden, d. h. unsere Pflicht ausführen. Dazu
reicht aber das Sittengesetz an sich schon aus, ergo: Die Idee des höchsten Guts ist
überflüssig. Was Caswell nicht herauszustreichen weiß, ist die Voraussetzung dieser
Interpretation, nämlich dass die Geltung des moralischen Gesetzes von der Möglichkeit
des höchsten Guts völlig unabhängig ist. Wie sich später zeigen wird, ist diese
Voraussetzung nicht legitim.
Auf der anderen Seite gibt es die „Revisionisten“. Kant zufolge sind wir zur
Realisierung des höchsten Guts in der Welt, d. h. des Endzwecks des moralischen
Handelns, auf Hoffnung angewiesen. Die Revisionisten folgern hieraus, dass der
Mensch sich der Realisierung des Sittengesetzes nicht ganz zum Verdienst anrechnen
darf. Aus dem Sollen folgt nicht notwendig das Können des Menschen. Die Idee des
höchsten Guts untergrabe dementsprechend die kantische Autonomiekonzeption oder
nötige Kant wenigstens, sein Konzept der Autonomie zu revidieren. Die Revisionisten
müssen sich gewissermaßen über die Passagen der Religionsschrift hinwegsetzen, in
denen Kant betont, dass die Möglichkeit des höchsten Guts das Moralgesetz nicht
bedingt, sondern nur eine notwendige Folge desselben ist.
12
Wie Caswell werde ich aufzuweisen versuchen, dass die Idee des Guten eine
Erweiterung der praktischen Vernunft, mithin nicht überflüssig ist, zugleich aber
kompatibel ist mit dem Autonomieansatz in der Kritik der praktischen Vernunft und in
der Grundlegung. Caswell entwickelt die Idee des höchsten Guts indessen als eine
Alternative für die Selbstliebe. Ihm zufolge kann die Stelle der Selbstliebe nach der
Umkehr zum Guten nicht leer bleiben, denn weil der Mensch sich nach der kantischen
Lehre des radikalen Bösen in der menschlichen Natur (vgl. Kapitel 2) immer schon auf
Selbstliebe als Endzweck seines Handelns ausgerichtet habe, würde eine Leerstelle
einen Rückfall in die Selbstliebe enthalten. (Cawell 2006, S. 204) Die Idee des höchsten
Guts dient folglich der Selbstliebe zum Ersatz. Caswells Argument fußt auf der
anthropologischen Beobachtung Kants, dass wir ein natürliches Bedürfnis haben, „zu
allem unseren Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck […] zu
denken“. (RGV, S. VIII) Ich halte dieses Argument für unzureichend.
Kant insistiert darauf, dass der Satz „Es ist ein Gott, mithin es ist ein höchstes
Gut in der Welt“ ein synthetischer Satz a priori ist. (RGV, S. IX f.) Obzwar die
Glückseligkeit nicht schon in der Pflicht enthalten oder mit ihr identisch ist, geht sie
doch notwendigerweise aus der Pflicht hervor. Wenn auch das höchste Gut in der Welt
eine Erweiterung der praktischen Vernunft ist, so ist sie doch „praktisch
notwendig“
und
muss
die
„Deduktion“
dessen
Möglichkeit
„lediglich
auf
Erkenntnisgründen a priori beruhen“. (KpV, S. 203) In Hinsicht auf einen Beweis für die
Notwendigkeit der Idee des höchsten Guts ist eine anthropologische Beobachtung somit
von Anfang an disqualifiziert. Obwohl Kant eine Verbindung zwischen seiner
anthropologischen Beobachtung und der Notwendigkeit des höchsten Guts vermuten
lässt, wird die Idee des Guten nicht wegen den „unvermeidlichen Einschränkungen des
Menschen“ (vgl. RGV, S. XII), sondern wegen dem Sittengesetz selbst eingeführt.
Um anzeigen zu können, was bei der Einführung der Idee des höchsten Guts in
der Welt auf dem Spiel steht, sei folgendes Zitat angeführt:
Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das
moralische Gesetz […] an sich falsch sein. (KpV, S. 205)
Während die Interpreten, die der Meinung sind, die Idee des höchsten Guts sei
überflüssig, unterstellen müssen, dass das Sittengesetz auch ohne das höchste Gut seine
Validität behält, macht Kant deutlich, dass die Geltung des Sittengesetzes mit der
Möglichkeit des höchsten Guts zusammenfällt. Die Verbindlichkeit des Sittengesetzes
13
konvergiert indessen nicht mit der Möglichkeit des höchsten Guts, sofern letzteres die
Möglichkeitsbedingung des ersten wäre, sondern nur weil die Möglichkeit des höchsten
Guts eine notwendige Folge des Sittengesetz ist: Vorausgesetzt das Sittengesetz ist
gültig, dann ist das höchste Gut in der Welt möglich. Da das Sittengesetz ein „Faktum
der Vernunft“, die Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts in der Welt mithin
immer schon erfüllt ist, muss das höchste Gut in der Welt notwendigerweise möglich
sein; das höchste Gut muss, wie Kant sich ausdrückt, objektiv praktische Realität haben.
Wenn wir auch den logischen Zusammenhang zwischen dem moralischen
Gesetz und dem höchsten Gut verstehen, so bleibt noch die Frage, was wir uns hierbei
vorstellen können. In seiner Religionsschrift gibt Kant uns eine Anzeige. Zwar bedürfen
wir zum Rechthandeln keiner Vorstellung eines Zwecks:
Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft
doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen
möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme […]. (RGV, S.
VII)
Es scheint zunächst so, dass, wie Kierkegaard sich ausdrückt, Arbeit und Lohn nur in
der „Welt des Geistes“ in proportioniertem Verhältnis zueinander stehen, in der
„äußeren Welt“ dagegen „auch derjenige, der nicht arbeitet, sein Brot bekommt,
derjenige, der schläft, es reichlicher bekommt als derjenige, der arbeitet“. (Kierkegaard
2005, S. 201) Obzwar wir nie mit Sicherheit wissen können, ob derjenige, der gut
handelt, in diesem Leben auch glücklich zu werden vermag, muss Kant zufolge
unterstellt werden, dass er darauf wenigstens eine größere Chance hat als der
Verbrecher. Gott, der die „wohlgemeinten Bemühungen“ des Menschen zu vollenden
hat, muss mithin wenigstens so zuverlässig sein, dass er dem moralisch Enthaltsamen
oder sogar dem Verbrecher in diesem Leben nicht eher belohnen würde als dem
Tugendhaften.
Die Idee des höchsten Guts in der Welt stellt sicher, dass das Handeln im
Einklang mit dem moralischen Gesetz keine Ergebnisse in der Sinnenwelt hervorbringt,
die in Bezug auf den Endzweck des moralischen Handelns indifferent, oder sogar
diesem Endzweck entgegengesetzt sind. Die notwendige Verbindung zwischen Pflicht
und Glückseligkeit garantiert, dass moralisches Handeln für dieses Leben weder sinnlos
noch kontraproduktiv ist. Oder positiv formuliert: Moralisches Handeln ist nur möglich,
wenn es auch sinnvoll ist, moralisch zu handeln. Wäre es für dieses Leben nicht sinnvoll,
14
moralisch zu handeln, so wäre das moralische Gesetz „an sich falsch“. Die Idee des
höchsten Guts ist folglich weder überflüssig noch nötigt sie uns, das kantische
Autonomiekonzept neu zu erwägen; vielmehr ist sie eine unerlässliche Idee, um die
Autonomie des Menschen bis zum Ende durchdenken zu können.
15
2 Kant: Die menschliche Freiheit als der Grund des Bösen
Nachdem der systematische Kontext der Frage nach dem Bösen aufgeklärt worden ist,
kann die Frage nach dem Grund des Bösen gestellt werden. Kant weist zuerst einen
universell menschlichen Hang zum Bösen als Grund des Bösen in der Welt an. Es gilt
zu erleuchten, was Kant unter einem Hang zum Bösen versteht. (§ 2.1) Ist es legitim,
über einen universell menschlichen Hang zum Bösen zu reden? Warum hat der Mensch
nicht einen Hang zum Guten? (§ 2.2) Wenn das Böse moralisch gedeutet werden soll,
muss der Hang zum Bösen noch auf eine Freiheitstat zurückgeführt werden können.
Diese Tat muss als letzten Grund des Bösen angewiesen werden. (§ 2.3)
2.1 Der Hang zum Bösen
Es mag verwunderlich erscheinen, dass Kant ein Buch, das von der Realisierung der
Freiheit handelt, mit einer Abhandlung über das anfängt, was er „das radikale Böse in
der menschlichen Natur“ nennt. Welche Notwendigkeit gibt es, hier auf das Böse
einzugehen? Das Böse hat ein Erklärungspotential. Aufgrund unserer Freiheit haben wir
die Aussicht auf die Realisierung des höchsten Guts in der Welt. Die Idee des höchsten
Guts ist, wie oben schon erwähnt worden ist, die Vorstellung eines Zustandes, in dem
jeder sowohl vollkommen sittlich als auch komplett glückselig ist. Das radikale Böse in
der menschlichen Natur vermag nun zu erklären, warum das höchste Gut, obzwar es
notwendig und im Prinzip möglich ist, de facto noch nicht verwirklicht worden ist.
Die Zuschreibung des Bösen am Menschen soll indessen nicht ohne Weiteres als
eine Erniedrigung des Menschen interpretiert werden. Die Verwirklichung des höchsten
Guts in der Welt darf man Kant zufolge mit der Gründung des Reichs Gottes auf Erden
gleichsetzen. Da es dem Menschen zur Pflicht gestellt ist, das Kommen dieses Reichs
zu befördern, muss er dazu auch imstande sein. Wenn auch das Böse uns zunächst nur
den Blick zum verzehrenden Feuer der Hölle zu eröffnen scheint, so offenbart es uns
zugleich die Größe des Projekts, dessen Realisierung dem Menschen abverlangt wird.
Das radikale Böse in der menschlichen Natur zeigt dann nicht primär die Verdorbenheit
des Menschen, sondern vielmehr die Größe des Maßstabes, an dem er gemessen wird.
Von dem Menschen wird nämlich gefordert, sich für die Verwirklichung des höchsten
Guts in der Welt bzw. die Gründung des Reichs Gottes auf Erden verdienstlich zu
machen. Dass dem Menschen das Böse zugeschrieben wird, offenbart mithin nicht seine
16
Nichtigkeit, sondern vielmehr seine Größe. Die Bosheit des Menschen wird damit
gleichwohl nicht unschädlich gemacht, denn sie bleibt wesentlich ambivalent; sie birgt
einerseits die Versprechung in sich, dass der Mensch sich für die Gründung des Reichs
Gottes auf Erden verdienstlich machen kann, anderseits die Möglichkeit, dass der
Mensch nicht nur bei dieser Forderung in Verzug bleibt, sondern sich vielmehr zum
großen Widersacher des Guten machen kann. Das radikale Böse in der menschlichen
Natur weist darauf hin, dass der Mensch, um mit Schelling und von Baader zu sprechen,
nur unter oder über dem Tier stehen kann.
Kant zufolge ist ein „Hang zum Bösen“ in der menschlichen Natur verwurzelt.
Unter einem Hang versteht Kant „den subjektiven Grund der Möglichkeit einer
Neigung“. (RGV, S. 20) Unter einer Neigung versteht Kant wiederum eine „habituelle
Begierde“. (Ebd.) Der Hang zum Bösen des Menschen besagt somit weder, dass seine
Handlungen immer böse seien, noch dass er eine Neigung oder habituelle Begierde zum
Bösen habe, sondern nur, dass er für eine Neigung zu bösen Handlungen zugänglich ist.
Der Hang zum Bösen zeigt sich beim Menschen vor allem daran, dass er bei sich selbst
eine Verführung des Bösen spüren kann. Dies kann anhand eines nicht-moralischen
Beispiels erläutert werden. Ich trinke etwa ein- oder zweimal die Woche ein Bier. Ich
habe somit keine Neigung oder habituelle Begierde, Bier zu trinken. An den meisten
Tagen, vor allem am day after, habe ich überhaupt keine Lust auf Bier. Nun, ich trinke
Bier, weil ich es lecker finde und es sozial ist; man philosophiert jedoch, wie Aristoteles
zu verstehen gegeben hat, um des Philosophierens selbst willen. Wenn ich am nächsten
Tag meine Magisterarbeit schreiben, d. h. philosophieren muss, scheint es mir darum
besser, kein Bier zu trinken. Das Bierchen, das mir auf der Feier angeboten wird, ist
gleichwohl sehr verführerisch. Diese Verführung offenbart mir, dass ich zwar keine
habituelle Neigung zum Biertrinken habe, wohl aber für diese Neigung zugänglich bin:
Ich habe einen Hang zum Biertrinken.
Mein Hang zum Biertrinken schließt jedoch nicht aus, dass ich aus Pflicht das
Bierchen stehen lasse. Wenn wir dies auf eine moralische Ebene hinüberführen, kann
gefolgert werden, dass der Hang zum Bösen mit dem Handeln aus Pflicht, d. h. mit dem
moralischen Handeln, kompatibel ist: Der Hang zum Bösen kann „mit einem in
allgemeinen guten Willen zusammenbestehen“. (RGV, S. 36) Die Behauptung, dass der
Mensch mit einem Hang zum Bösen behaftet ist, impliziert folglich nicht, dass seinen
Handlungen höchstens Legalität zukomme; vielmehr kann ihnen auch Moralität
zugeschrieben werden. Der menschliche Hang zum Bösen drückt nicht aus, dass der
17
Mensch notwendig nach bösen Maximen handelt, sondern nur, dass das Handeln nach
bösen Maximen ihm möglich ist: Der Hang zum Bösen besteht in „dem subjektiven
Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“.
(RGV, S. 21)
2.2 Der Beweis des Hanges zum Bösen
Die große Frage ist nun, warum der Mensch einen Hang zum Bösen, nicht aber einen
Hang zum Guten hat. Wie rechtfertigt Kant seine Lehre vom radikalen Bösen in der
menschlichen Natur? In der Sekundärliteratur stellt sich diese Frage folgendermaßen:
Kann der Hang zum Bösen a priori aus dem moralischen Gesetz deduziert werden oder
brauchen wir empirisches Material, um die Existenz des Hanges beweisen zu können?
Ich werde nun versuchen zu zeigen, dass der universelle Hang zum Bösen weder eine
empirische Verallgemeinerung ist, noch rein formal aus dem moralischen Gesetz
abgeleitet werden kann. Oder positiv formuliert: Ich werde vorweisen, dass der Beweis
des menschlichen Hanges zum Bösen auf einer systematischen Rekonstruktion beruht.
Nach meiner Interpretation braucht Kant einen minimalen Verweis auf die Empirie,
aufgrund dessen er dann a priori auf den Hang zum Bösen schließen kann.
In seiner Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sagt Kant
Folgendes über den Beweisgang:
Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse,
darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die
Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis
ersparen. (RGV, S. 27 f.)
Allison (1990, 2002) weist darauf hin, dass Kant, obzwar er in seiner Religionsschrift
den formalen Beweis nicht liefert, die Möglichkeit eines solchen Beweises nicht
verkennt. Die Bemerkung Kants veranlasst Allison zu untersuchen, ob der Hang zum
Bösen a priori aus dem Pflichtcharakter des Sittengesetzes deduziert werden kann. Er
beantwortet diese Frage positiv. Allisons Argument fußt auf Kants „Rigorismus“. Der
enthält, dass die Gesinnung des Menschen entweder gut oder böse sein muss. Der
Rigorismus folgt aus Kants Annahme, dass unter den verschiedenen Triebfedern einzig
das moralische Gesetz an sich zur Bestimmung der Willkür ausreicht. Wenn das
moralische Gesetz ein Faktum der Vernunft, zugleich aber für sich schon ausreichend
18
zur Bestimmung der Willkür ist, so ist der Mangel der Übereinstimmung mit dem
moralischen Gesetz im Handeln nur als Folge einer dem Sittengesetz widerstrebenden
Gesinnung möglich. (Vgl. RGV, S. 9 f.) Der Rigorismus ermöglicht Allison, den Hang
zum Bösen mittels der Elimination der gegensätzlichen Möglichkeit, nämlich die eines
„Hanges zum Guten“, beweisen zu können. Allison ist der Meinung, dass die
Möglichkeit eines „Hanges zum Guten“ tatsächlich eliminiert werden kann: Einem gut
gesinnten Subjekt würde das Sittengesetz nicht als Imperativ und die Forderungen
dessen nicht als Pflicht vorkommen. (Allison 1990, S. 154 ff.; 2002, S. 342) Da der
Hang entweder gut oder böse sein muss, die Möglichkeit eines „Hanges zum
Guten“ sich aber nicht mit dem Pflichtcharakter des Sittengesetzes verträgt, könne die
Notwendigkeit eines Hangs zum Bösen a priori aus dem Sittengesetz deduziert werden.
Ich habe zwei Bedenken gegen Allisons Interpretation. Erstens, die Möglichkeit
eines „Hanges zum Guten“ ist nicht nur kompatibel mit dem Pflichtcharakter des
Sittengesetzes, sondern fördert diesen sogar. Das Sittengesetz reicht nämlich nur darum
als Bestimmungsgrund des Willens hin, weil es dem Menschen als Imperativ gestellt ist.
Hätte das moralische Gesetz nicht den Charakter der Pflicht, wäre es eine Triebfeder
unter vielen. Ein gut gesinnter Mensch, der sich zum moralischen Gesetz wie zu einer
Triebfeder unter vielen verhalten würde, würde nur zufällig und demzufolge gar nicht
moralisch handeln. Die Möglichkeit eines „Hanges zum Guten“ kann mithin nicht
hinsichtlich des Pflichtcharakters des moralischen Gesetzes eliminiert werden.4 Es gibt
aber noch ein wichtiges Argument, warum die Möglichkeit eines „Hanges zum
Guten“ nicht ausgeschlossen werden kann. Die Elimination der Möglichkeit eines
„Hanges zum Guten“ würde nämlich die „Revolution der Gesinnung“ (vgl. § 4.4), d. h.
die Umkehr vom Bösen zum Guten, unmöglich machen. Kant macht deutlich, dass
gerade die Möglichkeit einer Revolution der Gesinnung, d. h. die Umkehr vom Hang
zum Bösen zum „Hang zum Guten“, gemäß der Formel des „du kannst, denn du
sollst“ a priori aus dem Sittengesetz deduziert werden kann; der Pflichtcharakter des
Sittengesetzes („du sollst“) schreibt gerade die Möglichkeit einer guten Gesinnung bzw.
eines „Hanges zum Guten“ vor. Die Existenz eines Hanges zum Bösen kann
4
Allison rechtfertigt die Elimination eines Hanges zum Guten auch aufgrund der Beobachtung, dass ein
Subjekt mit einem Hang zum Guten für Verführung nicht zugänglich wäre. (Allison 1990 S. 155, 2002 S.
342) Das ist zwar richtig, aber um wissen zu können, dass es für den Menschen jederzeit die Möglichkeit
der Verführung gibt, braucht man jedoch einen Verweis auf die moralische Erfahrung. Die prinzipielle
Möglichkeit der Verführung kann jedenfalls nicht a priori aus dem Sittengesetz abgeleitet werden.
19
infolgedessen nicht durch Ausscheidung der gegenteiligen Möglichkeit bewiesen und
mithin nicht a priori aus dem moralischen Gesetz abgeleitet werden.
Kant betont in seiner Religionsschrift mehrere Male, dass er die Empirie braucht,
um den menschlichen Hang zum Bösen beweisen zu können. (Vgl. RGV, S. 6, 15, 27,
32) Dass der Beweis des Hanges zum Bösen nicht a priori geliefert werden kann und
empirisches Material erfordert, bedeutet jedoch nicht, dass das Böse zu einem
empirisch-anthropologischen Problem herabgesetzt wird. Ich werde im Folgenden
versuchen zu zeigen, dass Kant einen minimalen Verweis auf die Erfahrung braucht, auf
Basis dessen er die Notwendigkeit eines Hanges zum Bösen formal ableiten kann.
Präziser gesagt: Ich werde versuchen aufzuweisen, dass wir eine einzige böse Handlung
brauchen, um auf einen universellen Hang zum Bösen schließen zu können.
Das Problem, mit dem der Versuch zu einem empirischen Beweis der
Notwendigkeit eines Hanges zum Bösen sofort konfrontiert wird, ist folgendermaßen:
Während wir, um die Notwendigkeit eines Hanges zum Bösen beweisen zu können,
nachweisen sollen, dass nicht nur die Handlungen, sondern vielmehr die moralische
Gesinnung des Menschen böse ist, lässt die moralische Gesinnung sich nicht zum
Gegenstand der Erfahrung machen. Die moralische Gesinnung ist der dem Subjekt
zurechenbare, allgemeine Grund zur Annahme aller besonderen Maximen. Eine
Maxime ist wiederum eine Regel, nach der das Subjekt handeln will. Die moralische
Gesinnung kann folglich mit dem moralischen Charakter, d. h. mit dem, was sich im
zeitlichen Nacheinander der Handlungen durchhält und sich als solche gleichsam in
dieses reflektiert, gleichgesetzt werden. Durch Erfahrung kann man nun feststellen, ob
eine Handlung dem Gesetz angemessen oder unangemessen ist. Die Erfahrung an sich
gibt jedoch keinen Aufschluss über die Maxime, auf deren Basis der Handelnde
gehandelt hat: Durch Erfahrung können wir uns vergewissern, dass die Person so oder
so gehandelt hat, gleichwohl nicht warum er so oder so gehandelt hat. Wenn die
Maximen nicht zum Gegenstand der Erfahrung gemacht werden können, so noch
weniger deren allgemeiner, subjektiver Grund, d. h. die moralische Gesinnung. Die
Beschaffenheit der moralischen Gesinnung ist selber nicht Inhalt der Erfahrung. (Vgl.
RGV, S. 5 f.) Es kann somit keinen rein empirischen Beweis der Notwendigkeit des
Hanges zum Bösen geben.
Neben einer „empirischen Beurteilung“ ist aber auch eine „intellektuelle
Beurteilung“ der Handlung möglich. (Vgl. RGV, S. 40) Zwischen diesen zwei
Beurteilungstypen gibt es einen qualitativen Unterschied. Während man gemäß der
20
empirischen Beurteilung nur feststellen kann, ob eine Handlung mit dem Gesetz in
Übereinstimmung oder dagegen gesetzwidrig ist, so kann man erst gemäß der
intellektuellen Beurteilung eine Aussage über moralisch gut und böse machen. Es ist die
fundamentale Voraussetzung der menschlichen Freiheit und Zurechnungsfähigkeit –
Allison nennt sie Kants „Inkorporationsthese“ –, die uns auf die Ebene der
intellektuellen Beurteilung hinüberführt. Wie sich zeigen wird, kann dieser Übergang
zur intellektuellen Beurteilung nur im Falle von gesetzwidrigen Handlungen ein
eindeutiges Ergebnis haben. Da die Notwendigkeit eines Hanges zum Bösen nicht auf
einem rein empirischen Beweis fußen kann, gilt es, mittels der Voraussetzung der
unumgänglichen Verantwortlichkeit des Menschen, den Sprung von der Gegebenheit
der Handlung in die formale Analyse zu machen.
Im Falle einer aus Freiheit begangenen bösen Handlung gibt es Kant zufolge die
Möglichkeit, die Beschaffenheit der moralischen Gesinnung aus der Erfahrung
abzuleiten:
Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen
Handlung, a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser
auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen
moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen
[…]. (RGV, S. 6)
Diese Passage ist meines Erachtens der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wie die
Notwendigkeit eines Hanges zum Bösen bewiesen werden kann. Die Passage kann
indessen nur angemessen verstanden werden, wenn in Rechnung gezogen wird, dass es,
wie noch zu zeigen ist, eine fundamentale Asymmetrie in der Ableitung der
Beschaffenheit der Gesinnung gibt: Während die Notwendigkeit einer bösen Gesinnung
aus der Gegebenheit einer aus Freiheit begangenen gesetzwidrigen Handlung abgeleitet
werden kann, ist die Gegebenheit einer bewusst guten Handlung nicht zureichend, um
die Notwendigkeit einer guten Gesinnung beweisen zu können. Diese Asymmetrie
gründet,
wie
im
Folgenden
gezeigt
werden
soll,
in
der
fundamentalen
Ungleichwertigkeit der Triebfeder.
Im Gegensatz zu Allison versucht Wood aufzuweisen, dass der Hang zum Bösen
nicht a priori, sondern nur aufgrund der Erfahrung bewiesen werden kann. (Wood 1970,
S. 219 ff.) Er kommentiert die von Kant quotierte Passage folgendermaßen:
21
Now from this passage, and other like it, we might be tempted to think that Kant
means to infer that because a person sometimes knowingly commits evil actions,
the highest maxim of such a person is necessary evil, and therefore the person
himself is essentially evil. But surely this cannot be what Kant means. For in this
case it would also seem proper to infer that because a person had in some case
performed a morally good action, his highest maxim must be morally good; but
in this case, it would be proper to infer that because a person performs both good
actions and evil actions […] the highest maxim of such a person is good and evil,
which is a contradiction. (Ebd. S. 222)
Ich bin mit Wood einverstanden, dass nicht die höchste Maxime, sondern vielmehr der
subjektive Grund zur Annahme aller besonderen Maximen böse genannt werden soll.
(Vgl. ebd. S. 223) Es heißt im Zitat zwar, dass dieser Grund „selbst wiederum Maxime
ist“, aber dies bedeutet so viel wie: Der Mensch kann für diese Disposition zur
Rechenschaft gezogen werden, und nicht: Diese Disposition ist keine Disposition,
sondern eine Maxime. Wichtiger aber ist, dass Wood eine Unempfindlichkeit für die
oben erwähnte Asymmetrie in der Ableitung der Gesinnung erkennen lässt. Für Wood
könnte auch die Notwendigkeit einer bösen Gesinnung nicht mit der von Kant
vorgeschlagenen Methode bewiesen werden, denn wäre das möglich, könnten wir
ebenso gut die gegensätzliche Möglichkeit – die Notwendigkeit einer guten Gesinnung
– beweisen. Das ist aber im Streit mit dem kantischen Rigorismus. Wood schiebt darum
die quotierte Passage zur Seite und optiert für eine Interpretation, die er später als
„naiv“ bezeichnen wird (vgl. Wood 1999, S. 287): Kants Lehre vom radikalen Bösen in
der menschlichen Natur sei eine empirische Verallgemeinerung. Warum er diese
Interpretation später naiv nennt, mag deutlich sein, denn eine empirische Induktion
vermag ja höchstens zu beweisen, dass das Böse weitverbreitet ist, nicht aber die
Notwendigkeit eines universellen Hanges zum Bösen. (Vgl. Allison 1990, S. 154)
Woods Versuch wird also entweder der kantischen Philosophie nicht gerecht – denn der
Hang zum Bösen ist laut Kant universell-menschlich – oder er stößt auf das klassische
Induktionsproblem.
Wir sollen jetzt zum Zitat Kants zurückkehren. Wood kann sich über den von
Kant vorgeschlagenen Beweisgang hinwegsetzen, indem er unterstellt, dass die
Notwendigkeit einer guten Gesinnung aus der Gegebenheit einer guten Handlung
abgeleitet werden könne. Das ist jedoch nicht der Fall. Erstens, streng genommen
können wir aufgrund der Erfahrung nur feststellen, dass die gegebene Handlung dem
Gesetz entsprechend ist. Feststellen, dass sie die Handlung aus Pflicht geschieht, d. h.
moralisch gut ist, können wir nicht, denn sie könnte ebenso gut nur zufälligerweise dem
22
Gesetz gemäß sein. Wenn wir aber eine gute Handlung als gegeben unterstellen, so ist
es, zweitens, immer noch nicht gerechtfertigt, aus der gegebenen guten Handlung auf
die Notwendigkeit einer guten Gesinnung zu schließen. Das ergibt sich aus folgender
Überlegung: Eine gute Gesinnung wäre eine Prädisposition zur Achtung des
Sittengesetzes. Da das moralische Gesetz, das als „Faktum der Vernunft“ unumgänglich
ist, als einzige unter der Triebfeder zur Bestimmung der Willkür hinreicht, zugleich aber
in der guten Gesinnung keine sich widerstrebende, sondern sogar eine sich befördernde
Prädisposition hat, würde ein gut gesinnter Mensch lauter gute Handlungen
hervorbringen. Wenn man somit die Notwendigkeit einer guten Gesinnung beweisen
möchte, so reicht eine einzelne gute Handlung, sogar eine Menge guter Handlungen,
nicht aus, denn dazu ist erforderlich, dass alle Handlungen dieses Menschen gut sind.
Das Argument, mit dem Wood den von Kant vorgeschlagenen Beweisgang zur Seite
schiebt, ist somit nicht gültig. Wir dürfen nicht, wie Wood, über das angeführte Zitat
hinwegsehen.
Wenn man aber die Notwendigkeit einer guten Gesinnung nicht aus einer
einzelnen guten Handlung ableiten kann, warum sei die Notwendigkeit einer bösen
Gesinnung wohl aus einer bösen Handlung abzuleiten? Während man aus einer dem
Gesetz entsprechende Handlung nicht ableiten kann, ob ihr eine gute Maxime zugrunde
liegt und sie mithin moralisch gut ist, muss die gesetzwidrige Handlung, wenn wir
wenigstens den Handelnden dafür zur Verantwortung ziehen, notwendigerweise auf
einer moralisch bösen Maxime beruhen. (Vgl. RGV, S. 11 f., 48) Die Plausibilität dieser
„Inkorporationsthese“ ergibt sich aus folgender Erwägung: Eine gute Maxime ist nur
mit Handlungen kompatibel, die dem Gesetz angemessen sind. Derjenige, der sich auf
der Schwachheit seines Willens beruft – „Ich will, aber kann es nicht!“ –, um die
moralische Verantwortung für eine gesetzwidrige Handlung aus dem Wege zu gehen
und sich von seiner Gutheit zu vergewissern, täuscht sich selbst, denn wenn er ein freier
Mensch ist, müssen wir vielmehr unterstellen, dass seine Handlung einer bösen Maxime
entspringt. Aus einer bösen Maxime können sich dagegen sowohl Handlungen, die
(zufälligerweise) dem Gesetz gemäß sind, als auch gesetzwidrige Handlungen
entwickeln. Eine gesetzwidrige Handlung verträgt sich also nur mit einer bösen, nicht
aber mit einer guten ihr zugrunde liegenden Maxime. Während aus der dem Gesetz
konforme Handlung nicht eindeutig auf eine ihr zugrunde liegende, gute Maxime
geschlossen werden kann – denn sie ist auch mit einer bösen Maxime kompatibel –, so
kann andererseits, unter Voraussetzung der Zurechnungsfähigkeit des Menschen, aus
23
einer einzelnen gesetzwidrigen Handlung a priori auf eine böse, ihr zugrunde liegende
Maxime geschlossen werden.
Wie können wir aber aus einer einzigen bösen Maxime die Notwendigkeit einer
bösen Gesinnung bzw. eines bösen subjektiven Grundes zur Annahme aller Maximen
ableiten? Wie kann aus der Gegebenheit einer bösen Handlung die Notwendigkeit eines
Hanges zum Bösen folgen? Wie schon gezeigt worden ist, würden die Handlungen
eines gut gesinnten Menschen alle insgesamt gut sein. Eine Böse Gesinnung ist
gleichwohl kompatibel mit sowohl bösen als auch guten Handlungen: Das moralische
Gesetz, das zur Bestimmung der Willkür nichts außer sich bedarf, hat in der bösen
Gesinnung ein sich widerstrebendes Prinzip, so dass das moralische Handeln, je
nachdem, ob der dem Subjekt imputierbare Hang zum Bösen oder die praktische
Vernunft überwiegt, böse oder gut ausfallen kann. Da eine gute Gesinnung überhaupt
keine bösen Handlungen, eine böse Gesinnung sowohl böse als gute Handlungen zulässt,
die Gesinnung aber hinsichtlich des Rigorismus entweder gut oder böse sein muss,
reicht die Gegebenheit einer bösen Handlung aus, um die Notwendigkeit eines Hanges
zum Bösen zu konkludieren.
Bis jetzt konnte gezeigt werden, dass die Gegebenheit einer gesetzwidrigen
Handlung eines verantwortlichen Menschen uns dazu berechtigt, ihm einen Hang zum
Bösen zuzuschreiben. Wie kann Kant aber behaupten, dass es einen universellmenschlichen Hang zum Bösen gibt? Zeigt die Erfahrung nicht vielmehr, dass manche
gut, manche böse sind? Das Argument, dass uns die Begründung dieser kontraintuitiven Behauptung liefert, ist nur zu verstehen, wenn man darauf achtet, welche
Frage sich Kant stellt. Er fragt sich primär, ob der Mensch gut oder böse sei. Wie gesagt,
die Erfahrung lehrt uns, dass vielmehr manche gut, manche böse sind. Wir müssen
gleichwohl einen Unterschied zwischen „empirischem“ und „intelligiblem“ Charakter
(RGV, S. 35), zwischen „virtus phenomenom“ und „virtus noumenon“ (RGV, S. XXV f.)
machen. Der empirische Charakter ist „die Fertigkeit in pflichtmäßigen Handlungen
(ihrer Legalität nach)“, der intelligible aber „die standhafte Gesinnung solcher
Handlungen aus Pflicht (ihrer Moralität wegen). (RGV, S. XXV) Warum nennen wir
manche Menschen gut und manche Menschen böse? Weil wir von den guten lauter
pflichtgemäße, oder jedenfalls keine gesetzwidrigen Handlungen, und von den bösen
freilich eine Menge gesetzwidrige Handlungen wahrgenommen haben. Wenn wir
manche gut nennen, so nennen wir sie gut qua empirischen Charakter. Das berechtigt
24
uns, wie schon nachgewiesen worden ist, jedoch nicht, zu folgern, dass ihr intelligibler
Charakter gut sei.
Ein faktisch gegebener Zustand, in dem manche Menschen gut und manche böse
sind, ist nur mit der Behauptung, der Mensch ist böse, in Übereinstimmung zu bringen.
Wäre nämlich der intelligible Charakter des Menschen gut, so müssten alle
menschlichen Handlungen dem Gesetz entsprechend, mithin alle Menschen qua
empirischen Charakter gut sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Nennen wir den
Menschen qua intelligiblen Charakter böse, so können menschliche Handlungen sowohl
gute als auch böse, der empirische Charakter mancher Menschen gut und mancher
Menschen böse sein. Da wir uns durch Erfahrung davon vergewissern können, dass es
qua empirischen Charakter sowohl gute als auch böse Menschen gibt, müssen wir den
Schluss ziehen, dass der Mensch qua intelligiblen Charakter böse ist. Wenn der Mensch
qua intelligiblen Charakter böse ist, ist der Hang zum Bösen universell menschlich.
Man könnte gleichwohl einen Einwand gegen diese Argumentation vorbringen
und sich demzufolge fragen, ob das Konzept „der Mensch“ nicht unsinnig ist. Können
freie, individuell verantwortliche Personen so einfach auf einen gemeinsamen Nenner
gebracht werden? Ist die Frage, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht eine PseudoFrage? Aus theoretischer Sicht sind diese Bedenken völlig berechtigt. Die Frage, ob der
Mensch gut oder böse sei, und ihre Antwort kommen jedoch einem praktischen
Interesse entgegen. Die „Lehre“ vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur hat
eine kritische Funktion, indem es ein kritisches Gegengewicht zur Gefahr menschlichen
Selbstbetrugs bildet; ohne sie könnte dieser Selbstbetrug nicht als Selbstbetrug entlarvt
werden.
Der Selbstbetrug ist ein Zustand, in dem der Mensch meint, sich von seiner
eigenen moralischen Vollkommenheit versichern zu können, nur darum, weil er unter
seinen Handlungen keine Verstöße gegen das Gesetz antrifft – Verstöße, die er andere
fortdauernd begehen sieht. (Vgl. RGV, S. 37 f.) Der Mensch betrügt sich wegen seiner
Gesinnung, indem er sich einen guten Menschen wähnt, weil er nichts falsch gemacht
hat. Der Selbstbetrug äußert sich in der Gewissensruhe derjenigen, die das Gesetz zwar
nie verletzen, zugleich aber nicht aus Pflicht oder der Moralität wegen handeln. Sie
vergessen jedoch, dass sie ganz zufällig und dementsprechend gar nicht moralisch
gehandelt haben: Wären sie nur in heikle Umstände geraten, hätten sie ebenso gut gegen
das Gesetz verstoßen können.
25
Aufgrund des Selbstbetrugs des Menschen droht die Moralität zur Legalität herabgesetzt
zu werden. Wenn die Frage, ob der Mensch gut oder böse sei, unbeantwortet bleibt,
gäbe es keinen kritischen Ansatzpunkt, um den Selbstbetrug als Selbstbetrug aufdecken
zu können. Bliebe nämlich die Beschaffenheit der menschlichen Gesinnung in Schwebe,
hätte man nichts in den Händen, mit dem man die in ihren Augen gewissenhaften
Menschen, die sich auf Basis der Legalität ihrer Handlungen für die Gutheit selbst
halten, erwidern könnte. Kants Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur
tritt so dem Prozess einer „Legalisierung der Moral“ entgegen, oder paradoxal
formuliert: Das radikale Böse eröffnet dem sich betrügenden Menschen den Weg zum
Guten.
Das
Böse
ist
folglich
nicht
nur
ein
Begründungsproblem
der
Autonomiephilosophie, sondern auch eine ihrer unerlässlichen Voraussetzungen. Ob das
praktisch-kritische Potenzial der kantischen Lehre des radikalen Bösen in der
menschlichen Natur die oben erwähnten theoretischen Beschwerden zu suspendieren
vermag, darf jeder für sich entscheiden. Die Irritation, welche Kants Behauptung, dass
der Mensch böse sei, bei uns erweckt – nein, ich werde für mich sprechen: Die Irritation,
die sie bei mir erweckt, gründet vielleicht nicht allein in theoretischen Beschwerden,
sondern vielmehr in Selbstbetrug.
2.3 Die intelligible Tat
Der Mensch ist von Natur böse. Ich habe diese Redewendung Kants bisher auf
unproblematischer Weise benutzt. Wir müssen jedoch die Frage stellen, wie das Böse in
der menschlichen Natur verwurzelt sein kann. Macht das nicht gerade die menschliche
Verantwortung für das Böse unmöglich?
Wir dürfen hier den Begriff Natur nicht im Sinne der physischen Natur auffassen.
Unter der Natur des Menschen wird in diesem Kontext „nur der subjektive Grund des
Gebrauchs der Freiheit überhaupt (unter objektiven moralischen Gesetzen)“ verstanden,
„der vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht“. (RGV, S. 6) Der subjektive Grund
ist in der Tiefenstruktur des zeitlichen moralischen Handelns enthalten. Weil die
Handlungsfreiheit von Kant als Autonomie konzipiert wird und dadurch immer unter
der Bedingung des moralischen Gesetzes steht, müssen böse Handlungen, wie im
vorigen Paragrafen nachgewiesen worden ist, auf den Verderb des subjektiven Grundes
– oder der menschlichen „Natur“ – zurückgeführt werden. Da der Mensch sowohl für
gute als auch für böse Handlungen verantwortlich gemacht werden muss, böse
26
Handlungen aber auf dem Verderb des subjektiven Grundes beruhen, muss der
subjektive Grund „immer wiederum selbst ein Aktus der Freiheit sein“. (RGV, S. 6)
Kant nennt diesen Aktus der Freiheit eine „intelligible Tat“. (RGV, S. 26) Die
intelligible Tat geht, da sie der Handlungsfreiheit zugrunde liegen muss, den empirisch
wahrnehmbaren und in der Zeit vollzogenen Handlungen voran und ist als solche „bloß
durch Vernunft ohne alle Zeitbedingungen erkennbar“. (RGV, S. 26)
Kant weiß mittels einer Reflexion auf konkrete böse Handlungen eine freie Tat
zu rekonstruieren, die der Handlungsfreiheit zugrunde liegen muss. Stärker noch: Es ist
gerade und nur die Reflexion auf das Böse, die es Kant ermöglicht, diese Freiheit
bloßzulegen. Der Mensch kann nur dann für böse Handlungen zur Rechenschaft
gezogen werden, wenn er für seine moralische Gesinnung bzw. seinen moralischen
Charakter verantwortlich gemacht wird: Um den Menschen für das, was er tut, zur
Verantwortung ziehen zu können, muss er verantwortlich gemacht werden für das, was
er ist. Auf Basis von konkreten moralischen Urteilen kann eine Freiheit als Selbstbestimmung rekonstruiert werden:
Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu
muss er sich selbst machen, oder gemacht haben. (RGV, 48)
Ich möchte zunächst anhand eines Beispiels zeigen, warum der subjektive Grund selbst
wieder ein Aktus der Freiheit sein muss: Jemand führt eine moralisch verwerfliche
Handlung aus. Wenn wir versuchen zu erklären, wie die Handlung zustande gekommen
ist, kann dies auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Wir können entweder nach dem
„Zeitursprung“ oder nach dem „Vernunftursprung“ der Handlung suchen. (RGV, S. 40)
Suchen nach dem Zeitursprung der Handlung bedeutet zu versuchen, die Handlung aus
den vorhergehenden Zuständen abzuleiten. Wenn aber die Handlung aus den
vorhergehenden Zuständen abgeleitet wird, ist die Handlung Resultat eines Geschehens
in der Zeit, d. h., sie ist keine freie Handlung und somit überhaupt keine Handlung,
sondern ein Naturvorgang. „Von den freien Handlungen, als solchen, den Zeitursprung
(gleich als von Naturwirkungen) zu suchen, ist also ein Widerspruch.“ (RGV, S. 40)
Suchen nach dem Zeitursprung der Handlung bedeutet nach Ausreden zu suchen und
das bedeutet wiederum nichts anderes, als zu versuchen, der Verantwortung für das
Handeln aus dem Weg zu gehen. Nur wenn, in Abstraktion aller Geschehnisse in der
Zeit, nach dem Vernunftursprung der Handlung gesucht wird, nur wenn die Handlung
27
als das Resultat eines freien Entschlusses betrachtet wird, kann eine Person für ihre Tat
verantwortlich gemacht werden.
Es ist oft derjenige, der moralisch verwerflich gehandelt hat, der, um seine Tat
zu entschuldigen, nach dem Zeitursprung der Handlung sucht. Er kann dies auf zwei
verschiedene Weisen tun. Erstens kann er sagen: „Die Umstände waren so, dass ich
nicht anders handeln konnte.“ Zweitens kann er sagen: „So bin ich nun einmal, ich
konnte nicht anders handeln.“ Es ist hier vor allem die zweite Art von Ausrede, die uns
interessiert. Hier versucht die Person nämlich, der Verantwortung für die moralisch
verwerfliche Handlung aus dem Weg zu gehen, indem er auf seinen Charakter verweist.
Dadurch, dass er den subjektiven Grund des Gebrauchs der Freiheit in eine Gegebenheit
uminterpretiert, wird es ihm möglich, die Unmöglichkeit des freien Handelns zu
behaupten. Die Handlungsfreiheit kann also nur gesichert werden, wenn der subjektive
Grund, der die Handlungsfreiheit erst möglich macht, keine Gegebenheit, sondern
Resultat einer intelligiblen Tat sei. Kant würde darum die Ausreden anhören und
erwidern: „Mag sein, aber dennoch bist du verantwortlich.“ Dies macht er in Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft auf wunderschöne Weise deutlich:
Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht,
so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der
Unschuld in sie geraten wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen
sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein
mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen seien, so ist seine
Handlung doch frei, und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und
muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden. Er
sollte sie unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er
auch immer gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er
aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein. (RGV, S. 42)
28
3 Freiheit und System
Was bedeutet die Anerkennung des Bösen für die „Systemphilosophie“ des Deutschen
Idealismus? Die Bedeutung des Systems im Deutschen Idealismus kann im Ausgang der
kantischen Philosophie erläutert werden. (§ 3.1) Danach gilt es, den Systemansatz der
Freiheitsschrift von den anderen Systemansätzen des Deutschen Idealismus zu
unterscheiden. (§ 3.2)
3.1 „Als ob“ und System
Schelling wird im Allgemeinen zum Deutschen Idealismus gerechnet. „System“ ist
eines der wichtigsten Stichwörter – wenn nicht das wichtigste –, mit dem man die
Philosophie des Deutschen Idealismus bezeichnen kann. Das Wort „System“ wird bei
jedem modernen Leser Argwohn erregen oder ihm sogar Abscheu einflößen, denn das
System markiert zugleich den Punkt, an dem Philosophen wie Kierkegaard,
Schopenhauer und Nietzsche ihre vehemente Kritik an die Adresse des Deutschen
Idealismus angesetzt haben. Die Kritik könnte folgendermaßen zusammengefasst
werden: Der Systemansatz des Deutschen Idealismus sei Ausschließung der Existenz, d.
h. Formalismus, Leugnung des Anderen, d. h. Absolutismus, Ausscheidung des Neuen,
d. h. Konservatismus und zuletzt auch Beseitigung der menschlichen Freiheit, d. h.
Fatalismus. Kurz: Es ist euphemistisch zu sagen, es sei keine leichte Aufgabe,
heutzutage das System zu verteidigen.
Die Kritik des Systems geht jedoch einher mit dem Unvermögen, den
Systembegriff des Deutschen Idealismus angemessen verstehen zu können. Man hat
erstens die Neigung, das System mit dem persönlichen Begriffsinstrumentarium eines
Philosophen oder etwa mit der Inhaltsaufgabe eines Buches gleichzusetzen. Diese
Neigung äußert sich in Aussagen wie: „Er musste das so interpretieren, denn sonst
passte es ja nicht in sein System.“ Das System sei eine nur subjektive Logik und als
solches nicht imstande, dem Phänomen gerecht zu werden. Zweitens hat man die
Neigung, das System als etwas Dinghaftes aufzufassen. Wenn das System ein
Kompositum ist, so sei das Prinzip dieser Zusammenfügung ein objektivierendes. Die
Unterordnung der Dingen unter dem Systemprinzip sei äquivalent mit ihrer Festlegung
auf ihre Funktion im System; die Dinge seien verurteilt zu ihren Platz im System wie
29
Kleider zu ihrer gehörigen Schublade im Schrank. Wenn das System als ein solches
aufgefasst wird, impliziert es einen totalen Zustand der Verdinglichung.
Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, dass das Prinzip des Systems die
Freiheit ist. Wenn die Freiheit das Prinzip des Systems ist, geht die oben skizzierte,
pauschale Kritik des Systems nicht auf, denn den Dingen im Allgemeinen Freiheit
zuzuschreiben, heißt nicht sie einer objektivierenden Logik zu unterwerfen, sondern sie
vielmehr von einer solchen Logik zu entlassen und sie zu sich selbst zu befreien. Wenn
wir verstehen möchten, warum gerade die Freiheit das Prinzip des Systems sein muss
und warum gerade sie zum Prinzip des Systems gemacht werden kann, gilt es zum
Problem der Verwirklichung der Freiheit (§ 1.1) und zu Kants Begriff des höchsten
Guts (§ 1.2) zurückzukehren.
Jedes vernünftige Wesen ist sich auf einer unmittelbaren Weise bewusst, dass
ihm etwas moralisch geboten ist. Da zur Gültigkeit des Sittengesetzes gefordert ist, dass
die Bestimmung des Willens durch das Gesetz nicht ohne Erfolg bleibt, schließt das
Sittengesetz die Idee des höchsten Guts in der Welt als dessen Endzweck ein. Weil die
Glückseligkeit nicht schon in der Pflicht und die Pflicht nicht schon in der
Glückseligkeit enthalten ist, ist deren Verknüpfung im höchsten Gut synthetisch. Die
synthetische a priori Verbindung von Pflicht und Glückseligkeit muss Kant zufolge „als
Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gedacht werden“. (KpV, S. 204) Die
Verbindung von Ursache und Wirkung kennen wir aus theoretischer Hinsicht als die
Naturkausalität. Aus praktischer Hinsicht ist die Notwendigkeit der Natur jedoch bloß
Zufälligkeit und Kontingenz. Wenn die Idee des höchsten Guts in der Welt die
praktisch-notwendige Verbindung von Pflicht und Glückseligkeit als Ursache und
Wirkung enthält, diese Verbindung sich in der Welt gleichwohl nur zufälligerweise
gestalten kann, scheint die Realisierung des höchsten Guts in der Welt unmöglich. Ist
aber das höchste Gut unmöglich, so ist, wie schon angedeutet wurde, das moralische
Gesetz „an sich falsch“.
Kant bezeichnet diesen Widerspruch als „die Antinomie der praktischen
Vernunft“. (KpV, S. 204 ff.) Wie bei der dritten Antinomie der reinen Vernunft ist der
Widerspruch laut Kant nur scheinbar. Wir haben nämlich das Verhältnis zwischen
Pflicht und Glückseligkeit als „Verhältnis zwischen Erscheinungen“ aufgefasst und
demzufolge sowohl die Ursache als auch die Wirkung als Erscheinung betrachtet. (KpV,
S. 207) Wie wir gesehen haben, kann die Beschaffenheit der Maximen weder zum
Gegenstand der Erfahrung gemacht werden, noch kann sie im Falle moralisch guter
30
Handlungen aus der Gegebenheit der Handlungen abgeleitet werden. Die Pflicht, als
Ursache der Glückseligkeit, kann nur durch Vernunft eingesehen werden und muss als
solche einer intelligiblen „Welt“, oder besser, dem intelligiblen Standpunkt zugeordnet
werden. Die Glückseligkeit, als (mittelbare) Wirkung der Pflicht, kann indessen zum
Objekt der Wahrnehmung gemacht werden. Das Verhältnis zwischen Pflicht und
Glückseligkeit ist somit ein „Verhältnis der Dinge an sich selbst zu [den]
Erscheinungen“. (KpV, S. 207)
Mittels des moralischen Handelns können wir unsere eigene Glückseligkeit nicht
bewirken – wir können ihr nur würdig werden. Nicht der Mensch, sondern Gott muss
folglich als die wirkende Ursache der Glückseligkeit vorgestellt werden. Wiewohl Kant
in seiner Religionsschrift die Hilfe Gottes „übernatürlich“ (RGV, S. 296) und
„transzendent“ (RGV, S. 297) nennt, wirkt sie gerade auf die Natur bzw. auf die
Sinnenwelt. In einer sehr komplizierten, aber ebenso einleuchtenden Passage der Kritik
der praktischen Vernunft fasst Kant das oben Dargestellte zusammen:
Da ich […] nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer
Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein
intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe,
so ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht
unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst einer intelligiblen Urhebers der
Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang, als Ursache, mit der
Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe, welche Verbindung in einer
Natur, die bloß Objekt der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden, und
zum höchsten Gute nicht zulangen kann. (KpV, S. 206 f.)
Obwohl die Freiheit, d. h. die Annahme der dem Gesetz gemäßen Maximen, auf einer
noumenalen Ebene gedacht werden muss, findet ihre Verwirklichung „in der
Sinnenwelt“ statt. Die Idee des höchsten Guts beseitigt so den möglichen Vorwurf, dass
freies Handeln sich nur in einer „noumenalen Welt“ vollziehen werde. Wo aus
theoretischer Hinsicht die noumenale und phänomenale Perspektive indifferent
nebeneinander stehen, nötigt die Freiheit uns, die noumenale mit der phänomenalen
Perspektive zu vermitteln. Da das höchste Gut die Pflicht, d. h. die Freiheit, mit der
Glückseligkeit verbindet, muss zu dessen Möglichkeit die „Harmonie der Naturgesetze
mit denen der Freiheit“ (KpV, S. 261) oder „die genaue Zusammenstimmung des Reichs
der Natur mit dem Reiche der Sitten“ (KpV, S. 262) unterstellt werden. Aus dem
Bewusstsein der Freiheit kann gefolgert werden, dass die Natur nicht „bloß Objekt der
31
Sinne ist“; aus praktischer Perspektive muss vielmehr angenommen werden, dass die
Natur der Freiheit entgegenkommt.
Die Frage ist nun, ob es irgendeine Erfahrung gibt, die diese Vermittlung von
Natur und Freiheit bestätigen kann. Denn ohne eine solche Bestätigung, droht die
Deduktion der Glückseligkeit aus der Freiheit zu leerem Formalismus herabgesetzt zu
werden. Die Feststellung einer Übereinstimmung von Natur und Freiheit kann indessen
keine Sache der Erkenntnis sein, denn die Freiheit ist der theoretischen Sichtweise
fremd; aus theoretischer Sicht kann nur festgestellt werden, dass die Dinge die Gesetze
der Natur folgen. Es gibt aber neben Urteilen der Erkenntnis noch ästhetische Urteile.
Die dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, ist eine Reflexion auf das ästhetische Urteil.
Da „der Freiheitsbegriff […] den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der
Sinnenwelt wirklich machen [soll]“, soll die dritte Kritik zugleich die „unübersehbare
Kluft“ zwischen Natur und Freiheit überbrücken. (KU, S. XIX) Das ästhetische Urteil,
das über einen Gegenstand gefällt wird, ist laut Kant zwar subjektiv, aber zugleich auch
allgemeingültig: Über den Geschmack lässt sich streiten. Um meine Absicht explizit zu
machen, werde ich die Behauptung Kants jedoch umkehren: Ästhetische Urteile sind
zwar allgemeingültig, aber zugleich auch subjektiv. Daraus erhellt sich, dass ästhetische
Urteile im strengen Sinne nicht über einen Gegenstand, sondern nur anlässlich eines
Gegenstandes gefällt werden. Die Zweckmäßigkeit ohne allen Zweck, die sich im freien,
doch nicht willkürlichen Spiel unserer Erkenntnisvermögen offenbart, darf das Objekt
nur wie ein „als ob“ beigelegt werden. Die „Kluft“ zwischen Freiheit und Natur,
zwischen praktischer und theoretischer Vernunft wird demnach letztendlich nur durch
ein „als ob“ überbrückt: Wenn der Endzweck des moralischen Handelns realisiert
worden ist, verhalten wir uns „nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur
wären“. (GMS, 462 f.)
Obzwar Kant deutlich macht, dass die Antinomie der praktischen Vernunft auf
dialektischem Schein beruht, vermag er keine Erfahrung vorzuweisen, die uns auf eine
entschiedene Weise von der Möglichkeit des höchsten Guts versichern kann. Das
moralische Gesetz erklärt uns für frei, aber wenn das höchste Gut unmöglich ist, ist
jenes „an sich falsch“. Kurz: Die Freiheit bleibt eine unsichere Angelegenheit. Man
braucht nur Bonaventuras Nachtwachen – deren Autorschaft lange Zeit an Schelling
zugeschrieben worden ist – zu lesen, um erfahren zu können, zu welchen existentiellen
Problemen diese Unsicherheit führen kann. Das Buch stellt die zerreißende
Verzweiflung der Menschen dar, indem es freie Menschen plötzlich in Marionetten und
32
Marionetten plötzlich in freie Menschen verwandeln lässt. Während Bonaventura das
Lachen als einziges Remedium gegen die existentielle Krise des Menschen vorschrieb,
fassten die Deutschen Idealisten den wackeren Plan, die Freiheit der äußerlichen Welt
nicht nur wie ein „als ob“ beizulegen, sondern sie vielmehr zum Prinzip des Wirklichen
selbst zu erklären. Wo ein Kantianer Sätze, in denen er den Dingen Freiheit
zuzuschreiben versucht, immer wieder im Konjunktiv schreiben muss, trauten sich die
Deutschen Idealisten den Indikativ zu benutzen. Die Legitimität ihrer Methode gründet
in der Möglichkeit, die Glückseligkeit a priori aus der Pflicht ableiten zu können. Wenn
das möglich ist, kann die praktische Vernunft über ihre eigene Grenze erweitert werden,
so dass aus ihr synthetisch a priori Sätze deduziert werden können. Die Deutschen
Idealisten fanden so in der Freiheit das Prinzip, anhand dessen die Wirklichkeit
verständlich gemacht werden kann.
Schon im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus ist diese
Einsicht angelegt. Dort heißt es, dass „die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt“.
(Hegel 1979 I, S. 234) Die Frage nach der Natur soll dann folgendermaßen lauten: „Wie
muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ (Ebd.) Die Idealisten
glaubten auf dieser Weise mit dem von Kant behaupteten „Primat der praktischen
Vernunft“ Ernst zu machen. (Vgl. KpV, S. 215 ff.) Kant erläutert dieses auf folgende
Weise:
In der Verbindung […] der reinen spekulativen mit der reinen praktischen
Vernunft zu einem Erkenntnisse führt letztere das Primat […]. Denn es würde
ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen.
(KpV, S. 218 f.)
Nun gibt es laut Kant, wie gesagt, im Sache der Antinomie der praktischen Vernunft nur
einen scheinbaren Widerspruch: In Wirklichkeit widersprechen sich die kausale
Verknüpfung von Pflicht und Glückseligkeit einerseits und die Kausalität der Natur
andererseits nicht. Dennoch gibt es jetzt zwei mögliche Erklärungen der Natur: Einmal
erscheint sie als „bloßes Objekt der Sinne“, ein andermal als durch Freiheit begründet.
Während Kant konsequent seine Zwei-Perspektiven-Lehre hantiert, fühlten sich die
Idealisten hinsichtlich der oben dargestellten existenziellen Krise des Menschen
genötigt, die Frage nach der Natur und dem Wirklichen völlig in die Moral zu
integrieren.
33
3.2 Der Systemansatz der Freiheitsschrift
In der Einleitung der 1809 publizierten Abhandlung über das Wesen der menschlichen
Freiheit stellt sich Schelling die Frage, ob die Freiheit mit dem System zu vereinbaren
sei. In Hinblick auf das, was ich im vorigen Paragrafen erörtert habe, scheint diese
Frage leicht zu beantworten, denn obzwar einige Kritiker das System für etwas anderes
halten und es mit dem Fatalismus gleichsetzen wollen, ist die Freiheit gerade das
Prinzip des Systems. Schelling scheint dies andeuten zu wollen, wenn er gegen die
„verklungene Sage“, nach welcher „der Begriff der Freiheit mit dem System überhaupt
unverträglich sein [soll]“, einwendet, dass, wenn die Freiheit überhaupt etwas vorstellen
soll, sie „einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems sein muß“. (WF, S. 336) Die
entscheidende Einsicht des Deutschen Idealismus, die darin besteht, dass die Freiheit
den Dingen nicht nur wie ein „als ob“ beigelegt werden darf, sondern vielmehr das
Prinzip des Seins selbst sein muss, ist von Schelling auf die Formel gebracht worden:
„Wollen ist Ursein.“ (WF, S. 350) Wenn die Freiheit das Prinzip des Wirklichen ist,
scheint die Aufgabe eines Systems der Freiheit gelöst: Schelling brauchte eigentlich nur
der Einleitung seiner Abhandlung zu verfassen.
Der Punkt, zu dem der Idealismus die Philosophie gehoben hat, ist für Schelling
jedoch nicht schon der Endpunkt, sondern vielmehr erst der Anfangspunkt. Wenn wir
nämlich das Spezifische der menschlichen Freiheit zeigen wollen, „reicht der bloße
Idealismus nicht hin“:
Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andrerseits nur
den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist,
daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei. (WF, S. 352)
Um verstehen zu können, wie Schelling hier zwischen einem „bloß formellen“ und
einem „realen und lebendigen“ Freiheitsbegriff differenzieren kann, muss kurz zu Kant
zurückgekehrt werden. Wenn Kant 1797, also vier Jahre nach der Publikation seiner
Religionsschrift, Reinhold erwidert – der den Einwand erhoben hat, Kant sei unfähig,
eine Begründung der menschlichen Verantwortung für das Böse zu liefern –, schreibt er,
wir können nur einsehen:
[…] daß, obgleich der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein
Vermögen zeigt dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu
34
wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definirt
werden könne […]. (MS, S. 226)
An diesem Zitat ist deutlich wahrzunehmen, dass Kant seine Erörterung in der
Religionsschrift nicht als eine Änderung des Standpunkts der Kritik der praktischen
Vernunft und der Grundlegung sieht. Der Unterschied liegt in der Vorgehensweise:
Während Kant in seinen frühen Werken die Freiheit aus dem Sittengesetz deduziert,
versucht er sie in der Religionsschrift auf Basis gegebener Handlungen zu
rekonstruieren. Der „formelle“ Begriff der Freiheit umfasst den Gebrauch der Willkür
unter objektiven moralischen Gesetzen und unterstellt folglich die analytische Einheit
von Freiheit und Moralität, infolgedessen er der Zurechenbarkeit des Bösen nicht zu
begründen vermag. Der „reale und lebendige“ Begriff der Freiheit ist in der
Tiefenstruktur von konkreten legalen und illegalen Handlungen eingefasst und kann, auf
Basis dieser konkreten Handlungen, als intelligible Tat rekonstruiert werden.
Schelling fragt sich in der Freiheitsschrift nicht nur, ob das System mit diesem
„realen und lebendigen“ Freiheitsbegriff vereinigt werden kann, sondern vielmehr, ob
sich das System am Leitfaden dieses Freiheitsbegriffs gestalten kann. Er hat sich zur
Aufgabe gestellt, nicht nur das menschliche Handeln, sondern vielmehr das Wirkliche
insgesamt auf die Freiheit der intelligiblen Tat zurückzuführen. Der Schritt, den
Schelling hier zu machen weiß, ist imposant, denn dieser neue Systemansatz fordert
eine radikal neue Herangehensweise: Während die Methode des Idealismus darin
bestand, das Wirkliche aus der Freiheit zu deduzieren, muss die jetzt darin bestehen,
aufgrund des Wirklichen die Freiheit zu rekonstruieren. Es reicht also nicht aus, „zu
behaupten, [wie Fichte] ‚dass Tätigkeit, Leben und Freiheit allein das wahrhaft
Wirkliche seien‘ […]; es wird vielmehr gefordert, auch umgekehrt zu zeigen, daß alles
Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und Freiheit zum Grunde
habe […]“. (WF, S. 351) Der Idealismus soll Schelling zufolge zum „RealIdealismus“ ergänzt werden. (Vgl. WF, S. 356) Dessen System kann sich, als
systematische Rekonstruktion, jedoch erst nach den Fakten gestalten.
35
4 Von Kant nach Schelling: Die intelligible Tat als Mittelpunkt des Systems
Es gilt jetzt den Systemansatz Schellings auszuarbeiten und inhaltlich näher auf die
Freiheitsschrift einzugehen. Um die Interpretationsperspektive dieser Arbeit verschärfen
zu können, werde ich sie gegen andere Positionen in der wissenschaftlichen Debatte
abgrenzen. (§ 4.1) Indem ich das Konzept der intelligiblen Tat in das Zentrum der
Erörterung stelle, gilt es nochmals zu der Thematik zurückzukehren. (§ 4.2) Ich werde
die Systematik der Religionsschrift Kants als heuristisches Instrument zur Interpretation
der Freiheitsschrift heranziehen. Ich werde herausarbeiten, wie Kant und Schelling das
Wesen des Bösen (§ 4.3) und die Umkehr zum Guten (§ 4.4) bestimmen. Aufgrund
dieses Vergleichs ist es möglich, den Unterschied zwischen ihren Freiheitsbegriffen
herauszustreichen. (§ 4.5)
4.1 Die Freiheitsschrift: Eine Übersicht der wissenschaftlichen Diskussion
Nachdem der Systemansatz Schellings in der Freiheitsschrift erläutert worden ist, kann
die folgende Hypothese aufgestellt werden: Die intelligible Tat bildet den
Kerngedanken der Freiheitsschrift, d. h. die Freiheitsschrift folgt der Methode einer
systematischen Rekonstruktion, anhand deren Schelling nicht nur die Handlungen des
Menschen, sondern vielmehr das Wirkliche im Allgemeinen auf die Struktur der
intelligiblen Tat zurückzuführen versucht. Diese Rekonstruktion ist nicht als eine bloße
Kritik des Idealismus, sondern vielmehr als dessen Ergänzung gemeint; obzwar die
Behauptung, etwas soll ergänzt werden, natürlich auch eine Kritik enthält, dient die
Rekonstruktion dem Idealismus jedenfalls nicht zum Ersatz. Hinsichtlich dessen, was
im letzten Paragrafen erörtert worden ist, scheint die aufgestellte Hypothese trivial. Man
braucht sich jedoch nur einmal die zur Verfügung stehende Sekundärliteratur
anzuschauen, um sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.
Erstens gibt es einen Interpretationsstrang, in der die durch die Freiheitsschrift
inaugurierte Spätphilosophie Schellings im Lichte der theosophischen und schöpfungstheologischen Tradition verstanden wird. Dieser Interpretation zufolge sei Schelling ein
Quasi-Mystiker, der die Rätsel der Welt zu entwirren versucht. So lässt SchmidtBiggemann,
in
seinem
78
Seiten
zählenden
Vorwort
zur
Ausgabe
der
Weltalterfragmenten aus dem Berliner Nachlass, die ganze schöpfungs-theologische
Tradition, von Proklos bis Böhme, Revue passieren, während er die Philosophie Kants
36
mit keinem Wort erwähnt. (Schmidt-Biggemann 2002) Geijssen (2009) geht in seiner
neulich veröffentlichten Arbeit – mit dem er mehr als 700 Seiten aufzufüllen weiß, ohne
freilich etwas zu behaupten – davon aus, dass in Schellings Freiheitsschrift eine
„Weisheitslehre“ verborgen liegt, während Brown (1977) behauptet, dass Schellings
Freiheitsschrift nur aus seiner Beschäftigung mit Böhme zu verstehen sei. Obzwar diese
Art Interpretationen hinsichtlich der Biografie Schellings eine gewisse Plausibilität
haben – denn Schelling hat sich eingehend mit Figuren als Böhme und von Baader
beschäftigt und zum Teil sogar ihr Vokabular übernommen –, sind sie meiner Meinung
nach philosophisch nicht so interessant. Die Systematik des Textes droht nämlich hinter
Wörtern und historischen Verweisen zu verschwinden.
Zweitens trifft man in der Literatur eine Sichtweise an, nach der Schelling sich
1809 zur positiven Religion hingewendet habe. Der wichtigste Repräsentant dieser
Sichtweise ist Horst Fuhrmans. Er sieht Schelling gegen 1806 eine „Rückwende ins
Christliche“ vollziehen. (Fuhrmans 1954, S. 163) Während bezüglich der Philosophie
der Offenbarung etwas für diese Interpretation zu sagen wäre, läuft sie schief, wenn sie
auf die Freiheitsschrift angewendet wird. Man stößt in der Freiheitsschrift auf so gut wie
keine Bibelzitate. Was man dagegen sehr einfach antreffen kann, ist eine aus
dogmatischer Sicht häretische Gottesvorstellung. Wenn die Freiheitsschrift somit eine
„Wendung ins Christliche“ darstellen soll, so wäre diese eine Wendung in ein
sektiererisches Christentum.
Drittens, im Anschluss an einem wichtigen Artikel von Theunissen (1965), gibt
es eine Reihe von Interpretationen, nach der die Freiheitsschrift, trotz Schellings
„anthropologischen Ansatzes“, letztlich doch einen „Rückfall in die Transzendentalphilosophie“ bedeute. (Vgl. Hühn 1998, Iber 2004) Die Anthropologie, die Schelling
philosophisch zu begründen beabsichtigt habe, sei eine schöpfungstheologische, somit
eine solche, die in der Anerkennung des Geschaffen-seins gründet. Anhand dieser
Anthropologie habe Schelling dann beabsichtigt, die idealistischen Figuren der
Selbstbestimmung und Autonomie zu kritisieren. Effektiv habe er darin jedoch keinen
Erfolg gehabt, denn sein Konzept der intelligiblen Tat bleibe einer Figur der absoluten
Selbstsetzung verhaftet und bedeute somit einen Rückfall in die idealistische
Transzendentalphilosophie, d. h. in die Philosophie Fichtes.
Bevor
ich
auf
diese
Interpretation
eingehe,
soll
noch
ein
vierter
Interpretationsstrang angedeutet werden. Wo Theunissen und seine Nachfolger der
Meinung sind, dass Schellings Konzept der intelligiblen Tat einen Rückfall in eine
37
Figur der absoluten Autonomie bedeute, behaupten Interpreten wie Schulte (1988) und
Hermanni (1994) paradoxaler Weise, dass dieses Konzept einen Fatalismus impliziere:
Mit der intelligiblen Tat geht gerade die Freiheit des innerweltlichen Handelns zugrunde.
Dass Iber nun sowohl bei Theunissen als auch bei Hermanni anknüpft, d. h. sowohl die
absolute Autonomie als auch den Fatalismus, als Implikationen von Schellings
Auffassung der intelligiblen Tat, behaupten kann, offenbart uns, dass beide Schlüsse auf
einer gemeinsamen Voraussetzung beruhen. (Vgl. Iber 2004, S. 132 f.)
Ich werde versuchen, die gemeinsame Voraussetzung dieser gegensätzlichen
Interpretationen mittels einer Reflexion auf Schellings Konzept der intelligiblen Tat
herauszustellen. (§ 4.2) Um die ersten zwei Interpretationen zurückweisen zu können,
genügt es, glaubhaft zu machen, dass die zwei Seinsprinzipien, von den Schelling in
seiner Freiheitsschrift redet, nur im Lichte der kantischen Ideen des Sittengesetzes und
der Selbstliebe verstanden werden können. (§ 4.3)
4.2 Nochmals die intelligible Tat
Die Hypothese, dass Schellings Systemansatz der Freiheitsschrift eine systematische
Rekonstruktion des Wirklichen am Leitfaden der intelligiblen Tat ist, hat Beleg in den
Schriften Schellings. Nicht nur ein großer Teil der Freiheitsschrift (WF, S. 381 - 390),
sondern auch ein wichtiger Abschnitt der Weltalter ist der Problematik der intelligiblen
Tat gewidmet. (WA, S. 177 - 186) In diesem Abschnitt der Weltalter übersetzt Schelling
das, was in der wissenschaftlichen Diskussion üblicherweise für seine „Theogonie“ und
„Kosmogonie“ durchgeht, völlig in die Begrifflichkeit der intelligiblen Tat. Im
Hintergrund steht hier noch eine aus dieser Sicht merkwürdige Passage der Kritik der
praktischen Vernunft, in der Kant bemerkt, dass die „oberste Ursache der Natur“ – die
er danach mit Gott identifiziert – „eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität
hat“. (KpV, S. 225) Da die Philosophie der Weltalter außerhalb des Rahmens dieser
Arbeit fällt, kann dies jedoch nur als Hinweis gelten.
Um erläutern zu können, wie Schelling die intelligible Tat erfasst, soll kurz zu
Kant zurückgekehrt werden. Aus dem Sittengesetz kann nicht abgeleitet werden, dass es
Böses gibt. Aber gesetzt den Fall, dass es Böses gibt, kann dieses am Leitfaden des
formellen Freiheitsbegriffs auf eine intelligible Tat des Menschen zurückgeführt werden.
Kants „Lehre“ der intelligiblen Tat ist folglich kein metaphysischer Lehrsatz, sondern
vielmehr das Ergebnis einer systematischen Rekonstruktion auf Basis gegebener
38
Handlungen: Wenn wir jemanden für eine gesetzwidrige Handlung zur Verantwortung
ziehen wollen, müssen wir unterstellen, dass diese auf einer bösen Maxime, diese böse
Maxime aber wiederum auf einem dem Menschen zurechenbaren subjektiven Grund zur
Annahme böser Maximen überhaupt beruht. Die Außerzeitlichkeit der intelligiblen Tat
ist demnach kein Indiz dafür, dass sie quasi in einem metaphysischen Jenseits vollzogen
worden sei; vielmehr meint diese Außerzeitlichkeit, dass die intelligible Tat allein
unabhängig von aller Zeitbedingungen, d. h. mit Verzicht auf alle mögliche Ausreden,
erkannt werden kann.
Bei der Erörterung von Schellings Konzept der intelligiblen Tat kann uns einige
Mühe erspart bleiben, denn Schelling macht selber schon explizit klar, wie wir sie zu
verstehen haben:
[…] bemerkenswert ist, wie Kant, der sich zu einer transzendentalen alles
menschliche Sein bestimmenden Tat in der Theorie nicht erhoben hatte, durch
treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urteils in späteren
Untersuchungen auf die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt, subjektiven,
aller in die Sinne fallenden Tat vorangehenden Grundes der menschlichen
Handlungen, der doch selbst wiederum ein Aktus der Freiheit sein müsse,
geleitet wurde. (WF, S. 388)
Schelling übernimmt Kants „Lehre“ der intelligiblen Tat. Am Zitat ist deutlich
wahrzunehmen, dass Schelling sich den rekonstruktiven Charakter der Ableitung der
intelligiblen Tat durchaus bewusst ist: Kant wurde nicht durch Deduktion, sondern
„durch treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urteils“ zu ihr „geleitet“.
Schelling weiß sogar ein einleuchtendes Beispiel eines solchen sittlichen Urteils zu
geben:
[…] indem derjenige, welcher etwa, um eine unrechte Handlung zu
entschuldigen, sagt: So bin ich nun einmal, doch sich wohl bewußt ist, daß er
durch seine Schuld so ist, so sehr er auch recht hat, daß es ihm unmöglich
gewesen, anders zu handeln. (WF, S. 386)
Hinsichtlich dieser Beobachtungen ist es bemerkenswert, dass Schellings Konzept der
intelligiblen Tat auf so viel Kritik gestoßen ist. Es ist in der wissenschaftlichen
Diskussion fast unbestritten, dass Schellings Philosophie der Freiheit an seinem
Konzept der intelligiblen Tat „gescheitert“ sei. (Vgl. u. a. Theunissen 1965, Schulte
1988, Hermanni 1994, Peetz 1995, Hennigfeld 2001, Iber 2004) Die Autoren schließen,
wie schon erwähnt worden ist, aus verschiedenen Gründen auf das Scheitern der
39
Schellingschen Freiheitsphilosophie: Einige behaupten, die intelligible Tat impliziere
die absolute Selbstsetzung des Subjekts und somit einen Rückfall in die
Transzendentalphilosophie; andere behaupten, sie impliziere Fatalismus. Es gilt jetzt,
die von diesen Autoren geteilte Voraussetzung bloßzulegen.
Wenn es möglich ist, Schelling in einem Text zwei gegensätzliche Vorwürfe zu
machen, müssen diese Vorwürfe auf einer gemeinsamen Voraussetzung fußen. Was
könnte diese Voraussetzung sein? Ich lasse kurz Iber zu Wort kommen:
Wirklich frei ist nur die transzendentale Selbstbestimmung des Charakters,
während die je konkreten Handlungen mit determinierender Notwendigkeit aus
diesem folgen. (Iber 2004, S. 133)
Diese Argumentationsstruktur ist auch in den Texten Schultes und Hermannis erkennbar.
Laut Schulte verlegt Schelling „mit seinem Konzept der intelligiblen Tat den Ursprung
des radikalen Bösen in die Ewigkeit außerhalb des irdischen Lebens hinaus […].
Handelt ein Mensch in dieser Welt böse, ist dies die – zudem unumkehrbare – Folge der
intelligiblen Tat“. (Schulte 1988, S. 227) Hermanni zufolge entscheidet die intelligible
Tat „ein für allemal“ über das Wesen des Menschen. (Hermanni 1994, S. 147) Konkrete
Handlungen sind nicht mehr als „die notwendigen Folgen des durch die intelligible Tat
stets schon entschiedenen menschlichen Wesens“. (Ebd. S. 149) Kurz zusammengefasst:
Der Mensch verfüge bezüglich der intelligiblen Tat über eine absolute Autonomie.
Wenn er sich einmal bestimmt habe – und er habe sich nicht einfach, sondern zum
Bösen bestimmt –, so gehen seine konkreten Handlungen mit absoluter Notwendigkeit
aus dieser Tat hervor. Der Widerspruch zwischen den beiden Vorwürfen ist nur
scheinbar, denn die absolute Autonomie in Hinsicht auf die Selbstbestimmung
entspricht dem Fatalismus bezüglich einzelner Handlungen.
Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Argumentationsrichtung der Autoren
richten: Sie fangen bei der intelligiblen Tat an und gehen dann zu den einzelnen
Handlungen über. Egal ob man, wie Schulte, über ein überirdisches Jenseits reden
möchte – was wirklich daneben ist – oder nicht, wenn man sich für diese
Interpretationsrichtung entscheidet, hat man Schelling zwei Vorwürfe zu machen.
Schelling argumentiert gerade in die umgekehrte Richtung: Er beginnt bei einem
konkreten sittlichen Urteil über eine konkrete Handlung und schließt letztlich auf die
intelligible Tat als eine notwendige Voraussetzung. Er führt die intelligible Tat gerade
ein, um die Zurechenbarkeit einzelner Taten zu retten. Die genannten Autoren legen ihr
40
Unvermögen an den Tag, den rekonstruktiven Charakter der Schellingschen
Argumentation einsehen zu können. Sie verwechseln das Ergebnis einer systematischen
Rekonstruktion auf Basis konkreter Handlungen mit einem metaphysischen Lehrsatz.
Auch die Analysen von Theunissen und Hühn zeugen von dieser Verwirrung, indem sie
die intelligible Tat mit der Fichteschen Tathandlung gleichsetzen wollen. (Theunissen
1965, S. 186, Hühn 1998, S. 62) Schelling macht dagegen explizit klar, dass die
intelligible Tat unter keinen Umständen mit der Tathandlung gleichgesetzt werden darf,
denn dieses sei „nur idealisch“ (WF, S. 386), jenes hingegen „reales Selbstsetzen“. (WF,
S. 385)
Wenn nicht auf noch schönere Weise als Kant spricht auch Schelling dem
Menschen eine radikale Freiheit zu:
Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum
Guten und zum Bösen gleicherweise in sich hat: das Band ist ihm kein
notwendiges, sondern ein freies. Er steht am Scheidepunkt; was er auch wähle,
es wird seine Tat sein, aber er kann nicht in der Unentschiedenheit bleiben […].
(WF, S. 374)
Da sowohl Kant als auch Schelling dem Menschen eine radikale und heroische Freiheit
zusprechen, aufgrund dessen der Mensch nicht nur für gute Handlungen verantwortlich
ist, sondern auch für böse Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden kann, muss,
um den Unterschied zwischen dem kantischen und dem Schellingschen Freiheitsbegriff
explizieren zu können, bestimmt werden, worin bei Kant und Schelling das Böse besteht.
Es wird sich erweisen, dass Kant und Schelling verschiedene Konzeptionen des Bösen
vertreten. (§ 4.3) Wenn das Böse von beiden Verfassern unterschiedlich aufgefasst wird,
müssten sie auch die Umwendung zum Guten auf verschiedene Weise interpretieren. (§
4.4) Anhand der Differenz in den Interpretationen des Bösen und der Umkehr zum
Guten kann der Unterschied zwischen Kants und Schellings Freiheitsbegriff explizit
gemacht werden. (§ 4.5)
4.3 Das Wesen des Bösen
Im zweiten Kapitel habe ich die Frage, warum der Mensch böse genannt werden muss,
beantwortet. Ich habe dort, mit Kant, den zwar natürlichen und universellen, jedoch
zurechenbaren Hang zum Bösen als Grund der Möglichkeit böser Handlungen
angewiesen. Die Idee einer intelligiblen Tat stellt sicher, dass der Hang dem Menschen
41
imputierbar ist. Die Beantwortung der Frage, worin das Böse besteht, habe ich im
zweiten Kapitel unterlassen, indem ich Kants Analyse als heuristisches Instrument zur
Interpretation der Freiheitsschrift einsetzen wollte. Jetzt kann jedoch die Frage nach
dem Wesen des Bösen gestellt werden. Während Kant die Empirie braucht, um ableiten
zu können, dass der Mensch böse ist, braucht er sie nicht, um sagen zu können, was das
Böse ist:
Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen
Natur, durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der
menschlichen Willkür gegen das Gesetz, dargetan werden kann, so lehren uns
diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben […]; diese […] muß
aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit möglich ist, a
priori erkannt werden. (RGV, S. 32 f.)
Kant erfasst das Böse weder als eine selbstständige, positive Macht, noch als eine
Privation des Guten, sondern als ein durch Freiheit gesetztes moralisches Böses. Das
Böse als solches kommt durch den Menschen in die Welt. Kant distanziert sich von
einer angeblich mit Plato beginnenden Tradition, welche die Neigung als solche oder
sogar die Endlichkeit an sich als Ursache des Bösen anführt. Die Neigungen können
nicht an sich bereits böse sein, denn sie müssen eine Maxime – eine Regel, nach
welcher ich handeln will – aufgenommen werden, ehe sie für eine moralische
Beurteilung in Betracht kommen. Dennoch sind die Neigungen „gut“ zu nennen,
solange das moralische Gesetz nur zu ihrer Bedingung gemacht wird; die Triebfeder der
Sinnlichkeit ist gut, unter der Bedingung, dass sie „im Grunde“ bleibt. Erst wenn
jemand die Triebfeder der Sinnlichkeit „als für sich hinreichend zur Bestimmung der
Willkür“ (RGV, S. 33) – was in Wahrheit nur das moralische Gesetz sein kann – in seine
Maxime aufnehmen würde, die Triebfeder der Sinnlichkeit also zur Bedingung der
Befolgung des moralischen Gesetzes macht, würde er moralisch böse sein. Das Böse
besteht für Kant demnach in einer Verkehrung der Triebfeder in einer Maxime:
Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem
Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser
ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen:
welche von beiden er zur Bedingung der anderen macht. (RGV, S. 34)
Damit wir verstehen können, worin das Böse für Schelling besteht, soll zuerst kurz
dargestellt werden, wie Schelling in der Freiheitsschrift die Schöpfung – oder was für
ihn dasselbe ist: die Geschichte – als das Ineinander-Wirken von zwei Seinsprinzipien
42
begreift: das „dunkle“ und das „lichte“ Prinzip. Das hört sich freilich sehr mystisch an,
aber wir sollen nicht zu früh urteilen. Die Mühe lohnt sich, sich eine Übersicht des
Schellingschen Vokabulars zu schaffen. Schelling benutzt einerseits „dunkles Prinzip“,
„Selbstheit“, „Eigenwille“, „Partikularwille“ und „besonderen Wille“, andererseits
„Lichtprinzip“, „ideales Prinzip“, „Universalwille“ und „allgemeinen Wille“ als
äquivalente Begriffe. Im Hinblick auf diese Ordnung der Begriffe scheint es sehr
plausibel anzunehmen, dass die beiden Seinsprinzipien nur im Lichte des kantischen
Unterschieds zwischen der Triebfeder des Sittengesetzes und der Triebfeder der
Selbstliebe verständlich werden. Wenngleich das „lichte“ Prinzip, d. h. der
„Universalwille“ oder der „allgemeine Wille“, nicht einfach mit der Triebfeder des
Sittengesetzes und das „dunkle“ Prinzip, d. h. der „Partikularwille“ oder der „besondere
Wille“, nicht einfach mit der Triebfeder der Selbstliebe gleichgesetzt werden darf, so ist
es sehr plausibel, eine Sinnkontinuität zwischen diesen anzunehmen. Es ist möglich, die
folgende Hypothese aufzustellen: Schellings Seinsprinzipien bekommen nur einen Sinn
vor dem Hintergrund der kantischen Unterscheidung zwischen der Triebfeder des
Moralgesetzes und der Triebfeder der Selbstliebe.
Wer jedoch in der heutigen wissenschaftlichen Debatte eine solche
Sinnkontinuität behaupten würde, steht ganz allein. Esoteriker behaupten, die
Seinsprinzipien seien mit der Systole und Diastole, also mit der Kontraktion und
Expansion des Herzens, zu vergleichen. (Vgl. z. B. Schmidt-Biggemann 2002) Obzwar
auch Schelling diese Metapher in seinen Weltaltern benutzt, erklärt sie nur wenig. Hühn
ist der Meinung angetan, dass das „dunkle“ Prinzip bzw. der „Eigenwille“ mit dem
„neuzeitlichen Autonomiebegriff“ gleichzusetzen sei. (Hühn 1998, S. 92, vgl. auch S.
67 f., 82 f.) Die Folgen sind desaströs: Schellings Freiheitsschrift wäre eine Kritik des
neuzeitlichen Autonomiegedankens, nach welcher die Autonomie einem göttlichen
Gebot untergeordnet werden sollte. Der Unterschied mit dem Interpretationsansatz
dieser Arbeit mag deutlich sein: Während Hühn den Partikularwillen mit dem
neuzeitlichen Autonomiegedanken identifiziert, soll er nach meines Erachtens in
Sinnkontinuität mit der Triebfeder der Selbstliebe begriffen werden. Hinsichtlich der
aufgestellten Hypothese muss Autonomie vielmehr in der Unterordnung des
Partikularwillens unter dem Universalwillen bestehen. Die aufgestellte Hypothese wird
bewahrt, wenn sie uns befähigt, Schellings Begriff des Bösen auf einer kohärenten
Weise darzustellen. Das werde ich im Folgenden versuchen zu tun.
43
Der Partikularwille wird von Schelling als ein kontrahierendes und verschließendes
Prinzip konzipiert, der Universalwille als ein extrahierendes und offenbarendes Prinzip.
Der Unterschied zwischen, und das Ineinander-Wirken von diesen Prinzipien geht
zurück auf den durch Schelling gemachten Unterschied zwischen der Existenz und dem
Grund von Existenz – der Unterschied zwischen „dem Wesen, sofern es existiert, und
dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“. (WF, S. 357) Im Rahmen dieser
Arbeit kann der Unterschied zwischen Grund und Existenz leider nicht erörtert werden.
Es gilt jetzt nur festzuhalten, dass die Existenz und der Grund von Existenz nicht
vereinzelt, sondern nur in ihrer Wechselwirkung denkbar sind. Da der Gegensatz
zwischen dem Partikular- und Universalwillen seinen Ursprung in der Differenz von
Grund und Existenz hat, gibt es im Prinzip eine Reziprozität, oder eine harmonische
Wechselwirkung zwischen beiden: Jede Geburt ist eine „Geburt aus [dem] Dunkel ans
Licht“. (WF, S. 360)
Es kann nicht die Absicht der Schöpfung sein, eines der beiden Prinzipien
aufzuheben, denn das wäre zugleich die Aufhebung der Wechselwirkung, d. h. der
Schöpfung als solcher. Vielmehr ist es die Absicht der Schöpfung, das richtige
Verhältnis zwischen beiden Prinzipien herzustellen. Das Gute – das richtige Verhältnis
zwischen dem Partikular- und Universalwillen – drückt Schelling mithilfe der Analogie
der Liebe aus. Die Liebe verbindet solche, „deren jedes für sich sein könnte und doch
nicht ist, und nicht sein kann ohne das andre“. (WF, S. 408) Das Gute besteht in der
Affirmation einer harmonischen Einheit zwischen den beiden Seinsprinzipien, ohne
dass dies bedeuten würde, dass die Differenz zwischen den Prinzipien völlig gelöscht
wäre.
Wenn das Gute in der harmonischen Einheit zwischen beiden Seinsprinzipien
besteht, so liegt die Annahme nahe, dass das Böse in der Abwesenheit dieser Einheit
liegt. Aber wäre das so, wäre das Böse nur eine Privation des Guten und die
menschliche Freiheit nicht ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, sondern ein
Vermögen nur zum Guten. Schelling will darum deutlich machen, dass das Böse etwas
Positives ist, ohne dass es bedeuten würde, dass es eine von der menschlichen Freiheit
unabhängige Macht ist. Schelling leugnet, dass eines der beiden Prinzipien für sich
schon für böse erklärt werden könne; denn, wäre das so, wäre das Böse kein
moralisches Böses und damit die menschliche Freiheit kein Vermögen zum Guten und
zum Bösen. Zudem, solang die Prinzipien in einer harmonischen Einheit aufgenommen
44
sind, sind sie gut. Wenn das Böse nicht im Materiellen, aber auch nicht in der
Abwesenheit der formalen Einheit besteht, worin besteht es dann?
Schelling zufolge besteht das Böse weder in der Abwesenheit der formalen
Einheit, noch in der Materialität der Seinsprinzipien, sondern in der „falschen
Einheit“ (WF, S. 371) der Prinzipien oder im „zertrennten Ganzen“. (WF, S. 370) Kurz:
Das Böse ist das „Scheingute“. Die Bestimmung des Bösen ist also zugleich positiv –
das Böse besteht in einer Einheit, nicht in deren Abwesenheit – und formal – das Böse
besteht in dem formalen Zusammenhang der Prinzipien, nicht in einem Prinzip für sich.
Schelling untermauert diese Behauptung anhand zweier Analogien: die der Temperatur
und die der Harmonie. Wie die Distemperatur nicht in der Abwesenheit der Temperatur,
sondern in einer falschen Temperatur besteht, so besteht das Böse nicht in einer
Abwesenheit der Einheit – nicht in einer Privation des Guten –, sondern in einer
falschen Einheit. Wie die Disharmonie nicht in einem einzelnen Ton besteht, sondern in
einem falschen Zusammenhang der Töne, so besteht das Böse nicht in einem einzelnen
Prinzip, sondern im falschen Zusammenhang der Seinsprinzipien.
Der Partikularwille hat seinen Ursprung im Grunde der Existenz und ist
demnach ein Prinzip, das seinem Wesen nach immer im Grunde bleiben soll. Der
Partikularwille ist seinem Wesen nach nur Potenz und kann nie zur Aktualität gelangen.
Wenn der Partikularwille, im Einklang mit seinem Wesen, Basis bleibt, ist es die
notwendige Bedingung der harmonischen Einheit der Seinsprinzipien; insofern ist der
Partikularwille gut. Nun verdeutlicht anhand der Analogie der Gesundheit: Solange der
Partikularwille nichts mehr – aber auch nicht weniger – als Organ ist, trägt es zur
Gesundheit bei, d. h. zur harmonischen Einheit des Organismus. In der Natur ist aber
die Möglichkeit gegeben, dass das Organ eine Autarkie beansprucht und sich wider den
Organismus kehrt. Diese Möglichkeit ist die Möglichkeit der Krankheit. Das Phänomen
der Krankheit macht deutlich, dass in der Natur eine relative Freiheit angelegt ist,
aufgrund welcher ein Teil der Natur es vermag, sich wider die natürliche Ordnung zu
wenden.
Wenn das Organ aber, durch eine Affirmation seiner Selbstheit, anfängt ein
eigenes Leben zu leben, findet am Ende nicht nur der Organismus den Tod, sondern
auch das Organ selbst wird zerstört. Das Böse besteht nun in dieser Affirmation des
Partikularwillens als „für sich selbst hinreichend“ – also als etwas, das es seinem Wesen
nach nicht sein kann. Wenn der Partikularwille als für sich selbst hinreichend affirmiert
wird, wird prätendiert, dass es, statt nur im Grunde, für sich selbst seiend sei bzw. statt
45
nur Potenz, Aktualität sei. Das Böse besteht in der Verabsolutierung dessen, was seinem
Wesen nach nur relativ ist. Oder anders: Das Böse besteht in der Affirmation des
Partikularwillens – das seinem Wesen gemäß nur Potenz, d. h. (noch) nicht „ist“ – als
für sich seiend.
Es ist wichtig einzusehen, dass das Böse seiner Möglichkeit nach zwar in der
Natur angelegt ist, das Böse als solches aber erst durch eine Affirmation von der Seite
des Menschen her in die Welt kommt. Das Böse besteht seiner Möglichkeit nach in der
„Zertrennlichkeit der Prinzipien“. (WF, S. 364) Wir haben aber gesehen, dass das Böse
seiner Möglichkeit nach die notwendige Bedingung des Guten und insofern gut ist. Da
der Partikularwille seinem Wesen gemäß nicht von der Potenz zur Aktualität und nicht
vom Nichtsein zum Sein gelangen kann, kann es erst „durch falsche Imagination“ von
der Seite des Menschen her „als wirklich erfaßt (aktualisiert) werden“. (WF, S. 390)
Erst wenn der Partikularwille durch einen Akt der menschlichen Freiheit affirmiert wird,
als wäre es alles, können wir vom Bösen als solchen sprechen. Das Böse entsteht gerade
dort, wo der Mensch sich selbst betrügt und aufgrund der Pflichtmäßigkeit seiner
Handlungen folgert: „Mein Handeln lässt nichts zu wünschen übrig.“
Bei Schelling ist das Böse, wie bei Kant, notwendigerweise moralisches Böses,
in dem Sinne, dass es als solches erst durch die Freiheit des Menschen in die Welt
kommt. Das Böse besteht bei Schelling aber nicht ausschließlich, wie bei Kant, in der
Verkehrung der Triebfeder in einer Maxime. Das Böse besteht in der Affirmation des
Partikularwillens als seiend – eine Qualifizierung, die eigentlich nur dem
Universalwillen angehört. Kurz gesagt: Das Böse besteht bei Schelling nicht in einer
affirmierten Verkehrung der Triebfeder, wie bei Kant, sondern in einer affirmierten
Verkehrung der Seinsprinzipien. Der „allein richtige Begriff des Bösen“ ist Schelling
zufolge der, „nach welchem es auf einer positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der
Prinzipien beruht“. (WF, S. 366) Das Böse ist für Schelling immer moralisches Böses,
aber es hat zugleich auch einen Seinscharakter. Bevor wir weiterreichende Schlüsse
hieraus ziehen, werden wir unsere Befunde an den Konzeptionen der Umkehr zum
Guten prüfen.
4.4 Die Umkehr zum Guten
Für Kant besteht das Böse im Verderben des subjektiven Grundes zur Annahme der
Maximen. Wenn dieser subjektive Grund, als Resultat einer Tat „außerhalb“ aller Zeit,
46
verdorben ist, wie kann der Mensch sich dann in der Zeit wieder zum Guten wenden?
Diese Frage scheint Kant fast zur Verzweiflung gebracht zu haben:
Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum
guten Mensch mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein
böser Baum gute Früchte bringen? (RGV, S. 49 f.)
Dennoch: Der kantische Schlachtruf „Du kannst, denn du sollst!“ gilt auch hier. Wenn
es unsere Pflicht ist, uns zum Guten zu wenden, muss es uns auch möglich sein; denn
die Idee, dass uns eine prinzipiell unausführbare Pflicht auferlegt wäre, ist widersinnig.
Der Schlachtruf gilt aber nur dann, wenn auch in der bösesten Person noch ein Keim des
Guten – in der Form des sittlichen Gesetzes – aufbewahrt geblieben ist. Diese
Bedingung ist garantiert, denn das moralische Gesetz „dringt sich“, als Faktum der
Vernunft, auch dem ärgsten Menschen „unwiderstehlich auf“. (RGV, S. 33) Das Böse
besteht darum laut Kant, wie wir wissen, nicht in der Abwesenheit des moralischen
Gesetzes, sondern in der Affirmation der Triebfeder der Sinnlichkeit als Bedingung der
Befolgung des moralischen Gesetzes.
Vermöge des Schlachtrufs des „Du kannst, denn du sollst!“ ist es Kant möglich,
die Umkehr zum Guten als Entschluss des Menschen – und zwar als einen moralischen
– zu fassen:
[...] wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch
war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiermit einen
neuen Menschen anzieht): so ist er sofern, dem Prinzip und Denkungsart nach,
eine fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und
Werden ein Guter Mensch. (RGV, S. 54 f.)
Wir sehen hier schon den Unterschied zwischen der Revolution des moralischen
Prinzips, die der Mensch „durch eigene Kräfte [...] zu Stande bring[t]“ (RGV, S. 54) und
der Reform der „Faktizität“, für die der Mensch auf Hoffnung angewiesen ist. Es genügt
jedoch, wenn wir einsehen, dass Kant die Umkehr zum Guten als moralischen
Entschluss des Menschen begreift. Da die Umkehr zum Guten eine Umkehrung des
obersten subjektiven Grundes enthält, geht es hier, Kant zufolge, um nichts weniger als
„eine Art von Wiedergeburt, gleich als [...] eine neue Schöpfung“. (RGV, S. 99) Der
Mensch wird jedoch nur „moralisch ein anderer“. (RGV, S. 99) Die Art von
Wiedergeburt, um die es hier geht, ist also eine moralische. Die ontologische Kategorie
der Schöpfung wird hier nur als Gleichnis – „gleich als“ – angeführt. Zusammenfassend
47
können wir sagen, dass Kant die Umkehr zum Guten in einem moralischen Kontext als
Entschluss des Menschen fasst.
Für Schelling besteht das Böse in der Verabsolutierung des Partikularwillens.
Die Umkehr zum Guten ist dem Menschen laut Schelling nicht aufgrund eines
autonomen Entschlusses, sondern nur mit „menschliche[r] oder göttliche[r] Hilfe“ (WF,
S. 389) möglich. Dies scheint gerade die Verantwortung des Menschen für die Umkehr
zum Guten unmöglich zu machen; der Mensch bewirkt diese Wende nicht ganz selber.
Die menschliche Verantwortlichkeit für die Umkehr zum Guten wird jedoch nicht
aufgehoben, denn „eben das In-sich-handeln-Lassen des Guten Prinzips ist die Folge der
intelligiblen Tat“. (WF, S. 389) Es geht darum, sich dem guten Prinzip zu öffnen. Die
intelligible Tat wird von Schelling nicht, wie bei Kant, als ein aktiver und selbstischer
Entschluss des Menschen, sondern exzentrisch, d. h. als ein „In-sich-handelnLassen“ des Universalwillens verstanden. Dieses Lassen ist zwar im Vollzug der Wende
passiv, aber in deren Vorbereitung aktiv. Die Verantwortung des Menschen liegt dann
auch nicht im Vollzug, sondern in der Vorbereitung der Umkehr. Dies bedeutet jedoch
keinen Schritt jenseits des Autonomiegedankens. Der Mensch muss sich nämlich nicht
einer fremden Macht, sondern vielmehr der „innere[n] Stimme seines eignen, in Bezug
auf ihn, wie er jetzt ist, besseren Wesens“ eröffnen. (Ebd.) Schelling verlässt den
Rahmen des modernen Autonomiegedankens nicht, sondern dezentralisiert diesen
vielmehr. Da auch laut Schelling im bösen Menschen das gute Prinzip nicht „völlig
erstorben“ ist (ebd.), ist es eine nicht umgehbare Aufgabe für den Menschen, sich
seinem eigentlichen Selbst zu öffnen.5
Wir haben schon gesehen, dass die Krankheit eine „Krankheit zum Tode“ ist,
demzufolge der zum Allwillen erhobene Wille des Organs letztendlich nicht nur den
Organismus, sondern auch sich selbst vernichtet. Das Böse fällt also der Logik der
hybris (des Übermuts) anheim, durch die er mit seinem Streben „alles zu sein, ins
Nichtsein fällt“. (WF, S. 391) Erst dann entsteht die Möglichkeit einer Umkehr zum
Guten. Worin besteht aber diese Umkehr? Ich lasse kurz Schelling zu Wort kommen:
5
Wenn man Schelling eine fatalistische Position zuschreibt, muss man auch die Möglichkeit einer
Umkehr zum Guten leugnen. Hermanni konkludiert, dass Schelling die Umkehr zum Guten zuletzt
unmöglich macht, weil er die Selbstbesserung in die intelligible Tat zurückverlegt. (Hermanni 1994, S.
154 f.) Das ist jedoch nur problematisch, wenn man die intelligible Tat als eine Entscheidung zum Bösen,
die „ein für allemal“ vollzogen worden ist, interpretiert. (Ebd. S. 147) Schulte (1988) ist so sehr von der
Wahrheit seiner fatalistischen Interpretation überzeugt, dass er völlig die Tatsache vernachlässigt, dass
Schelling die Umkehr zum Guten zur Sprache bringt.
48
[...] das wahre Gute [kann] nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden [...],
nämlich durch die unmittelbare Gegenwart des Seienden im Bewußtsein und der
Erkenntnis. (WF, S. 391)
Es ist offensichtlich eine göttliche Hilfe, welcher der Mensch zur Umkehr zum Guten
bedarf. Worin besteht aber diese Hilfe? Warum spricht Schelling hier von einer
„unmittelbaren Gegenwart des Seienden im Bewußtsein“? Zuerst soll bemerkt werden,
dass diese „unmittelbare Gegenwart des Seienden im Bewußtsein“ nicht als die absolute
Alleinherrschaft des Universalwillens, sondern als das richtige Verhältnis zwischen dem
Universal- und dem Partikularwillen verstanden werden muss. Die Terminologie
Schellings ist hier offensichtlich vom Deutschen Idealismus geprägt. Versuchen wir es
in einer Terminologie auszudrücken, die dem Deutschen Idealismus zunächst fremd ist.
Zuerst eine kleine Vorbereitung: Das Böse ist die auf falsche Imagination gründende
Affirmation des dunklen Prinzips – das seinem Wesen nach Potenz oder (noch) nicht
„ist“ – als seiend. Das Böse ist die Affirmation des Nichts als das All. Nachdem das
Böse der Logik der hybris anheimgefallen ist, gibt es die Möglichkeit eines Geschehens,
worin das eigentlich Seiende zu einer unmittelbaren Gegenwart im Bewusstsein gelangt.
Von der Seite des Menschen gesehen führt dieses Geschehen zu der unmittelbaren
Erfahrung, dass überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts. Anders gesagt, die
Umkehr zum Guten ist bei Schelling eine durch die exzentrische Tat des Menschen
ermöglichte Seinserfahrung, in welcher die Welt sich dem Menschen als verwirklichte
Freiheit öffnet. Die Umkehr zum Guten wird von Schelling nicht – wie bei Kant – in
einem moralischen Kontext, sondern in einem ontologischen Kontext aufgefasst.
4.5 Handeln und sein: Moralität und Ontologie
Welche Schlüsse können wir aus unserer Darstellung der Konzeptionen des Bösen und
der Umkehr zum Guten ziehen? Welche Konzeptionen der Freiheit folgen daraus?
Sowohl Kant als auch Schelling erkennen eine Freiheit als Selbstbestimmung an,
welche der Handlungsfreiheit zugrunde liegen muss. Kant zufolge muss die intelligible
Tat ausschließlich nach moralischen Maßstäben beurteilt werden; er fasst sie in einem
moralischen Kontext auf. Kraft dieser intelligiblen Tat hat der Mensch nicht nur die
Freiheit zu tun, sondern auch die Freiheit zu „sein“, d. h. nicht nur die Verantwortung
für das, was er tut, sondern auch für das, was er „ist“. Das Verb „sein“ darf hier aber nur
im abgeleiteten Sinne verstanden werden; denn dass der Mensch die Verantwortung hat
49
für das, was er ist, heißt, dass es ihm immer möglich und damit auch als Pflicht
auferlegt ist, selbst seine moralische Gesinnung zu bestimmen.
Erst bei Schelling ist in der Behauptung, dass der Mensch nicht nur
verantwortlich ist für das, was er tut, sondern auch für das, was er ist, das Verb „sein“ in
seinem eigentlichen Sinne angesprochen. Die Freiheit als Selbstbestimmung wird von
Schelling nicht nur im Rahmen der Moralität, sondern zugleich auch im Rahmen der
Ontologie begriffen. Demnach können wir diese Art von Freiheit eine ontologische
Freiheit nennen. Diese Verantwortlichkeit für das Sein ist nicht auf das Sein des
Individuums beschränkt, sondern umfasst auch das Sein im Allgemeinen, denn die
beiden Seinsprinzipien, deren harmonische Einheit bzw. Verkehrung in den Händen des
Menschen liegt, gehen über das individuelle Dasein des einzelnen Menschen hinaus. Es
ist bei Schelling also der Mensch, der verantwortlich für die Schöpfung ist. Diese
Freiheit zur Bestimmung des Seins darf aber nicht als „Herrschaft über das
Seiende“ verstanden werden, denn die ontologische Freiheit des Menschen ist
exzentrisch: Es ist ein Vermögen das Seiende oder die Freiheit sein zu lassen.
Es mag nun scheinen, als würde Schelling die Freiheit als Selbstbestimmung,
indem er sie in einem ontologischen Kontext versteht, zu einer Kategorie des Handelns
herabsetzen, die nicht für eine moralische Beurteilung in den Betracht kommt. Wenn
wir aber den Schluss ziehen, dass Schelling die freie Selbstbestimmung a-moralisch
begreift, vergessen wir, was Schelling unter „Sein“ versteht. Das Sein ist laut Schelling
nämlich nicht die beharrende und unveränderliche Substanz; vielmehr ist die Freiheit
das Prinzip des Seins: „Wollen ist Ursein“. Schelling beurteilt die intelligible Tat
demnach weder nach bloß ontologischen, noch nach bloß moralischen Maßstäben;
vielmehr geht sie für ihn dem Unterschied zwischen Ontologie und Moralität in
engerem Sinne voran.
50
Schluss
Die Frage nach dem Bösen ist anhand zwei moralischer Deutungsansätze beantwortet
worden. Ein moralischer Deutungsversuch des Bösen stellt sich zuerst die Frage, wie
der Mensch für das Böse verantwortlich gehalten werden kann. Die Frage nach dem
Bösen wird im Kontext der Problematik der Verwirklichung der Freiheit, d. h. der
Verknüpfung vom „an sich“ der Freiheit mit der phänomenalen Welt, angesetzt. Als
solche bildet sie nicht bloß ein Teilproblem der kantischen Philosophie; vielmehr liegt
sie in deren Herzen. Das Böse vermag zu erklären, warum die Freiheit, wenn sie
wirklich sein muss, dies in vielen Fällen nicht ist.
Als Grund des Bösen ist vorerst der universell menschliche Hang zum Bösen in
der menschlichen Natur angewiesen. Dieser Hang kann nicht a priori aus dem
Sittengesetz deduziert werden. Um beweisen zu können, dass der Mensch von Natur aus
böse ist, braucht man einen minimalen Verweis auf die Empirie. Der Beweis des
Hanges zum Bösen hat die Form einer systematischen Rekonstruktion auf Basis
konkreter Handlungen. Die These der bösen Beschaffenheit der menschlichen Natur hat
eine kritische Funktion, denn nur kraft ihr ist es möglich, den Selbstbetrug des
Menschen zu entlarven. Als solche tritt sie dem Prozess einer „Legalisierung der
Moral“ entgegen. Das Böse muss, wenn es moralisch böse sein soll, letztlich auf die
menschliche Freiheit zurückgeführt werden können. Die systematische Rekonstruktion
führt dementsprechend zu einer intelligiblen Tat des Menschen als letztem Grund des
Bösen. Nach der intelligiblen Tat trägt der Mensch nicht nur die Verantwortung für das,
was er tut, sondern auch für das, was er ist. Es ist gerade die Reflexion auf das Böse, die
uns befähigt, diese Freiheit als Selbstbestimmung herauszugreifen. Dieser reelle
Freiheitsbegriff – d. h. Selbstbestimmung des Wesens – dient jedoch dem formellen – d.
h. der Autonomie des Handelns – nicht zum Ersatz; vielmehr muss angenommen
werden, dass sie einander gegenseitig ergänzen.
Der Systemansatz des Deutschen Idealismus knüpft an der Problematik der
Verwirklichung der Freiheit an. Schelling hat sich in der Freiheitsschrift zum Ziel
gesetzt, das „formelle“ System des Idealismus zu einem „real-idealistischen“ System zu
komplettieren. Um sein „Real-Idealismus“ artikulieren zu können, greift er die
kantische Analyse des Bösen aus der Religionsschrift auf. Schellings Untersuchung hat
die Einsicht zum Ergebnis, dass ein genuiner Systemansatz es nicht bei der formellen
51
Deduktion der Wirklichkeit der Freiheit bewenden lassen darf, sondern auch umgekehrt
die Freiheit auf Basis der Wirklichkeit zu rekonstruieren versuchen muss.
Die
Freiheitsschrift
Schellings
kann
nur
vor
dem
Hintergrund
der
Religionsschrift Kants verständlich gemacht werden. Die Vorwürfe, die Schelling in der
Sekundärliteratur gemacht werden, fußen auf dem Unvermögen der Autoren, um den
rekonstruktiven Charakter des Arguments Schellings einsehen zu können. Schellings
„Lehre“ von der intelligiblen Tat ist kein metaphysischer Lehrsatz, sondern das
Ergebnis einer systematischen Rekonstruktion. Die Annahme einer Sinnkontinuität
zwischen den von Kant unterschiedenen Triebfedern des Sittengesetzes und der
Selbstliebe einerseits und den von Schelling unterschiedenen Universal- und
Partikularwillen andererseits, ermöglicht es, nicht nur den Schellingschen Begriff des
Bösen, sondern auch seine Idee einer Umkehr zum Guten auf kohärenter Weise
darzustellen. Mittels der Darstellung ihren unterschiedlichen Auffassungen des Bösen
und der Umkehr zum Guten ist es möglich, die Differenz der Freiheitsbegriffe Kants
und Schellings herauszustreichen. Während Kant konsequent seine „Zwei-PerspektivenLehre“ hantiert und der Freiheit als Selbstbestimmung nur eine moralische Relevanz
zuspricht, gewinnt dieser Freiheitsbegriff bei Schelling zugleich eine ontologische
Bedeutung.
Kant und Schelling konfrontieren uns mit einem unbequemen Satz: Der Mensch
ist böse. Sprechen sie damit einen Fluch über den Menschen aus? Diese Arbeit hat sich
auf die positiven Möglichkeiten, die ein solcher Satz eröffnet, konzentriert. Dies jedoch
nicht mit der Absicht, die Schrecklichkeit des Bösen zu leugnen: Das Böse ist kein
Segen. Nur ein Ding ist sicher: Der Weg zum Guten öffnet sich nur demjenigen, der die
Bereitschaft hat, seine eigene Bosheit anzuerkennen.
52
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