Ein echtes Multitalent (Seiten 14-17)

Werbung
Ob als Farbe, Baustoff, Speiseöl, Kleidungsstück oder Heilmittel: Lein dient dem
Menschen in mancher Form. Heute wird die
alte Kulturpflanze in der Heilkunde hauptsächlich als nebenwirkungsfreies Mittel gegen
Verstopfungen eingesetzt.
Text: Marion Kaden
Ein echtes Multi
D
ie älteste Verwendung von Lein
oder Flachs (Linum usitatissimum) wurde in der Schweiz
bei steinzeitlichen Pfahlbauten
nachgewiesen: Überreste von Kleidungsstücken, Fischernetzen und nicht verarbeitete Leinpflanzen bezeugen den viel-
14 Natürlich | 12-2006
seitigen Einsatz der Pflanze schon vor
10 000 Jahren. Auch die in Leinentücher
eingewickelten ägyptischen Mumien sind
ein Beweis der frühen und hochentwickelten Verwendung von Lein. Es sind
die bis zu 50 Zentimeter langen, im
Stängel der Pflanze befindlichen Fasern,
die aufwändig gewonnen zu Garnen und
später zu Stoffen verarbeitet werden.
Jahrtausendelang hatte Flachs eine
unangefochtene Stellung sowohl bei der
textilen Nutzung wie auch bei der Herstellung von reiss- und zugfesten Garnen. Ihre
Bedeutung verlor die Pflanze im Verlauf der
Chrüteregge GESUNDHEIT
Ein hochwertiges Speiseöl
Bewährtes Volksarzneimittel
Noch heute wird Flachs in begrenztem
Umfang für die Textilproduktion angebaut. Die grössten Produzenten sind
Russland und China. Der Grossteil des
Anbaus geht jedoch in die Ölverarbeitung, denn Lein ist auch ein bedeutsamer
Öl-Lieferant. Die Samen (Lini semen)
der Pflanze haben einen Ölgehalt von
bis zu 44 Prozent. Leinöl enthält essenzielle Fettsäuren, unter anderem alphaLinolensäure (40–62 Prozent) und andere Omega-3-Fettsäuren sowie die wertvolle Linolsäure (14–26 Prozent). Ein
Viertel des Samens besteht aus leicht verdaulichem Eiweiss, darunter auch einige
vom Körper nicht selbst herstellbare
essenzielle Aminosäuren.
Leinsamen enthält ausserdem wertvolle Mineralstoffe wie Calcium, Phosphor und Spurenelemente. Weiter kommen in den Leinsamen sekundäre Pflanzenstoffe vor wie Phytohormone und
Lignane, denen nachgesagt wird, vor
Krebs zu schützen.
Schliesslich ist Lein ein bedeutsames
und seit Menschengedenken eingesetztes
Arzneimittel. Leinsamen enthalten Ballast- und Schleimstoffe (Hemizellulose,
Zellulose, Lignin), fettes Öl, davon 76
Prozent Linolensäure, Eiweisse (20 bis 27
Prozent), Lignane, Linustatin und Linamarin.
Schon in den Schriften des Hippokrates (460–370 vor Christus) wird Lein
erwähnt: Leinsamen kamen – innerlich
wie äusserlich angewandt – gegen Katarrhe, Unterleibsschmerzen, Ausfluss
oder als schmerzlindernde heisse Umschläge zum Einsatz. Hieronymus Bock
(1498–1554) beschrieb die Pflanze als entzündungshemmend, hustenmildernd und,
als Klistier verabreicht, darmöffnend.
Sebastian Kneipp (1821–1897) setzte Leinsamen zur Schmerzstillung und Linderung
von geschwürigen und entzündlichen Prozessen im Verdauungsapparat ein.
Als volksmedizinische Anwendungen
sind Abkochungen zur Schmerzbekämpfung oder Krampflinderung bekannt sowie
der Einsatz gegen Blasenkatarrhe und -entzündungen, Lungenleiden oder Krampfhusten.
Fotos: Bildagentur Waldhäusl
Leinprodukte für Haus und Hof
talent
industriellen Revolution, als die Leinfaser
vor allem durch Baumwolle abgelöst wurde.
Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte
sich Baumwolle als der leichter zu verarbeitende und billigere Rohstoff heraus – nicht
zuletzt wegen des Sklaveneinsatzes bei der
Produktion in den USA.
Auch in der Landwirtschaft, im Handwerk oder der modernen Industrie finden Zwischenprodukte der Leinverarbeitung oder Leinprodukte vielfältige Verwendung. So enthält der sogenannte
Leinkuchen, der nach der Extraktion des
Öls aus den Samen übrigbleibt, bis zu 40
Prozent Rohprotein und wird als wertvolles Viehfutter weiterverwertet.
Das gewonnene Öl wird bei der Herstellung von Druckfarben, Farben, Lacken
oder anderen technischen Ölen gebraucht. Besonders oft finden sich Leinprodukte in Häusern wieder, sei es als
Firnis der Holz-Aussenwände, als Anstrichlacke von Türen oder Fenstern, in
Form von Fensterkitt oder als Mischung
von Leinöl-Harzen mit fein gemahlenem
Kork- und Holzmehl sowie Farbpigmenten – dem Linoleum.
Umweltbewusste Hausbauer setzen
natürliche Dämmfliesen aus Flachs mit
sehr guten Wärmedämmeigenschaften
ein. Und zwar nicht nur weil Flachs ein
nachwachsender Rohstoff ist, sondern
sich auch mit geringem Energieaufwand
herstellen und ohne giftige Substanzen
zu solchen Materialen weiterverarbeiten
lässt (siehe Seiten 21–23, Innenraumbelastung).
Ein natürliches Abführmittel
Auch für die moderne Medizin ist Flachs
noch eine bedeutsame Pflanze mit vielen
wichtigen Anwendungsgebieten. Die Fasern der Pflanze werden beispielsweise zu
sterilen Leinfäden (filum lini asepticum)
versponnen. Trotz guter Eigenschaften
wird in der Chirurgie jedoch nur noch in
speziellen Fällen natürliches Nahtmaterial wie Seide, Flachs oder tierisches Gewebe eingesetzt.
Dafür gibt es einen aktuellen Anwendungsbereich, der vor allem durch die
sich seit 150 Jahren zunehmend ausbreitende, überwiegend sitzende Lebensweise bedingt ist: Die flachen, braunen
und glänzenden Leinsamen werden gerne
bei chronischer Verstopfung (habitueller
Obstipation), Reizdarm-Erkrankung mit
Durchfall und Verstopfung abwechselnd
(Colon irritabile) oder chronisch-entzündlichen Darmwand-Aussackungen
(Divertikulitis) verordnet.
Chemische Abführmittel (Laxantien)
sind wegen ihrer vielfältigen Nebenwirkungen und teilweise schweren Komplikationen nicht zur Langzeitanwendung
Natürlich | 12-2006 15
GESUNDHEIT Chrüteregge
bei chronischer Verstopfung geeignet. Im
Gegensatz dazu wirken Leinsamen nebenwirkungsfrei auf mehrfache Weise:
Sie quellen im Darm um das Zwei- bis
Dreifache auf und füllen ihn damit auf
risikoarme Weise. Die Quellung bewirkt
im Dickdarm einen Dehnungsreiz im ausgedehnten «Darm-Gehirn» (Auerbachscher Plexus), der wiederum die Richtung Darmausgang führende Eigenbewegung des Darms (Peristaltik) verstärkt
anregt und so zum Weitertransport des
Darminhaltes und schliesslich der erfolgreichen Ausscheidung führt.
«Brächete»: Im bernischen Zäziwil
ist das Flachsbrechen zum
traditionellen Volksfest geworden
beugt schmerzhaften Verstopfungen und
quälenden Toilettengängen vor.
Bei der Einnahme von Leinsamen ist
es wichtig, ausreichend zu trinken, damit das Aufquellen der Samen problemlos ablaufen kann und keine Schäden verursacht. Als Faustregel gilt: Auf einen
Esslöffel Leinsamen müssen 1,5 Deziliter
Wasser getrunken werden. Denn bei
grossen Mengen von Leinsamen ohne
genügend Wasserzufuhr kann es zu einem verstopfungsbedingten Darmverschluss kommen.
Trinken nicht vergessen
Langfristige Einnahme
ist unbedenklich
Doch Leinsamen tun dem Darm noch
mehr Gutes: Sie entwickeln beim Aufquellen einen Pflanzenschleim, der an
die Darmumgebung abgegeben wird und
für einen weich geformten Stuhl und verbessertes Gleiten im Darm sorgt. Das
Die Einnahme von Leinsamen soll zwischen den Mahlzeiten erfolgen. Naturheilkundler ziehen ungeschrotete Leinsamen sogar der ebenfalls recht verstopfungs-vorbeugenden Kleie vor. Grund:
Die im Handel erhältliche Kleie hat im
Die gesundheitlichen Wirkungen von Leinsamen
• Abführend: Mild abführende Wirkung
durch den Öl- und Schleimanteil (Gleitmittel)
und den durch Quellung ausgelösten Dehnungsreiz im Darm. Anregung der Darmbewegung besonders auch bei durch Missbrauch von Abführmitteln geschädigtem
Darm. Leinsamen sind frei von
Nebenwirkungen und deshalb das bevorzugte Abführmittel in der Schwangerschaft.
• Schutz der Schleimhaut:
Schutzwirkung des Pflanzenschleims bei Entzündungen der Schleimhaut
des Magen-Darm-Trakts
und bei Magenübersäuerung.
• Gegen Sodbrennen: Sodbrennen, Übelkeit,
Brechreiz und Magenschmerzen, Reizdarmsyndrom und Divertikel.
• Senkt Cholesterinspiegel: Verringerung
des Cholesterinspiegels durch den hohen
Anteil an Omega-3-Fettsäuren und durch
vermehrte Ausscheidung. Deshalb zunehmende Leinsamen-Verwendung als Nahrungsergänzungsmittel und als sogenanntes
functional food («Natürlich» 11-06).
• Hilft gegen Wechseljahrbeschwerden:
Erleichterung bei Beschwerden in den Wech-
16 Natürlich | 12-2006
seljahren durch die östrogenartige
Wirkung der Lignane.
• Als Wickel bei Entzündungen:
äusserliche Anwendung als Breiumschlag bei Entzündungen oder
Geschwüren der Haut.
Achtung: Leinsamen nicht anwenden bei drohendem Darmverschluss, Verengungen
der Speiseröhre, akuten
schweren Entzündungen
des Darms. Bei ungenügender Flüssigkeitszufuhr droht die vorzeitige
Quellung und somit eine
mögliche Blockade im Verdauungstrakt.
Zubereitung
Für Erwachsene wird drei- bis viermal täglich
ein Esslöffel von etwa 10 Gramm (empfohlene Tagesmenge 35 Gramm) ganzer oder
nur angestossener, nicht geschroteter Leinsamen mit ausreichend Flüssigkeit (mindestens die zehnfache Menge des Leinsamens)
empfohlen. Kinder von 6 bis 12 Jahren sollen
bei Verstopfung die Hälfte der Erwachsenendosierung einnehmen. Leinsamen eventuell
vorquellen lassen.
Vergleich zu ungeschroteten Samen ein
deutlich geringeres Quellvermögen und
damit letztlich eine geringere Wirkung.
Zeitweise wurde vor der langfristigen
Einnahme von Leinsamen gewarnt, wegen ihres angeblichen Gehaltes an Blausäure freisetzenden Cyanglykosiden. Studien an gesunden Personen haben jedoch
ergeben, dass es selbst bei regelmässiger
täglicher Einnahme von 100 Gramm nur
zu einem kaum messbaren Blausäure-Anstieg im Blut kommt, wobei diese geringe
Menge Blausäure rasch über körpereigne
Enzyme wieder entgiftet wird.
Gesunder Leinsamen-Schleim
Auch bei Magenschleimhautentzündung
(Gastritis) oder Magen-Darm-Katarrh
(Gastro-Enteritis) helfen Leinsamen.
Oder besser gesagt ihr Pflanzenschleim.
Ob sich solche schleimhaltigen Wirkstoffe (Mucilaginosa) aber tatsächlich
wie ein schützender Film über krankheitsbedingt geschädigte Schleimhautareale legen und so die Selbstheilung
unter dieser Schicht fördern, ist fraglich.
Die biomechanische Vorstellung ist
zwar eingängig und seit den 70er-Jahren
selbst unter Magen-Darm-Experten weit
verbreitet. Doch aus heutiger Sicht begründen sich heilungsfördernde Wirkungen von pflanzlichen Schleimdrogen
wie Leinsamen weitaus komplexer als
zunächst angenommen. Darauf deuten
auch neueste Studien hin, die neben entzündungs- sogar auch krebshemmende
Effekte von Leinsamen oder einigen ihrer
Inhaltsstoffe nachweisen, zum Beispiel
dem Diglukosid SDG.
Um Funktionsstörungen oder mit
Durchfall einhergehende oft entzündliche Erkrankungen von Magen und Darm
zu lindern, ist etwas Aufwand nötig:
Chrüteregge GESUNDHEIT
Foto: zVg
Ein lila Blütenmeer
Hierzu werden zwei bis drei Esslöffel
Leinsamen (geschrotet oder anderweitig
zerkleinert) mit einem halben Liter Wasser über Nacht vorgequellt, am Morgen
kurz aufgekocht, dann durch ein Mulltuch geseiht und in eine Thermosflasche
gefüllt. Der abgeseihte Inhalt wird über
den ganzen Tag verteilt schluckweise getrunken.
Lein ist eine einjährige Pflanze und wird
bis zu 1,5 Meter hoch. Ihre Wurzeln
sind kurz, spindelförmig und gelb. Ihre
Stängel wachsen gerade und verzweigen
sich im oberen Teil mehrfach. Die Blätter
sind glattrandig, graugrün, dünn lanzettlich und zugespitzt. Die Blüten sind
himmelblau bis lila und mit fünf fast
eirunden, fein gewimperten Kelchblättern ausgestattet. Am Blütengrund sind
verwachsene Staubblätter und ein
Fruchtknoten zu sehen.
Lein steht im Mai in voller Blüte und
bildet als ganzes Feld gewachsen ein
unübersehbares, wunderschönes, himmelblaues oder auch lila Blütenmeer. Im
September haben sich die fast kugeligen
Leinsamen-Kapseln gebildet.
Mit der braunen Fruchtbildung hat
sich die Pflanze selbst verwandelt: Sie besteht nur noch aus verdorrten Blättern
und Stängeln, die die Fruchtkapseln tra-
gen. In jeder Fruchtkapsel, die bei
Trockenheit knackend aufspringen, sind
die glänzenden, braunen Leinsamen enthalten.
■
I N FO B OX
Literatur zum Thema
• Fischer-Rizzi/Ebenhoch, Peter: «Medizin der
Erde – Heilanwendung, Rezepte und Mythen
unserer Heilpflanzen», AT Verlag 2005,
ISBN: 3-03800-219-4, Fr. 39.90
• Kalbermatten: «Wesen und Signatur der
Heilpflanzen», AT Verlag 2005,
ISBN: 3-85502-744-7, Fr. 46.–
• Tillmann/Tillmann: «Vom Flachs zum
Linnen», Verlag Zimmermann 1993,
ISBN: 3-9801898-3-X, Fr. 7.90
Internet
• www.vetpharm.unizh.ch/giftdb/
pflanzen/0070_tox.htm
• www.zaeziwil.ch/braechete/f_inhalt.html
• www.kraeuter.ch
Natürlich | 12-2006 17
Herunterladen