Dr. med. Rolf Senst Skript Schätze der Psychotherapie Vortrag auf dem 4. Internationalen Kongress für Psychotherapie und Seelsorge Marburg, am 31.05.2003 Anmerkung: Der Vortrag wurde in freier Form gehalten. Der gesprochene Text weicht, i. w. aus Gründen der Zeiteinteilung, in einigen Punkten von diesem Manuskript ab. Die Folien sind jedoch in genau der vorgesehenen Form gezeigt worden. Psychotherapie hat gegenüber Seelsorge einige Besonderheiten. Gerade im Hinblick auf das, was Seelsorge nicht leisten kann und auch nicht will, empfinde ich sie aus der Perspektive eines zum Helfen motivierten Menschen als Schätze. Ich möchte vorausschicken, dass ich aus meiner Identität als Arzt heraus über Psychotherapie spreche. Ich schließe also in einem erweiterten Verständnis von Psychotherapie auch biologische Faktoren und Interventionen wie die Gabe von Medikamenten mit ein, allerdings bewusst nicht an zentraler Stelle. Schatzkammer der Psychotherapie, so wie ich sie sehe 1.) Folie: PT ist Heilkunde. Sie dient der Diagnostik und Behandlung von definierten Krankheiten mit dem Ziel der Heilung oder Besserung oder Verhinderung von Verschlimmerung Folie: ICD-10 Kapitel F1 bis F6 2.) Folie: PT ist ganzheitlich Folie: Biopsychosoziales Modell Allgemeingut in Fachkreisen ist mittlerweile das biopsychosoziale Modell nach Engler, das ich Ihnen hier in einer Modifikation nach Schüßler zeige. Es faßt die genannten Faktoren (bio, psycho und sozial) in einer wechselseitigen Beeinflussung auf. Sowohl unser innerseelisches Erleben (gemeint sind sowohl Emotionen als auch Kognitionen) als auch unser zwischenmenschliches Handeln gründen auf komplexen zentralnervösen Prozessen, die unser Erleben einerseits gestalten, andererseits aber auch ihrerseits durch psychosoziale Einflüsse gestaltet und verändert werden. Ein kleines Beispiel aus der neurobiologischen Erforschung von Zwangsstörungen soll dies illustrieren: mit bestimmten bildgebenden Verfahren (wie der Positronen Emissions Tomographie PET, der single photon emission computer tomography SPECT, der funktionellen Magnetresonanztomographie fMRT) lassen sich Aktivitätsmuster in Form von Sauerstoff- und/oder Glucoseverbrauch in verschiedenen Hirnarealen messen. Bei der Zwangsstörung fand man eine Überaktivität im Frontalhirn. Zwei Gruppen von Patienten wurden nun im Rahmen einer kontrollierten Studie entweder mit einem geeigneten Medikament (Clomipramin) oder mit Psychotherapie (kognitiver Verhaltenstherapie) behandelt und die Auswirkung auf die Aktivitätsmuster im Frontalhirn beobachtet. Der Ausgang war i. w. identisch. Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. In beiden Fällen ließ sich eine weitgehende Normalisierung der genannten Muster feststellen. Dies ging mit einer entsprechenden klinischen Besserung einher. Sowohl eine pharmakologische als auch eine rein psychotherapeutische Behandlung hatte biologische Veränderungen zur Folge. Beeinflussungen gehen also 1 nachweislich in beide Richtungen: nicht nur von der biologischen in die psychische und soziale Ebene, sondern durchaus auch umgekehrt. Ein weiteres Beispiel in diese Richtung ist die Traumatherapie mit EMDR. Hier wird durch eine abwechselnde bilaterale Stimulation beider Hirnhälften, vermittelt durch Augenbewegungen, (also primär biologisch) die Verarbeitung schwerer Traumata gefördert. Das ganze Geschehen ist in einen psychotherapeutischen Behandlungsplan eingebettet. Auswirkungen der sozialen Dimension auf das psychische und Gesamtbefinden zeigen sich z. B. in depressiven Reaktionen bei Verlust von wichtigen Bezugspersonen oder einer Arbeitsstelle. 3.) PT ist wirksam. Es gibt eine Fülle von Wirksamkeitsstudien insbesondere aus klinischen aber auch aus ambulanten Settings. Summa summarum lässt sich sagen, dass ca. ¾ der Pat. mit PT gut geholfen werden kann. Die Effekte sind bei Nachuntersuchungen i.w. stabil. Als Kriterien gelten dabei sowohl das Urteil der Pat. selber als auch ihrer Behandler und unabhängiger Gutachter. Das am häufigsten eingesetzte Instrument sind diverse Fragebögen. Ein kleines Beispiel zur Pauschalbewertung aus der eigenen Klinik habe ich als Abb. dabei. Folie: Gesundheitszustand Folie: Alltagsbewältigung vorher Folie: Alltagsbewältigung nachher 4. PT ist auch für Christen relevant Ich schaue auf rund 19 Jahre Berufserfahrung im Fachgebiet Psychiatrie und PT zurück, jeweils zur Hälfte in sogenannten säkularen und dezidiert christlichen Settings. Es gibt keine menschliche Not, keine Krankheit, keine Beziehungsstörung und auch keine unmoralische Handlung, die mir nicht in beiden Kontexten begegnet wäre. Es gab eine Zeit, da hat mich das ziemlich erschüttert. Heute fühle ich mich umso mehr von Gottes Barmherzigkeit angerührt (die er ja auch mir gegenüber hat) und sehe ich mehr den soeben erwähnten Aspekt: viele Christen haben eine gezielte psychotherapeutische Behandlung ausgesprochen nötig und sollten nicht davor zurück schrecken, dies vor sich selbst und anderen einzugestehen und Behandlung aufzusuchen. Wir haben eine Zeitlang die Ziele systematisch erfasst, die Menschen zu uns in stationäre PT mitbringen, und sie mit rund 20 anderen Kliniken verglichen. Folie Therapieziele Sie sehen auf der Abb., daß diese Ziele unserer Pat. sich nur in kleinen Nuancen von denen anderer Pat. in anderen Kliniken unterschieden. Mit einer Ausnahme: Auf die Gottesbeziehung gerichtete Ziele rangierten in all den untersuchten Jahren an allererster Stelle. Dies ist ein klarer Hinweis auf die Bedeutung, die gerade für gläubige Menschen die Verankerung in Gott hat, auch und gerade wenn es um eine psychotherapeutische Behandlung geht. 5. PT ist lernbar Mein Verständnis davon, wie wir als Menschen gebaut sind, hat sich über die biologische Kenntnis hinaus, die ich als Mediziner erworben habe, wesentlich vertieft. Es gibt differenzierte Ausbildungsprogramme in den einzelnen PT-Verfahren, ich 2 komme weiter unten darauf zu sprechen. Ein kleiner Baustein ist die theoretische und forschende Erfassung von seelischen Grundbedürfnissen. Die folgenden erfreuen sich mittlerweile einer breiten Anerkennung: Folie: seelische Grundbedürfnisse Orientierung und Kontrolle Lustvermehrung und Unlustvermeidung Selbstwertschutz und -erhöhung Bindung und Exploration Als Selbstbedürfnisse i. S. Kohuts. Spiegelung (Bestätigung), Idealisierung (Vorbilder/ Idole) und Alter Ego (Gruppenzugehörigkeit) erwähnen. Neben der Theorievermittlung finden sich in allen Ausbildungsgängen auch Behandlungen unter Supervision (ebenfalls wichtig und hilfreich) Wichtigstes Instrument in der PT ist ja die Person des Therapeuten selber. Zur Formung dieses Instrumentes komme ich auf einen ganz spezifischen Schatz der PT zu sprechen, nämlich die Folie: Selbsterfahrung Ich muss gestehen, dass ich das nicht immer so (als Schatz) gesehen habe. Anfangs stand ich dieser Unternehmung sogar sehr skeptisch gegenüber. Schließlich sagt Paulus in der Bibel (Römer 7), daß in uns menschlich gesehen nichts Gutes wohnt. Ist es da wirklich richtig und gut, in der eigenen Seele herumzuwühlen und auch noch andere reinschauen und mitwühlen zu lassen? Führt das nicht eher auf Abwege, als das es zu irgend etwas Gutem nütze ist? Irgendwie habe ich mich dann doch durch diese Ambivalenzen durchgebissen, Dabei haben sicherlich mehrere Faktoren eine Rolle gespielt. Neben der Erfahrung eigener Begrenzungen und dem Wunsch, meine berufliche Kompetenz zu erweitern war ein wichtiger Wendepunkt eine ganz bestimmte Analysestunde. Ich lag in meiner Selbsterfahrung in klassischer Manier auf der Couch, der Lehranalytiker saß in seinem Sessel hinter meinem Kopf, so daß ich ihn überhaupt nicht und er mich nur schräg von hinten sehen konnte. Zum Reden hatte ich grad keine Lust, überhaupt war mir der Sinn gar nicht nach „Psycho“. Mein Herz war voll von einem wunderschönen Naturerleben (sonniger Frühherbst im Schwarzwald und in der Rheinebene, Abendstimmung) das ich gerade bei einer Zugfahrt tief in mich aufgenommen hatte. Meine Seele sang dem Schöpfer alle möglichen Lieder, mit und ohne Worte. Nachdem ich eine ganze Weile geschwiegen hatte, räusperte sich der Analytiker vorsichtig und sagte er habe den Eindruck ich würde innerlich „hymnen.“ Ich war völlig geplättet. Damit hätte ich nicht gerechnet, das dieser dem christlichen Glauben eher wohlwollend distanziert gegenüber stehende Mann so genau mitkriegt, was ich gerade innerlich erlebe. Meine Wertschätzung für das „Unternehmen Psychotherapie“, insbesondere die Selbsterfahrung, stieg beträchtlich. In einer solchen Selbsterfahrung sehe ich mehrere Elemente vertreten. Da ist zum einen die Selbst-Wahrnehmung. Hier geht es darum, mich bewußt selber in meinem aktuellen (aber auch in meinem grundsätzlichen) Zustand als Person, als Subjekt, wahrzunehmen, sei es in körperlicher, sei es in seelischer, ich möchte noch ergänzen sei es in geistlicher Hinsicht. Ersteres geschieht zum Beispiel bei der Anwendung eines körperorientierten Entspannungsverfahrens, im seelischen Bereich 3 geht es meist um die Wahrnehmung von Gefühlen. Ein Beispiel für die geistliche Dimension von Selbstwahrnehmung findet sich in der Begegnung von Petrus mit Jesus, der ihm zu einem übervollen Fischzug verhalf: „als Petrus es sah, fiel er zu den Knien Jesu nieder und sprach: geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr! (Luk.5,8). Auch die geschilderte Erfahrung aus meiner Analysestunde hat in meinen Augen u. a. eine geistliche Dimension. Wir sehen hier auch, wie nahe psychotherapeutisches und seelsorgerliches Paradigma einander kommen können. Als zweites möchte ich die Entwicklung von Introspektionsfähigkeit nennen. Das hat inhaltlich Ähnlichkeiten mit Selbst-Wahrnehmung, vertieft diese jedoch und entwickelt sie zu einer Fähigkeit weiter. Für mich als Psychotherapeuten bedeutet dies, mir ein Bewußtsein für meine typischen eigenen Reaktionen auf Menschen und Situationen zu schaffen. Eine Art Eichung, wenn Sie so wollen. Zuhause haben wir eine Küchenwaage. Obendrauf ist eine Schale aus Plastik. Die wiegt natürlich selber auch etwas, aber die Waage ist so eingestellt, daß der Zeiger auf Null steht wenn die leere Schale auf der Waage liegt. Wenn ich jetzt Nüsse reinschütte und wiege, kriege ich als Ergebnis das Gewicht der Nüsse. Das Gewicht der Schale spielt keine Rolle, das ist im System Waage bereits eingearbeitet. In ähnlicher Weise hilft mir eine in Selbsterfahrung erworbene gute Introspektionsfähigkeit, meine subjektiven Reaktionen von dem zu unterscheiden, was vom Patienten kommt. Ich stelle meine Waage also auf Null. Einen Schritt weiter geht dann die Empathiefähigkeit, die die Introspektion zur Voraussetzung hat. Hier geht es jetzt darum, nicht mich sondern den anderen durch Einfühlung wahrzunehmen. Wie weit eine gut geschultes Einfühlungsvermögen reichen kann und was es in einer therapeutischen Situation ermöglicht, wird aus dem soeben von mir erzählten „Hymnen-Beispiel“ deutlich. Selbsterfahrung bringt nur weiter, wenn sie ehrlich ist. Über kurz oder lang führt das in eine (mehr oder weniger ausgeprägte) Selbst-Krise: Die Begegnung mit dem Schatten (Jung). Ich bin genötigt, meinen unangenehmen und ungeliebten Seiten ins Auge zu schauen. Vielleicht bin ich offiziell nicht gern wütend oder nachtragend oder feige oder ängstlich oder egoistisch oder rechthaberisch oder neidisch oder eifersüchtig oder mißgünstig oder oder...und auf einmal muß ich feststellen, daß ich es doch bin. Ich stelle irgendwann fest, daß ich nur bedingt in der Lage bin, mich selbst zu verändern, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche. Meine Schattenseiten gehören ebenso zu mir wie die Sonnenseiten. Irgendwie muß ich lernen, das in mein Selbstbild zu integrieren und (hoffentlich) fröhlich weiter zu leben. Das führt mich zum nächsten Punkt, den ich Selbst-Begrenzung nenne: es geht darum, eine realistische Einschätzung meiner eigenen Person, ihrer Möglichkeiten und Grenzen vorzunehmen. Dazu gehört auch die konstruktive Auseinandersetzung mit dem, was die Psychoanalyse narzißtische Größenphantasien nennt. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstand was damit gemeint ist. Danach habe ich dieses Phänomen sogar auf den ersten Seiten der Bibel gefunden: „Ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses“. Ich werde eben nicht sein wie Gott, auch nicht ein besserer Bundeskanzler oder ein besserer Präsident von Amerika als die gegenwärtigen Amtsinhaber. Die Formel 1 werde ich nie gewinnen, und auch aus dem Universitätsprofessor wird nichts werden. Vielleicht gelingt es mir aber, ein sogenannter „good enough father“ (im Sinne Winnicotts) zu sein, und vielleicht auch ein „good enough Psychotherapeut“. 4 Erst eine gesunde Selbst-Begrenzung ermöglicht mir eine echte Selbst-Annahme: Jetzt kann ich meine Grenzen füllen. Ich bin der ich bin. Es hat keinen Sinn jemand anders sein zu wollen. Sowohl meine Grenzen als auch mein Schatten gehören untrennbar zu mir. Selbst-Bejahung geht noch mal einen Schritt weiter. Ich nehme mich nicht nur selber in Kauf weil ich ohnehin keine Alternative dazu habe, sondern ich sage aktiv ja, finde mich grundlegend gut wie ich bin und gestalte mein Leben mit bewußter Freude daran. Das hat – recht verstanden – nichts mit Hochmut zu tun!! 6. Folie: PT ist vielfältig Folie Richtlinienverfahren Richtlinienverfahren: In Deutschland gab es zunächst (1967, Annemarie Dührssen als Bahnbrecherin) nur ein einziges von den Krankenkassen anerkanntes und zugelassenes Verfahren, nämlich die Psychoanalyse und die von ihr abgeleitete Tiefenpsychologie (hier liegt übrigens mein eigener Ausbildungshintergrund). In den 80er Jahren gesellte sich die Verhaltenstherapie hinzu. Diese wurde später innerhalb des Verfahrens um die Rational-emotive Therapie nach Ellis ergänzt, umgekehrt wurden die anerkannten psychoanalytisch begründeten Verfahren um das Katathyme Bilderleben, inzwischen Katathym-imaginative Psychotherapie genannt, erweitert. Sowohl die psychodynamischen Verfahren (so fasse ich in der Folge Psychoanalyse und Tiefenpsychologie zusammen, einem Vorschlag von S.O. Hoffmann folgend) als auch die Verhaltenstherapie kann im Einzel- wie auch im Gruppensetting durchgeführt werden. Dafür ist jeweils eine besondere Qualifikation erforderlich. Seit Ende vergangenen Jahres ist auch die Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers als sogenanntes Richtlinienverfahren anerkannt und wird somit in der ambulanten Praxis von den Krankenkassen bezahlt. Ebenfalls anerkannt sind als Entspannungsverfahren das Autogene Training nach J. H. Schultz sowie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Weitere Verfahren sind in Deutschland vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie nicht anerkannt. Sonstige Verfahren: Erwähnen möchte ich dennoch einige weitere Verfahren, die sich zumindest in Fachkreisen einer gewissen Bekanntheit erfreuen: Gestalttherapie, Familientherapie (zunehmend als systemische Therapie bezeichnet), Hypnotherapie, Neurolinguistisches Programmieren NLP, verschiedene Arten von Traumatherapie, u.a. das EMDR (eye movement desensitization and reprocessing). Für alle diese Verfahren gibt es nennenswerte Belege für ihre Wirksamkeit, die jedoch bis dato nicht den vom oben erwähnten Beirat festgelegten Kriterien für eine Anerkennung als Hauptverfahren genügen. Wichtig in der Aufzählung sind mir auch Verfahren, die den Begriff Psychotherapie nur im weiteren Sinne für sich in Anspruch nehmen (können), aber gerade in der stationären Psychotherapie eine wichtige Rolle spielen. Ich meine damit die sogenannten nonverbale oder kreativtherapeutische Verfahren genannten Methoden: Musiktherapie, Gestaltungs- und Kunsttherapie, Tanztherapie, Körpertherapie (Konzentrative Bewegungstherapie, Bioenergetik, Feldenkrais). Auch diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Geben wir doch einigen der genannten Ansätze mal die Gelegenheit, sich anlässlich einer relevanten Alltagsfrage selber darzustellen. Hier ist die Frage: 5 FOLIE: Wo geht es hier zum Bahnhof? Es antwortet ......... ... ein Gesprächstherapeut: ... ein Gestalttherapeut: ... ein Provokativ-Therapeut: ... ein Psychoanalytiker: . ein Verhaltenstherapeut: „Sie möchten wissen, wo der Bahnhof ist ?“ „Du, lass es voll zu, dass Du zum Bahnhof willst.“ „Ich wette, darauf werden Sie nie kommen !“ „Sie meinen diese dunkle Höhle, wo immer was langes rein- und rausfährt ?“ (triebtheor. Orient.) „Heben Sie den rechten Fuß. Schieben Sie ihn nach vorn. Setzen Sie ihn auf. Sehr gut, hier haben Sie ein Bonbon.“ (operantes Konditionieren) Offensichtlich begegnen wir hier einer Vielfalt möglicher Antworten auf ein und dieselbe Frage. Woher kommt diese Uneinheitlichkeit? Diese Frage ist zunächst an die universitäre Psychologie zu stellen, die sich selbst ja als empirische Wissenschaft begreift. Baumann (1999) zieht zur Beantwortung 3 Bereiche der Psychologie heran, die mit der Psychotherapie verknüpft sind: Folie: Psychologische Quellwissenschaften der Psychotherapie: Persönlichkeitspsychologie, psychologische Methodenlehre, Klinische Psychologie. In der Persönlichkeitspsychologie wird auch die Frage nach zugrundeliegenden Menschenbildern gestellt; diese wiederum hängt mit der Frage nach der Persönlichkeitstheorie zusammen. Auch hier wieder Vielfalt: Die maßgeblichen Persönlichkeitsforscher unterscheiden wenigstens 6 verschiedene Ansätze: Folie: Persönlichkeitspsychologie: psychodynamische Ansätze, Eigenschaftsansätze („Traits“), behaviorale Ansätze, kognitive und Ansätze der Informationsverarbeitung, humanistisch/existentielle Ansätze interaktionistische Ansätze. Letztere versuchen die jeweiligen Vorteile der genannten Theorien miteinander zu verknüpfen. In den letzten Jahren mehren sich zudem Befunde aus der Neurobiologie, die jedoch noch nicht zur ausgereiften Formulierung überzeugender biopsychologischer Persönlichkeitskonzepte geführt haben. In der psychologischen Methodik wird eine empirisch-statistische von einer hermeneutischen (verstehend-deutenden) Grundposition unterschieden. Es existiert weder eine einheitliche Wissenschaftstheorie noch eine einheitliche Methodologie. In der Klinischen Psychologie schließlich findet sich bezüglich der Ätiologie und Bedingungsanalyse lediglich ein einheitliches Zeitraster. Folie: Klinische Psychologie: 6 Der 1.) prä- und perinatalen Phase werden genetische Faktoren und Bedingungen von Schwangerschaft, Geburt und der Zeit unmittelbar danach zugeordnet, die im Ergebnis eine Disposition hinterlassen. In der 2.) Sozialisations- bzw. Entwicklungsphase sind sowohl soziale Umwelt als auch Reifungsprozesse die entscheidenden Aspekte. Protektive sind von vulnerabilisierenden Faktoren zu unterscheiden. Das in diesen beiden Phasen erworbene Erkrankungsrisiko wird meist mit dem Begriff Vulnerabilität (Verletzlichkeit, Anfälligkeit) bezeichnet. Eine 3.) Phase kennzeichnet das Vorfeld des Erkrankungsausbruchs (Prodromalphase), Phase 4.) schließlich meint den Verlauf nach Störungsausbruch. Dieses Zeitraster ist von Störung zu Störung je unterschiedlich zu füllen. Eine einheitliche Störungstheorie findet sich weder für die Summe der beschriebenen noch für je einzelne Störungen. Bezüglich der Psychotherapie hat der amerikanische Psychotherapie-Forscher Orlinsky (1994) darauf hingewiesen, daß die verschiedenen Verfahren sich historisch zur Behandlung von unterschiedlichen Störungen entwickelt haben. Dabei gehörten die Patienten verschiedenen sozialen Gruppen an. So behandelte Freud zunächst Hysterien und Zwangsneurosen bei relativ jungen Erwachsenen der oberen Mittelschicht. C. G. Jungs Patienten waren meist im mittleren Lebensalter. Von ihm ist übrigens der Ausspruch überliefert, er sei noch nie einem Patienten jenseits der Lebensmitte (von ihm auf 35 Jahre angesetzt) begegnet, dessen Problem nicht letztlich ein religiöses sei. Die Verhaltenstherapie wurde ursprünglich für die Behandlung von Phobien, die Kognitive Therapie für die Behandlung von Depressionen entwickelt. Alfred Adler hat größtenteils Unterschichtpatienten behandelt, Carl Rogers sah eine hochgebildete, introspektionsfähige und selbstbestimmte Klientel im universitären Bereich. Es liegt von daher nahe, daß die aus den jeweiligen Ansätzen hervorgegangenen Schulen sich z. T. erheblich voneinander unterscheiden. Diese Differenzierung reicht bis in einzelne Schulen hinein, die in sich ihrerseits keineswegs einheitlich sind. In einer 1999 veröffentlichten Publikation zur Frage „Wie einheitlich ist die psychodynamisch/ psychoanalytisch orientierte Psychotherapie stellen Hoffman und Schüßler zusammenfassend fest, „daß es kein gemeinsames Menschenbild, keine gemeinsame Ätiologie und Wissenschaftstheorie und keine gemeinsame Praxeologie gibt. Dies gilt nicht nur für die Schulen untereinander, sondern auch innerhalb psychotherapeutischer Ausrichtungen wie z. B. der Psychoanalyse, die heute weder über ein gemeinsames Menschenbild, noch über eine gemeinsame Ätiologie und Wissenschaftstheorie und Praxeologie verfügt.“ 7.) Folie: Die Vielfalt ist integrierbar Dennoch gibt es durchaus nennenswerte Versuche, die vorhandene Vielfalt in einem Rahmenmodell so einzuordnen, daß sich die jeweiligen Ansätze sowohl in ihrer Eigenart wiederfinden können als auch Verknüpfungen mit anderen Ansätzen auf Theorieebene möglich sind. (Anmerkung hierzu: auf der Ebene praktischer Durchführung von Psychotherapie haben sich in den letzten Jahren, insbesondere im stationären Setting, Verknüpfungen vielerorts bereits durchgesetzt). Ich möchte an dieser Stelle die beiden aus meiner Sicht bedeutsamsten Modelle nur erwähnen. Das eine das von Prof. Klaus Grawe in Bern konzipierte Modell einer Allgemeinen Psychotherapie. Es geht in der ersten Fassung von 4 Wirkprinzipien in 7 der Psychotherapie aus, nämlich Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, Bewältigung und Klärung. Später wurden andere Aspekte hinzugefügt, und er spricht jetzt von 5 Dimensionen und 10 Perspektiven. Aus Zeitgründen kann ich hier nicht näher darauf eingehen, Interessenten seien auf das Salutogenese- Seminar am Nachmittag verwiesen. Das zweite Modell ist das Generische Modell der Psychotherapie, erstmals vorgelegt 1987 von den amerikanischen Psychotherapieforschern Orlinsky und Howard. Auch hier wurden Hunderte von empirischen Befunden dem Konzeptentwurf zugrunde gelegt. Ich halte ihn für unser Kongreßthema Psychotherapie und Seelsorge deshalb für besonders interessant, weil er stark auf die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Therapeut und Patient abhebt und die Bedeutung der „Passung“ zwischen beiden sowohl hinsichtlich ihrer Persönlichkeiten als auch hinsichtlich grundlegender Wertüberzeugungen für eine erfolgreiche Therapie betont. Eine mir persönlich sehr wichtige Passung, die sich aber nicht auf eine bestimmte psychotherapeutische Schule beschränkt, finde ich im nächsten Schatz: 8.) Folie: Psychotherapie ist potentiell offen für die religiöse Dimension Folie: 5 Arten des Umgangs mit Religiosität in der Psychotherapie a. aktives Diskriminieren (macht krank, Opium fürs Volk, infantile Abhängigkeitsbedürfnisse) b. eher abweisendes Ignorieren (konsequentes Nichteingehen auf vom Pat. diesbzgl. vorgebrachte Thematik) c. eher neutrales Tolerieren (klassische psychoanalytische Ideallinie von Abstinenz und gleichschwebender Aufmerksamkeit) d. eher wohlwollendes Akzeptieren („gut, daß Sie da in Ihrem Glauben einen Halt haben, alle Menschen brauchen irgendeine Art von Halt“) e. aktives Integrieren („welche Bedeutung hat Ihr Glaube für Ihr aktuelles Befinden?“) Das ist der von mir bevorzugt praktizierte Ansatz, insbesondere im Umgang mit Patienten, die genau dieses Anliegen mit in die Behandlung bringen. Einige Spezifika dieses Ansatzes möchte ich Ihnen gerne nennen. Folie Spezifika einer Psychotherapie unter Gott 1. Therapeut und seine Interventionen sind nicht der letzte Garant für das Weiterkommen des Patienten: beide wenden sich an >Jahweh - Rapha< 2. Grundlage des therapeutischen Handelns: gelebte Gottesbeziehung, also Persönlichkeitsformung des Therapeuten durch Gott und Versöhnung mit der eigenen Biographie als kontinuierlicher Selbst- und Gotteserfahrungsprozeß 3. therapeutische Haltung: unterstützend in Klärung und Förderung auch der Gottesbeziehung des Patienten -> Raum für Gottes heilendes Wirken 8 4. Therapeut-Patient-Beziehung geprägt von partnerschaftlicher Erlösungsbedürftigkeit: Persönlichkeit des Therapeuten als Modell für die gelebte Beziehung zu Gott geeignet? 5. Integrierter Einsatz von genuin biblisch-christlichen Prinzipien (Bsp.: Vergebung) und Interventionsmöglichkeiten aus dem Methodenspektrum wissenschaftlich anerkannter Therapieverfahren 6. neben theoretischem und methodischem Veränderungswissen Ableitung der therapeutischen Interventionen aus dem Dialog mit Gott (intuitive Ebene) 7. Christlich – integrative Psychotherapie ist wachstumsorientiert, keine Reparaturwerkstatt: Am Horizont ist stets das Ziel erkennbar, das Vertrauen in Gott zu vertiefen: Verlassen der Egozentrizität ‘Ich und mein Problem’ Ich fasse zusammen: in meinem Teil des Vortrags zum Thema Schätze habe ich einige mir persönlich wichtige Dukaten aus dem Bereich der Psychotherapie dargestellt. Einen Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung verbinde ich mit dieser subjektiven Auswahl nicht. Assoziativ denke ich eher an Appetithäppchen. Nochmal zur Erinnerung: PT ist Heilkunde PT ist ganzheitlich PT ist wirksam PT ist auch für Christen relevant PT ist lernbar PT ist vielfältig Die Vielfalt ist integrierbar PT ist potentiell offen für die religiöse Dimension Pfr. Sons und ich haben in unseren Referaten bewusst den Schwerpunkt auf die je eigene Identität von Seelsorge und Psychotherapie gelegt. Gerne kommen wir nach der Pause auch auf Gemeinsamkeiten zu sprechen. Herr Dr. Seehuber wird gleich zu einigen praktischen Aspekten etwas sagen. Zuvor möchte ich mich bei Ihnen für Ihre ausdauernde Aufmerksamkeit bedanken. Sollten einige von Ihnen im Verlauf der beiden langen Vorträge trübe Augen bekommen haben und inzwischen nicht mehr richtig klar sehen, so habe ich einen kleinen Trost für Sie mitgebracht. Behalten Sie Ihre trüben Augen! Sie befinden sich in guter Gesellschaft. Psychotherapeuten wollen Menschen und Dinge manchmal zu klar sehen. Das ist nicht immer gut, wie die abschließende Fallvignette einer rechtzeitig abgebrochenen Ehetherapie verdeutlichen möchte. Folie 5 Szenen Loriot Ende des Vortrags. 9