Panikstörung und Agoraphobie

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Sigrun Schmidt -Traub
Panikstörung
und Agoraphobie
Ein Therapiemanual
4., überarbeitete Auflage
18
Kapitel 1
Die Angstsymptome wechseln von Person zu
Person. Typisch ist ein Beginn mit Herzklopfen,
Schmerzen in der Brust, Erstickungsgefühl und/
oder Schwindel. Fast immer stellt sich daraufhin
bei den Betroffenen, wie Darwins Fall zeigt, die
Befürchtung ein, sie könnten schwer erkrankt sein,
in Ohnmacht fallen oder sterben, die Kontrolle
über sich verlieren oder durchdrehen (dysfunktionale Grundannahmen).
Nahezu drei Viertel der Symptome des Angstgefühls sind körperlich-vegetativer Natur und unterliegen nicht oder nur ganz wenig der willentlichen
Kontrolle, da sie vom autonomen Nervensystem
gesteuert werden (vgl. S. 46). Das stärkt den Glauben vieler Angstpatienten daran, körperlich krank
zu sein.
Da sich viele Panikattacken nicht auf bestimmte Umstände oder eine besondere Situation beschränken, sind sie häufig auch nicht vorhersehbar. Spontan auftretende Panikanfälle werden in
meist vorhersehbarer Weise mit bestimmten Situationen verknüpft (McNally, 1990). Daraufhin
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die betroffene
Person künftig flüchtet oder Hilfe sucht.
In der Regel halten Panikanfälle längstenfalls bis
zu 30 Minuten an. Meist dauern sie jedoch nur
5 bis 15 Minuten. Selten berichten Panikpatienten, dass ihre panische Angst 40 bis 60 Minuten
andauert. Stundenlang anhaltende Angstzustände
kommen bei generalisierter Angststörung vor: Die
Angsterregung ist jedoch weniger heftig, weshalb
diese Zustände zur besseren Unterscheidung als
„Angstepisoden“ bezeichnet werden (Basoglu et
al., 1992).
Kinder haben noch nicht die notwendige kognitive Reife, um ihre kognitiven und vegetativen Beschwerden bestimmten Gefühlen und Empfindungen zuordnen zu können (Bernstein et al., 2006).
Deshalb wird Panik im Kindesalter selten diagnostiziert. 15 % der Befragten gaben im NCS (National Comorbidity Survey) an, über die gesamte
Lebensspanne Panikattacken erlebt zu haben. 3 %
der 8.000 Befragten hatten im vergangenen Monat
eine Attacke gehabt. Das Risikoalter für Panikerleben erstreckt sich von 15 bis 35 Jahren (Eaton
et al., 1994).
1.4.2 Panikstörung
Eine Panikstörung wird diagnostiziert, sobald unerwartet spontane, nicht mit einem situativen Aus-
löser verbundene Panikzustände „aus heiterem
Himmel“ wiederholt auftreten, gefolgt von der Befürchtung weiterer Panikanfälle über mindestens
einen Monat hinweg, mit anhaltender Besorgnis
über Begleiterscheinungen oder Konsequenzen der
Panikanfälle oder mit deutlichen Verhaltensänderungen als Folge (DSM-5; APA 2013).
Die Paniksymptome sind unter Kapitel 1.4.1 (Kasten, S. 17) aufgeführt. Intensive Furcht und panisches Erleben können sowohl im Ruhezustand als
auch bei ängstlicher Erregung plötzlich ansteigen
Es muss sicher sein, dass die Störung nicht Auswirkung eines Substanzmittels (Medikament oder
Droge) ist (DSM-5).
Panikstörung wird auch dann diagnostiziert, wenn
über mindestens 4 Wochen oder länger auf wenigstens eine der Attacken entweder
• anhaltende Beunruhigung und die Befürchtung
von weiteren Panikattacken oder Sorgen über
die Konsequenzen der Panikattacken folgen
• oder signifikantes, unangepasstes Verhalten,
das in Beziehung zu den Attacken steht (z. B.
Vermeidung von Sport oder unbekannten Situationen), auftritt (DSM-5).
Panikstörung wird diagnostiziert, wenn sich die
Auffälligkeiten nicht besser mit einer anderen
Angststörung erklären lassen, z. B. Angst vor gefürchteten sozialen Situationen wie bei sozialer
Phobie; als Reaktion auf phobische Situationen
oder Gegenstände wie bei spezifischer Phobie; als
Reaktion auf negative Intrusionen wie bei Zwangsstörung; als Reaktion auf die traumatische Erinnerung bei Posttraumatischer Belastungsstörung
oder auf Trennung von nahestehenden Personen
wie bei Trennungsangst (DSM-5).
In der Mehrzahl der Fälle beginnt die Panikstörung plötzlich mit höchst dramatisch erlebten Panikattacken; nur bei einigen kommt es allmählich zu heftiger werdenden Panikanfällen. Beginn
und Verlauf sind ganz unterschiedlich. In einer
eigenen kontrollierten Angststudie an 79 Panikpatienten mit und ohne Agoraphobie (SchmidtTraub et al., 1995 und 1997) gaben 27 % der Panikpatienten an, ihre Panikanfälle brächen aus
heiterem Himmel über sie herein. Bei 21 % begannen sie schleichend. 18 % meinten, ihre Panikstörung würde periodisch unter Stresserleben
immer wieder auftreten und in ruhigeren Lebensphasen verschwinden. 24 % waren sich der auslösenden psychosozialen Belastungen bewusst.
10 % hatten einen besonders traumatisierenden
Panikanfall nach der Einnahme von Drogen oder
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Psychiatrische Klassifikation von Angststörungen
Medikamenten oder hatten häufig Unverträglichkeitsreaktionen. Nahezu 80 % der Befragten erlebten ihren ersten Panikanfall als erschütterndes
Ereignis.
Der initiale Panikanfall hat demnach häufig eine
traumatisierende Wirkung. Die Folge ist anhaltende Furcht vor einem erneuten Angstanfall. Besonders an „schlechten“ Tagen, an denen sich Panikpatienten psychophysiologisch unwohl fühlen, ist
ihre Panikerwartung stärker (Basoglu et al., 1992).
Panik entsteht leichter aus einem erhöhten Angstpegel heraus, dessen Ursache noch ungeklärt ist
(Basoglu et al., 1992; Margraf et al., 1990; Marks,
1987). In der Praxis berichtet die überwiegende
Zahl der Panik- und Agoraphobiepatienten, sie
hätten vermehrt Angst am Morgen, ohne sich dies
erklären zu können. Wahrscheinlich folgen Panikattacken einem zirkadianen Rhythmus (Basoglu
et al., 1992; Kenardy et al., 1992).
Infolge der größeren Akzeptanz von kognitiver
Verhaltenstherapie und der besseren Information
der Öffentlichkeit über Angststörungen kommen
jetzt viele Panikpatienten sehr viel früher in Behandlung. Patienten mit unbehandelter Panikstörung und Agoraphobie über eine Dauer von 10
bis 25 Jahren sind seltener geworden. Auf Anraten von Hausärzten, Verwandten oder Bekannten, die ihre Angst erfolgreich überwunden haben, melden sich immer mehr Patienten bereits
nach 6 bis 8 Wochen. Sofern der Therapeut seinen
Kalender flexibel handhabt und diese Panikpatienten rasch aufnimmt, kann er ihnen oft bereits
im Rahmen der probatorischen Gespräche ausreichend ­helfen.
Panikstörung in reiner Form tritt nur mit einer
Wahrscheinlichkeit von 20 bis 30 % auf (Argyle, 1991; Basoglu et al., 1992; Eaton et al., 1994;
Margraf et al., 1990; Noyes et al., 1992; Regier
et al., 1990, Wittchen et al., 1995). Spontane Panikzustände werden häufiger zu Hause ausgelöst
(mehr Muße zum Grübeln?), sind aber vom Erleben her den situativen Panikattacken sehr ähnlich
(Basoglu et al., 1992).
Panikstörung und Agoraphobie treten oftmals komorbide auf: Gut 50 % der Fälle von Panikstörung gehen mit Agoraphobie einher (Dick et al.,
1994; Eaton, 1994; Regier, 1990). Agoraphobie
gilt als Störung mit schwerwiegenderem Verlauf
(Horwath et al., 1995; Regier, 1990; Wittchen et
al., 1995).
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1.4.3 Agoraphobie
Während im DSM-IV mehr Gewicht auf der Bedeutung von Panikanfällen beim agoraphobischen
Erleben liegt, wird im ICD-10 der agoraphobische Anteil für bedeutsamer gehalten (Ehlers et
al., 1994). Die empirischen Befunde hierzu sind
allerdings widersprüchlich (McNally, 1990; Noyes
et al., 1992). Nach DSM-5 (APA, 2013, S. 217)
ist das besondere Merkmal einer Agoraphobie die
intensive Furcht oder Angst vor dem realen oder
antizipierten Aufenthalt in einer breiten Auswahl
von Situationen wie öffentlichen Transportmitteln, weiten Flächen, eingeschlossenen Räumen,
Stehen in Schlangen und Menschenmengen oder
alleine von zu Hause weg sein. Beim Erleben von
Furcht und Angst haben Betroffene Gedanken,
dass etwas Schreckliches passieren könnte. Die
Furcht, Angst oder das Vermeiden ist anhaltend
und dauert üblicherweise 6 Monate oder länger.
Agoraphobie ohne Panikstörung oder Panikattacken in der Vorgeschichte sind selten. Phobische
Angst ohne Angstanfälle in der Vorgeschichte ist
eine phobische Angst mit reduzierter, aber dennoch „panikähnlicher“ Symptomatik. Die Betroffenen befürchten, dass Angst vor unvorhersehbaren panikähnlichen Symptomen aufkommen
könnte.
In Abhebung von der einfachen, spezifischen Phobie (vgl. S. 29) handelt es sich bei der Agoraphobie
um ein generelles phobisches Syndrom (Argyle et
al., 1991), bei dem verschiedene phobische Ängste
zusammen vorkommen.
Merke:
Bei der Differenzialdiagnose von agoraphobischen Ängsten müssen Angstinhalte, Art und
Häufigkeit der Panikattacken, Anzahl der gemiedenen Situationen und Angstintensitäten
berücksichtigt werden. Außer der Situationsgebundenheit gibt es keine qualitativen Unterschiede zwischen Panikattacken und phobischen Angstanfällen.
Vermeiden: Vermeidungsverhalten ist ein Kernbegriff der Agoraphobie. Betroffene sehen ein, dass
ihre Angstsituationen nicht wirklich gefährlich
sind, außer, sie erleben gerade panische Angst.
Infolge von Meidereaktionen werden sie immer
stärker daran gehindert, sowohl ihren Verpflichtungen im Alltag nachzukommen, als auch das Leben
zu genießen. Sie suchen nicht mehr alleine Orte
auf, weil sie womöglich panikartige Angst in ihnen
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Kapitel 1
Kriterien für Agoraphobie und Panikstörung oder episodisch paroxysmale Angst nach ICD-10
1. Agoraphobie (F40.0)
A. Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situationen:
1. Menschenmengen
2. Öffentliche Plätze
3. Allein Reisen
4. Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause.
B. Wenigstens einmal nach Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens
zwei Angstsymptome aus der unter Panikattacke (vgl. S. 17) angegebenen Liste (eins der Symptome
muss eines der Items 1. bis 4. sein) wenigstens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden sein.
C. Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die
Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind.
D. Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen
oder Gedanken an sie.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F0), Schizophrenie
oder verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42) oder sind
nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung.
Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung (F41.0) in der Mehrzahl der agoraphobischen Situationen kann mit der 5. Stelle angegeben werden:
F40.00 Agoraphobie ohne Panikstörung
F40.01 Agoraphobie mit Panikstörung.
Möglichkeiten für eine Schweregradeinteilung: Für F40.00 kann der Schweregrad nach dem Ausmaß
der Vermeidung angegeben werden, unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Bedingungen.
Für Agoraphobie mit Panikstörung F40.01 gibt die Zahl der Panikattacken den Schweregrad an.
2. Panikstörung (F41.0)
A. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt
bezogen sind und oft spontan auftreten (d. h. die Attacken sind nicht vorhersehbar). Die Panikattacken
sind nicht verbunden mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen.
B. Eine Panikattacke hat die folgenden Charakteristika:
a. Sie ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen.
b. Sie beginnt abrupt.
c. Sie erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten.
d. Mindestens 4 Symptome der unter Panikattacke (ICD-10, vgl. S. 17) angegebenen, davon eins von
den vegetativen Symptomen 1. bis 4. müssen vorliegen.
C. Ausschlussvorbehalt, siehe Panikattacke (ICD-10, vgl. S. 17).
Die individuelle Variationsbreite bezüglich Inhalt und Schwere ist so groß, dass zwei Schweregrade
von Panikstörung – mittelgradig und schwer – mit der fünften Stelle differenziert werden können:
F41.00 Mittelgradige Panikstörung: Mindestens 4 Panikattacken in 4 Wochen.
F41.01 Schwere Panikstörung: Mindestens 4 Panikattacken pro Woche über einen Zeitraum von 4
Wochen.
hervorrufen, und weichen öfters vor Situationen
aus, die ihren Angstsituationen ähneln. Dadurch
kommt es zu einer Ausweitung und Generalisierung der Angst. In Härtefällen wird das Haus nicht
mehr alleine verlassen, öffentliche Verkehrsmittel
nicht mehr genutzt und überhaupt nicht mehr ver-
reist. Die Folge ist eine enorme Einengung des
persönlichen Bewegungsspielraums.
Das Fatale am Vermeiden ist: Die Betroffenen hindern sich daran, die Erfahrung zu machen, dass die
gefürchteten Situationen in Wirklichkeit nicht ge-
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fährlich sind. Mit dem Vermeiden droht eine Chronifizierung des dysfunktionalen Denkens und der
agoraphobischen Angst, ebenso wie ein schwerer
Verlauf der Angststörung. Etwa ein Drittel der
Agoraphobiker, darunter zwei- bis dreimal so viele
Frauen als Männer, sind derart beeinträchtigt, dass
sie ihrem Rollenverhalten und ihren Verpflichtungen in Familie und Beruf nicht mehr nachkommen
können (Regier, 1990; Weissman, 1990).
Zur Schwere von Agoraphobie und Panikstörung: Von den 79 interviewten Angstpatienten
(Schmidt-Traub et al., 1997) zeigten 19 % eine
reine Panikstörung ohne nennenswertes Vermeidungsverhalten und ohne andere komorbide Störungen. 47 % hatten eine mäßige Agoraphobie und
konnten sich noch einigermaßen selbständig bewegen. 34 % der Befragten vermieden hingegen
extrem, konnten das Haus nicht mehr ohne Begleitung verlassen und litten unter ihrer Beeinträchtigung. Die Mehrzahl hatte bei fluktuierendem Verlauf des Angsterlebens kurzfristig „gute“
Tage zwischendurch (vgl. Stress-Modell von Falloon et al., 1984, S. 90).
Im Vergleich zur reinen Panikstörung gilt Agoraphobie mit Panikstörung als die schwerwiegendere
Störung (Ito et al., 1996; Kendler et al., 1993; Noyes et al., 1990; Pollack et al., 1996; Williams et
al., 1996; Wittchen et al., 1995), denn sie beginnt
früher, dauert länger und führt zu mehr Behinderung. Störungsbedingte Rollenunsicherheiten,
soziale Rückzugstendenzen, depressive Verstimmungen und zunehmende Selbstbezogenheit verschlechtern die Lebensqualität und Lebensperspektive von Agoraphobikern (Candilis et al., 1999;
Sherbourne et al., 1996).
Merke:
In explorativen Gesprächen zeigen sich Panikund Agoraphobiepatienten recht unzufrieden
mit ihrer Lebensführung, weil sie
• sich nicht imstande sehen, ihre psychophysiologischen Reaktionen zu kontrollieren,
• Lebensträume wesentlich weniger oder gar
nicht mehr verwirklichen können (Reisen,
Arbeiten, Weiterbilden usw.),
• aufgrund ihrer negativen Kognitionen keinen
Grund mehr zum Optimismus sehen und
• ein geringes Selbstbewusstsein und vielfach
auch komorbide Störungen entwickelt haben.
Während in der amerikanischen NCS das durchschnittliche Alter für den Beginn von spezifischer
Phobie bei 15 Jahren und das für soziale Phobie
21
bei 16 Jahren lag, beginnt Panikstörung mit und
ohne Agoraphobie später, durchschnittlich im Alter von 29 Jahren (Magee et al., 1996). Bei der
Mehrzahl der Betroffenen bricht eine Panikstörung erst im 2. bis 4. Lebensjahrzehnt aus. Beginnen Panikattacken vor dem 25. Lebensjahr, kommt
es häufiger zu einer agoraphobischen Entwicklung
und seltener zu einer sekundären Depression oder
stoffgebundenen Abhängigkeit (Wittchen et al.,
1995).
1.4.4 Empirische Belege zu
Panikstörung und Agoraphobie
Ein besonderer Vulnerabilitäts- und Risikofaktor für die Entwicklung von Panikerleben ist die
Angstsensibilität (Reiss, 1991). Angstempfindliche Menschen richten ihre Aufmerksamkeitsprozesse verstärkt auf körperlich-vegetative Empfindungen, die sie frühzeitig wahrnehmen, negativ
verzerrt bewerten und auffallend gut erinnern
(Barsky et al., 1994; McNally, 1990; Reiss et al.,
1985). Vermittelt durch Angstsensibilität werden
Paniksymptome relativ zuverlässig von Erwartungsängsten und Befürchtungen gesteuert (Eke
et al., 1996; Forsyth et al., 1998; Lilienfeld, 1997;
McNally, 1992; Reiss; 1991; Schmidt et al., 1997,
1999; Watt et al., 1998).
In einer Studie an 179 eineiigen und 158 zweieiigen Zwillingen kommen Stein et al. (1999) zu
dem Ergebnis, dass Angstsensibilität als psychologischer Risikofaktor für Panikerleben eine hereditäre Komponente hat. Die Autorengruppe geht von
einer sich summierenden Wirkung von einzigartigen, individuellen Umwelteinflüssen und genetischen Wirkungen in der Ätiologie von Panikstörung aus. Auch die Arbeiten Kagans (1998) zum
ängstlichen Temperament weisen in diese Richtung (vgl. 2.1).
Panik- und Agoraphobiepatienten sind kognitiv
besonders auffällig: Sie haben eine sehr niedrige
Schwelle für bedrohliche Angsthinweise, vor allem für verbale Schilderungen von körperlichen
Angstsymptomen, und einen Aufmerksamkeitsund Gedächtnis-Bias für bedrohliche Informationen (Becker et al., 1999; Eke et al., 1996; Mogg
et al., 1998). Bedrohliche körperliche Empfindungen, wie gesteigerte Herztätigkeit oder Kurzatmigkeit, können bei ihnen automatisch einen Panikanfall auslösen (Amir et al., 1996; Becker et
al., 1999; Kindt et al., 1997; Lundh et al., 1999;
McNally, 1998; Pauli et al., 1999; Richards et
al., 1996; Sherbourne et al., 1996; Schmidt et al.,
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Kapitel 1
1997). Ihre verzerrten Kontingenzerwartungen tragen wesentlich zur Aufrechterhaltung der Angststörung bei.
Aufgrund ihrer überaus sensiblen interozeptiven
Wahrnehmung versteigen sich Panik- und Agoraphobiepatienten leicht in katastrophisierende
Fehlinterpretationen von vegetativen Symptomen
(Birbaumer, 1977; Margraf et al., 1990; Rachman,
1990; Salkovskis et al., 1999). Ihre negativierenden Kognitionen laufen auch unbewusst ab (Clark
et al., 1997; Pauli et al., 1997). So erkennen sie
in tachistoskopischen Untersuchungen signifikant
mehr körperbezogene Wörter als Kontrollpersonen (Lundh et al., 1999; Pauli et al., 1997).
Die meisten Panikpatienten leiden nur während
des Panikerlebens unter irrational heftigen, katastrophisierenden Kognitionen. In einer Studie zur
Stabilität und Beharrlichkeit von Panikgedanken
waren dennoch 40 % der untersuchten Panik- und
Agoraphobiepatienten – in angstfreien Phasen –
von ihren dysfunktionalen Kognitionen überzeugt,
wenn auch nicht so vehement, wie während eines
Panikanfalls (Zoellner et al., 1996).
Inhalte der katastrophisierenden Grundannahmen: In unserer Angststudie (Mehrfachnennungen) litten 78 % der Befragten unter der Befürchtung, ernsthaft zu erkranken, 58 % hatten Angst
vor einem Herztod, 11 % vor einem Erstickungstod
und 22 % befürchteten gar, auf beide Arten zu sterben. 57 % zeigten Angst vor Kontrollverlust und
30 % fürchteten sich vor dem Urteil anderer. Die
am bedrohlichsten erlebten körperlichen Symptome waren Tachykardien (90 %), Atemnot (81 %),
Schwindel (62 %), Schwitzen (42 %), gastro-intestinale Beschwerden (33 %) und Zittern (19 %).
Panik- und Agoraphobiepatienten erleben das
ärgste Unbehagen und die stärkste Zunahme ihrer
Paniksymptomatik unter Stress. Trotzdem sind die
unter Belastung gemessenen Werte ihrer physiologischen Symptome nicht höher als die von Patienten mit generalisierter Angststörung oder von
Kontrollpersonen (Hoehn-Saric et al., 2004). Die
Autoren sprechen von einer geringeren Flexibilität der physiologischen Reaktionsbereitschaft bei
Panikpatienten und erklären dies mit deren dysfunktionaler Informationsverarbeitung.
So wie sie die Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses bzw. des Aufkommens von körperlichen Beschwerden überschätzen, neigen sie
dazu, ihre Bewältigungsressourcen und Rettungsaussichten in der Angstsituation zu unterschätzen
(Lazarus et al., 1984; Mogg et al., 1998; Noyes et
al., 1990; Rapee et al., 1990). Entscheidend für die
Entwicklung von Agoraphobie ist demnach nicht
so sehr ein bestimmtes Muster von angstbesetzten
Situationen, als vielmehr deren negative Bewertung. Meist ist es die Erwartung von Gefahr und
schrecklichen Folgen.
Körperliche Missempfindungen und deren negative Bewertung sind meist der Grund dafür, dass Panik- und Agoraphobiepatienten häufig das medizinische Versorgungssystem in Anspruch nehmen.
Dadurch werden sie zu einem nicht zu unterschätzenden Kostenfaktor für das Gesundheitssystem
(Swinson et al., 1992; Wittchen, 1995; Yingling et
al., 1993). In einer großen Studie an 1917 Angestellten mit Angststörungen aus 200 Firmen wurden im Vergleich zu gepaarten Kontrollpersonen
sehr viel häufiger (Not-) Arztbesuche (bei Psychiatern, Kardiologen, Neurologen, Gasteroenterologen, Urologen, Rheumatologen) und Krankenhausaufenthalte registriert. Ängstliche Mitarbeiter
bekamen auch öfters die Diagnosen Depression,
Anpassungsstörung, akute Stressreaktion, Asthma, Inkontinenz oder Hypertension (Marciniak
et al., 2004). Vermutlich sind sie nicht kränker,
sondern einfach nur sensibler in der Wahrnehmung von somatischen Dispositionen als angstfreie Personen:
• So registrieren Panikpatienten die eigene Herztätigkeit sehr viel genauer als Kontrollpersonen (Richards et al., 1996) und werden stark
verunsichert durch abnorme, noch nicht krankhafte cardiovaskuläre Reaktionen, wie Herzrasen, -stolpern oder physiologische Symptome
eines Kollapsnähezustandes. Angesichts dieser
Beschwerden bekommen sie sofort Angst, die
Kontrolle über den eigenen Körper oder die
mentalen Prozesse zu verlieren. Desgleichen
neigen Panikpatienten zu überempfindlichen
Reaktionen des autonom gesteuerten Nervensystems infolge einer gesteigerten adrenergen
Aktivität (Richards et al., 1996; Weissman et
al., 1997; Yeragani et al., 1992). Patienten mit
sozialer Phobie oder mit generalisiertem Angstsyndrom klagen vergleichsweise wesentlich
weniger über vasomotorische Reaktionen.
• Unabhängig von ihrem Panikerleben weisen
Panik- und Agoraphobiepatienten subklinisch
vermehrt abnorme, das heißt nicht pathologische vestibuläre Reaktionen auf, wie Benommenheit, Schwindel und Gleichgewichtsprobleme. Diese Befunde legen nahe, dass klinisch
messbare vestibuläre Dysfunktionen zur Auslösung und Aufrechterhaltung von Panikstörung
mit oder ohne Agoraphobie beitragen können
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Aus S. Schmidt-Traub: Panikstörung und Agoraphobie (ISBN 9783840925399) © 2014 Hogrefe Verlag, Göttingen.
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