Volkswirtschaftslehre KAPITEL 24 GESAMTWIRTSCHAFTLICHE ZIELE UND MASSZAHLEN Lernziele Ø Was sind die Hauptziele makroökonomischer Politik? Ø Wie wird Arbeitslosigkeit, Produktion einer Volkswirtschaft, Wachstum und Inflation gemessen? Ø Welches sind einige der zentralen Probleme bei der Messung dieser Variablen? Wie alle Wissenschaften beruht auch die Makroökonomik auf dem Zusammenspiel von Theorie und Beobachtung. Ziel ist es ja, zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert. Die Beobachtung der Wirtschaft liefert die Basis für die Theorien. Diese können durch empirische Beobachtung überprüft (falsifiziert) werden. Eine systematische und objektive Quelle von Informationen stellen die verschiedenen Wirtschaftsstatistiken dar. Wirtschaftswissenschaftler verwenden Statistiken, um ein quantitatives Mass für die wirtschaftliche Leistung zu erhalten. Diese statistischen Reihen liefern das Datenmaterial, das die Makroökonomen bei ihrer Analyse der Wirtschaft verwenden. Sie dienen aber auch der Wirtschaftspolitik zur Beobachtung der Wirtschaft und stellen eine wichtige Entscheidungsgrundlage für wirtschaftspolitische Massnahmen dar. In Kapitel 24 werden die wichtigsten Kennziffern, die den Zustand einer Volkswirtschaft beschreiben, beschrieben. Ökonomen suchen in diesen Zahlen nach Mustern und wenn sich Regelmässigkeiten finden, wird nach den Gründen gefragt. Mit ökonomischen Variablen sind auch Messprobleme verbunden. Diese sind ebenfalls anzuführen. Drei ökonomische Kennzahlen sind für die makroökonomische Analyse von ganz zentraler Bedeutung: Bruttosozialprodukt (BSP) / Bruttoinlandsprodukt(BIP): es beschreibt gleichzeitig das Gesamteinkommen der betrachteten Volkswirtschaft und die Höhe der Produktion von Waren und Dienstleistungen. Preisindex der Lebenshaltung: er misst das Preisniveau (Inflation) Arbeitslosenquote: sie gibt an, welcher Anteil der Erwerbspersonen ohne Beschäftigung ist. Wie werden diese Kennzahlen ermittelt und welche Aussagen über die wirtschaftliche Lage lassen sich aus ihnen ableiten? M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 1 Volkswirtschaftslehre Der einfache und erweiterte Wirtschaftskreislauf Eines der Hauptziele der Makroökonomie besteht darin, einen Überblick über die Gesamtwirtschaft zu vermitteln. Zu diesem Zweck werden einzelne Typen von Wirtschaftssubjekten zu Blöcken zusammengefasst und die zwischen ihnen bestehenden ökonomischen Beziehungen als Ströme dargestellt. Betrachtet sei zuerst eine ganz einfache Volkswirtschaft, in der es nur zwei Typen von Wirtschaftssubjekten gibt: Unternehmungen und Haushalte. Die Unternehmungen stellen Konsumgüter her, die sie den Haushalten verkaufen. Die Haushalte ihrerseits stellen den Unternehmungen die ihnen gehörenden Produktionsfaktoren gegen Entgelt (Lohn, Zins und Gewinn) zur Verfügung. Es ergeben sich folgende Beziehungen: Der Output wird von den Unternehmungen produziert. Der Wert dieses produzierten Outputs ist das Bruttoinlandprodukt. Das BIP beinhaltet sowohl den Wert von produzierten Gütern, wie beispielsweise von Automobilen und Eiern, als auch den Wert von Dienstleistungen, wie Haarschneiden und medizinische Leistungen. Die Unternehmungen produzieren den Output, indem sie die Produktionsfaktoren wie Boden, Arbeit und Kapital verwenden und dafür bezahlen. Diese Bezahlung der Unternehmungen stellt das in der Volkswirtschaft verdiente Einkommen dar. Also muss der Wert des Outputs dem Wert der in der Volkswirtschaft erhaltenen Einkommen entsprechen. Die Summe der Ausgaben für Güter ist ebenfalls gleich dem Wert des Outputs. Das BIP ist gleich dem in der Volkswirtschaft verdienten Gesamteinkommen und entspricht auch den Gesamtausgaben. (Allerdings gibt es auf den tatsächlichen Volkseinkommenskonten eine beträchtliche Komplexität bei der Beziehung des BIP's zum Volkseinkommen und zu den Gesamtausgaben. Diese Komplexität entsteht grösstenteils aus der Rolle des Staates und aus der Präsenz des Aussenhandels.) Der Wert der Güterströme kann daher auch anhand der leichter messbaren Geldströme erfasst werden. Oder kurz zusammengefasst: - Die Konsumausgaben entsprechen dem Einkommen. - Die produzierten Konsumgüter stellen den Output dieser einfachen Volkswirtschaft dar. - Der Konsumgüterstrom entspricht dem Output und dieser wiederum dem Einkommen. - Den Output bezeichnet man auch als Bruttoinlandprodukt. - Aus dem einfachen Wirtschaftskreislauf ergeben sich drei Möglichkeiten der Messung des Outputs einer Volkswirtschaft: Entstehungsrechnung (Produktion), Verwendungsrechnung (Konsum etc.), Verteilungsrechnung (Einkommen etc.). Der einfache Wirtschaftskreislauf entspricht nicht der Wirklichkeit. Einbeziehen muss man noch die Sektoren Staat, Ausland und Vermögensbildung. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 2 Volkswirtschaftslehre Die Staatsausgaben bestehen aus Güterkäufen und Löhnen, die Staatseinnahmen aus Steuern. Daneben gibt es staatliche Geldzahlungen, denen keine Güterströme entsprechen. Man bezeichnet sie als Transfers. Beispiele sind Subventionen und Sozialleistungen. Steuern sind auch Transfers, da ihnen keine spezifische Gegenleistung des Staates gegenüber stehen. Hinsichtlich des Auslandes sind die Güterströme (Export und Import) und der Abfluss und Zufluss von Devisen zu berücksichtigen. Die Haushalte legen einen Teil ihrer Einkommen als Ersparnisse auf die Seite. Die Unternehmungen stellen auch Investitionsgüter her. Zudem behalten sie einen Teil ihrer Gewinne ein (unverteilte Gewinne). Zwischen Ersparnissen und Investitionen besteht ein Zusammenhang: sie sind ex post aus definitorischen Gründen gleich hoch (ex post: in der Vergangenheit realisierte Grössen, in Nachhinein; ex ante - zukunftsbezogene Plan-, Erwartungs- oder Zielgrössen). Aus dem erweiterten Wirtschaftskreislauf kann man die Komponenten der volkswirtschaftlichen Nachfrage erkennen. Sie bestehen aus dem Konsum der Haushalte, den Investitionen von Unternehmungen, den Staatsausgaben und den Nettoexporten (Exporte - Importe). Die Messung des Outputs Der Output einer Volkswirtschaft besteht aus Millionen von Gütern und Dienstleistungen. Um diese vergleichbar zu machen, bewertet man sie mit ihrem Geldwert und addiert alle Geldwerte. Dabei darf man nur die Endprodukte berücksichtigen. Als Resultat erhält man das Bruttoinlandprodukt (BIP; engl. GDP = gross domestic product). Der Marktpreis wird verwendet, weil er zeigt, wie viel die Menschen für ein bestimmtes Gut zu zahlen bereit sind. Kosten Äpfel 0.5 CHF je Stück und werden davon 4 Stück erzeugt und kosten Birnen 1 CHF je Stück und werden 3 Stück erzeugt, so ergibt sich ein BIP von BIP = (Apfelpreis x Apfelmenge) + (Birnenpreis x Birnenmenge) = ( 0.5 CHF x 4 Stück) + (1 CHF x 3 Stück) = 5 CHF Der Wert eines CHF verändert sich mit der Zeit. Vieles kostet mit der Zeit mehr. Das BIP soll nun nicht vortäuschen, dass der Output gewachsen ist, in Wirklichkeit sind aber nur die Preise gestiegen. Deshalb korrigiert man das BIP um Veränderungen des durchschnittlichen Preisniveaus. Das nicht korrigierte BIP ist das nominelle BIP. Das preisbereinigte BIP ist das reale BIP. Dabei gilt: reales BIP = nominales BIP / Preisniveau. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 3 Volkswirtschaftslehre Die Entstehungsrechnung Das Ziel der Nationalen Buchhaltung ist es, die Leistung einer Volkswirtschaft zahlenmässig zu erfassen, um den Unternehmern, den Arbeitnehmern, den Konsumenten, den Politikern und Wissenschaftlern die für ihre Tätigkeit notwendigen Informationen zu liefern. Dabei kann man die Leistung einer Volkswirtschaft unter verschiedenen Aspekten betrachten. Ein erster Aspekt ist die Entstehungsseite oder die Entstehungsrechnung, bei der die folgende Fragestellung im Zentrum des Interesses steht: Wer hat die Leistung erbracht? Was aber bedeutet überhaupt Leistung einer Volkswirtschaft und wie kann man sie messen? Zu Beginn sei die Frage gestellt, wie man die Leistung einer Unternehmung misst. Das Instrument dafür ist die Erfolgsrechnung und als Massstab dient - aus betriebswirtschaftlicher Optik - der Gewinn und der Umsatz. Aus volkswirtschaftlicher Optik ist allerdings der Gewinn allein kein guter Massstab. Denn neben dem Gewinn erbringt eine Unternehmung noch andere Leistungen, so bezahlt sie zum Beispiel ihren Mitarbeitern Löhne aus, welche für eine Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung sind. Im Rahmen der Verteilungsrechnung wird dieser Aspekt wieder aufgegriffen. Der Umsatz enthält Vorleistungen und ist deshalb kein geeignetes Mass für das Bruttoinlandprodukt (BIP), da andernfalls Doppelzählungen vorhanden wären. Vorleistungen sind alle nicht dauerhaften Produktionsmittel, die von anderen Produzenten bezogen werden. Dazu zählen Sachgüter wie Roh- und Hilfsstoffe, Energie, Halbfabrikate und Handelswaren ebenso wie Dienstleistungen (z.B. Transportleistungen, Beratungshonorare, Leistungen der PTT, Mietaufwand). Ein Kauf eines Investitionsgutes (z.B. einer Maschine) gehört selbstverständlich nicht zu den Vorleistungen, da es sich dabei nicht um eine Aufwand-, sondern um eine Vermögenserhöhung handelt, die nicht in der Erfolgsrechnung, sondern in der Bilanz erfasst wird. Der Volkswirtschafter interessiert sich also primär weder für den Gewinn noch für den Umsatz. Für ihn sind die Leistungen von Interesse, die von den verschiedensten Produzenten neu erbracht wurden. Mit anderen Worten geht es ihm um den Wert, welcher den Vorleistungen durch die Produktion und den anschliessenden Absatz hinzugefügt wurde. Deshalb bezeichnen wir diese Grösse mit dem Begriff Wertschöpfung: Wertschöpfung ist die Differenz zwischen den abgegebenen Leistungen eines Produzenten (Produktionswert) und den von ihm übernommenen Leistungen (Vorleistungen). Vorleistungen M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Produktion Produktionswert Seite 4 Volkswirtschaftslehre Dieser Begriff der Wertschöpfung soll - vorerst am Beispiel einer einzelnen Unternehmung - noch exakter betrachtet werden. Zusätzlich zu den Gütern, die der Unternehmer aus der laufenden Produktion verkauft, ist es möglich, dass er für sich selber Güter produziert, dass er produzierte Güter ins Lager legt oder zusätzlich Güter aus dem Lager verkauft. Die Summe aller Verkäufe, den Wert der Bestandesveränderungen und den Wert der selbsterstellten Anlagen, bezeichnen man mit Bruttoproduktionswert. Wie oben beschrieben, subtrahiert man vom Bruttoproduktionswert alle Vorleistungen und erhält dadurch die Bruttowertschöpfung. Subtrahiert man von der Bruttowertschöpfung die Abschreibungen, resultiert die Nettowertschöpfung, die dem Wert entspricht, den man maximal verbrauchen könnte, ohne die Vermögenssubstanz zu gefährden. Die in der Brutto- und Nettowertschöpfung enthaltenen Leistungen werden dabei zu den Preisen bewertet, zu denen sie am Markt verkauft werden (Bewertung zu Marktpreisen). Die Nettowertschöpfung zu Faktorkosten ergibt sich, indem von der Nettowertschöpfung zu Marktpreisen die indirekten Steuern subtrahiert und die Subventionen addiert werden. Die folgende Übersicht verdeutlicht die Zusammenhänge. Begriff Definition Bruttoproduktionswert Wert aller Verkäufe + Wert der Bestandesveränderungen + Wert der selbsterstellten Anlagen - Vorleistungen Alle von Unternehmungen und der öffentlichen Hand bezogenen und für die Produktion verbrauchten Güter und Dienstleistungen = Bruttowertschöpfung Der erarbeitete Mehrwert – Abschreibung = Nettoproduktionswert Mehrwert, den man maximal zu Marktpreisen verbrauchen könnte, ohne die Vermögenssubstanz zu gefährden - Indirekte Steuern + Subventionen = Nettowertschöpfung zu Faktorkosten M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Mehrwert, den man an die Produktionsfaktoren ausbezahlen kann Seite 5 Volkswirtschaftslehre Wer - ausser den Unternehmungen - produziert in einer Volkswirtschaft auch noch etwas, erbringt also eine Wertschöpfung? Die Wirtschafssubjekte können in Gruppen zusammengefasst werden, deren Tätigkeit in etwa dieselbe ist: Eine erste Gruppe, deren Wertschöpfungsberechnung bereits besprochen wurde, sind die Unternehmungen. Zum Sektor Unternehmungen gehören auch die staatlichen Betriebe, die ihre Leistung entgeltlich zur Verfügung stellen (z.B. PTT, SBB). In einer zweiten Gruppe werden alle Haushalte zum Sektor Private Haushalte zusammengefasst. Zu dieser Gruppe zählen auch private Organisationen ohne Erwerbscharakter wie z.B. Vereine, Verbände oder Kirchen. In jeder Wirtschaft spielt der Staat eine wichtige Rolle. Er erhebt einerseits Steuern, andererseits gewährt er Sozialleistungen und Subventionen und erfüllt öffentliche Aufgaben (z.B. Bildungswesen, Krankenhäuser, Militär). Zum Sektor Staat gehören der Bund, die Kantone und Gemeinden sowie die Sozialversicherungen. Nicht vergessen werden darf das Ausland. Gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz fliessen viele Leistungen ins Ausland, bzw. stammen von dort. Um die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft zu erhalten, muss man die Summe der Wertschöpfung aller Sektoren ermitteln. Dazu gehört die Wertschöpfung von Architekten, Banken, Unterhosenherstellern, Wahrsagern ebenso wie diejenige von Lehrern, Hausfrauen oder -männern. Wie steht es aber mit der Wertschöpfung im Sektor Private Haushalte? Zweifellos werden in privaten Haushalten eine Menge von Leistungen erbracht: Reinigung, Erziehung, Krankenpflege, Unterhaltung, Bewirtung, Psychotherapie usw. Wie bei den Unternehmungen werden diese Leistungen unter erheblichem Einsatz von Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, know-how und Boden) erbracht. Weil dabei aber keine Markttransaktionen stattfinden, finden diese Leistungen auch keine Berücksichtigung in der Nationalen Buchhaltung. Findet beim Staat eine Wertschöpfung statt? Ohne die verschiedenen staatlichen Leistungen wäre das Leben unangenehmer (Autobahnen, Ruhe und Ordnung, Rechtssicherheit, öffentliche Schulen). Allerdings ist es schwierig, diese Leistungen zu bewerten. Denn wie bei den privaten Haushalten haben staatliche Leistungen in den meisten Fällen keinen Marktpreis, ihre Finanzierung findet eben nicht über den Verkauf, sondern über Steuern statt. Bei der Lösung dieses Problems bedient man sich eines statistischen Tricks. Im Gegensatz zum Sektor Haushalte kennt man beim Staat nämlich den Aufwand, der für die Leistungserstellung erforderlich war. Man nimmt deshalb an, dass die Bruttowertschöpfung der Summe aller Aufwände abzüglich der Vorleistungskäufe entspricht. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 6 Volkswirtschaftslehre Wie kann das Ausland in die Wertschöpfungsrechnung einbezogen werden? Bei der Entstehungsrechnung bereitet die Berücksichtigung des Auslandes überhaupt keine Probleme, denn die Exporte sind selbstverständlich im Bruttoproduktionswert enthalten. Die importierten Vorleistungen werden, wie alle anderen Vorleistungen auch, vom Bruttoproduktionswert abgezogen, um die Bruttowertschöpfung zu erhalten. Um die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung zu erhalten, addiert man die Wertschöpfung der Unternehmungen und des Staates. Die Leistungen in den privaten Haushalten bleiben unberücksichtigt, da sie unentgeltlich erbracht werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Gesamtheit der im Laufe eines Jahres im Inland erzeugten Wertschöpfungen. Eine oft gehörte und bekannte Definition lautet: Das Bruttoinlandsprodukt ist die Gesamtheit der im Laufe eines Jahres im Inland produzierten Güter und geleisteten Dienste. Diese Definition kann richtig sein. Es muss allerdings klargestellt werden, dass es sich dabei nur um Güter und Dienste handelt, die an den Konsumenten gehen, andernfalls sind sie Vorleistungen und gehören somit nicht zum Bruttoinlandsprodukt. Eine zweite präzise Definition lautet deshalb: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Gesamtheit aller im Laufe eines Jahres im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen unter Abzug aller Vorleistungen. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 7 Volkswirtschaftslehre Übersicht zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung: Begriff Definition Bruttoproduktionswert Wert aller Verkäufe + Wert der Bestandesveränderungen an Fertigprodukten + Wert der selbsterstellten Anlagen aller Unternehmungen und des Staates - Vorleistungen Alle von Unternehmungen und der öffentlichen Hand bezogenen und für die Produktion verbrauchten Güter und Dienst- leistungen = Bruttoinlandsprodukt Summe aller Bruttowertschöpfungen von Unternehmungen und Staat im Inland - Abschreibungen = Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen Wertschöpfung, die man maximal verbrauchen könnte, ohne die Vermögenssubstanz einer Volkswirtschaft zu gefährden - Indirekte Steuern + Subventionen = Nettoinlandsprodukt Wertschöpfung, die man an die Produktionsfaktoren ausbezahlen kann. Die Behandlung der Lagerinvestitionen Angenommen, ein Unternehmen einer Ein-Gut-Wirtschaft stellt zusätzliche Arbeiter ein, um mehr Brot zu erzeugen. Es bezahlt die entsprechenden Löhne, kann das Brot aber nicht verkaufen. Wie berührt diese Transaktion das BIP? Die Antwort hängt davon ab, was mit dem nicht verkauften Brot geschieht. Falls das Brot verdirbt, vermindert sich der Gewinn des Unternehmens genau im Umfang der zusätzlichen Lohnzahlungen. Das Unternehmen hat nämlich eine höhere Lohnsumme gezahlt, ohne dafür einen Vorteil zu erlangen. Weil die beschriebene Transaktion weder die Ausgaben berührt noch das Gesamteinkommen verändert, bleibt das Inlandprodukt konstant. (Es ändert sich aber selbstverständlich das Verhältnis von Löhnen und Gewinnen.) Falls das Brot nicht verdirbt, sondern auf Lager genommen wird, um zu einem späteren Zeitpunkt verkauft zu werden, wird die Transaktion entsprechend den Gepflogenheiten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anders behandelt. In diesem Fall vermindert sich der Gewinn des betrachteten Unternehmens nicht. Es wird so getan, als ob die Eigner des Unternehmens das Brot für die Lagerhaltung kaufen. Nunmehr steigt das Inlandprodukt: das Einkommen steigt wegen der höheren Löhne, denen nun keine Gewinnreduzierung gegenübersteht, und die Ausgaben steigen wegen der Erhöhung der Lagerhaltung. Die allgemeine Regel M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 8 Volkswirtschaftslehre lautet: Wenn eine Unternehmung ihre Bestände an Gütern vergrössert, werden diese Lagerinvestitionen sowohl als Teil der Ausgaben als auch als Teil des Einkommens gezählt. Die Produktion, die für eine Erhöhung der Lagerhaltung bestimmt ist, trägt daher genauso zu einem höheren BIP bei wie die Produktion, die unmittelbar abgesetzt wird. Die Verwendungsrechnung Man muss zwischen Endprodukten und Vorprodukten unterscheiden, um Doppelzählungen zu vermeiden (siehe dazu auch den folgenden Abschnitt). Eine Möglichkeit, den Wert der Endprodukte zu berücksichtigen, besteht darin, zu sehen, wer diese Produkte kauft. Einige Endprodukte werden von Haushalten konsumiert, man spricht vom Konsum der Haushalte. Einige Produkte werden von Unternehmen genutzt, um Gebäude und Produktionsanlagen herzustellen. Man redet von Investition. Andere Endprodukte werden vom Staat gekauft und als Staatsverbrauch bezeichnet. Wiederum andere gehen in den Export und damit ins Ausland. Einige Güter werden aus dem Ausland importiert und müssen deshalb wieder abgezogen werden. Es ergibt sich nun: BIP=C+I+G+X-M (C = Konsum, I = Investitionen, G = Staatsausgaben, X = Exporte, M = Importe) Diese Gleichung ist eine Identität und definitionsgemäss immer wahr. Die Differenz zwischen Export und Import wird auch als Nettoexport oder Aussenbeitrag bezeichnet. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 9 Volkswirtschaftslehre Ein Teil der Einkommen kann aber auch gespart werden. Was passiert mit diesen Ersparnissen? Diese werden an diejenigen ausgeliehen, die zu wenig eigene Mittel erarbeitet haben, um ihre Investitionen zu finanzieren. Das heisst, dass schlussendlich immer soviel investiert wird, wie gespart wird. Falls Sparen und Investieren nicht gleich gross sind, treten Mechanismen auf, die wieder auf ein Gleichgewicht zwischen Sparen und Investieren hinwirken. Einzelne Sektoren (z.B. die Haushalte) können also sehr wohl einen Sparüberschuss erzielen, während andere Sektoren (z.B. die Unternehmungen) mehr investieren, als dass sie zu sparen in der Lage sind. Gesamtwirtschaftlich aber sind Sparen und Investieren - rückblickend (ex post) – immer ausgeglichen. In einer offenen Volkswirtschaft können inländische Ersparnisse von den inländischen Investitionen abweichen. Falls die inländischen Ersparnisse grösser sind als die inländischen Investitionen, können diese auch im Ausland angelegt werden. Umgekehrt können, falls im Inland mehr investiert als gespart wird, die fehlenden Mittel vom Ausland zur Verfügung gestellt werden. Sparsamkeit ist nicht immer etwas Gutes. Auch wenn es für den einzelnen durchaus sinnvoll sein kann, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mehr zu sparen, kann es für die Volkswirtschaft - wenn das alle tun - verheerende Folgen haben. Der Versuch mehr zu sparen, kann damit enden, dass die tatsächlichen volkswirtschaftlichen Ersparnisse zurückgehen. Sämtliche Ausgaben der Privaten Haushalte zählen zum Konsum. Konsum im volkswirtschaftlichen Sinne sind alle Güter und Dienstleistungen, die nicht im Produktionsprozess der Unternehmungen verwendet werden. Haushalte können definitionsgemäss nur konsumieren, mit einer einzigen Ausnahme: Ein Haushalt, der ein Haus baut, konsumiert nicht, sondern investiert. Diese Investitionen werden aber dem Sektor Unternehmungen zugerechnet. Was macht der Sektor Unternehmung mit seinem Einkommen? Zum Einkommen (=Wertschöpfung) der Unternehmungen zählt nur das, was nach den Vorleistungskäufen bzw. den Faktorentschädigungen übrig bleibt. Dieses Einkommen verwenden die Unternehmungen für die Nachfrage nach Investitionsgütern. Beim Sektor Staat ist die Sache ein bisschen komplizierter. Der Staat verkauft seine Dienstleistungen nicht, weshalb sie bei der Entstehungsrechnung von der Aufwandseite her (zu Herstellkosten) bewerten werden müssen. Vor demselben Problem steht man auch bei der Verwendungsrechnung: Die unentgeltlichen staatlichen Dienstleistungen konsumieren im Grunde genommen die Haushalte und die Unternehmungen. Weil sie aber eben nicht verkauft werden, können sie ihnen auch nicht zugeordnet werden. Deshalb arbeitet die Nationale Buchhaltung mit der Fiktion des Eigenkonsums des Staates. Zum Staatskonsum gehören alle unentgeltlich abgegebenen Dienstleistungen dieses Sektors, bewertet zu Herstellkosten. Das heisst, dass z.B. die Ausgaben M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 10 Volkswirtschaftslehre für das Militär, für Schulen, für die Polizei und die Feuerwehr mit Staatskonsum gleichgesetzt werden - statistisch gesehen konsumiert der Staat die Leistungen dieser Institutionen selbst. Neben dem Konsum tätigt der Sektor Staat auch Investitionen, z.B. beim Kauf von Gebäuden, beim Strassenbau oder bei der Anschaffung einer EDVAnlage. Wie wird in der Verwendungsrechnung das Ausland berücksichtigt? Im Konsum und den Investitionen der genannten Sektoren sind einerseits die Importe aus dem Ausland enthalten, andererseits fehlen die Exporte. Da die Importe zum Einkommen des Auslandes werden, müssen wir diese subtrahieren, die Exporte aber addieren, um die Leistung des Inlands zu erhalten. Überblick über die Verwendungsrechnung: Konsum der privaten Haushalte + + + + Konsum des Staates Investitionen der Unternehmungen Investitionen des Staates Importe Exporte = Bruttoinlandsprodukt + Kapital- und Arbeitseinkommen aus dem Ausland - Kapital – und Arbeitseinkommen an das Ausland = Bruttosozialprodukt Die Investitionen können in Ersatz- und Nettoinvestitionen aufgeteilt werden. Erstere dienen zum Ersatz unbrauchbar gewordener Produktionsmittel. Sie werden von den Unternehmungen in Form von Abschreibungen erfasst und den Kosten zugerechnet. Bei den Nettoinvestitionen handelt es sich um alle jene Güter, die nicht den Haushalten als Konsumgüter zugeflossen sind: Bauten, Ausrüstungen, aber auch um die in den Läden liegen gebliebenen Videorecorder, Konserven und Bücher (= Lagerzunahme). Die Verteilungsrechnung Jeder Franken Wertschöpfung ist für irgendjemanden irgendwo ein Franken Einkommen. Wertschöpfung und Einkommen sind die beiden Seiten derselben Medaille. Es kann deshalb nicht nur analysiert werden, wer die Wertschöpfung erstellt hat, sondern auch wie dieser Wertschöpfungskuchen verteilt wird. Die Verteilungsrechnung setzt sich mit folgender Frage auseinander: Wie werden die erzielten Einkommen verteilt? M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 11 Volkswirtschaftslehre Firmen verwenden ihre Erlöse für fünf verschiedene Zwecke: Löhne, Zinsen, Vorprodukte, indirekte Steuern, einbehaltene Gewinne. Erlöse = Löhne+Zinsen+Kosten für Vorprodukte+indirekte Steuern+Gewinne Es gilt auch: Wertschöpfung = Erlöse - Kosten für Vorprodukte Das BIP ist die Summe aller Wertschöpfungen also gilt: BIP = Löhne + Zinsen + indirekte Steuern + Gewinne Die Nettowertschöpfung zu Faktorkosten kann als Einkommen verteilt werden: Einkommen erhält man entweder als Entschädigung für die Zurverfügungstellung der Arbeitskraft (Löhne und Gehälter) oder als Entschädigung für die Zurverfügungstellung von Kapital (Zinsen, Dividenden, unausgeschüttete Gewinne). Zusammenhang Entstehungs- und Verteilungsrechnung: Bruttoproduktionswert + - Abschreibungen Indirekte Steuern Subventionen Vorleistungen = Nettowertschöpfung (Faktorkosten) = Löhne + Zinsen + Dividenden + unverteilte Gewinne Das gesamte Einkommen einer Volkswirtschaft setzt sich also aus Löhnen, Zinsen, Dividenden und unverteilten Gewinnen zusammen. Kapitalgewinne stellen einen Anstieg im Wert eines Vermögensgegenstandes dar und entsprechen keiner Produktion. Das BIP enthält deshalb keine Kapitalgewinne. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 12 Volkswirtschaftslehre Alternative Masse für den gesamtwirtschaftlichen Output Lange Zeit wurde nicht das BIP, sondern das BSP (Bruttosozialprodukt) als wichtigste statistische Masszahl verwendet. In den meisten Ländern ist der Unterschied zwischen BSP und BIP nicht sehr gross. Dies gilt nicht für die Schweiz. Was sind nun die Unterschiede zwischen diesen beiden Konzepten? Zunächst stellt sich die Frage, wie die Grenze zwischen unserer Volkswirtschaft und dem Ausland gezogen werden soll. Sollen die Einkommen an das Ausland zur Wertschöpfung der Schweiz gezählt werden? Bei einer positiven Antwort ist der inländische Entstehungsort massgebend, gleichgültig ob im Ausland Wohnhafte daran beteiligt sind. Es handelt sich um die Anwendung des Inlandsprinzips, welches zum Inlandsprodukt führt. Sollen die Einkommen aus dem Ausland zur Wertschöpfung der Schweiz gezählt werden? Bei einer positiven Antwort ist der inländische Wohnsitz massgebend, gleichgültig ob das Einkommen aus dem In- oder Ausland stammt. Es handelt sich um die Anwendung des Inländerprinzips, welches zum Sozialprodukt führt. Das gesamte Einkommen einer Volkswirtschaft wird je nach angewendetem Prinzip folgendermassen genannt: Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten + indirekte Steuern – Subventionen = Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen + Abschreibungen= Bruttoinlandsprodukt Nettosozialprodukt zu Faktorkosten (Volkseinkommen) + indirekte Steuern - Subventionen = Nettosozialprodukt zu Marktpreisen + Abschreibungen = Bruttosozialprodukt Die Bezeichnungen "Inländer" und "Ausländer" beziehen sich nicht auf die Nationalität, sondern auf den Wohnsitz. Ein in der Schweiz wohnhafter ausländischer Arbeiter ist im Sinne der Nationalen Buchhaltung deshalb ein Inländer bzw. ein inländischer Produktionsfaktor. Vom Bruttosozialprodukt zum Bruttoinlandsprodukt gelangt man, indem die Kapital und Arbeitseinkommen an das Ausland addiert und die Kapital- und Arbeitseinkommen aus dem Ausland subtrahiert werden. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 13 Volkswirtschaftslehre Die Messung des Lebensstandards Das Bruttoinlandprodukt dient grundsätzlich als Vergleichsgrösse, als Wertmesser der Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft und zur Bildung von Strukturparametern. Die Grössen Volkseinkommen und Inlandprodukt dienen vier Hauptzwecken: 1. Sie werden als Vergleichsgrössen verwendet. 2. Sie sind Wertmesser der Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft. 3. Für wirtschaftspolitische Zwecke interessiert oft nicht die Globalgrösse Inlandprodukt, sondern dessen Struktur (Zusammensetzung). 4. Sie sind Messgrösse für die Wirtschaftsentwicklung (Wachstum). Oft wird die Zinsbelastung für die Schuldenlast des Staates in Prozent des Volkseinkommens ausgedrückt, um die Belastung anschaulicher aufzuzeigen. Die Militärausgaben der einzelnen Länder werden in Prozent des Inlandprodukts ausgedrückt. Dadurch erst wird ein Vergleich der Verteidigungsanstrengungen zwischen den einzelnen Ländern möglich. Je grösser das BIP ist, desto mehr Güter und Dienstleistungen stehen zur Verfügung und umso höher ist der Wohlstand der Bevölkerung (unter Voraussetzung einer einigermassen gleichmässigen Verteilung). Zu Vergleichszwecken eignet sich aber nicht die Globalgrösse, sondern nur das Volkseinkommen pro Kopf (Pro-Kopf-Einkommen). Das Pro-Kopf-Einkommen ist ein - allerdings sehr grober - Wohlstandsindikator für eine Volkswirtschaft. Die Wirtschaftskraft spiegelt sich auch in der Arbeitsproduktivität wider. Bruttoinlandprodukt Arbeitsproduktivität = Anzahl der Erwerbstätigen Die wichtigsten Grössen, die als Strukturparameter bezeichnet werden, sind: Lohnquote: Investitionsquote: Konsumquote: Exportquote: Importquote: M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Arbeitseinkommen : Volkseinkommen Gesamtinvestitionen : Bruttoinlandprodukt Privater Konsum : Bruttoinlandprodukt Exporte : Bruttoinlandprodukt Importe : Bruttoinlandprodukt Seite 14 Volkswirtschaftslehre Die Lohnquote zeigt den Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen. Eine steigende Lohnquote deutet auf steigende Einkommen der Unselbständigerwerbenden hin, sofern deren Zahl konstant geblieben ist. Die Investitionsquote bezeichnet den Anteil der Investitionen am Bruttoinlandprodukt. Allgemein gilt: Je höher die Investitionsquote ist, desto stärker wächst die Wirtschaft in der Regel. Die Konsumquote zeigt den Anteil der privaten Konsumausgaben am Bruttoinlandprodukt. Zu beachten ist, dass eine rückläufige Konsumquote nicht zwangsläufig einen Wohlstandsrückgang bedeutet. Steigt nämlich das Bruttoinlandprodukt an, so kann der prozentuale Anteil der Konsumgüter zurückgehen, obschon nominell mehr Konsumgüter zur Verfügung stehen. Kurzfristig ist das BIP ein guter Konjunkturindikator, indem es die jährlichen Schwankungen der Güterproduktion und der Dienstleistungen wiedergibt. Zu beachten ist dabei allerdings das Ausmass der Geldentwertung. Langfristig zeigt das Inlandprodukt das Wirtschaftswachstum an. Das Produktionspotential Das potentielle BIP (Produktionspotential) gibt an, wie viel die Volkswirtschaft produzieren könnte, wenn die Kapazität der Arbeitskräfte und der Maschinen voll ausgenutzt würde. Die Schätzung des Potentials geht von einem normalen Niveau der Arbeitslosigkeit aus und von der Tatsache, dass selbst in wirtschaftlich guten Zeiten immer ein kleiner Teil der Kapazität nicht genutzt wird. Auffallend ist, dass das Wachstum des Potentials einen stetigen Trend nach oben aufweist. Das tatsächlich erreichte BIP kann über oder unter dem Potentialtrend liegen. Bei einer starken Abweichung nach oben spricht man von Boom oder Hochkonjunktur. Bei einer Abweichung nach unten von Rezession. Von Rezession redet man heute, wenn das tatsächliche BIP in mindestens zwei aufeinander folgenden Quartalen zurückgegangen ist. Die Fluktuation der volkswirtschaftlichen Produktion um den langfristigen Trend herum bezeichnet man als Konjunkturzyklen. Der Ausdruck Zyklus suggeriert eine Regelmässigkeit, die aber nicht beobachtet werden kann. Besonders schwierig ist es, die Wendepunkte richtig zu prognostizieren. In einer Rezession ist die Arbeitslosigkeit typischerweise hoch und ein grosser Teil der Maschinenkapazität liegt brach. Die Kapazitätsauslastung schwankt zwischen 70% in der Rezession und 90% im Boom. Da immer einige Maschinen gewartet werden müssen und andere brach liegen, wird 100% nie erreicht. Ein niedriger Auslastungsgrad ist wie hohe Arbeitslosigkeit eine Verschwendung ökonomischer Ressourcen. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 15 Volkswirtschaftslehre Begriffsklärung Das Produktionspotential gibt an, wie hoch der Output einer Volkswirtschaft bei vollständiger Auslastung der vorhandenen Produktionsfaktoren und bei gegebenem Stand des technischen Wissens sein könnte. Bei der Definition dessen, was unter vollständiger Auslastung der Produktionsfaktoren zu verstehen ist, sind die Wirklichkeitsbedingungen, also auch strukturelle Marktunvollkommenheiten und gegebene Faktorpreisrelationen, zu berücksichtigen. Das Verhältnis von tatsächlicher Produktion zum Produktionspotential bestimmt die Höhe der Kapazitätsauslastung in der Wirtschaft. Das Produktionspotential soll im allgemeinen nicht die technisch maximale Produktion erfassen; es ist ein ökonomisches Konzept, das auf die Erklärung der Angebots- und Nachfrageverhältnisse am Gütermarkt sowie daraus resultierender Konsequenzen etwa für das Preisniveau abzielt. a) Verwendungsmöglichkeiten: Das Produktionspotential hat grosse Bedeutung für die Konjunktur- und Wachstumsanalyse. Es ist ein Bewertungsmassstab dafür, ob das Wachstum einer Volkswirtschaft angemessen ist. Die Kapazitätsauslastung, die mit Hilfe des Produktionspotentials berechnet wird, kann zur Abgrenzung von Konjunkturzyklen herangezogen werden. Steigt die tatsächliche Produktion schneller als das Produktionspotential, dann spricht man von einem Konjunkturaufschwung. Bei sinkender Kapazitätsauslastung liegt dagegen ein Abschwung vor. Das Produktionspotential ist aber auch für eine mittelfristig angelegte Wirtschaftspolitik von Bedeutung. Es dient als Orientierungsgrösse für die Geldpolitik, und es hilft bei der Analyse der Frage, inwieweit Haushaltsdefizite auf konjunkturelle oder strukturelle Ursachen zurückgehen. b) Berechnungsmethoden: Das Produktionspotential kann nicht direkt gemessen, sondern nur geschätzt werden. c) Aussagefähigkeit der Potentialschätzungen: Welchem Ansatz der Potentialschätzung letztlich der Vorzug zu geben ist, hängt somit nicht nur von der Zielsetzung der Analyse, sondern auch von der gesamtwirtschaftlichen Lage, insbesondere von der Lage auf dem Arbeitsmarkt ab. Bei allen Schätzansätzen ist jedoch in einer Hinsicht eine vorsichtige Interpretation anzuraten. Starre Produktionsgrenzen, bei deren Überschreitung automatisch inflationäre Entwicklungen eintreten, wird es in zunehmend offenen und dienstleistungsintensiven Volkswirtschaften nicht geben. Überschreitet die Expansion der Nachfrage das Wachstum des Produktionspotentials, so wird sich tendenziell ein Importsog ergeben. Bei freien Produktionskapazitäten im Ausland und intensiver internationaler Preiskonkurrenz muss somit auch ein kräftiger Nachfrageschub im Inland nicht automatisch inflationäre Folgen haben. Das weltwirtschaftliche Umfeld spielt bei der Interpretation des Produktionspotentials und der Kapazitätsauslastung eine wesentliche Rolle. Zitiert aus Geigant et al., Lexikon Volkswirtschaft, mi-Verlag, 2000, S. 790 ff. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 16 Volkswirtschaftslehre Kritik am BIP In der Praxis werden die BIP-Daten nicht nur als Mass dafür benutzt, wie viel produziert worden ist, sondern auch als Wohlfahrtsmass für die Einwohner eines Landes. Ökonomen und Politiker sprechen so, als ob eine Erhöhung des realen BIP's bedeuten würde, dass es den Menschen besser ginge. Aber die Zahlen des BIP's sind weit davon entfernt, ein genaues Mass für die Produktion oder die Wohlfahrt zu sein. Einige Messprobleme des BIP's ergeben sich durch die Existenz einer Schattenwirtschaft. Bei dieser handelt es sich unter anderem um Arbeit aus einer zweiten Beschäftigung gegen Bargeld, illegales Glückspiel, Arbeit als illegaler Einwanderer, Arbeit bei Bezug von Arbeitslosengeld, illegaler Drogenhandel, die Einnahmen von Trinkgeld bei der Arbeit, die dem Finanzamt nicht mitgeteilt werden, der Verkauf von selbstangebauten Tomaten gegen Bargeld. Die Liste ist damit keineswegs vollständig! Es dürfte unmittelbar ersichtlich sein, dass es schwer fällt, diese Tätigkeiten zu messen oder gar zu schätzen. Die Schätzwerte unterscheiden sich stark und dürften von der Belastung der Bürger/innen eines Staates mit Steuern, Sozialabgaben und Zwangssparen abhängig sein. Für Italien belaufen sich die Schätzungen auf 8% - 33% des BIP's. Andere Probleme ergeben sich bei Unzulänglichkeiten bei der Messung einiger Outputs und dann beim Gebrauch des BIP's als Massstab für ökonomische Wohlfahrt. Hier erwächst vor allem Kritik aus ökologischer Sicht. Ungenau gemessene Outputs Die meisten Schwierigkeiten bei der Berechnung des BIP's entstehen deshalb, dass einige Outputs nicht auf den Markt kommen. Es wurde schon bemerkt, dass die staatliche Produktion zu Kosten bewertet wird. Dies wird deshalb gemacht, weil die staatliche Produktion nicht auf dem Markt verkauft wird und auch nichts Vergleichbares zur Verfügung steht, welche es ermöglichen würde, den Wert der staatlichen Produktion zu schätzen. Wie sollte man den Wert der Produktion des Gutes "Sicherheit vor Angriffen" messen, den man von den Verteidigungsausgaben erwartet? Aber es gibt bei einem grossen Teil der staatlichen Produktion auch ein konzeptmässiges Problem. Wir berücksichtigen im BIP den Wert der Lohnzahlungen an die Polizei und an die Verteidigungskräfte. Nehmen wir einmal an, dass sich die öffentliche Sicherheit verbessert hat und ein Teil der Polizei freigesetzt wird, um bei gleichem Lohn Bonbons herzustellen. Das BIP würde sich nicht oder kaum ändern, aber es scheint so, als hätte sich der volkswirtschaftliche Output brauchbarer Güter und Dienstleistungen erhöht. In diesem Fall besteht das Problem darin, dass wir negative Outputs oder so genannte "Bads" vom BIP nicht abziehen. Man versucht nicht, die Verringerung der öffentlichen Sicherheit, die eine Erhöhung der Polizeikräfte erfordern würde, zu bewerten. Auch den Wert, der durch Fabriken und Automobile verursachten Umweltverschmutzung ziehen wir nicht vom BIP ab. Dies sind "Bads", aber sie werden in den Konten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für das BIP nicht aufgeführt. Auch andere nicht auf dem Markt erscheinende Aktivitäten, „do-it-yourself“ und freiwillige Tätigkeiten eingeschlossen, können nicht vom BIP erfasst werden. Hier ist die wichtigste Kategorie die Haushaltsarbeit. Das gemessene BIP würde höher, wenn jemand aufhört sein Haus selbst zu putzen und stattdessen einen Reinigungsservice damit beauftragt, das gleiche zu tun. Doch die gesamtwirtschaftliche Produktion hat sich in Wirklichkeit gar nicht erhöht. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 17 Volkswirtschaftslehre Änderungen der Qualität Änderungen der Qualität der Güter im Zeitablauf verursachen beträchtliche Schwierigkeiten für das Messen des realen BIP's. Angenommen wir versuchten das BIP von 1960 und 1998 zu vergleichen und wir verwenden die Preise des Jahres 1960, um die Automobilproduktion des Jahres 1998 zu bewerten. Das Problem ist aber, dass ein Auto des Jahres 1998 nicht dasselbe ist wie ein Auto im Jahre 1960, so dass es sicherlich ein Fehler wäre, den realen Wert der Automobilproduktion des Jahres 1998 zu berechnen, indem wir die Zahl der produzierten Autos mit dem Durchschnittspreis eines Autos im Jahre 1960 multiplizieren. Das Problem der Qualitätsänderungen ist so schwerwiegend, dass langfristig Vergleiche des realen BIP's sehr unsicher werden. Wohlstand = Wohlfahrt? Die Wirtschaftstätigkeit, insbesondere die zunehmende Wirtschaftstätigkeit bringt auch Sozialkosten mit sich. So wird vor allem der Wert der Natur völlig unterbewertet. Desweitern wird gezeigt, dass mit dem Wirtschaftswachstum auch die Zivilisationskrankheiten zunehmen. Dies alles hat zur massiven Kritik am BIP als Wohlstands- bzw. Wohlfahrtsmass geführt. Trotzdem wird das BIP weiter verwendet. Zu erwähnen gilt es deshalb, dass das BIP ein recht guter Indikator für die Konjunkturentwicklung darstellt und für viele der makroökonomischen Grundfragen ein nützliches und einfach handbares Mass darstellt. Eine Lösung der angesprochenen Probleme kann eventuell dadurch erreicht werden, dass man ergänzend Sozialindikatoren an- und einführt. Zu nennen wären hier: Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate, Lebenserwartung. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 18 Volkswirtschaftslehre Arbeitslosigkeit Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage einer Nation ist die Frage, in welchem Ausmass diese Nation ihre Ressourcen nutzt. Da die Arbeitskraft die wichtigste Ressource der Wirtschaft darstellt, gehört ein hoher Beschäftigungsstand zu den bedeutendsten wirtschaftspolitischen Zielen. Arbeitslosigkeit verursacht eine Reihe von Problemen: Lohneinbusse, Verletzung Selbstwertgefühl, mangelnde Entwicklung der Arbeitsfähigkeit vor allem bei Jugendarbeitslosigkeit, Kriminalität, Benachteiligung älterer Menschen, Kosten für den Staat. Die Arbeitslosenquote ist diejenige statistische Masszahl, die angibt, welcher Prozentsatz der Personen, die arbeiten möchten, keine Arbeit haben. Erfasst werden nur diejenigen, die sich bei ihrem zuständigen Arbeitsamt als arbeitssuchend registrieren lassen und für die Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Insbesondere werden in der Arbeitslosenstatistik also alle Personen berücksichtigt, die aus einer Tätigkeit als abhängige Beschäftigte, als Selbständige oder mithelfende Familienangehörige ausgeschieden und beim Arbeitsamt als arbeitssuchend registriert sind. Mitgezählt werden beispielsweise aber auch alle Schulabgänger, die sich erfolglos beim Arbeitsamt um eine Arbeitsstelle bzw. einen beruflichen Ausbildungsplatz beworben haben. Als erwerbstätig gelten demgegenüber alle Personen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, und zwar unabhängig von der Dauer der tatsächlich geleisteten oder vertragsmässig zu leistenden Arbeitszeit. Die Erwerbstätigen lassen sich nach ihrer Stellung im Beruf gliedern in abhängige Beschäftigte sowie Selbständige und mithelfende Familienangehörige. Zu den abhängig Beschäftigten gehören alle, die in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehen und überwiegend diese Tätigkeit ausüben, also beispielsweise Arbeiter, Angestellte, Beamte und Soldaten. Zu den Selbständigen zählt man beispielsweise tätige Eigentümer in Einzelunternehmen und Personengesellschaften, freiberuflich Tätige, Landwirte usw. In die Kategorie der mithelfenden Familienangehörigen fallen alle Personen, deren überwiegende Tätigkeit in einer regelmässigen, unentgeltlichen Mitarbeit in einem Betrieb besteht, der von einem Familienmitglied als Selbständigem geleitet wird. Arbeitslose und Erwerbstätige zusammen bilden die Gruppe der Erwerbspersonen. Erwerbspersonen = Arbeitslose + Erwerbstätige Eine auch in der Öffentlichkeit stark beachtete statistische Masszahl ist die Arbeitslosenquote. Sie ist definiert als prozentualer Anteil der Arbeitslosen an den Erwerbspersonen. Arbeitslosenquote = Anzahl Arbeitslose x 100 Erwerbspersonen Dies ist nicht die einzige Definition der Arbeitslosenquote. Daneben wird als Arbeitslosenquote auch der prozentuale Anteil der Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen betrachtet. Als abhängige Erwerbspersonen bezeichnet man die Summe aus Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten. Internationalen Gepflogenheiten entsprechend werden im Nenner der Arbeitslosenquote oft auch nur die zivilen Erwerbspersonen (Erwerbspersonen abzüglich Soldaten) berücksichtigt. Bei der Analyse von Arbeitslosenquoten ist es M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 19 Volkswirtschaftslehre daher sehr wichtig, sich stets klarzumachen, welcher Personenkreis im Nenner berücksichtigt wird. Eine andere interessante statistische Masszahl ist die Erwerbsquote, die den prozentualen Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung beschreibt: Erwerbspersonen Erwerbsquote = Erwerbspersonen x 100 Wohnbevölkerung In anderen Ländern wird häufig ein anderes Erfassungssystem verwendet. So beruht z.B. die Arbeitslosenstatistik der Vereinigten Staaten auf einem Umfragesystem. Dabei werden monatlich bei ca. 60000 Haushalten arbeitsmarktrelevante Daten erhoben. Auf der Grundlage dieser Befragungen wird jede Person in eine von drei Kategorien eingeordnet: Beschäftigter, Arbeitsloser oder Nichterwerbsperson. Eine Person gilt als beschäftigt, wenn sie den grössten Teil der dieser Erhebung vorangehenden Woche an einem Arbeitsplatz beschäftigt war. Hausarbeiten, Ausbildung u.ä. fallen nicht hierunter. Eine Person gilt als arbeitslos, wenn sie in der Berichtswoche nicht beschäftigt war und entweder auf den Beginn einer neuen Tätigkeit wartet, vorübergehend arbeitslos oder arbeitssuchend ist. Fällt eine Person in keine der beiden Kategorien, gilt sie als Nichterwerbsperson. Eine solche Person hat keine Arbeit und möchte auch keine. Die schweizerische Arbeitskräfteerhebung geht in die gleiche Richtung. Formen der Arbeitslosigkeit Grundsätzlich können die folgenden Arten von Arbeitslosigkeit unterschieden werden: - friktionelle Arbeitslosigkeit - strukturelle Arbeitslosigkeit - natürliche Arbeitslosigkeit - saisonale Arbeitslosigkeit - konjunkturelle Arbeitslosigkeit - Wachstumsdefizit-Arbeitslosigkeit Friktionelle Arbeitslosigkeit entsteht aufgrund der Mobilität von Arbeitnehmern zwischen einzelnen Regionen, Berufen oder aufgrund sich ändernder Lebensumstände. Diese Art der Arbeitslosigkeit entsteht oft im Zusammenhang mit Arbeitnehmern, die einen Arbeitsplatzwechsel vornehmen oder bessere Stellen suchen. Man geht deshalb davon aus, dass es sich hier um "freiwillige" Arbeitslosigkeit handelt. Strukturelle Arbeitslosigkeit liegt vor, wenn ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften besteht. Dies kann eintreten, weil ein Ungleichgewicht in einzelnen Berufen oder Regionen aufgrund der Tatsache entsteht, dass einzelne Wirtschaftsbranchen im Vergleich zu anderen wachsen. Bei flexiblen Löhnen würden diese zwischen den einzelnen Arbeitsmärkten auftretenden Ungleichgewichte abgebaut. Dies setzt aber auch eine gewisse Mobilität der Arbeitskräfte in allen Lebensbereichen voraus. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 20 Volkswirtschaftslehre Natürliche Arbeitslosigkeit setzt sich aus der friktionellen und der strukturellen Arbeitslosigkeit zusammen. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit tritt auf, wenn die Nachfrage nach Arbeit insgesamt gering ist (also nicht nur die Nachfrage in einzelnen Bereichen). Die konjunkturelle Arbeitslosigkeit deutet darauf hin, dass sich eine allgemeine Flaute am Arbeitsmarkt anbahnt. Wachstumsdefizit-Arbeitslosigkeit entsteht, wenn die Wirtschaft ein ungenügendes Wachstum hat, was zu einer chronischen Unterauslastung des Produktionsapparates führen kann. Diese Form der Arbeitslosigkeit, die Langzeitwirkungen hat, ist auf viele Ursachen zurückzuführen wie dauernde Investitionsschwäche der Wirtschaft, geringe Investitionsbereitschaft im innovativen Bereich, Auftreten geburtenstarker Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt ohne wesentliche Konsum- und Innovationsimpulse, wenig flexible Produktions- und Beschäftigungsstrukturen und Investitionsschwäche infolge politischer Instabilität und unklaren wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen der Regierung. Inflation Wenn nur der Preis eines einzelnen Gutes steigt, spricht man nicht von Inflation. Eine Inflation liegt vor, wenn die Preise von fast allen Gütern steigen. Die Steigerungsrate des allgemeinen Preisniveaus wird Inflationsrate genannt. Im Unterschied zur Arbeitslosigkeit, wo häufig nur einzelne Bevölkerungsgruppen betroffen sind, trifft die Inflation alle. Dies stellt eines der Hauptprobleme der Wirtschaftspolitik dar. Die Preise der Güter steigen unterschiedlich. Einige steigen im Preis, andere werden billiger. Da aber einige Güter für die Konsumentinnen und Konsumenten eine grössere Bedeutung haben als andere, werden diese in einem Warenkorb gewichtet. Das gebräuchlichste Mass zur Erfassung des Preisniveaus ist der Preisindex für die Lebenshaltung. Um ihn zu ermitteln, werden die Preise einer grossen Anzahl von Waren und Dienstleistungen erfasst, die von den Konsumenten gekauft werden. Der Preisindex verdichtet die Preise einer Vielzahl von Gütern zu einem Index, der das gesamtwirtschaftliche Preisniveau beschreibt. Um ihn zu ermitteln, wird ein Warenkorb definiert und die einzelnen Güter innerhalb des Warenkorbs entsprechend ihrer Bedeutung für den Konsumenten gewichtet. Der Preisindex stellt dann das Verhältnis aus dem aktuellen Preis des Warenkorbs und dem Preis des Warenkorbs in einem Basisjahr dar. Von Zeit zu Zeit werden Warenkorb und Gewichtung überprüft. Nimmt man beispielsweise an, dass der durchschnittliche Konsument pro Monat fünf Äpfel und zwei Birnen kauft, dann besteht der dem Preisindex zugrunde gelegte Warenkorb aus fünf Äpfeln und zwei Birnen. Für den Preisindex PI gilt: PI = (5 x Apfelpreis) + (2 x Birnenpreis) (5 x Apfelpreis 2000) + (2 x Birnenpreis 2000) M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 21 Volkswirtschaftslehre In diesem Preisindex ist 2000 das Basisjahr. Der Index besagt, wie viel im laufenden Jahr der Kauf von fünf Äpfeln und zwei Birnen relativ zum Kauf des gleichen Warenkorbs im Jahr 2000 kostet. Der Preisindex der Lebenshaltung aller privaten Haushalte ist der meistbeachtete Preisindex. Ein anderer wichtiger Preisindex ist z.B. der Grosshandelspreisindex, der das Preisniveau auf einer dem Konsum vorgelagerten Handelsstufe erfasst. Die Bedeutung der Inflation Steigen die Preise, nehmen die Renten an Kaufkraft ab, wenn sie nicht angepasst werden. Rentnerinnen und Rentner gehören also unter Umständen zu den Verlierern der Inflation. Da wegen der Finanzierungsproblematik der AHV die Rentenanpassung (Indexierung) nur noch alle zwei Jahre erfolgen soll, wird die Bekämpfung der Inflation von besonderer Bedeutung sein. Auch alle Arbeitnehmer erleiden einen Einkommens- und Kaufkraftverlust, wenn die Löhne nicht angepasst werden. Dies reduziert den Konsum. Gläubiger erhalten weniger für ihre Guthaben zurückbezahlt, wenn Inflation herrscht. Dadurch steigt die Tendenz zur Kreditrationierung. Da sich Volkswirtschaften an die Inflation anpassen, wird unter Ökonomen diskutiert, inwieweit massvolle Inflationsraten überhaupt Anlass zur Sorge bieten. Ist bei niedrigen Raten die Therapie nicht sogar schlimmer als die Krankheit selbst (Kosten der Inflationsbekämpfung durch entgangenes Wachstum bei niedriger Inflationsrate). Die Schweizerische Nationalbank SNB und die Europäische Zentralbank EZB betrachten eine Inflation von unter 2% als Preisstabilität. Zweistellige Inflationsraten hingegen sind ernsthafte Störungen der Volkswirtschaft und müssen bekämpft werden. Alternative Inflationsmasse Es gibt drei wichtige Unterschiede zwischen BIP-Deflator und Preisindex der Lebenshaltung. Der erste besteht darin, dass der BIP-Deflator die Preise aller Güter erfasst, während der Preisindex der Lebenshaltung die Preise von bestimmten Waren und Dienstleistungen (= Warenkorb) berücksichtigt, die von den privaten Haushalten gekauft wurden. Ein Anstieg der Preise von Gütern, die ausschliesslich von Unternehmen oder öffentlichen Haushalten erworben werden, erhöht daher den BIP-Deflator, nicht aber den Preisindex der Lebenshaltung. Der zweite Unterschied besteht darin, dass der BIP-Deflator nur die Güter enthält, die im Inland erzeugt worden sind. Aus dem Ausland importierte Güter sind kein Bestandteil des BIP und tauchen daher auch nicht im BIP-Deflator auf. Ein Preisanstieg japanischer Importwagen beispielsweise führt zwar zu einer Erhöhung des Preisindex der Lebenshaltung, weil diese von den inländischen Konsumenten gekauft werden, der BIP-Deflator bleibt jedoch unverändert. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 22 Volkswirtschaftslehre Der dritte und subtilste Unterschied betrifft die Frage, wie die beiden Masse die vielen Preise der Volkswirtschaft aggregieren. Der Preisindex der Lebenshaltung weist den Preisen der verschiedenen Güter feste, der BIP-Deflator dagegen veränderliche Gewichte zu. Mit anderen Worten wird der Preisindex der Lebenshaltung unter Verwendung eines festen Warenkorbs berechnet, während der BIP-Deflator Veränderungen des Warenkorbs zulässt, wenn sich die Zusammensetzungen des BIP ändert. Als Beispiel soll nochmals ein Warenkorb betrachtet werden, der nur Äpfel und Birnen enthält. Für den BIP-Deflator gilt: (P Äpfel x Q Äpfel) + (P Birne x Q Birne) BIP Deflator = (P2ooo Äpfel x Q Äpfel ) + (P2ooo Birne x Q Birne) Für den Preisindex der Lebenshaltung gilt: (P Apfel x Q2000 Apfel) + (P Birne x Q2000 Birne) (P2000 Apfel x Q2000 Apfel) + (P2000 Birne x Q2000 Birne) Diese beiden Gleichungen zeigen, dass sowohl der Preisindex der Lebenshaltung als auch der BIP-Deflator die Kosten eines Warenkorbs im laufenden Jahr mit den Kosten des selben Warenkorbs in einem Basisjahr vergleichen. Der Unterschied zwischen beiden Massen besteht darin, ob sich der Warenkorb im Zeitverlauf ändert oder nicht. Der Preisindex der Lebenshaltung benutzt feste Gewichte (die Mengen von 2000), der BIP- Deflator dagegen veränderliche, die sich aus den jeweils aktuellen Mengen ergeben. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Konzepte zur Aggregation von Preisen lassen sich an einem Beispiel deutlich machen. Es sei angenommen, dass die Apfelernte durch Schädlinge vollständig zerstört wird. Dies hat zur Folge, dass die Menge der erzeugten Äpfel auf null absinkt. Der Preis der wenigen Äpfel, die sich noch im Handel befinden, steigt in schwindelerregende Höhe. Da die Äpfel nun nicht länger Bestandteil des BIP sind, hat der Anstieg des Apfelpreises keinen Effekt auf den BIP-Deflator. Weil der Preisindex der Lebenshaltung jedoch mit einem festen Warenkorb errechnet wird, der Äpfel enthält, führt die Zunahme des Apfelpreises zu einem deutlichen Anstieg des Preisindex der Lebenshaltung. Ein Preisindex mit festem Gewichtungsschema gehört zur Klasse der Laspeyres - Indizes, ein Preisindex mitveränderlichem Gewichtungsschema zur Klasse der Paasche - Indizes. In der ökonomischen Theorie wurden die Eigenschaften dieser verschiedenen Indizes untersucht, um herauszufinden, welcher Index-Typ besser ist. Dabei zeigte sich, dass beide IndexKlassen gewisse Vor- und Nachteile aufweisen. Glücklicherweise sind die Unterschiede zwischen BIP-Deflator und Preisindex der Lebenshaltung in der Praxis meist nicht sehr gross. Die Entwicklung beider Preisindizes verläuft zum grossen Teil nahezu parallel. Beide Masszahlen geben gewöhnlich die gleiche Auskunft auf die Frage, wie schnell die Preise steigen. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 23 Volkswirtschaftslehre Schlüsselbegriffe Arbeitslosenquote Der Anteil derjenigen Arbeitssuchenden, die keine Anstellung finden können. Inflation Ein andauernd steigendes allgemeines Preisniveau. potentielles BIP Ein Mass für das BIP-Wachstum, wenn die Ressourcen voll beschäftigt wären. Konjunkturzyklen Die Fluktuation der Höhe der volkswirtschaftlichen Aktivitäten. Früher glaubte man an ein zyklisches Verhalten dieser Fluktuationen. Heute wird der Begriff Zyklus immer noch gebraucht, obwohl die Fluktuationen unregelmässige Verläufe haben. Hochkonjunktur, Boom Eine Periode völlig ausgelasteter Ressourcen und stetiger Zunahme des BIP. Rezession Zwei aufeinander folgende Quartale mit fallendem BIP. Wertschöpfung Die in jeder Produktionsstufe erzeugte Wertschöpfung ergibt sich als Differenz zwischen dem Outputwert und dem Wert des Inputs, der von anderen Firmen gekauft wird. Bruttoinlandprodukt Der totale Geldwert der von Inländern während einer Periode erzeugten Güter und Dienstleistungen. Bruttosozialprodukt Bruttoinlandprodukt + Kapital- und Arbeitseinkommen aus dem Ausland - Kapital- und Arbeitseinkommen an das Ausland. reales BIP Der reale Wert aller Endprodukte und Dienste, gemessen in CHF und inflationsbereinigt. Nettoinlandprodukt Bruttoinlandprodukt minus Abschreibungen. Erwerbsquote Der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, der beschäftigt ist oder eine Beschäftigung sucht. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 24 Volkswirtschaftslehre nominales BIP Der Wert der produzierten Endprodukte und Dienste zu laufenden Preisen. BIP-Deflator Ein gewichteter Durchschnitt der Preise verschiedener Güter und Dienste, bei welchem die Gewichte die Bedeutung jeden Gutes und jeder Dienstleistung im BIP repräsentieren. Deflation Ein andauerndes Sinken des allgemeinen Preisniveaus. Literaturempfehlungen Abschied vom Bruttosozialprodukt, Wirtschaftsstudium 10/99, S. 1256 -1260 Was steckt hinter dem BIP? Hohe Ansprüche an ein statistisches Konstrukt, NZZ, 29.7.2000, Nr. 175, S. 18 Barbara Lüscher, Eveline Ruoss: Entwicklung der potentiellen Produktion in der Schweiz, Quaralsheft der SNB, 1/96, S. 61 ff. Im Dunkeln ist gut munkeln; BIP Statistiken sind falsch: Die Schwarzarbeit wird in jedem Land anders – und meist willkürlich – berücksichtigt, Cash Nr. 41, 11.10.2002, S. 17 Thomas Bernauer: Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, Basler Zeitung, 15.7.2002, Nr. 162, S. 10 Wachstum ist nicht alles, Basler Zeitung, 28.4.2003, Nr. 98, S. 1 Revolution beim Messen des Wachstums, Basler Zeitung, 15.5.2003, Nr. 112, S. 16 Robert Repetto: Die Bewertung natürlicher Ressourcen, Spektrum der Wissenschaft, Digest: Umwelt – Wirtschaft, S. 14 ff. Brigitte Buhmann: Statistiken zur Arbeitslosigkeit; Was messen sie wirklich? Die Volkswirtschaft, 1/2000, S. 40 ff. Bundesamt für Statistik BFS, Wichtigste Ergebnisse der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, SAKE 2002 in Kürze, Neuchâtel 2003, http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber03/sake/dsake.htm, Zugriff 23.11.2003, 14.45 Bundesamt für Statistik BFS, Der neue Landesindex der Konsumentenpreise: Mai 2000 = 100. Methodenübersicht, BFS aktuell, Neuchâtel November 2000, http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber05/dufr05.htm, Zugriff 23.11.2003, 14.30 M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 25 Volkswirtschaftslehre Bundesamt für Statistik BFS, Der Landesindex der Konsumentenpreise 2000, Gewichtung 2003, BFS aktuell, Neuchâtel Februar 2003, http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber05/dufr05.htm, Zugriff 23.11.2003, 14.30 BFS-Leporello, Landesindex der Konsumentenpreise, Neuchâtel 2003, http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber05/dufr05.htm, Zugriff 23.11.2003, 14.30 H.W. Brachinger, B. Schips, W. Stier: Expertise zur Relevanz des „Boskin-Reports“ für den schweizerischen Landesindex der Konsumentenpreise, Kurzfassung, http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber05/dufr05.htm, Zugriff 23.11.2003, 14.30 Joseph E. Stiglitz: Volkswirtschaftslehre, Kapitel 24, S. 647 ff., Oldenbourg 2. Auflage 1999 N. Gregory Mankiw: Principles of Economics, International Edition, Kapitel 23 und 24, S. 499 ff., Third Edition, Thomson-South Western Rolf Iten, Martin Peter, Anna Vettori, Sarah Menegale: Hohe Preise in der Schweiz: Politischer Wille oder mangelnde Wettbewerbsintensität?, Die Volkswirtschaft, 7-2003, S. 5 ff. M. Lüthi / VWL / Kap. 24 Seite 26