Tübinger Tischreden am 26.10.2011 im Tübinger Stift (Elisabeth Gräb-Schmidt) Das Leben ist kein Spiel! Meine Damen und Herren, solch ernste Rede ist vielleicht unpassend, die im Gedenken an Luthers drastisch-kernige Reden selbst saftig und deftig sein sollte. Aber sie folgt dem Ernst der Fragestellung: Was sind die großen Herausforderungen unserer Zeit? Und Was kann die Kirche und Religion dazu beitragen? So die anspruchsvolle Aufgabe. Sie machte mich zunächst ratlos angesichts der Vielfalt der Herausforderungen: - Die Wirtschaft hat mit der Infragestellung des Kapitalismus zu kämpfen, angefangen durch die „Occupy-Wall-Street“-Proteste bis hin zu den Cineasten um Jean Luc Godard. - Die Politik hat die große Verantwortung, ein tragfähiges Konzept „Europa“ zu entwickeln. - Die Wissenschaft ist gefordert durch neue kosmologische Kenntnisse über das Universum, vermeintliches Wissen über Bord zu werfen: „nichts genaues weiß man nicht“ bis hin zu den wissenschaftlichen Fragen nach der Rolle der Gefühle für unsere Gehirnleistung. - Die Medizin steht vor der Entdeckung des Pestgens sowie der vollständigen Entschlüsselung des Erbguts, die mit der bangen Frage eines Rechts auf „Nichtwissen“ flankiert wird und so fort. Wo wollen und sollen wir beginnen – oder gibt es ein Feld, das gegenwärtig eine besondere Herausforderung darstellt? Ja und Nein. Nein, weil diese Herausforderung nicht neu ist und ja, weil sie für alle die genannten Herausforderungen mitbedacht werden muss: Ich denke an den Gewinn einer Klarheit über das Bild des Menschen! In Erinnerung an Luthers Tischreden ist auch gerade das hier am Platze. 1 Es war nämlich kein anderer als Martin Luther, der der Theologie aufgegeben hat, erneut über ein realistisches Menschenbild nachzudenken. Luther hat erfahren, dass vor aller Verantwortung die Annahme eines jeden Menschen unabhängig von seinen Begabungen und Fähigkeiten steht. Darin sind alle Menschen gleich. Das ist der Grundstein für die Solidarität und Gerechtigkeit. Der Mensch muss gar nichts machen, um sich der versprochenen Menschenwürde würdig zu erweisen. Er ist es von Anfang an, selbst dort, wo er noch nichts geleistet hat, und selbst dort, wo er nichts mehr leisten kann. Oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Aber unsere abendländische Kultur lebt von diesem Erbe, das nicht nur die Freiheit und Autonomie des Menschen hochhält, sondern auch die Anerkennung seiner Verletzlichkeit: ecce homo. Der Mensch in seiner Verletzlichkeit, in seiner Fehlerhaftigkeit und Angewiesenheit, nicht nur auf Freiheit und Gleichheit, sondern auch auf Solidarität, er ist der Mensch, der wenig niedriger ist als Gott, den Gott gekrönt hat mit Gnade und Barmherzigkeit. Dieses Menschenbild ist ein Schwergewicht, das wir den gesellschaftlichen Debatten nicht vorenthalten sollten. Es vermag auch Sackgassen, in die wir durch unser Handeln geraten sind, zu öffnen. Das kann dieses Menschenbild deshalb, weil es weit ausgreift, ohne Präzision und Orientierung vermissen zu lassen, vor allem aber, weil es gnadenreich realistisch ist. Wir können gar nicht genug ermessen, wie weitreichend dieses Bild vom Menschen für unsere gegenwärtige Gesellschaft ist. Mit diesem Menschenbild werden wir ethisch fit gemacht für alle richtungsorientierenden Entscheidungen in Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft. Ich möchte dies beispielhaft an einer Eigenschaft des Menschen veranschaulichen: nämlich die Technik. Sie ist es, die an ihr selbst zwischen Spiel und Ernst steht. An ihr zeigt sich die Ambivalenz der 2 Gottebenbildlichkeit des Menschen in jener Höhe und Niedrigkeit, die seine Verantwortung zum Kippphänomen macht. Die Technik führt uns drastisch vor Augen: Der Mensch ist und bleibt fehlerhaft. Durch keine Technik kann er sich davon dispensieren. Auch wenn die Technik sicher erscheint, das Erwachen wird dann umso grausamer, wie jüngst das Reaktorunglück in Fukushima offengelegt hat. Dennoch ist die Technik Adelsprädikat des Menschen. Aber die spielerischen Erfindungen der Technik müssen dem Ernst des Lebens standhalten können. D.h. Sie müssen beherrschbar bleiben. Das ist unsere Verantwortung. Technik mit bloßem Spiel, mit unbegrenzter Freiheit zu verwechseln, führt zum Desaster. Das reformatorische Menschenbild schärft uns ein: Das Christentum ist zwar die Religion der Freiheit, aber es bietet keine Freiheitstheorie für Hasardeure. Es ist dem Wagemut verantwortlicher Rationalität verpflichtet. Verantwortliche Rationalität verzichtet auf das Gott-Spielen. Natürlich kennen wir den Satz: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Er ist homo ludens, aber als solcher eben ganz und gar auf vorgegebene Spielregeln angewiesen. Ganz Mensch sein im Spiel, das geschieht dort, wo wir uns der uns vorgegebenen Spielregeln bewusst sind. Zu diesen gehört es, in erster Linie nicht das Spiel mit dem Leben, nicht unsere Welt mit dem Labor zu verwechseln. Denn das Leben ist Ernst. Nur im Vertrauen auf Gottes Spielregeln, das wusste Luther, unterscheiden wir angemessen zwischen Ernst und Spiel, Spiel und Leben. Diese Unterscheidung allerdings macht Mut, spielerisch Neues zu entdecken und Neues zu wagen. Zu Recht gerade auch in Wissenschaft und Technik, aber auch in Wirtschaft und Politik. Denn dieses Neue gibt es! An diesen Tischen, an denen Frauen Reden halten gilt es daran zu erinnern. Es gilt zu erinnern an den ungeheuren Wagemut des Neuen, der die diesjährigen Nobelpreisträgerinnen leitete: 3 Ellen Johnson Sirleaf, Leymah Gbowee und Tawakkul Karman. Nicht nur in ihren Ländern Liberia und dem Jemen betraten sie mit außerordentlichem Mut Neuland, sondern durch ihr Gewürdigtwerden mit dem Nobelpreis setzen sie Maßstäbe weltweit: Zur Korrektur des Bildes der Frau in vielen Gesellschaften und auch zur Interpretation des Lebens. Diese Freiheitskämpferinnen verstehen: das Leben ist kein Spiel – es ist ein Examen, das bestenfalls spielerisches Geschick mit Mut verbindet. Lasst uns anstoßen auf diese Kämpferinnen für Freiheit und Frieden für die Ehre und Würde des Menschen und auf das Leben Le Chajim!. 4