Karfreitagspredigt 2015 zur Passionsgeschichte nach Matthäus, Pastor Marcus Antonioli Die Gnade und die Liebe Gottes sei mit uns allen. Amen Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? - So ruft einer, dem alles wegbricht, dem kein Mensch und kein Gott mehr Halt gibt. So ruft einer, der mutterseelenallein mit seinem Schmerz und seiner Verzweiflung bleibt. So ruft einer, der nicht weiß, wann sein Leiden ein Ende hat. Wenn es zur Zeit Jesu schon Fotoreporter gegeben hätte, ob wohl irgendeine seriöse Zeitung die Bilder vom Foltertod Jesu am Kreuz veröffentlicht hätte? Es wären schockierende Bilder gewesen von Gewalt, Blut, Sadismus und Menschenverachtung! "Leider geht das zu weit, um es zu drucken!" würden die Chefredakteure vermutlich sagen. Der Kriegsfotograph Christoph Bangert kritisiert, dass seine Bilder vom Kriegsalltag aus Afghanistan, aus dem Irak und von anderen Kriegsschauplätzen der Welt oft wegen ihrer Schrecklichkeit abgelehnt werden. Er ist wütend, wenn Menschen eben das, was da in diesem Moment irgendwo auf der Welt geschieht, nicht wahrnehmen wollen. Auch wir können die unfassbar grausamen Ereignisse des allerersten Karfreitags gewissermaßen nur verpixelt ertragen. Wer sollte auch dem gemarterten in Gesicht schauen können und wer sollte diesem Blick standhalten können? - Dabei ist genau das wichtig: den Schmerzensmann am Kreuz wahrzunehmen und nicht wegzuretuschieren aus unserem Glauben. Denn mit dem Ausblenden spielen wir den Gewalttätern in die Hand. Erst wenn wir die Schmerzen und das Leiden wahrnehmen, dann demaskiert sich die Gewalt selbst. "Die Gewalt offenbart unwissentlich, was sie verbergen will!"(René Girard) So waren es nicht zufällig Fotos aus dem Vietnamkrieg, die die Menschen damals auf die Straße brachten und so halfen, diesen grausamen Krieg zu beenden. Nicht umsonst zensieren Kriegsparteien, was wir zu sehen bekommen und was nicht! - Schon die Augenzeugen wollten eine Distanz zum leidenden Jesus aufbauen, indem sie ihn als Menschen abqualifizierten, um ihn ja nicht als geschundenen Mitmenschen, wahrnehmen zu müssen. - Nicht zufällig, füllte sich auch das Imperium Romanum von diesem gekreuzigten Christus herausgefordert. Darum hatten die ersten Christen immer wieder, die grausamste Verfolgung durch das Imperium zu ertragen, welches wir für seine kulturellen Errungenschaften schätzen! Liebe Gemeinde, das ist lange her, was hat das noch mit uns zu tun! Wir leben in ordentlichen und stellt man den Focus nur eng genug, auch in einer friedlichen Welt! Vielleicht haben wir deshalb eine Tendenz, den Karfreitag zu überspringen, um gleich die Osterfreude zu feiern. Dabei wissen wir doch ganz genau, wie unwahrscheinlich der Sieg des Lebens ist, den wir am Ostermorgen feiern. Wer sich dem Leiden und Sterben Jesu nicht stellt, der nimmt wahrscheinlich auch nicht wahr, welchen Todeserfahrungen Menschen bis heute ausgeliefert sind. Natürlich fordern Nachrichten wie die vom Flugzeugunglück unser Mitgefühl heraus. Wie kommt es aber, dass uns die Bilder von gekreuzigten Menschen in Syrien so merkwürdig fern erscheinen? Vielleicht konfrontieren uns all diese Bilder zu direkt, mit unserer eigenen Ohnmacht, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, aber die Bilder aus Syrien sind auch darum unfassbar, weil so etwas auch heute noch möglich ist. Und ich, was tue ich? Das Kreuz erinnert uns an die Fragilität des Lebens, es steht für unsere gefährdete Menschlichkeit. Und das gleich in mehrerer Hinsicht: nämlich als potentielle Opfer, dann als potentielle Voyeure des Grauens und dann noch als potentielle Mittäter oder auch nur Mitwisser! - Denn machen wir uns nichts vor, das "Lass ihn kreuzigen!" der Menge auf den Gassen und Plätzen Jerusalems kann sich überall und jederzeit wiederholen! Es führt uns unsere Verführbarkeit schmerzlich vor Augen. Menschen sind gefährdet, sich im Hass zu verbünden, Sündenböcke auszumachen, Probleme mit Gewalt aus der Welt zu schaffen! Liebe Schwestern und Brüder, der gekreuzigt Gott - war von Anfang an ein Problem und führte zum Spott. Bis heute halten nicht wenige von den Gebildeten unter den Verächtern unseres Glaubens das Christentum deshalb für krude. Es ist erhellend, sich deutlich zu machen, dass das Kreuz in der christlichen Bilderwelt lange nicht zentral gewesen ist! So wundert sich der heutige Besucher der christlichen Katakomben in Rom, dass Jesus zwar gern als auferstandener, jugendlicher Hirte dargestellt wurde, aber nicht als gekreuzigter Schmerzensmann! Erst in der Gotik haben Kreuzigungsbilder, wie die Figuren unserer Kreuzigungsgruppe, diesen zentralen Platz eingenommen. Die Reformation hat das Kreuz noch einmal fokussiert, indem viele andere Bilder weichen mussten. Und mit den Passionsmusiken eines JohannSebastian Bach und anderer hat der evangelische Glauben sich musikalische Bilderwelten geschaffen, die bis heute viele bewegen. Doch kann es sein, dass wir uns schon so an die Bilder vom Kreuz gewöhnt haben, dass wir selbst blind geworden sind für das Unerhörte, ja die Provokation, die darin steckt? Wie wäre es wenn Christus an der Seite der vielen namenlosen Opfer von Folter und Gewalt zu sehen wäre? - Anders als die Weihnachtsgeschichte führt uns die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu vor Augen, wie Gott als Mensch unsere ganze Erbärmlichkeit erleidet. Er wird verraten, er wird verleugnet, er wird verlassen, er wird verhöhnt und er wird zu Tode gequält. Indem Gott sich selbst zum Opfer machen lässt, stellt er klar, dass es für ihn keine Opfer mehr geben darf! Indem Jesus zum Opfer wird, befreit er uns von dem Zwang, immer wieder neue Opfer ausfindig machen zu müssen. Anders als es lange verstanden wurde, ist es nicht Gottes Zorn, der hier gestillt wird. Sondern es sind unsere eigenen zornigen Bilder von Gott, die hier radikal hinterfragt und gereinigt, ja geheilt werden. Denn seit Karfreitag dürfen wir darauf vertrauen, dass die Wege der Gewalt und der Entwürdigung niemals Gottes Wege sind! Sein Weg ist der der Liebe. Darum ist es besser Gewalt zu erleiden als diese auszuüben (Martin Luther). Liebe Gemeinde, wenn wir uns heute der Passion Jesu stellen, dann tun wir dies ganz klar im Wissen, dass es einen Ostermorgen geben wird. Kritische Geister könnten dagegen einwenden, dass das nur ein Versuch ist, irgendeinen Sinn in ein trostloses und tragisches Geschehen zu legen. Aber genau hier hat der Glaube damals bei den Jüngerinnen und Jüngern seinen Anfang genommen! Vielleicht würden wir heute mit Vaclav Havel eher sagen: Unsere "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Aber vielleicht können wir aber auch nicht anders, als von diesem Gott, der sich nicht zu schade für das Kreuz war, alles zu erhoffen. So eröffnet uns sein Kreuz den Blick auf den Ostermorgen. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber (Kor 5,19). Er will seine Feinde mitreißen, mit seinem Strom der Liebe und des Heils! Und so kann der Hauptmann des Hinrichtungskommandos am Ende gar nicht anders und bekennt: Wahrlich, dieser ist Gott Sohn gewesen! Das ist das heilsame Geheimnis der Passion Jesu Christi - wir dürfen aussteigen aus den Teufelskreisläufen von Gewalt, Habgier und Hass. Und das ist für alle Menschen geschehen, denn die Liebe Gottes kennt keine Grenzen, kein Mensch ist bei ihm verloren und kein Folterkeller bleibt ihm verborgen. Wir bedenken heute das Kreuz, aber wir tun es in der Hoffnung, dass Gott einen Sproß neuen und unvergänglichen Lebens daraus hervorgehen lässt. Er selbst durchkreuzt, wenn wir es denn zulassen, unsere Erfahrung und unsere Logik, damit auch für uns ein neues und wahres Leben in Jesus Christus möglich wird. Der der heute stirbt, wird zum Lebensbaum des Paradieses, für uns und für unsere ganze geschundene Welt. Amen