Ob als Farbe, Baustoff, Speiseöl, Kleidungsstück oder Heilmittel: Lein dient dem Menschen in mancher Form. Heute wird die alte Kulturpflanze in der Heilkunde hauptsächlich als nebenwirkungsfreies Mittel gegen Verstopfungen eingesetzt. Text: Marion Kaden Ein echtes Multi D ie älteste Verwendung von Lein oder Flachs (Linum usitatissimum) wurde in der Schweiz bei steinzeitlichen Pfahlbauten nachgewiesen: Überreste von Kleidungsstücken, Fischernetzen und nicht verarbeitete Leinpflanzen bezeugen den viel- 14 Natürlich | 12-2006 seitigen Einsatz der Pflanze schon vor 10 000 Jahren. Auch die in Leinentücher eingewickelten ägyptischen Mumien sind ein Beweis der frühen und hochentwickelten Verwendung von Lein. Es sind die bis zu 50 Zentimeter langen, im Stängel der Pflanze befindlichen Fasern, die aufwändig gewonnen zu Garnen und später zu Stoffen verarbeitet werden. Jahrtausendelang hatte Flachs eine unangefochtene Stellung sowohl bei der textilen Nutzung wie auch bei der Herstellung von reiss- und zugfesten Garnen. Ihre Bedeutung verlor die Pflanze im Verlauf der Chrüteregge GESUNDHEIT Ein hochwertiges Speiseöl Bewährtes Volksarzneimittel Noch heute wird Flachs in begrenztem Umfang für die Textilproduktion angebaut. Die grössten Produzenten sind Russland und China. Der Grossteil des Anbaus geht jedoch in die Ölverarbeitung, denn Lein ist auch ein bedeutsamer Öl-Lieferant. Die Samen (Lini semen) der Pflanze haben einen Ölgehalt von bis zu 44 Prozent. Leinöl enthält essenzielle Fettsäuren, unter anderem alphaLinolensäure (40–62 Prozent) und andere Omega-3-Fettsäuren sowie die wertvolle Linolsäure (14–26 Prozent). Ein Viertel des Samens besteht aus leicht verdaulichem Eiweiss, darunter auch einige vom Körper nicht selbst herstellbare essenzielle Aminosäuren. Leinsamen enthält ausserdem wertvolle Mineralstoffe wie Calcium, Phosphor und Spurenelemente. Weiter kommen in den Leinsamen sekundäre Pflanzenstoffe vor wie Phytohormone und Lignane, denen nachgesagt wird, vor Krebs zu schützen. Schliesslich ist Lein ein bedeutsames und seit Menschengedenken eingesetztes Arzneimittel. Leinsamen enthalten Ballast- und Schleimstoffe (Hemizellulose, Zellulose, Lignin), fettes Öl, davon 76 Prozent Linolensäure, Eiweisse (20 bis 27 Prozent), Lignane, Linustatin und Linamarin. Schon in den Schriften des Hippokrates (460–370 vor Christus) wird Lein erwähnt: Leinsamen kamen – innerlich wie äusserlich angewandt – gegen Katarrhe, Unterleibsschmerzen, Ausfluss oder als schmerzlindernde heisse Umschläge zum Einsatz. Hieronymus Bock (1498–1554) beschrieb die Pflanze als entzündungshemmend, hustenmildernd und, als Klistier verabreicht, darmöffnend. Sebastian Kneipp (1821–1897) setzte Leinsamen zur Schmerzstillung und Linderung von geschwürigen und entzündlichen Prozessen im Verdauungsapparat ein. Als volksmedizinische Anwendungen sind Abkochungen zur Schmerzbekämpfung oder Krampflinderung bekannt sowie der Einsatz gegen Blasenkatarrhe und -entzündungen, Lungenleiden oder Krampfhusten. Fotos: Bildagentur Waldhäusl Leinprodukte für Haus und Hof talent industriellen Revolution, als die Leinfaser vor allem durch Baumwolle abgelöst wurde. Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte sich Baumwolle als der leichter zu verarbeitende und billigere Rohstoff heraus – nicht zuletzt wegen des Sklaveneinsatzes bei der Produktion in den USA. Auch in der Landwirtschaft, im Handwerk oder der modernen Industrie finden Zwischenprodukte der Leinverarbeitung oder Leinprodukte vielfältige Verwendung. So enthält der sogenannte Leinkuchen, der nach der Extraktion des Öls aus den Samen übrigbleibt, bis zu 40 Prozent Rohprotein und wird als wertvolles Viehfutter weiterverwertet. Das gewonnene Öl wird bei der Herstellung von Druckfarben, Farben, Lacken oder anderen technischen Ölen gebraucht. Besonders oft finden sich Leinprodukte in Häusern wieder, sei es als Firnis der Holz-Aussenwände, als Anstrichlacke von Türen oder Fenstern, in Form von Fensterkitt oder als Mischung von Leinöl-Harzen mit fein gemahlenem Kork- und Holzmehl sowie Farbpigmenten – dem Linoleum. Umweltbewusste Hausbauer setzen natürliche Dämmfliesen aus Flachs mit sehr guten Wärmedämmeigenschaften ein. Und zwar nicht nur weil Flachs ein nachwachsender Rohstoff ist, sondern sich auch mit geringem Energieaufwand herstellen und ohne giftige Substanzen zu solchen Materialen weiterverarbeiten lässt (siehe Seiten 21–23, Innenraumbelastung). Ein natürliches Abführmittel Auch für die moderne Medizin ist Flachs noch eine bedeutsame Pflanze mit vielen wichtigen Anwendungsgebieten. Die Fasern der Pflanze werden beispielsweise zu sterilen Leinfäden (filum lini asepticum) versponnen. Trotz guter Eigenschaften wird in der Chirurgie jedoch nur noch in speziellen Fällen natürliches Nahtmaterial wie Seide, Flachs oder tierisches Gewebe eingesetzt. Dafür gibt es einen aktuellen Anwendungsbereich, der vor allem durch die sich seit 150 Jahren zunehmend ausbreitende, überwiegend sitzende Lebensweise bedingt ist: Die flachen, braunen und glänzenden Leinsamen werden gerne bei chronischer Verstopfung (habitueller Obstipation), Reizdarm-Erkrankung mit Durchfall und Verstopfung abwechselnd (Colon irritabile) oder chronisch-entzündlichen Darmwand-Aussackungen (Divertikulitis) verordnet. Chemische Abführmittel (Laxantien) sind wegen ihrer vielfältigen Nebenwirkungen und teilweise schweren Komplikationen nicht zur Langzeitanwendung Natürlich | 12-2006 15 GESUNDHEIT Chrüteregge bei chronischer Verstopfung geeignet. Im Gegensatz dazu wirken Leinsamen nebenwirkungsfrei auf mehrfache Weise: Sie quellen im Darm um das Zwei- bis Dreifache auf und füllen ihn damit auf risikoarme Weise. Die Quellung bewirkt im Dickdarm einen Dehnungsreiz im ausgedehnten «Darm-Gehirn» (Auerbachscher Plexus), der wiederum die Richtung Darmausgang führende Eigenbewegung des Darms (Peristaltik) verstärkt anregt und so zum Weitertransport des Darminhaltes und schliesslich der erfolgreichen Ausscheidung führt. «Brächete»: Im bernischen Zäziwil ist das Flachsbrechen zum traditionellen Volksfest geworden beugt schmerzhaften Verstopfungen und quälenden Toilettengängen vor. Bei der Einnahme von Leinsamen ist es wichtig, ausreichend zu trinken, damit das Aufquellen der Samen problemlos ablaufen kann und keine Schäden verursacht. Als Faustregel gilt: Auf einen Esslöffel Leinsamen müssen 1,5 Deziliter Wasser getrunken werden. Denn bei grossen Mengen von Leinsamen ohne genügend Wasserzufuhr kann es zu einem verstopfungsbedingten Darmverschluss kommen. Trinken nicht vergessen Langfristige Einnahme ist unbedenklich Doch Leinsamen tun dem Darm noch mehr Gutes: Sie entwickeln beim Aufquellen einen Pflanzenschleim, der an die Darmumgebung abgegeben wird und für einen weich geformten Stuhl und verbessertes Gleiten im Darm sorgt. Das Die Einnahme von Leinsamen soll zwischen den Mahlzeiten erfolgen. Naturheilkundler ziehen ungeschrotete Leinsamen sogar der ebenfalls recht verstopfungs-vorbeugenden Kleie vor. Grund: Die im Handel erhältliche Kleie hat im Die gesundheitlichen Wirkungen von Leinsamen • Abführend: Mild abführende Wirkung durch den Öl- und Schleimanteil (Gleitmittel) und den durch Quellung ausgelösten Dehnungsreiz im Darm. Anregung der Darmbewegung besonders auch bei durch Missbrauch von Abführmitteln geschädigtem Darm. Leinsamen sind frei von Nebenwirkungen und deshalb das bevorzugte Abführmittel in der Schwangerschaft. • Schutz der Schleimhaut: Schutzwirkung des Pflanzenschleims bei Entzündungen der Schleimhaut des Magen-Darm-Trakts und bei Magenübersäuerung. • Gegen Sodbrennen: Sodbrennen, Übelkeit, Brechreiz und Magenschmerzen, Reizdarmsyndrom und Divertikel. • Senkt Cholesterinspiegel: Verringerung des Cholesterinspiegels durch den hohen Anteil an Omega-3-Fettsäuren und durch vermehrte Ausscheidung. Deshalb zunehmende Leinsamen-Verwendung als Nahrungsergänzungsmittel und als sogenanntes functional food («Natürlich» 11-06). • Hilft gegen Wechseljahrbeschwerden: Erleichterung bei Beschwerden in den Wech- 16 Natürlich | 12-2006 seljahren durch die östrogenartige Wirkung der Lignane. • Als Wickel bei Entzündungen: äusserliche Anwendung als Breiumschlag bei Entzündungen oder Geschwüren der Haut. Achtung: Leinsamen nicht anwenden bei drohendem Darmverschluss, Verengungen der Speiseröhre, akuten schweren Entzündungen des Darms. Bei ungenügender Flüssigkeitszufuhr droht die vorzeitige Quellung und somit eine mögliche Blockade im Verdauungstrakt. Zubereitung Für Erwachsene wird drei- bis viermal täglich ein Esslöffel von etwa 10 Gramm (empfohlene Tagesmenge 35 Gramm) ganzer oder nur angestossener, nicht geschroteter Leinsamen mit ausreichend Flüssigkeit (mindestens die zehnfache Menge des Leinsamens) empfohlen. Kinder von 6 bis 12 Jahren sollen bei Verstopfung die Hälfte der Erwachsenendosierung einnehmen. Leinsamen eventuell vorquellen lassen. Vergleich zu ungeschroteten Samen ein deutlich geringeres Quellvermögen und damit letztlich eine geringere Wirkung. Zeitweise wurde vor der langfristigen Einnahme von Leinsamen gewarnt, wegen ihres angeblichen Gehaltes an Blausäure freisetzenden Cyanglykosiden. Studien an gesunden Personen haben jedoch ergeben, dass es selbst bei regelmässiger täglicher Einnahme von 100 Gramm nur zu einem kaum messbaren Blausäure-Anstieg im Blut kommt, wobei diese geringe Menge Blausäure rasch über körpereigne Enzyme wieder entgiftet wird. Gesunder Leinsamen-Schleim Auch bei Magenschleimhautentzündung (Gastritis) oder Magen-Darm-Katarrh (Gastro-Enteritis) helfen Leinsamen. Oder besser gesagt ihr Pflanzenschleim. Ob sich solche schleimhaltigen Wirkstoffe (Mucilaginosa) aber tatsächlich wie ein schützender Film über krankheitsbedingt geschädigte Schleimhautareale legen und so die Selbstheilung unter dieser Schicht fördern, ist fraglich. Die biomechanische Vorstellung ist zwar eingängig und seit den 70er-Jahren selbst unter Magen-Darm-Experten weit verbreitet. Doch aus heutiger Sicht begründen sich heilungsfördernde Wirkungen von pflanzlichen Schleimdrogen wie Leinsamen weitaus komplexer als zunächst angenommen. Darauf deuten auch neueste Studien hin, die neben entzündungs- sogar auch krebshemmende Effekte von Leinsamen oder einigen ihrer Inhaltsstoffe nachweisen, zum Beispiel dem Diglukosid SDG. Um Funktionsstörungen oder mit Durchfall einhergehende oft entzündliche Erkrankungen von Magen und Darm zu lindern, ist etwas Aufwand nötig: Chrüteregge GESUNDHEIT Foto: zVg Ein lila Blütenmeer Hierzu werden zwei bis drei Esslöffel Leinsamen (geschrotet oder anderweitig zerkleinert) mit einem halben Liter Wasser über Nacht vorgequellt, am Morgen kurz aufgekocht, dann durch ein Mulltuch geseiht und in eine Thermosflasche gefüllt. Der abgeseihte Inhalt wird über den ganzen Tag verteilt schluckweise getrunken. Lein ist eine einjährige Pflanze und wird bis zu 1,5 Meter hoch. Ihre Wurzeln sind kurz, spindelförmig und gelb. Ihre Stängel wachsen gerade und verzweigen sich im oberen Teil mehrfach. Die Blätter sind glattrandig, graugrün, dünn lanzettlich und zugespitzt. Die Blüten sind himmelblau bis lila und mit fünf fast eirunden, fein gewimperten Kelchblättern ausgestattet. Am Blütengrund sind verwachsene Staubblätter und ein Fruchtknoten zu sehen. Lein steht im Mai in voller Blüte und bildet als ganzes Feld gewachsen ein unübersehbares, wunderschönes, himmelblaues oder auch lila Blütenmeer. Im September haben sich die fast kugeligen Leinsamen-Kapseln gebildet. Mit der braunen Fruchtbildung hat sich die Pflanze selbst verwandelt: Sie besteht nur noch aus verdorrten Blättern und Stängeln, die die Fruchtkapseln tra- gen. In jeder Fruchtkapsel, die bei Trockenheit knackend aufspringen, sind die glänzenden, braunen Leinsamen enthalten. ■ I N FO B OX Literatur zum Thema • Fischer-Rizzi/Ebenhoch, Peter: «Medizin der Erde – Heilanwendung, Rezepte und Mythen unserer Heilpflanzen», AT Verlag 2005, ISBN: 3-03800-219-4, Fr. 39.90 • Kalbermatten: «Wesen und Signatur der Heilpflanzen», AT Verlag 2005, ISBN: 3-85502-744-7, Fr. 46.– • Tillmann/Tillmann: «Vom Flachs zum Linnen», Verlag Zimmermann 1993, ISBN: 3-9801898-3-X, Fr. 7.90 Internet • www.vetpharm.unizh.ch/giftdb/ pflanzen/0070_tox.htm • www.zaeziwil.ch/braechete/f_inhalt.html • www.kraeuter.ch Natürlich | 12-2006 17