Dr. Johannes Kohl, Generalvikar der Diözese Eisenstadt Die Würde des Menschen: Verantwortete Freiheit Die Distanz zwischen ‚Können’ und ‚Dürfen’ Wir dürfen nicht alles, was wir können, und der Abstand zwischen „Dürfen“ und „Können“ wird immer größer. Er ist jedenfalls größer, als er je in der Vergangenheit war. Wir können mehr und immer mehr. Wir können uns sogar ruinieren, aber wir sollen es nicht. Ohne Menschenbild kommt keine humane Politik aus. Der Mensch darf schließlich nicht zum Produkt der Beliebigkeit verkommen. Was richtig ist, kann die Wissenschaft beantworten: was gut ist nicht. Die Wissenschaft hat im Laufe der Geschichte schon viele richtige Ergebnisse für böse Zwecke geliefert. Auch das Tötungsgas für Auschwitz war richtig zusammengesetzt: für einen teuflischen Zweck. Was der Mensch sein soll, beantwortet keine Wissenschaft, also auch kein Biologe, Physiker, Chemiker, Mathematiker etc. Der Sinn des Lebens ergibt sich nicht aus einer mathematischen Formel. Dass zweimal zwei vier ist, sagt nichts darüber, was ich mit der Vier machen soll. Mit Hilfe der Wissenschaft lassen sich sowohl Atombomben bauen als auch Hunger in der Welt bekämpfen. Die Mittel sagen nichts über den Zweck, für den sie eingesetzt werden. Obwohl sich Mittel immer wieder zu Selbstzwecken erhoben haben. Man macht’s, weil’s geht. Aber was sollen wir machen? Ohne Bezug auf Wahrheit, der unserem Zugriff entzogen ist, lässt sich kein Grund finden, auf den gelungenes Menschsein sich stützen kann. Abbild Gottes Was also ist der Mensch? Die Bibel antwortet: Der Mensch ist Abbild Gottes. Das ist der Grund seiner Würde, und keine Macht der Welt darf ihm diese Würde rauben. Und deshaln darf man mit dem Menschen nicht machen, was man will. Wer dem Menschen seine Freiheit nimmt, raubt ihm auch seine Verantwortung. Verweigerung von Verantwortung ist Verweigerung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Die Würde des Menschen ist darin begründet, dass wir nicht zur blinden Ausführung von fremden Befehlen verdammt sind, sondern uns selbst befehlen müssen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Wir können unser Leben verfehlen. Wir haben die Wahl. Der Großinquisitor Warum überhaupt Freiheit? Schon der Großinquisitor in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ warf dem wiedergekehrten Herrn vor, die Freiheit der Menschen höher zu achten als ihr Glück. Das Drama zwischen Freiheit und Glück durchzieht die Geschichte der Menschheit. Und nirgendwo ist die Tragödie dieses Kampfes ergreifender dargestellt als in dem Gespräch des Großinquisitors mit dem wiedergekehrten Herrn in den Gefängniskatakomben Sevillas. Es war die entsetzliche Zeit der Inquisition. „Herr, verschone uns!“ schreien sie. Er hört den Ruf und kommt. Er steigt hinab auf den glühenden Platz, wo unter den Augen der Einwohner Sevillas vor den Kirchenfürsten im Beisein des Königs und seiner Damen auf Geheiß des KardinalsGroßinquisitor auf dem Scheiterhaufen gerade hunderte von Ketzern ins Jenseits befördert worden sind. Der wiedergekehrte Herr heilt Blinde, Kinder streuen ihm Blumen. Das Volk streckt ihm die Hände entgegen und bittet um seinen Segen. Und aus dem Kindersarg, abgestellt vor den Pforten der Kathedrale, erweckt er das Töchterlein eines angesehenen Bürgers. „Talitha kumi“ – „Stehe auf, Mädchen“, spricht er. Das Mädchen steht auf und reibt sich verwundert die Augen. Es kehrt zurück ins Leben. Das ist zuviel für die fürsorgliche Herrschaft des greisen Großinquisitors. Ins Handwerk lässt er sich nicht pfuschen. Der 90jährige Kardinal lässt den Herrn in Ketten legen. In der Nacht betritt der Großinquisitor die Kellergewölbe des Gefängnisses. Sein Gespräch mit dem Herrn bringt es auf den Punkt: Glück, nicht Freiheit wolle er den Menschen bringen. Das ist sein Gegenprogramm zur christlichen Botschaft. Nicht Gnade, nicht Freiheit will er für den Menschen, sondern Glück. So korrigiert er das Werk der Erlösung nach seinen Vorstellungen. Die Freiheit der Kinder Gottes Ich weiß keine andere Begründung für das Recht der Menschen auf Freiheit als den Glauben, dass wir als Kinder Gottes zur Freiheit berufen sind. Die Freiheit der Kinder Gottes ist keine „kindische“ Freiheit. Sie steht in der unumgänglichen Bewährungsprobe, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Wir müssen nicht das Gute tun. Wir sollen es tun. Wir können es aber auch lassen. Wir stehen unter dem Gebot des Sollens, nicht unter dem Zwang des Müssens. Zehnmal sagen die Gebote Gottes „Du sollst“. Keinmal „Du musst“. Mit dieser Freiheit hat Gott den Menschen über alle anderen Geschöpfe erhoben. Kein Tier kann wollen, was es soll. Seine Handlungen laufen auf der Einbahnstraße von Trieb und Instinkt. Vernunftlos macht das Tier, was es muss. Erst die Vernunft öffnet dem Menschen den Horizont des Sollens. Nur der Mensch kann zwischen Gut und Böse wählen. Das ist die Last und die Lust der Freiheit. Also hat der Glaube doch etwas mit Politik zu tun. Der Glaube bietet der Politik keine Rezepte, aber er sichert die Grenzen der politischen Zuständigkeit und liefert die unverzichtbaren Inspirationen für eine Politik der Verantwortung: für sich und andere. Das christliche Menschenbild Das christliche Menschenbild integriert die Individual- und Sozialnatur zur Personalität, in der Selbst- und Mitverantwortung miteinander verschränkt sind. Der Mensch ist nicht allein. Nur im Mitsein gelangt er zum Selbstsein. Selbst Robinson, der skurrile Außenseiter, der gezwungenerweise Einzelgänger geworden war, war auf einen verspäteten Gefährten „Freitag“ angewiesen. Wir sind auf’s Mitsein angelegt, aber wir gehen in ihm nicht auf. „Ich“ ist auf „Du“ bezogen. Aber Ich und Du verschwinden nicht in einem differenzlosen „Wir“. Die biblische Botschaft hat das Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Mitverantwortung auf die knappe Gerichtsfrage gebracht, die über unsere Ewigkeit entscheidet: „Was hast Du dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan?“ Die Frage richtet sich nicht an ein Kollektiv, sondern an einen Einzelnen, der sich nicht vertreten lassen kann. Aber er wird nicht danach gefragt, was er für sich und seine schöne Seele getan hat, sondern für andere. Christliche Existenz ist Selbstsein mit und für andere.