Informationen zu Poliomyelitis

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Informationen zu Poliomyelitis (Kinderlähmung)
1. Allgemeines
Poliomyelitis ist eine akute, übertragbare Infektionskrankheit. Sie wird durch die der Gruppe der
Enteroviren zugehörigen Polioviren verursacht. Es kommen drei Typen vor, die alle Lähmungen
verursachen können. Der Mensch ist der einziger Wirt und Reservoir dieser Erreger. Während
rund einer Woche zu Beginn der Infektion wird Virus im Nasen-Rachen-Sekret ausgeschieden.
Anschliessend erfolgt, für weitere drei bis sechs Wochen, die Virusausscheidung im Stuhl.
Während der ganzen Zeit kann dadurch das Virus übertragen werden. Das ausgeschiedene
Virusmaterial ist hoch infektiös. Bis zur Diagnose eines Poliomyelitisfalles sind 90% bis 100%
der suszeptiblen, in engem Kontakt mit dem Patienten lebenden Personen bereits selber infiziert.
In Ländern mit tiefem Hygienestandard erfolgt die Übertragung in der Regel auf fäkal-oralem
Weg. In Ländern mit relativ hohem Hygienestandard wird die Krankheit dagegen hauptsächlich
oro-pharyngeal übertragen. Mit dem Stuhl gelangt das Virus auch ins Abwasser, das somit
Infektionsquelle darstellen kann.
Die Mehrzahl der Infektionen verläuft klinisch inapparent (über 95%) oder wird von banalen bzw.
unspezifischen Symptomen begleitet (grippales oder gastrointestinales Syndrom). Klinisch
verläuft die Krankheit in zwei Phasen. Nach einer febrilen Periode kommt es bei einer Minderheit
der infizierten Personen zu einer Invasion des zentralen Nervensystems. Schlaffe Lähmungen
(0,1-1%) oder bulbäre bzw. meningitische Symptome sind die Folge.
Die Infektion mit Polioviren, ob klinisch manifest oder nicht, induziert eine spezifische, v.a.
humorale Immunität (IgM und IgG). Diese stellt dabei einen individuellen Schutz vor Reinfektion
dar. Die induzierte lokale (Pharynx und Darm) Immunität mit sekretorischen IgA-Antikörpern trägt,
durch eine Verminderung der Virusausscheidung, ihrerseits zur Verhütung der Übertragung der
Polioviren innerhalb der Bevölkerung bei.
Die Kinderlähmung kann durch Impfung verhindert werden. Zurzeit stehen ein injizierbarer
inaktivierter Impfstoff (Salk/IPV) sowie eine oral zu verabreichende Lebendvakzine (Sabin/OPV)
zur Verfügung.
Die Viren
Die rasche und effiziente Replikation der Polio-Viren bedingt eine Umstrukturierung der
Wirtszelle, was zu deren Zerstörung führt. Durch Ungenauigkeiten in der Replikation des
Virusgenoms, einer RNA, entsteht in kurzer Zeit ein breites Spektrum von Mutanten
(« Quasispezies »). Attenuierte Polioviren unterscheiden sich von neurovirulenten zwar in einer
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Reihe von Mutationen, nicht aber in ihrer Fähigkeit, die infizierte Zelle zu zerstören. Attenuierte
Impfviren sind also Mutanten mit geändertem Wirtszellspektrum, die sich nicht mehr in
Neuralgewebe vermehren, und dieses damit auch nicht mehr zerstören können.
Polio-Wildvirus und das auf Sabin zurückgehende Impfvirus (Lebendimpfstoff, orale Polio-Vakzine
=
OPV)
sind
molekularbiologisch
definiert
(Genotyp)
und
lassen
sich
entsprechend
unterscheiden. Die Pathogenität für den Menschen hingegen (Phänotyp) lässt sich für den
einzelnen Virusstamm nur experimentell (Affen, transgene Mäuse) bestimmen und ist, wegen
der hohen Mutabilität der Viren, variabel. Die für OPV verwendeten Viren müssen daher dauernd
entsprechend
selektioniert
werden.
Trotzdem
entstehen
im
Menschen
durch
die
Quasispeziesbildung zwangsläufig rasch neurovirulente Virus-Revertanten.
Das Verhalten des Virus in der Umwelt
In der Umgebung wird Poliovirus, entsprechend seiner Ausscheidung, an Orten gefunden, die
mit menschlichen Fäkalien kontaminiert sind. In Mitteleuropa finden sich die Viren vor allem in
den Vorflutern von Kläranlagen, also Oberflächengewässern, da Polioviren nur zu 50 – 80% in
Kläranlagen eliminiert werden. Die Konzentration von Polioviren in Vorflutern erreicht 0.1 bis 300
Partikel pro Liter. Poliovirus ist sehr resistent gegen Umwelteinflüsse und erträgt bis pH 3 sowie
organische Lösungsmittel (Äther, Chloroform, Alkohol). Es wird inaktiviert durch Oxidantien,
Phenol, Aldehyde, Propiolacton und UV-Strahlen. Bei –20°C bleibt Poliovirus unbeschränkt, in der
Umwelt (Oberflächengewässer) Monate infektiös.
Labor-Diagnose
Polioviren werden aus Rachenmaterial oder, präferentiell, aus Stuhl durch Isolierung in
Zellkulturen nachgewiesen. Die Identifizierung und Typisierung (Serotyp 1 – 3) geschieht mit
Immunofluoreszenz oder ev. dem Neutralisationstest. Die Unterscheidung nach Wildtyp oder
Sabin-Stamm erfolgt durch Sequenzierung einer entsprechenden Genomregion des Virus. Die
Serologie spielt eindeutig eine untergeordnete Rolle und sollte normalerweise nicht mehr
empfohlen werden. Antikörper gegen Polio sind weit verbreitet (Impfung, subklinische Infektion).
Standardisierte, zuverlässige IgM-Nachweise sind nicht erhältlich. Ein IgG-Nachweis und Anstieg
ist nur als Neutralisationstest zuverlässig. Dieses Verfahren ist so aufwendig, dass die Isolierung
zeitlich, finanziell und in Bezug auf Sensitivität bei weitem vorzuziehen ist.
2. Die Situation der Poliomyelitis weltweit
Die Zahl der weltweit registrierten Poliomyelitis – Fälle nahm seit der Einführung der Impfungen
stetig ab. Zwischen 1988 und 2003 konnte ein Rückgang um 99,8% festgestellt werden. In
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dieser Zeit verminderte sich die Anzahl der Länder mit autochtoner Poliomyelitis von 125 auf 6
Länder. Die Endemie-Länder werden in zwei Gruppen aufgeteilt: 1) Zonen intensiver Übertragung
und 2) Zonen schwacher Übertragung. In der ersten Kategorie befinden sich Länder mit stark
bevölkerten
Regionen,
schwacher
Durchimpfung,
ungenügenden
Hygiene-
und
Sanierungsstandards und weiter Verbreitung des Wildvirus. Dazu gehören: Pakistan, Nigeria und
Indien. Die zweite Zone betrifft Länder wo sich die Übertragung auf einige wenige Herde
beschränkt. Dazu gehören: Afghanistan, Niger und Ägypten.
Die epidemiologische Situation ist entscheidend dafür, welche Bevölkerungsschichten am
meisten von der Kinderlähmung betroffen sind. In Regionen mit endemischem Poliovorkommen
sind insbesondere Säuglinge und Kleinkinder bis fünf Jahre (Maximum bei 36 Monaten)
betroffen. Im Vergleich dazu ist das Durchschnittsalter der empfänglichen Bevölkerung in
Epidemiegebieten höher. Daher kommt es bei Epidemien oft zu schwereren Verläufen mit
ausgeprägterer Symptomatik als im endemischen Umfeld.
Die Verbreitung der Polioviren wird nicht nur von den Gesamtimmunität der Bevölkerung
beeinflusst, sonder hängt auch von den dem Virus zugestandenen Übertragungsgelegenheiten
ab (Hygieneniveau).
3. Ausrottung im Sicht
Seit dem 21. Juni 2002 ist die Europäische Region gemäss WHO-Definition frei von Poliomyelitis
und zirkulierendem Polio-Wildvirus. Trotzdem gilt es, eine hohe Durchimpfung der Bevölkerung
aufrecht zu erhalten sowie leistungsfähige Methoden zur Überwachung der Zirkulation von
Poliovirus
oder
Enteroviren
in
der
Umwelt
beizubehalten.
Durch
solche
Überwachungsmassnahmen können auch allfällige Einschleppungen von Wildpolioviren erkannt
werden. Ein Aktionsplan soll gewährleisten, dass sofort auf solche Situationen reagieren werden
kann. Weiter müssen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, um einen Austritt von
Polioviren aus dem Laboratorium zu verhindern (laboratory containment). In jenen Ländern, in
denen das Poliowildvirus noch zirkuliert, werden ausser den beschriebenen Massnahmen auch
Impfkampagnen in Form von nationalen Impftagen notwendig sein.
Welche Gefahren für ein Wiederauftreten der Poliomyelitis bestehen in den nächsten Jahren?
Die durch die Sabin-Impfung in eine Region eingeführten Impfviren, die sich im Darm jedes
Geimpften replizieren und in grosser Menge ausgeschieden werden, zirkulieren über Jahre in der
Bevölkerung. Bei Personen mit ungenügendem Impfschutz besteht die Gefahr, dass die
neurovirulenten Revertanten unter diesen zirkulierenden Impfviren, gleich wie Wildtyp-Viren, eine
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paralytische Polio auslösen. Dies ist 2001 in der Dominikanischen Republik, in Haiti, den
Philippinen und in Madagaskar geschehen, wo Ausbrüche von „Impfpolio“ auftraten. Auch die
Risiken, Wildpolioviren zu importieren, bestehen weiter. Allein im Jahr 2001 kam es unter
ungeimpften Romakindern in Bulgarien zu drei Poliofällen. Alle wurden sie durch Polioviren
verursacht, die vom indischen Subkontinent eingeschleppt worden waren. Im Jahre 1992
wurden in den Niederlanden 71 Angehörige einer Glaubensgemeinschaft, die eine Impfung
verweigert hatten, durch importierte Polioviren gelähmt. Eine andere, aber seltene Quelle von
Polioviren sind immunsupprimierte Personen, die Virusträger sein und Viren jahrelang
ausscheiden können.
Da Polioviren in Diagnostik und Forschung benutzt werden, können auch die Laboratorien eine
Quelle von Polioviren sein. Eine sachgerechte Handhabung des Materials soll das Risiko einer
zufälligen oder absichtlichen Freisetzung von Polio-Wildviren verhindern.
4. Situation in der Schweiz
Die Überwachung der Polioerkrankungen in der Schweiz ist seit 1921 für Ärzte und seit 1974 für
Laboratorien meldepflichtig. Bevor Polioimpfstoffe in der Schweiz verfügbar waren, wurden in
unserem Land jährlich rund 850 Erkrankungen und 70 Todesfälle registriert (1950-1955). Nach
Einführung der Impfung mit dem inaktivierten Salk-Impfstoff im Jahre 1957 und der oralen
Lebendvakzine im Jahre 1961 ist diese Zahl auf durchschnittlich fünf Fälle pro Jahr (1962-1968)
und anschliessend auf einen Fall pro Jahr (1969-1988) zurückgegangen. Der letzte autochthone
Fall, der auf eine Wildvirusinfektion zurückgeht, wurde im 1982 gemeldet. Der letzte, im Jahre
1989, gemeldete Fall in der Schweiz war ein impfassoziierter Polio-Fall.
Die Überwachung der Polioerkrankungen in der Schweiz wurde 1995 verstärkt, indem die
Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) die Überwachung und virologische Abklärung
aller akuten schlaffen Lähmungen (ASL, auch AFP = acute flaccid paralysis) bei Kindern unter 15
Jahren einführte. Diese Überwachung würde naturgemäss eine allfällige Polioerkrankung
miterfassen. Die Qualität der Überwachung wird durch zwei Parameter bestimmt: 1) Die Anzahl
der erfassten Fälle von ASL, welche ja normalerweise nicht durch eine Poliomyelitis bedingt sind,
ist ein Mass für die Sensitivität der Erfassung. Sie sollte mindestens 1/100 000 Kinder unter 15
Jahren betragen. 2) Der Anteil der ASL-Fälle, welche durch adäquate Stuhluntersuchungen auf
Polioviren abgeklärt werden, sollte mindestens 80% Prozent betragen. Diese Untersuchungen
sind gratis und vom BAG finanziert, und werden im Nationalen Referenzlabor für Poliomyelitis in
Basel durchgeführt (Prof. K. Bienz, ab 1.8.03 Dr. I. Steffen).
Nach der Einführung der Impfung gegen Poliomyelitis im Jahre 1957 wurde von 1961 bis 2000
der orale Impfstoff (OPV) für routinemässige Impfungen verwendet. Seit 2001 ist nur der
inaktivierte Impfstoff (IPV) empfohlen. Das Ziel dieser veränderten Impfstrategie ist es, das
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Risiko einer Impfpoliomyelitis auszuschalten. Säuglinge müssen mit fünf Dosen 2,4,6 Mt; 15-24
Mt; 4-7 J; (11-15 J: fehlende Dosen) geimpft werden. Die Anzahl der Dosen kann bei Kindern ab
einem Jahr auf vier und bei Erwachsenen auf drei reduziert werden. Die Durchimpfung gegen
Poliomyelitis, für drei Dosen, beträgt in der Schweiz rund 94%.
5. Schlussfolgerung
Auch wenn das Polio-Wildvirus in der Schweiz eliminiert ist, wäre eine Einstellung der Impfung
heute noch zu gefährlich. Wegen des Wiedereindringens des Polio-Wildvirus in nicht-immune
Bevölkerungsgruppen
und
des
lang
Überdauerns
von
Impfpoliostämmen
die
immer
neurovirulente Revertanten enthalten können, ist eine hohe Durchimpfung der Bevölkerung nach
wie vor notwendig.
Auch die Überwachungsaktivitäten müssen weitergeführt werden. Ein Aktionsplan, der die
Massnahmen für den Fall einer Wiedereinführung von Poliowildviren in der Schweiz regelt, wird
demnächst den Kantonen bekannt gegeben.
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