Bettagspredigt Matthäus 6,13 „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ Reihe „Unser Vater“ IV gehalten von Pfr. Markus Unholz am 18. September 2005 in St. Georgen „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ Liebe Gemeinde Schon unzählige Male gebetet und doch noch nicht in ihrer ganzen Tiefe bedacht: Das ist mir bei dieser „Unser Vater“-Bitte deutlich geworden. Es brauchte dazu den Anstoss eines lieben, inzwischen leider verstorbenen Gemeindegliedes. Als Pfarrer bekommt man ja nach einem Gottesdienst die eine oder andere Rückmeldung: zur Predigt, zu den Gebeten, zur Wahl der Lieder etwa. Aber dass das Echo diesmal das „Unser Vater“ betraf, fester und normalerweise undiskutierter Bestandteil unserer Gottesdienste, hat mich dann doch erstaunt. Man könne doch eigentlich gar nicht, meinte mein Gesprächspartner, zu Gott beten: „Führe mich nicht in Versuchung...“ Was wäre das für ein Gott, der selber der Urheber der Versuchungen in unserem Leben wäre, der uns zuerst in Not und Bedrängnis stürzt, um uns dann umso eindrücklicher von dem Bösen zu erlösen. Das wäre, wie wenn Eltern ihre Kinder plagen würden, um sich ihnen gegenüber dann anschliessend umso freundlicher zu zeigen; wie wenn ich jemandem den Kopf unter Wasser drücken würde, um mich ihm danach als Retter zu präsentieren. Ich musste meinem tiefsinnigen Gesprächspartner recht geben: Ein solches Bild von Gott würde nicht dem liebenden Gott entsprechen, den uns Jesus nahe bringt und den er uns einlädt, als unseren Vater anzureden! Angemessener zu verstehen scheint die Bitte an Gott so: „Führe uns nicht in Situationen und an Orte der Versuchung. Hilf uns, der Macht der Versuchung nicht zu erliegen.“ Oder, wie es jener Gesprächspartner auf den Punkt brachte: „Führe uns in der Versuchung.“ Dass es Versuchungen gibt, dass es Mächte und Böses gibt, die uns zusetzen und uns und unseren Beziehungen schaden wollen, das ist eine Lebenserfahrung, die wohl niemand bestreiten kann, weder beim Blick auf sein persönliches Leben noch beim Blick in die Welt. Und ich meine, Zerstörerisches, Negatives, Böses in der Welt widerspreche auch nicht dem Glauben an einen liebenden Gott, so sehr sich da zunächst eine Kluft auftun mag. Denn wenn Liebe vor allem und zuerst Gottes Wesen ausmacht, dann kann dieser Gott nichts Bezwingendes an sich haben. Liebe und Zwang widersprechen sich. Liebe schafft Raum – Lebensraum, Raum, wo Leben gedeihen und sich entfalten kann. Liebe geht aber auch immer das Risiko ein, enttäuscht, abgelehnt, ja verachtet und gar gekreuzigt zu werden. Zu einem geringeren Preis gibt es Liebe nicht, auch nicht jene von Gott Böses kann sich von verschiedenen Seiten unserer bemächtigen wollen. Da dachten und empfanden, wie man aus anderen Gebeten zur Zeit Jesu weiss, die Menschen damals ähnlich wie wir. Sie mochten etwa schlimme Krankheiten vor Augen haben, seelische Bedrängnis, böse Begegnungen, böse Menschen. In ungesunden Trieben wie in dunklen Träumen oder bedrängenden Gedanken kann das Böse zum Vorschein kommen. Dass das „Unser Vater“ von dieser Dimension des Bösen spricht, die niemandem von uns nicht in der einen oder anderen Weise bekannt wäre, zeigt, wie hilfreich realistisch und lebensnah dieses Gebet ist. Die Versuchung liegt nun darin, wie wir uns Bösem gegenüberstellen, wie wir auf es reagieren. Versuchung, das mag sich im Alltäglichen zeigen, im Hang zur Bequemlichkeit etwa, in der Verlockung der günstigen Gelegenheit, in Oberflächlichkeit oder in mangelndem Nachdenken oder auch, wenn wir uns verzetteln an all die unzähligen Möglichkeiten, die sich uns bieten, und nirgends wirklich in die Tiefe gehen. Versuchung kann auch im raschem, hemmungslosem Genuss liegen. Freilich, die Freude an den Genüssen der Welt, an Köstlichkeiten auf dem Tisch oder am fröhlich im Kreis von Freunden genossenen Glas Wein oder auch an verantwortungsvoll gelebter Sexualität sieht die Bibel durchaus positiv. Erst wo es droht, übertrieben zu werden, wo Menschen süchtig etwa nach Alkohol oder zu Sklaven ihrer Triebe werden, da stellt sich die Versuchung ein. Da wird aus der Freude an der Fülle der Lebens, das uns Gott, der Schöpfer, immer wieder neu schenkt, dessen Zerstörung und Vernichtung. Vom Bösen bliebt auch Jesus in seinem Leben nicht frei, das hat die Geschichte, die wir in der Lesung gehört haben, eindrücklich gezeigt (Matthäus 4,1-11). Doch er ist nicht der Versuchung erlegen, seine Seele dem Bösen zu verkaufen. Aus Steinen Brot machen zu sollen, das ist die Versuchung, das Leben, das nur von Gott kommen kann, selbst schaffen zu wollen. Sich von der Zinne ist Tempels stürzen zu sollen, darin liegt die Versuchung, die Gesetze der Natur ausser Kraft setzen zu wollen, sich gegen die Gesetzmässigkeiten der Schöpfung auflehnen zu wollen statt darin den uns Menschen zugewiesenen Ort zu erkennen und an ihm zu bleiben. Und die Versuchung, sich aller Reiche der Welt zu bemächtigen – nun, darin zeigt sich wohl die grösste menschliche Versuchung: Oben stehen und oben bleiben. Soviel wie möglich an sich zu reissen von den Herrlichkeiten der Welt. Keine Grenzen zu respektieren, ja letztlich sein zu wollen wie Gott und die Welt zu Füssen zu haben. Doch diese Versuchung, der Grössenwahn, hat, wie mir scheint, gleichsam eine Zwillingsschwester, nämlich die Mutlosigkeit, die Resignation, die Ohnmacht. Ihr verfällt, wer sich innerlich in Beschlag nehmen lässt von all dem, was in der Welt und im eigenen Leben bedrohlich scheint, wer gar nichts anderes mehr sieht als das, was schlecht oder böse ist. Genauso unangemessen wie die Welt stets durch eine rosa Brille zu betrachten ist es, sie bloss durch eine dunkle Brille anzusehen. In der Tat, sowohl im eigenen Leben wie beim Blick in die Welt gibt es viele Reichtümer, Ressourcen, Schätze, über die wir uns freuen und die wir geniessen können. Wir tun nicht zuletzt Gott, dem Schöpfer, Unrecht, wenn wir diese Chancen und Möglichkeiten übersehen und übergehen, wenn wir sie nicht zu unserem und der Welt Bestem nutzen. Gott, der Erlösung von dem Bösen schenkt, zeigt sich darin, dass er am Kreuz den Kreislauf des Bösen durchbricht, dass er das Böse trägt und erträgt. Es ist m.E. fragwürdig zu sagen, wie es bisweilen geschieht, mit unserem Bösen hätten wir Christus ans Kreuz gebracht. Wir haben ja damals noch nicht gelebt und waren nicht in jenes Geschehen involviert. Doch was in meinen Augen gilt, ist, dass damals, am Kreuz, das Wesen Gottes befreiend auch für uns sichtbar geworden ist, nämlich dass er in seiner Liebe das Böse erträgt und gerade dadurch die Fesseln des Bösen löst. Jesus hat die Verkettung von Gewalt und Vergeltung aufgelöst. Und wer weiss: Als solcherart selbst von Gott Erlöste müssen wir auch nicht mehr Böses mit Bösem heimzahlen, können wir gelöster und befreiter auf andere zugehen und so lösend und befreiend wirken. Ich meine, gerade der heutige Dank-, Buss- und Bettag könne uns das richtige Verhältnis zu dieser „Unser-Vater“-Bitte finden helfen. Das Gebet stellt uns ins richtige Verhältnis zu Gott. Es bewahrt uns vor der Versuchung menschlicher Überheblichkeit und Allmachtswahns. Das Gebet lässt uns erfahren, dass wir aus der Beziehung zu Gott, nicht aus uns selber leben. Wir dürfen ihn als Vater anreden, und er schenkt uns seine Liebe, gibt uns Phantasie und vertraut uns Verantwortung an. Busse tun heisst, in uns gehen, uns eingestehen, wo wir Versuchungen des Bösen zu erliegen drohen, und uns zu überlegen, wo und wie wir uns ändern können. Dabei dürfen wir Gott um seine Führung bitten, damit uns das Böse nicht wie ein Strudel in die Tiefe reisst, sondern dass wir uns über Wasser halten und weiterbewegen können. Und an erster Stelle steht heute der Danktag. Wenn wir immer wieder bewusst uns Zeit nehmen, Gott, dem Schöpfer und Erlöser, zu danken, kann uns dies vor der Versuchung der Resignation bewahren. Denn wer dankt, richtet sich auf das Gute, das Gelingende aus, das er bei sich selbst, unter den Menschen, mit denen er zusammenlebt, und in der Welt wahrnimmt. Wer dem Danken Raum gibt, sieht dabei die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Gott ihm geschenkt hat, um sich damit in der Welt einzubringen. So hat das Danken etwas Erlösendes an sich, weil es unsere besten Kräfte freisetzt. Amen.