Streit um die Seele: Wie das Menschenbild die Hirnforschung prägt Dr. Michael Utsch Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 11. Arbeitstagung EFPS, 25. März 2006 Hypothese mancher Hirnforscher: Willensfreiheit und Selbstbestimmung muss durch Determinismus und Funktionalität ersetzt werden. „… folgenschwerster Wandel des Menschenbildes“ „… Umwertung aller Wertvorstellungen“ Erhard Oeser: Das selbstbewusste Gehirn. Perspektiven der Neurophilosophie. Darmstadt: WBG 2006, S. 9 „Die neurowissenschaftliche Anthropologie hat das christliche Menschenbild unwiderruflich aufgelöst.“ Thomas Metzinger, Gehirn & Geíst 11/2005, S. 54 1. Halbwahrheiten verzerren das Gesamtbild 2. Naturalisierung des Geistes 3. Grenzen und Möglichkeiten neurowissenschaftlicher Religionsforschung 1. Beispiele neurowissenschaftlicher Halbwahrheiten a) Bewusstseinsforschung b) Medizin- und Neuro-Technologien c) Hilft eine Neuroethik? d) „Neurotheologie“ a) Bewusstseinsforschung Focus-Titelgeschichte 6/2006 Werner Siefer & Christian Weber: ICH. Wie wir uns selbst erfinden. Frankfurt: Campus 2006. • • • Der Mensch ist frei, sich selbst zu erfinden. Ich-Gefühl ist eine Illusion – es gibt keine Seele „Werde, der du sein möchtest“ b) Medizin- und Neuro-Technologien • • • • • • „Enhancement“ – Verbesserung des Menschen Anti-Aging / Schönheitsoperationen Lifestyle-Medikamente – „Glück auf Rezept?“ Wunscherfüllende Medizin / „Psychodesign“ „Denkdoping“ Künstliche Intelligenz c) Hilft eine Neuroethik? 1. Neue Wissenschaftsdisziplin, die moralische Probleme behandelt, die sich in der praktischen Anwendung aus dem Erkenntnisfortschritt der Hirnforschung ergibt. 2. Erforschung der evolutionären Ursprünge moralischen Verhaltens: Welche Gehirnregionen nehmen Unrecht wahr? Wie entstehen moralische Gefühle (Schuld oder Mitleid)? Wie fördern wird diese Hirnbereiche bei Kindern? 3. Welche gesellschaftliche Folgen ergeben sich, wenn Menschen ihre Eigenschaften und Bewusstseinsinhalte steuern können? 4. „Neuroanthropologie“ = das neue Menschenbild Neue Gehirn & Geist-Serie „Neuroethik“ Entwurf einer „Neurowissenschaft der Moral“ 11/2005: 12/2005: 1-2/2006: 3/2006: 4/2006: 5/2006: 6/2006: 7-8/2006: „Unterwegs zu einem neuen Menschenbild“ „Denkdoping und Persönlichkeitsprothesen“ „Intelligente Drogenpolitik der Zukunft“ „Fingerabdrücke im Gehirn“ „Künstliches Bewusstsein“ „Tierethik“ „Was sind gute Gehirnzustände?“ „Ein neues Menschenbild entsteht“ d) „Neurotheologie“ Anspruch (Hypothese?) der Neurotheologie: Bestimmte neuronale Prozesse sind als die Ursache religiösen Erlebens und Verhaltens anzusehen. Die kausalen Zusammenhänge werden in naher Zukunft erklärt werden können. Die vier bekanntesten Ansätze Schläfenlappenepilepsie / „Gottesmodul “ (Ramachandran) Magnetfeld-Stimulation erzeugt mystische Stimmungen (Persinger) Scheitellappenaktivierung („Schnappschuß vom Nirwana“) (Newberg) Genetische Disposition (VMAT2 – das Gottes-Gen?) (Hamer) Kritische Anfragen: • • • Gehirnfunktionen sagen nichts über die subjektive Erfahrung aus (gleiche Gehirnwellen-Muster gingen mit unterschiedlichem Erleben einher =>Nonne-Zenmönch) Meistens wurden religiöse Extremzustände gemessen, nicht jedoch die Bedeutung der Religion im Alltag. Religiöses Erleben, Denken und Verhalten lässt sich sich sehr plausibel ohne meditative Ich-Entgrenzung oder epilepsieähnliche Visionen erklären. Leserbriefe zum Artikel ‚Hotline zum Himmel‘ (Spiegel, 21/2002) • „Der Nachweis mehr oder minder gestörter Empfänger kann die Nichtexistenz eines Senders nicht beweisen.“ • „Die Experimente der ‚Neurotheologen‘ sind in etwa so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgerätes auf der Suche nach Ulrich Wickert.“ Probleme der Hirnforschung: • Die eigenen Voraussetzungen werden weder reflektiert noch kommuniziert • (Miss-)Interpretation neurobiologischer Daten * reduktionistische Religionskritik (Gott als „Hirngespinst“) * fundamentalistische Religionsapologetik (Religiosität ist genetisch angelegt) Gefahr naturalistischer Hirnforschung: Philosophiefreie Erschleichung eines Weltbildes durch neurophysiologische Hochstaplerei => Reflexion und Kommunikation der weltanschaulichen Voraussetzungen 2. Naturalisierung des Geistes Zunahme evolutionsbiologischer Deutungen Lehrbuch: David Buss, Evolutionäre Psychologie (München 2004) Evolutionäre Sozialpsychologie: John Archer in Stroebe/Jonas (Berlin 2001) Populärwissenschaftlich: Geo Wissen Nr. 32 (Verhalten, Persönlichkeit, Psyche) Auch Religiosität/Spiritualität bringt Vorteile Schutz, Kontrollüberzeugung, Selbstvertrauen * Entwürfe evolutionärer Religionstheorien C. Söling: Der Gottesinstinkt (Diss. Giessen 2002) Lüke/Schnakenberg/Souvignier: Darwin und Gott (WBG 2004) Hypothese mancher Hirnforscher: Höhere Geistestätigkeit (Emotion, Kognition, Motivation) wird kausal als ein biologischer Prozess erklärt. „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun“. „Das Manifest“ (G&G 6/2004) „In Kürze wird man Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit widerspruchsfrei als natürliche Vorgänge verstehen.“ „Alle geistigen Prozesse sind als psychophysikalische Prozesse zu erklären.“ Psychologische Kritik (G&G 7-8/2005) „Effekthascherei“, Kategorienfehler“ „Die Daten sind als Indikatoren psychischer Prozesse anzusehen – „sie sind keineswegs die Prozesse selbst“ Ein neues Menschenbild? Idealismus: Körper-Geist-Dualismus, Willensfreiheit => Offenheit & subjektive Stellungnahme Naturalismus: Körper-Geist-Monismus, neuronale Steuerung => Determinismus & Funktionalität Einwände gegen den Naturalismus – die andere Hälfte der Wahrheit • Bisher sind keine zwingenden Zusammenhänge zwischen Materie und Geist bekannt – neurobiologische Prozesse finden parallel zum seelischen Erleben statt. • Die neuronale Netzwerkstruktur ist auch kulturell geprägt • Entwicklungsziele sind nur interdisziplinär zu bestimmen. 3. Grenzen und Möglichkeiten neurowissenschaftlicher Religionsforschung Was macht ein intensives, event. außergewöhnliches Erlebnis zu einer religiösen Erfahrung ? Die subjektive Bewertung und Einordnung. Erlebnis Deutung Erfahrung Weltanschauung / Menschenbild Also: Menschliches Erleben und Verhalten korreliert mit physikalisch-chemischen Gehirnprozessen. Die Analyse der neuronalen Prozesse reicht für das Verständnis des seelischen Erlebens nicht aus => es besteht keine kausale Verbindung. Die Zusammenhänge zwischen der Gehirnaktivität und seiner subjektiven Deutung kann nur interdisziplinär entschlüsselt werden. Ein ernüchterndes Fazit: Unvereinbarkeit zweier Dimensionen: die Ersten-Person- und die Dritten-Person-Perspektive Bleibender Widerspruch: Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen (A. Gehlen). Neurobiologen haben Recht – aber nur zur Hälfte! „Die Bedeutung entsteht nicht im Gehirn“ (H. Putnam) Forschungsaufgaben * Reflexion und Dokumentation der weltanschaulichen und methodischen Voraus-Setzungen * Bessere Theorien, die der Subjektivität des religiösen Erlebens (Erste-Person-Perspektive) gerecht werden * Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Neuro- und Geisteswissenschaftlern, zwischen quantifizierender und qualitativer Forschung Das Rätsel des Bewusstseins (Hans Goller: Das Rätsel von Körper und Geist, 2003) • Neurowissenschaften leiden unter der Unvereinbarkeit der ErstenPerson-Perspektive und der Dritt-Personen-Perspektive. Beide Perspektiven lassen sich nicht aufeinander reduzieren. • Bewusstes Erleben ist an die Erste-Person-Perspektive gebunden. Die subjektive Erlebnisqualität kann nicht objektiviert werden. • annähernd: introspektiv, vgl. zur religiösen Erfahrung C.Albrecht Das Rätsel des Bewusstseins (Colin McGinn. Wie kommt der Geist in die Materie? 2001) • Das Bewusstsein entzieht sich aufgrund seiner Innerlichkeit und der Subjektivität einem objektiven Zugang. • Bildgebende Verfahren liefern zuverlässige Informationen über die Gehirnprozesse, die mit bewusstem Erleben einhergehen (Freude, Ärger, Langeweile), jedoch nicht über die Erlebnisse selbst, wie sie für die Versuchspersonen existieren. • „Wegen unser kognitiven Begrenztheit bleibt es für den Menschen rätselhaft, wie das Wasser der neuronalen Aktivität sich in den Wein bewussten Erlebens verwandelt.“ Eine mögliche Forschungsaufgabe: „Passung“: Welche Form der Religiosität/Spiritualität passt zu welchem Persönlichkeitstyp? (Analoges Beispiel Psychotherapie: Biofeedback) Vortrag ist publiziert im „Materialdienst der EZW“ 3/2006, S. 85-92. Bestellungen: www.ezw-berlin.de