MARTIN SCORSESE: ZUM FILM "DIE LETZTE VERSUCHUNG ..." Interview, Pressemappe zum Film, September 1988 epd Dokumentation Frage; Wann wurden Sie dazu bewegt, einen Film nach dem Roman "Die letzte Versuchung" von Nikos Kazantzakis zu machen? Die Sehnsucht, einen Film Ober das Leben Jesu zu drehen, war immer in mir. Ich weiß gar nicht, was zuerst da war. Filmemachen oder die Kirche. Filme gehören zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen und gleichzeitig die Beschäftigung mit dem Katholizismus. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß beides zusammengehörte. Ich war immer fasziniert von den Darstellungen Jesu. Auch ich wollte eine gestalten. Dann, im Jahr 1972, gab mir Barbara Hershey "Die letzte Versuchung“. Kaum hatte ich mit dem Buch begonnen, wußte ich, daß dies die rechte Vorlage für mich war. Frage; Was hat sie an Jesu, wie er von Kazantzakis dargestellt wurde, besonders berührt? Gewöhnlich ist Jesus ausschließlich als Gott dargestellt worden. Er betrat einen Raum, und schon erstrahlte dieser, so daß jeder wußte, um ihn war das Außergewöhnliche. Und doch stellt ihn das Evangelium anders dar. Das Interessante am Roman von Kazantzakis ist die Tatsache, daß Jesus zunächst als ein Mensch geschildert wird, und deshalb erfährt und versteht er an einem gewissen Punkt den Verlust, die Sehnsucht und andere Gefühle und Schwächen, die als rein menschlich empfunden werden. Frage: Was haben die Menschen zu sagen, die Ihre Lesart als Herausforderung empfinden, weil sie vielleicht nicht mit der konventionellen Auslegung der Theologie übereinstimmt? Ich behaupte gar nicht, daß das Konzept von "Die letzte Versuchung Christi" d i e Wahrheit ist, aber die Idee ist faszinierend. Bei Kazantzakis kämpft Jesus mit seinem menschlichen Naturell, während er mit Gott einig wird. Wegen der zwei Seelen in ihm, der menschlichen und der göttlichen, ist jeder Augenblick seines Lebens Konflikt und Sieg. Frage: Ist Christus bei Kazantzakis nicht ständig einer, der die dem Menschen gesetzten Grenzen überquert? Es geht um eine Geschichte voller Größe, und sie handelt davon, daß es allzeit besser ist, einen direkten seelischen Zugang zu finden, als den Hürden und Zweifeln nachzugeben, die vom Menschen stammen. Frage: Ist aber diese Idee von der direkten Verbindung zu Gott vielleicht nicht doch sehr kontrovers aufzufassen? Ich will ausdrücken, daß man zu Gott direkt sprechen kann und keinen Vermittler braucht. Ich schätze die Fesseln der Kirche, den Sinn für die Rituale, die Bildersprache und die Tatsache, daß die Kirche die Idee der Gottesliebe fördert und die, daß man den Bruder zu lieben hat wie sich selbst. Ich denke, die Kirche versucht, die christlichen Ideale zu fördern und will in den Menschen die Sehnsucht erwecken, sie auch zu praktizieren. Ich mache nicht einen Film, um das Christentum anzugreifen. Mein Film handelt im Grunde vom Weg zurück zu dem einen und einzigen Gott. Frage: Seit Ihren Filmen "Mean Streets" und "Taxi Driver" haben Sie die Angst von "Gottes einsamen Menschen" erforscht. Es sind verlorene Seelen, die ihre Sünden wieder gut machen wollen, aber nicht in der Kirche, sondern auf den Straßen. Was bedeutet es, ein Heiliger unter den Menschen zu sein? Das Problem ist, wie man diese Philosophie lebt und nicht nur über sie redet. Der Ort, an dem ich aufwuchs, hat mir da den Schlüssel geliefert. Als siebenjähriger Junge wohnte ich direkt an der Bowery, und ich erschrak maßlos beim Anblick dessen, was mir wie der Abschaum der Menschheit vorkam. Diese Leute von der Straße waren in meinen Augen gar keine Menschen mehr, und stillschweigend lehrte man mich, sie auch nicht als Menschen zu behandeln. Sie gingen zur Kirche, aber man schmiß sie heraus. Wenn wir morgens zur Schule gingen, haben diese Leute sich bekriegt und sich gegenseitig mit Glasscherben das Gesicht zerschnitten. Aber anstatt ihnen zu helfen, hat man uns ermutigt, wegzuschauen. Frage: Ist Ihr Christus nicht für jedermann, einer auch für die schlimmsten Sünder? Als ich in Little Italy aufwuchs, war das auf manche Art wunderbar, aber meistens doch erschreckend und schwierig. Es wurde einem der Eindruck vermittelt, daß man entweder im Sinne von Darwin stark war oder in der Klemme steckte. Wenn dir einer in die Quere kommt, schlag nach ihm. Rede nicht von Liebe, sondern hol einfach aus. Sonst überlebst du nicht. Aber es mußte doch auf für diese Menschen einen Gott geben. Saulus war der schlimmste Mörder und doch wurde er zum Eckpfeiler der Kirche. Frage: Ist dies nicht das Paradoxe am Christentum par excellence ... das Mysterium der Gnade? Jesus, wäre er hier, wäre auf der 8th Avenue mit den Prostituierten und den Drogenhändlern, denn er begab sich zu den Ausgestoßenen. Michael Grant, einer der besten religiösen Historiker, bestätigt dies in seinen Studien über Jesus und das alte Israel. Uns bringt man bei, daß Töten eine Ursünde ist, und doch haben die Schlimmsten unter uns, die auf dem Todespfad, die Serienmörder, ein Anrecht auf die Liebe und das Vergeben Jesu. Ich wollte einen Jesus für die Menschen schaffen, die so wenig von sich selbst halten, daß sie glauben; Jesus würde sie nie hören, Gott nie ihre Gebete erhören. Das heißt nicht, daß sie nicht auf dem Stuhl sterben werden, aber sie können immer noch zu ihrem inneren Frieden finden. Das können wir alle. Frage: Jahrhundertelang haben Schriftsteller, Dichter und Maler Christus auf eine Weise dargestellt, die für sie selbst Bedeutung hatte, und manchmal haben sie dabei die traditionelle Bildersprache der Bibel herausgefordert. Es gibt aber Menschen, die dem Künstler das Recht absprechen, die Tradition neu zu denken, und die diese Stimme zum Schweigen bringen wollen... Wir wollen gewiß den Geist nicht angreifen. Wir versuchen nur, einen leichteren Zugang zur Bildersprache zu schaffen, einen unmittelbareren und einen, der für unsere Zeit realistischer ist....und nicht unbedingt für jene Menschen, die bereits glauben. Wir sind nicht da, um den Glauben guter Christen zu erschüttern. Dieser Film ist in erster Linie für Menschen, die keinen Zugang zur Religiosität haben, oder solche, die sich von der Kirche abgewandt haben. Frage: Was würden die Menschen sagen, die befürchten! es würde ihren Glauben erschüttern, einen Christus zu sehen, der die Schwäche eines Menschen durchleben muß, ehe er sie überwindet? Ich denke, es sollte ihren Glauben festigen, einen Jesus zu sehen, der menschliche Bedingungen erfährt. Für mich wurde Christus ein Mensch, damit er unsere Not vollkommen begreifen und mit uns leiden konnte. Wer an eine wörtliche Interpretation der Bibel glaubt, mag sich gekränkt fühlen. Das weiß ich. Aber das Letzte, was ich will, ist Glauben infrage zu stellen. Aber ich will auch andere Möglichkeiten erforschen. Frage: Glauben Sie, daß Ihr Bildnis eines Christus, der von seiner Mission fast überwältigt wird, auch Menschen erreichen könnte, die sich Gott entfremdet haben, oder die sich zuvor nie mit Jesus identifizieren? Ganz gewiß. Das war einer der wesentlichsten Gründe für mich, diesen Film zu machen. Es ist eine Gelegenheit, ernsthaft all diese Dinge neu zu bedenken. Unsere Gedanken sind so begrenzt. Die meisten von uns begreifen nicht einmal die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wie können wir behaupten, es gäbe keinen Gott? Wie können wir allem gegenüber so sicher sein? (Interview: Michael Henry Wilson)