Dr.Hans-Joachim Fuchs Ambulante Behandlung Drogenabhängiger – Umgang mit der spezifischen Klientel Drogenanamnese , Krankheitsanamnese, Sozialanamnese, Lebensgeschichte, Motivation und Ausmaß der Veränderungsbereitschaft, Schadensminimierung Die Hausarztpraxis ist grundsätzlich ein besonders gut geeigneter Ort für die ganzheitliche Behandlung drogenabhängiger Patienten: HausärztInnen sind darin geübt, pragmatisch zu denken, tragfähige Bündnisse mit ihren PatientInnen zu schließen, Vertrauen aufzubauen. Der Umgang mit Suchtverhalten (z.B. Esssucht, Nicotinabhängigkeit, Alkoholabhängigkeit, NSAR-Abusus) ist in Hausarztpraxen alltäglich, und HausärztInnen sind für die Langzeittherapie multimorbider chronisch kranker PatientInnen grundsätzlich sehr gut eingerichtet. Das Setting der Allgemeinpraxis ist robust und wirkt sich gesellschaftlich integrativ aus und eignet sich daher besonders gut als tragendes Strukturelement der Therapie. Auch die Polytoxikomanie einschließlich Opiaten ist eine chronische Krankheit mit vielfältigen körperlichen und seelischen Komorbiditäten (Kasten). Wegen ihres Konsums von Substanzen, deren Inbesitznahme und deren Weitergabe bei hohen Strafen gesetzlich verboten sind, stehen Drogenabhängige unter einem besonders hohen psychosozialen Druck: Zusätzlich zu allem Schaden an ihrer Gesundheit drohen Ausschluss aus der Familie, Gefängnisstrafen, Ansehens- Einkommens- und Existenzverlust. Der Entschluss, sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, erfolgt mehr oder weniger rechtzeitig aus eigener Krankheitseinsicht, auf Gerichtsentscheid („Therapie statt Strafe“) oder auf Drängen der Eltern oder des Lebenspartners. Manchmal sind die letzten finanziellen Ressourcen schon verbraucht, und die Unmöglichkeit, das bisherige Leben weiterzuführen, lässt sich nicht mehr länger ignorieren. Einige Patienten berichten, dass sie ihren Entschluss zur Therapie deswegen gefasst haben, damit sie keine Beschaffungsdelikte begehen müssen, wie Diebstahl oder Raub. Werden Drogenabhängige von HausärztInnen als PatienInnen schließlich akzeptiert, ist schon der erste Schritt zur Normalisierung getan. Der Fortfall des Beschaffungsdrucks bis hin zur Prostitution ist wird von den Betroffenen in jedem Fall als eine große Erleichterung verspürt. Diese lebendige Erfahrung, durch die ärztliche Betreuung mit einem Schlag von vielen Sorgen befreit zu sein, das ist sicherlich die stärkste Motivation für unsere Patienten. Das Ziel der Behandlung Drogenabhängiger ist in jedem Fall die Normalisierung ihrer Lebensumstände und ihrer Persönlichkeitsentwicklung in allen Dimensionen. Dieses Ziel wird in der Regel auch erreicht und lohnt den ganzen therapeutischen Aufwand. Ganz zu Beginn der Behandlung geht es um richtiges Krisenmanagement und um maximale Schadensminimierung: Die aktuelle Lebenssituation, auch eventuelle Suizidgefahr, soll durch umsichtige Explorationsgespräche geklärt werden. Durch ärztliche Information zur Vermeidung von Ansteckungsgefahren, durch Medikamentenverschreibungen, z.B. zur Reduktion des Benzodiazepinkonsums und durch Rückfallprophylaxe im Rahmen der Substitutionstherapie. Wirklich lebensrettend ist die Patientenschulung hinsichtlich der langsamen biochemischen Toleranzentwicklung für Opiate und des raschen und vollständigen Opiattoleranz-Rückbaues nach Entwöhnung: An jedem Tag, an dem kein Opioid konsumiert wird, schrumpft die Opiattoleranz um 20 Prozent. Weil viele Opiatabhängige dieses Faktum völlig missverstanden haben und sich ihre eigene Opiattoleranz als feste Größe zuschreiben, laufen sie nach Entzugstherapien größte Gefahr, durch Überdosierung von Opiaten zu versterben. Das spielt auch bei der Dosisfindung in der Einstellungsphase der Substitutionstherapie eine sehr wichtige Rolle: Man beginnt mit kleinen Opioid - Dosen, verschrieben für ein bis drei Tage, und setzt kurzfristige Kontrolltermine an. Außerdem soll der Patient wissen, dass er die genügende Dosis bekommen soll, um Craving (das Verlangen nach Heroin) und HeroinRückfälle zu vermeiden. Er braucht keine überhöhten Angaben zu seinem bisherigen Konsum zu machen, um den Arzt dazu zu bewegen, die ausreichende Ersatzdosis zu verschreiben. Durch die planvolle Therapie aller bestehender Erkrankungen, auch durch Psychotherapie und durch Ermutigung zur Wahrnehmung von Förderungsprogrammen zur beruflichen Qualifikation kommt der Erhaltung bzw. der Rehabilitation der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit ein besonders hoher Stellenwert zu. Die multidimensionale Therapie der Suchtkrankheit in der Allgemeinpraxis erfordert zunächst eine strukturierte und ausgedehnte Basisdiagnostik, die durch Laboruntersuchungen die Leber- und Nierenfunktionsparameter und insbesondere auf Infektionskrankheiten (HepatitisSerologie, HIV-Infekt, Pneumonie etc.) abklärt und auf die individuelle Geschichte des Drogenkonsums, psychische Symptome, auch Suizidversuche und Präsuizidalität, und auf die psychosozialen Ressourcen (Familien, Partner, Freunde, Schulen, Arbeitsplätze und Psychotherapeuten) der Patienten eingeht. Wichtig sind objektive Befunde zum aktuellen Drogenkonsum: Inspektion der Einstichstellen und entsprechender Thrombophlebitiden und Abszesse bei intravenösem Konsum und der Harnbefund über Opiate, Benzodiazepine, Cocain, Methadon und Amphetamine. Schon dieses konsequente ärztliche Prozedere zu Beginn der Behandlung schafft eine Menge Vertrauen. Allgemeinmedizinische bio-psycho-soziale Explorationsgespräche dienen der Klärung einiger wichtiger Fragen: Liegt eine Substanzabhängigkeit vor? Wie lange schon? Welche Substanzen werden täglich in welcher Menge und auf welche Weise konsumiert? Hat es intravenösen Konsum gegeben? Entzugsbehandlungen, Substitutionstherapie? Wie ist die Familiensituation, welche Bezugspersonen sind hilfreich? Wie ist die Ausbildungs- und Arbeitssituation? Welche körperlichen und welche seelischen Krankheiten sind aufgetreten? Welche Behandlungen sind schon begonnen, durchgeführt, abgebrochen worden? Essentiell sind Fragen nach Hepatitis B und C, nach HIV-Tests. Bei positiven Testresultaten schließt sich die Frage nach antiviraler Therapie an. Unter neurologischer Komorbidität nimmt die Epilepsie einen prominenten Platz ein, die oftmals nach Benzodiazepin- Konsum als Benzodiazepin - Entzugsepilepsie erstmalig auftritt und in 10% der Fälle auch davon unabhängig weiter besteht. Unter der psychiatrischen „Komorbidität“ sind Persönlichkeitsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, unipolare und bipolare Depression, Angststörungen, Anorexie, Sozialphobie und Schizophrenie zu verstehen. Mit diesen sehr verschiedenen Grunderkrankungen müssen wir bei unseren entsprechend einfühlsam geführten Explorationsgesprächen rechnen und sie im Verdachtsfall gegebenenfalls auch fachärztlich abklären lassen. Die adäquate Therapie der Komorbidität durch Antidepressiva, Neuroleptika, Antiepileptika und mit Benzodiazepinen ist freilich essentiell für die Therapie substanzabhängiger Patienten. Die Wahl und die Zielsetzung der Therapie, nämlich zwischen abstinenzorientierter Entzugstherapie, bei der die ärztliche Begleitung und verschiedene Arzneimittel zur Kompensation der Entzugssymptome über einen definierten Zeitraum zum Einsatz kommen oder Langzeit-Substitutionstherapie mit der Option der Dosisreduktion zu einem späteren Zeitpunkt wird gemeinsam mit dem Patienten festgelegt. Da maximal zwanzig Prozent unserer Patienten zu einer erfolgversprechenden abstinenzorientierten stationären oder ambulanten Entzugstherapie geeignet sind, überwiegt die Dauersubstitutionstherapie mit dem Ziel der sozialen Integration, der persönlichen Weiterentwicklung, der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Lern - und Arbeitsfähigkeit, aber auch der Harm Reduction und Überlebenssicherung bei weitem. Die Regeln der ärztlichen Therapie werden den PatientInnen anhand des Substitutionsvertrages erklärt. Es ist klar, dass der Arzt Regelverstöße, wie z.B. Gewaltdrohung, Diebstahl, Dokumentfälschung, Zigarettenrauchen oder gar Drogenkonsum in der Praxis oder berauschte Begleiter im Wartezimmer keinesfalls tolerieren kann. Im Gegenteil: Wenn immer solche grundlegenden Regeln verletzt werden, greift der Arzt ein oder ruft bei Gefahr von Gewalt die Polizei. Allein die selbstverständliche und klare Bereitschaft dazu ist erfahrungsgemäß dazu geeignet, Zwischenfälle dieser Art fast zur Gänze zu verhindern. Ungebetene Gäste werden also stets höflich und bestimmt vom Arzt aus der Praxis hinauskomplimentiert. Die spezifische Klientel der Drogenabhängigen ist aber tatsächlich sehr heterogen: Das Geschlechterverhältnis beträgt drei Viertel Männer, zu einem Viertel Frauen. Neben alleinstehenden Männern sind Paare und junge Familien mit Kindern, Schwangere sowie alleinerziehende Mütter vertreten. Die Patienten gehören bei durchschnittlicher und nicht selten sogar überdurchschnittlicher Intelligenz und kreativer Begabung allen Bildungsschichten an, obgleich unterbrochene Ausbildungsgänge sehr häufig sind. Die Beziehungen zu ihren Herkunftsfamilien sind überdurchschnittlich häufig durch Abbrüche geprägt. Die Unterstützung durch die Eltern- und Großelterngeneration ist vielfach ungewöhnlich schütter ( und daher besonders kostbar). In ihren Genogrammen dominieren häufig repetitive Muster der von Generation zu Generation immer wiederkehrenden Abwesenheit der Väter. Todesfälle sind enorm häufig unter den wichtigsten Bezugspersonen der Eltern- und Großelterngeneration. Auch Vernachlässigung, Gewalt und sexueller Missbrauch kommen in den Biografien häufig vor. Es ist den PatientInnen jedoch selten möglich, über diese erlebten Traumata schon zu Beginn der ärztlichen Behandlung zu sprechen, ausgenommen jene, die bereits Psychotherapieerfahrung haben. So können auch in schwerwiegenden Fällen die Ursachen der Drogenabhängigkeit auch subjektiv mit unglücklichen Zufällen, mit Begegnungen mit den falschen Freunden erklärt werden. Die PatientInnen selbst spielen sehr oft die Rolle des „schwarzen Schafes“ in ihrer Familie, die durch sehr frustrierende Konflikterfahrung gekennzeichnet ist. Hier kann eine ganz normale Arzt – Patient - Beziehung die beispielhafte Erfahrung von freundlichen und respektvollen Begegnungen vermitteln. Außerdem kann ärztlicherseits durch wohl bedachtes Miteinbeziehen von Angehörigen in die Therapie die Compliance sehr verstärkt werden. Zum Beispiel können Eltern von jungen berufstätigen oder auch von psychiatrisch (z.B. durch Schizophrenie) invaliden Patienten die Substitutionsmittel aus der Apotheke holen und verwalten. Hier ist es besonders wichtig, gleichzeitig unter Wahrung der Verschwiegenheitsverpflichtung die Patienten-Autonomie und die Unterstützung seitens der Angehörigen zu fördern und Angehörige nach Möglichkeit mit einzubeziehen. Viele PatientInnen befinden sich in einer prekären finanzielle Situation durch Überschuldung, die zu Lohnpfändung bei legaler Beschäftigung und bei einzelnen sogar zur Obdachlosigkeit geführt hat. Nicht wenige haben bereits Gefängniserfahrung hinter sich oder noch vor sich. Ihr Leben ist also in unterschiedlichster Weise mit Vernachlässigung, Demütigung, Machtmissbrauch, Eigentumskriminalität, Gewalt und Diskriminierung bedroht worden, und einige haben dies auch anderen Menschen zugefügt. Daher ergeben sich im Rahmen der ärztlichen Betreuung von Drogenabhängigen Kontakte zu RichterInnen, Jugendamt - und Sozialfürsorge - BeamtInnen , zu AMS – BeteuerInnen, zu LehrerInnen und DirektorInnen von Bildungseinrichtungen. Oftmals müssen ärztliche Atteste die Regelmäßigkeit der Substitutionstherapie bestätigen. Insgesamt könnten sich ÄrztInnen wirklich wünschen, dass alle chronisch Kranken so regelmäßig Arzttermine wahrnehmen würden, wie die SubnstitutionspatientInnen. Alle PatientInnen sind enorm dankbar für freundliche, umsichtige und sachlich kompetente ärztliche Behandlung, die sie im Kontrast zur Stigmatisierung und Diskriminierung in ihrem (früheren) Alltag besonders positiv erleben. HausärztInnen verfügen über die Ressourcen, polymorbiden chronisch Kranken, drogenabhängigen Patienten, die unbehandelt ein sehr hohes Überlebensrisiko hätten, das Überleben zu sichern und durch ganzheitliche ärztliche Betreuung in kollegialer Kooperation mit PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen, InternistInnen und ChirurgInnen die positive Persönlichkeitsentwicklung zu initiieren, in deren Verlauf die Substanzen ihre dominante Bedeutung im Leben der PatientInnen verlieren. Der Erfolg im Hinblick auf die Zielsetzung des Überlebens und der Normalisierung des Lebens der Patienten aus dieser spezifischen Patientenpopulation spricht im übrigen ganz eindeutig dafür, dass sich der ärztliche Einsatz lohnt. KASTEN Die ambulante Behandlung Drogenabhängiger wurde in den 1960er Jahren in den USA revolutioniert: Marie Nyswander war die Mit-Entdeckerin der Methadon-Substitution. In den 1960er Jahren hat sie und Vincent Dole Klinische Studien durchgeführt und gründete die erste offiziell saktionierte Methadon- Klinik, die zum Modell für Methadon- Erhaltungsprogramme weltweit wurde. 1967 hat sie mit Dole gemeinsam die Theorie formuliert, dass sich bei Heroin – Abhängigen ein dauerhafter metabolischer Wandel auf körperlicher Ebene vollzogen hat, welcher erklärt, warum Abstinenz kein realistisches Ziel ist, eine These, die heiß diskutiert wurde. Nyswanders Arbeit in den sechziger Jahren markierte einen abrupten Schwenk in ihrer Auffassung von der Sucht. Ihr bisheriger Zugang war von der Psychoanalyse geprägt. Ihre Begeisterung für die Methadon-Erhaltungstherapie und die metabolische Theorie rüsteten sie zur einer intellektuellen Conversion. Nyswander war für diese Conversion vorbereitet durch Jahre der Patienten-Rückfälle; sie war frustriert von der orthodoxen Therapie. Gleichzeitig erzeugte der Erfolg von Medikamenten, wie zum Beispiel das Chlorpromazin, den Eindruck, dass psychiatrische Erkrankungen eher durch Chemotherapie zu beeinflussen sind als durch Gesprächstherapie. DAVID T. COURTWRIGHT (1997) The prepared mind: Marie Nyswander, methadone maintenance, and the metabolic theory of addiction Addiction 92 (3), 257–265 Im Jahre 2005 hat das National Institute of Mental Health (NIMH) die Ergebnisse der jüngsten Erhebung zu seelischen Erkrankungen in den USA, die National Comorbidity Survey Replication Studie, veröffentlicht. Aus 9000 Tiefen-Interviews geht hervor, dass jeder Zweite im Laufe seines Lebens von einer seelischen Erkrankung betroffen ist; bei der Hälfte der Betroffenen setzen die Symptome bereits bis zum 14. Lebensjahr ein, bei drei Viertel bis zum 24. Lebensjahr. Es braucht im Durchschnitt acht Jahre, vom Einsetzen der Symptomatik bis zum Beginn einer ärztlichen Behandlung. 41% der Erkrankten erhielten in den letzten 12 Monaten eine ärztliche Behandlung. Es sind die schwersten Fälle von Depression und von Angststörungen, die zusätzlich auch eine Substanzabhängigkeit entwickeln, und es wird von den Autoren dieser Studie die ganzheitliche Behandlung der Betroffenen gefordert. National Institute of Mental Health (NIMH) (2005): National Comorbidity Survey Replication JAMA 2005