STUDIOZEIT • AUS KULTUR- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN* Faszinierend und abstoßend, banal und mächtig Religionswissenschaftler und Philosophen auf der Spur des Bösen Von Peter Leusch Das Böse fasziniert im Krimi, erschreckt im Horrorfilm. Böse nennen wir Hitler, Stalin und Osama bin Laden. Aber was ist das Böse? Wo kommt es her? Und wie soll man ihm begegnen bei anderen, aber auch bei sich selbst? In Berlin thematisiert die Katholische Akademie in einem interdisziplinären Kolloquium die grundlegende Frage nach dem Bösen und diskutiert unterschiedliche Perspektiven aus Theologie, Philosophie und Ethik. Im Vorfeld sprach Peter Leusch mit Referenten und Teilnehmern. Tobias Zimmermann: "Das große furchtbare Erwachen in unserer Schule vor dem, was vor zwei Jahren herausgekommen ist, über den massenhaften sexuellen Missbrauch an unserer Schule an Schülern - das war für uns, für die Schüler, für die Lehrer, und sowieso für uns Jesuiten ein Erlebnis, dass man herausgerissen wird aus der Normalität und mit einer Form des Bösen konfrontiert wird, wo man nur davor stehen kann und wirklich schaudern kann." Tobias Zimmermann, Theologe, ist der neue Rektor am Berliner Canisius-Kolleg. Dort hat es in den 70er- und 80er-Jahren systematisch sexuellen Missbrauch in zahlreichen Fällen gegeben, wie vor zwei Jahren bekannt wurde. Plötzlich war das Problem des Bösen kein bloßer Unterrichtsgegenstand mehr, kein fernes und abstraktes Thema von Ethik und Religion, sondern konkret und unheimlich gegenwärtig, auch wenn Täter und Opfer schon lange nicht mehr an der Schule sind, so Tobias Zimmermann: "Auch die Monstrosität - wir reden über Täter, die massenweise das getan haben. Und Schüler und Lehrer merken plötzlich, unsere ganz normale Schule, wo wir über das Böse und über das Gute reden, diese normale Schule wird jetzt plötzlich als Gymnasium des Grauens tituliert. ... An dem Beispiel kann man sehen, das Normale kann kippen in eine Form des Bösen, die wirklich von außen betrachtet, erst einmal dämonisch ist." Auf allen Ebenen bemüht sich die Schule, das Vergangene aufzuarbeiten, vor allem die Schüler für die Zukunft zu wappnen. Denn, so Tobias Zimmermann, das Böse lasse sich nicht nur auf das Vergehen Einzelner reduzieren, es stelle eine grundsätzliche Versuchung dar: * http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/1678098/ am 15. März 2012 "Schule muss auch strukturell mit dem Bösen rechnen, das heißt, sie muss damit rechnen, und zwar Schule und Pädagogik überhaupt: Wo Erwachsene auf Kinder treffen, ist ein Machtgefälle da, und Machtgefälle sind erfahrungsgemäß eine Einladung für genau diese Art des Bösen, nämlich dann in einem Ausmaß anzufangen, die Welt nach meinen Bedürfnissen zu sehen, und sie aufgrund meiner Macht durchzusetzen, die dann jeden, der von außen darauf, blickt nur erschauern lassen kann." Das Böse lauert in der Versuchung der Macht, mit der Menschen ihre individuellen Gelüste ausleben auf Kosten von anderen schwächeren, deren Würde sie missachten. Schule muss deshalb versuchen, die ihr anvertrauten und schutzbedürftigen Jugendlichen zu stärken und zu wappnen, damit sie eine Chance haben sich gegenüber Lehrern und anderen Autoritätspersonen in der Schule zu behaupten. Tobias Zimmermann adressiert seine Reflexion des Bösen aber auch an das eigene Gewissen, als kritische Rückfrage an jeden selbst: "Es gibt in der öffentlichen Debatte schnell den Punkt, wo man die Täter zu Monstern stilisiert, das hat den praktischen Vorteil, dass man sich nicht mehr damit beschäftigen muss, dass man nicht selber Vorsorge treffen muss, dass in einem selber genau dieses Monster schlummert, dieses Monster, was Macht missbraucht. Und je absoluter die Macht ist, desto mehr missbrauche ich sie." Martin Knechtges, Leiter des Kolloquiums an der Katholischen Akademie liegt viel daran, dass das Böse als Quelle der Versuchung nicht unterschätzt werde als Risiko, das man mit entsprechender Moral völlig ausschalten könnte. Martin Knechtges nennt es die Unverfügbarkeit des Bösen. Trotz allen moralischen Widerstands und Kampfes gegen das Böse könnten sich Menschen ihrer selbst nicht absolut sicher sein: "Das plötzliche Auftreten des bösen Kerns, da zeigt sich etwas an mir, das ich nur böse oder boshaft empfinden kann, und worauf mir in gewisser Hinsicht der Zugriff entzogen bleibt, ich bin erst mal nur erschrocken, wie der göttliche Schrecken. Ich stehe vor etwas, das mir auch fremd ist, in meiner Wirkung, aber auch in meiner Selbsterfahrung, und ich glaube, da endet gewissermaßen in meinem Verständnis die moralisch-ethische Diskussion über das Böse, und wir betreten den spezielleren Bereich philosophischen oder religiösen Nachdenkens." Als Gegenbegriff zum Guten ist das Böse ein zentrales Thema von Religion, Philosophie und Ethik seit jeher. Die Perspektiven auf das Böse, die bei dem interdisziplinären Kolloquium diskutiert werden, sind dabei unterschiedlich. Jürgen Manemann, Theologe und Leiter des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover präsentiert die theologische Sicht. Das Böse widerfährt als Schock, so Manemann: "Eine Schockerfahrung wird durch ein negatives Ereignis ausgelöst, das wir nicht verstehen, das wir auch im Nachhinein nicht mit Sinn belegen können, das also für uns sinnwidrig ist. Wir sprechen vom radikal Bösen beispielsweise, wenn wir an einen der Amokläufer an der Columbine Highschool denken, der in seinen Notizen formuliert hat, dass alles seine Schuld sei, dass seine Eltern, seine Brüder, Freunde nicht dafürkönnten, seine Computerspiele nicht, nicht die Medien schuld seien, an dem Attentat, das er im Begriff ist zu verüben, sondern dass die Schuld ihm allein gehört, dass der Täter für seine Tat die volle Zurechnungsfähigkeit für sich reklamiert, dann sind wir mit einem entweder pathologischen konfrontiert, oder mit einem Verhalten, dass wir nicht verstehen können, das heißt, es geht hier um ein sinnwidriges Wollen und das ist das Böse." Jürgen Manemann definiert das Böse theologisch: Das Böse ist das Gegenteil dessen, was Gott will, seiner Allmacht und Liebe, seiner wohlgeordneten Schöpfung. Das Böse ist sinnwidrig, zerstörerisch, vernichtend, es sagt Nein zum Anderen, zur Schöpfung und zum Leben. "Ich bin der Geist, der stets verneint", so stellt sich Mephisto im Faust vor. Manemann nennt das Böse einen aktiven Nihilismus. Auch der Terrorismus im Gewand des Islam sei, so Manemann, im Kern kein religiöser Wahn, sondern solch ein aktiver Nihilismus: "Gerade wenn wir uns den Terrorismus von Al Qaida ansehen, vom 11. September müssen wir in Rechnung stellen, dass es hier nicht nur um Islam geht, sondern es geht hier um eine Gewalt um ihrer selbst willen, ... denken wir an das Bekennerschreiben im Blick auf die Attentate von Madrid, wo es heißt: 'Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.'" Der aktive Nihilismus hat im 20. Jahrhundert monströse Spuren hinterlassen, wo Menschen bestialisch ermordet oder kaltblütig ausgelöscht wurden. Es sind Orte des Grauens: der Archipel Gulag, Ruanda, Srebrenica und - Auschwitz. In der Tradition dominierte die theologische Deutung des Bösen als negatives Prinzip, als eine vom Menschen unabhängige dämonische Kraft, als Satan. Noch 1755, als ein verheerendes Seebeben Lissabon zerstörte und Zehntausende Opfer forderte, wurde die Natur als böse angeklagt. Und Voltaire verlor über der Katastrophe seinen Glauben an einen gütigen Gott. Immanuel Kant (Bild: AP) Seit her setzte sich eine anthropologische Perspektive durch, die den Ursprung des Bösen eng mit dem menschlichen Willen verknüpft. Für das Böse ist nun ausschließlich der Mensch verantwortlich. Diese Sicht ist vor allem mit dem Aufklärer Immanuel Kant verbunden. Volker Gerhardt: "Das Böse bei Kant tritt allein dadurch auf, - nicht etwa weil es in der Welt ist, nicht etwa weil Gott es in die Welt gesetzt hätte, um den Menschen zu versuchen, oder er nicht mächtig genug wäre, den Teufel zu bekämpfen - das Böse kommt allein dadurch in die Welt, dass der Mensch, der allein die Fähigkeit hat, aus sich heraus gut zu handeln, im Bewusstsein dieses Ziels davon abweicht." Volker Gerhardt, Philosoph an der Berliner Humboldt-Universität erläutert, dass nach Kant das Böse in der menschlichen Natur angelegt sei, und zwar in seiner Freiheit, die ihm gestatte, entgegen der Vernunft und dem Sittengesetz zu handeln. Kant selbst nennt es eine "Verkehrung des Herzens": "Wir wissen eigentlich was wir vernünftigerweise tun, aber wir haben unsere Gründe, wir haben unseren Neid, unsere Konkurrenz, wir haben die Abgrenzungssucht gegenüber anderen und verführen uns gewissermaßen durch unsere sinnlichen Triebe selbst etwas zu tun, von dem wir wissen, dass es nicht gut ist." Heute wird oft an Immanuel Kants Lehre kritisiert, dass er Vernunft und Moral auf der einen und Sinnlichkeit und egoistische Motive auf der anderen Seite einander zu schematisch gegenübergestellt habe, was sich im wirklichen Leben viel komplexer durchdringe. Doch schon Kant selber, so Volker Gerhard, betonte: "Wir wissen nie genau, aus welchen Gründen wir handeln, es ist immer ein Verdacht, dass wir in dem was wir tun, was wir für gut halten, und wo wir Wert darauf legen, dass die anderen dies glauben, dass es doch aus Motiven kommt, die wir nicht ganz durchschauen." Der Mensch entgeht sich partiell. Hier zeigt sich ein existenzieller Widerspruch: Moralisch ist der Mensch für sich unbedingt verantwortlich, aber Philosophie und Psychoanalyse, neuerdings die Hirnforschung bezweifeln die Freiheit des Willens, die vollständige Souveränität des Menschen. Freud hat es so ausgedrückt: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause. Das Gute zu erkennen und zu leben, wird schwierig, weil der Mensch standortgebunden ist. Tobias Zimmermann: "Ich stehe in der Welt, ich kann die Welt nur mit meinen Augen sehen, und soll aber den Sinn des Ganzen durch mein Handeln und mein Sprechen beurteilen, und das führt dazu, dass ich immer einen Hang zu Egoismus und Narzissmus habe, und damit den Sinn des Ganzen zu verleugnen und zu zerstören." Das Gute zu erkennen und zu tun, ist schwierig. Damit wird aber auch die Frage, was böse ist, komplizierter. Und vor allem das Problem, wie man auf das Böse oder vermeintlich Böse reagieren soll. Tolstoi hat dazu eine radikale christliche Position bezogen, die heute nach den Schrecken der Oktoberrevolution und dem Ende der Sowjetherrschaft neu diskutiert wird. Dazu die russische Philosophin Ekaterina Poljakova von der Universität Greifswald: "Da kommen Positionen wie die von Tolstoi, der eine radikale Ablehnung von dem Widerstand gegenüber dem Bösen anbot, das heißt er sagte, dass, in dem ein Mensch sich zum Guten erklärt, das gegen das Böse kämpfen darf, wird er zum Bösen, also nur dieser Widerstand dem Bösen gegenüber ist das Böse, das kann man so verstehen, wenn ich die anderen Menschen für das Böse halte, bin ich das Böse, und ein anderes Böses gibt es eigentlich nicht. Das ist Tolstois Radikalität, er beruft sich dabei auf die Bergpredigt, wo gesagt wird: "Widersteht nicht dem Bösen!" - Was heißt das? Wir müssen doch dem Bösen widerstehen. - Tolstoi sagt: ja, in uns, aber nicht in den anderen Menschen, indem ich aber den anderen Menschen für das Böse erkläre, werde ich zum Bösen." Was Tolstoi auf radikale christlich-pazifistische Weise anspricht, ist das Problem der Gegengewalt. Jeder Widerstand gegen das Böse, läuft Gefahr, sich von der enthemmten Gewalt anstecken zu lassen, ja schließlich böser zu werden als das, wogegen er kämpft. Die Geschichte ist voller Beispiele: In der Französischen Revolution schwang sich Robespierre zum obersten Wächter der Tugend auf. Doch er verwandelte Tugend in Terror. In seinem Fanatismus glaubte er noch mit der Guillotine dem Allgemeinwohl zu dienen, während er in Wahrheit viele Menschen, die Individuen, töten ließ. Tolstois christlicher Aufruf zum unbedingten Pazifismus dem Bösen gegenüber sei dennoch problematisch, und so nicht aus Jesu Lehre abzuleiten, erklärt Jürgen Manemann, im Hinblick auf den modernen Terrorismus: "Man darf sich von den Terroristen nicht die Gesetze des Handelns vorgeben lassen. Insofern wäre natürlich die adäquate Reaktion auf Gewalt Gewaltlosigkeit. Aber Gewaltlosigkeit kann m. E. niemals Prinzip sein, sondern immer nur ein Rat. Warum niemals Prinzip? - Aus dem Grunde nicht, weil wir doch von uns selbst Gewaltverzicht einfordern können. Aber wir können nicht von den Menschen, um deren Leben es geht, Gewaltverzicht einfordern. Jesus hat gesagt: 'Wenn dir einer auf die rechte Wange schlägt, halte die linke hin.' Aber er hat nicht gesagt: Schau zu, wenn anderen auf die Wange geschlagen wird, und sage ihm, er möge auch noch die andere hinhalten.' Das heißt, Gewaltlosigkeit ist ein Rat, der an einen selbst ergeht, aber er darf nicht zum Prinzip gemacht werden, dann lieferte man die Opfer von Gewaltverbrechen der Gewalt aus." Mit Gegengewalt zu reagieren, um Menschen zu schützen, bleibt nichtsdestotrotz zwiespältig, weil man sich auf dieselbe Handlungsebene begibt und der Sprache der Täter angleicht. Fatal wird es, wenn sich Politik dergestalt mit einem religiösen Anspruch auflädt, wie es Georg W. Bush in seinem Krieg gegen den Terror unternahm. Bush sprach im Blick auf Nordkorea, den Irak und den Iran von der Achse des Bösen und reklamierte für sich selber die Position des absolut Guten. Jürgen Manemann: "So wie damals George W. Bush religiös politisch seinen Kampf gegen den Terror interpretiert hat, das ist mit dem biblischen Monotheismus nicht vereinbar, weil Bush klare Schwarz-Weiß-Bilder gemalt hat, und der Monotheismus , der Glaube an den einen einzigen Gott soll gerade nicht spaltend wirken, sondern er soll verbindend wirken und er ist nicht mit einem Dualismus vereinbar." In vielen Fällen lassen sich Gut und Böse, moralisch richtiges oder falsches Verhalten, nicht wie Schwarz und Weiß fein säuberlich auseinanderhalten. Menschliches Handeln findet in einer letzten Unsicherheit statt, in der wir entscheiden und unsere Entscheidungen verantworten müssen. © 2012 Deutschlandradio