Die versicherungspsychiatrische Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen – ein historischer Überblick Andreas Frei „Persönlichkeitsstörung“ ist die bei weitem häufigste Diagnose in der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis, gleichzeitig gehört die forensisch-psychiatrische Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen zu den anspruchsvollsten gutachterlichen Aufgaben. Die Begriffe „Persönlichkeit“ und „Persönlichkeitsstörung“ sind verschiedene begriffliche Konstrukte: „Persönlichkeit“ ist ein psychologisches Konstrukt zum Verständnis individueller Eigenschaften im Sinne des einzigartigen Verhaltenskorrelats einer Person - ganz unabhängig davon, ob dieses Verhalten als gesund oder krank betrachtet werden muss. „Persönlichkeitsstörung“ dagegen ist unmissverständlich ein medizinisch-psychiatrisches Krankheitsbild. Bis zu Beginn der Achtzigerjahre wurde für „Persönlichkeitsstörung“ der Begriff Psychopathie, gelegentlich auch Charakterneurose, verwendet; dieser ist seit einigen Jahren aus der klinischen Psychiatrie verschwunden, da er durch seine negative Konnotation im medizinischen Sprachgebrauch kaum mehr anzuwenden war. In der internationalen, v. a. forensisch-psychiatrischen Literatur, wird aber wieder vermehrt auf den Begriff „Psychopathy“ verwiesen, der mit dem Begriff der antisozialen oder dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht identisch ist (Hare 1996), und zu Verwirrung führen kann. Kasuistik Der 64-jährige, ledige, gelernte Elektromonteur K. W. ist das ältere von zwei Kindern eines selbständigen Schreiners und seiner Ehefrau, einer Fabrikarbeiterin. Beim Vater soll es sich um einen Einzelgänger gehandelt haben, die Mutter soll im Alter unter einem Verarmungswahn gelitten haben. Nach Absolvieren der Primarschule absolvierte Herr W. mit Schwierigkeiten eine Lehre als Elektromonteur. Als 20-jähriger wurde er militärisch ausgemustert, nachdem er einen Offizier verbal massiv bedrohte hatte. Nach der Lehre arbeitete er zunächst bei seinem alten Lehrmeister, bis er wegen Meinungsverschiedenheiten über den Lohn kündigte. Im Zuge der Rezession der 70-er Jahre hatte er bisweilen Schwierigkeiten, wieder Arbeit zu finden, Ende 70-er Jahre ist er in seinen alten Lehrbetrieb, der mittlerweile vom Sohn seines alten Arbeitgebers geführt wurde, wieder eingetreten. Ende der 80-er Jahre wurde Herr W. zusehends auffällig, indem er begann, sich als „Privatpolizist“ zu betätigen und fehlbare Automobilisten, welche eine Einbahnstrasse in der Umgebung seines Arbeitsplatzes verkehrt befuhren, anzuzeigen. Am Arbeitsplatz kam es zunehmend zu Schwierigkeiten, indem Herr W. das Konkurrenzprodukt seines Arbeitsgebers den Kunden empfahl und seine mangelnde Hygiene Anlass für Beschwerden war. Es wurde ihm mit zweimonatiger Kündigungsfrist gekündigt. In der Folge fand er keine Arbeit mehr. In der Wohngemeinde wurde er durch seine „polizeiliche“ Tätigkeit zusehends auffälliger, im Zusammenhang damit ist es zu einer Gewalttat gekommen. Herr W. wurde zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. In der Öffentlichkeit, aber auch in der Arbeitslosenberatungsstelle, fiel Herr W. durch Drohungen zusehends auf. Zu Beginn des Jahres 1994 holte Herr W. nach einem Abendessen, in dessen Verlauf er reichlich Alkohol genossen hatte, ein Schrotgewehr, gab zwei Probeschüsse ab und begab sich zu Fuss zunächst zum Wohnort seines ehemaligen Vorarbeiters, nachdem er die Herrschaft über seinen Wagen verloren und diesen in einen Acker parkiert hatte. Nachdem er den Obgenannten herausgeklingelt hatte, gab er auf ihn einen Schuss ab und beschädigte mit zwei weiteren Schüssen das Haus. Anschliessend begab er sich zu Fuss zum Wohnort des ehemaligen Arbeitgebers, wo er verhaftet wurde. Man fand bei ihm zu Hause ca. 80 Schusswaffen. In einem forensisch-psychiatrischen Gutachten wurde die Diagnose einer paranoiden Persönlichkeitsstörung sowie eines periodischen Alkoholmissbrauches gestellt und eine ambulante Massnahme nach Art. 43, Ziff. 1, Abs. 1 StGB empfohlen. Zur Durchführung derselben kam es nicht; im offenen Strafvollzug wurde Herr W. als nicht haltbar beurteilt. Herr W. sass die volle Gefängnisstrafe ab; kurz vor seiner Entlassung unterschrieb er auf die Initiative des Gefängnisdirektors der Strafanstalt Lenzburg einen „Friedensvertrag“, bei welchem sich der ehemalige Arbeitgeber bereit erklärte, Herrn W. die letzte Gratifikation auszurichten und dieser sich bereit erklärte, künftig auf Gewalt zu verzichten. Er zog schon am nächsten Tag seine Unterschrift unter dem Vertrag zurück: Man habe ihn zur Unterschrift genötigt, da er erst nach Leisten derselben ein Glas Wein offeriert bekommen habe! Herr W. wurde Ende 1996 aus der Haft entlassen. Auch in der Folge ist es ihm nicht gelungen, Arbeit zu finden. Anfang 1997 suchte er den ehemaligen Arbeitgeber in dessen Büro auf und bedrohte und beschimpfte ihn massiv. Zwei Tage später wurde er erneut verhaftet. In einem forensisch-psychiatrischen Ergänzungsgutachten wurde die Diagnose paranoide Persönlichkeitsstörung bestätigt. Nach Anhörung des Experten vor Gericht sprach das Bezirksgericht Zofingen eine 7-monatige Gefängnisstrafe aus und ordnete eine Verwahrung nach Art. 43, Ziff. 1, Abs. 2 StGB an. Das Obergericht des Kt. Aargau bestätigte nach einem erneuten psychiatrischen Gutachten diesen Entscheid. Auf Bestreben von Herrn W. wurde schliesslich eine neue forensisch-psychiatrische Begutachtung in Auftrag gegeben. Er fiel dem Experten durch seine verschrobenen, teilweise kaum nachvollziehbaren Argumentationen auf. Er erklärte, wenn er die Tat, die ja befürchtet werde, tatsächlich begangen hätte, wäre er heute mit der Zweidrittel-Strafverbüssung schon wieder ein freier Mann. Die gutachterlichen Schlussfolgerungen waren: Herr W. litt und leidet nicht nur an einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit querulatorischer Entwicklung sondern an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Zügen (F61.0 nach ICD-10), sowie an einer sog. anderen wahnhaften Störung bzw. Querulantenwahn (F22.8 nach ICD-10). Gegenüber den Vorgutachten ist keine Milderung dieses schweren, einer Geisteskrankheit i. S. des Gesetzes nahe kommenden Störungsbildes zu konstatieren. Bei Herrn W. besteht keinerlei Krankheitseinsicht und er bietet keinerlei Hand für therapeutische Massnahmen. Die Beurteilung der Vorgeschichte, des klinischen Bildes sowie das allfällig mögliche künftige Risikomanagement weisen darauf hin, dass eine ausserordentlich hohe Gefahr besteht, dass er auch weiterhin seine Umgebung bedrohende oder von diesen als bedrohend empfundene Handlungen begehen wird. „Manie sans Délire“ und „Moral insanity“ Im 18. Jahrhundert bestanden nach wie vor Zweifel, wer diese verminderte Willensfreiheit eines Menschen zu beurteilen habe. Kant z.B. war der Ansicht, dass es sich dabei um ein psychologisches und nicht um ein medizinisches Problem handle (Nedopil 1996). 2 Der französische Arzt Philippe Pinel (1745-1826) kann mit seinem Werk „Traitées médico philosophique sur l’aliénation mentale où la manie (1809)“ als Begründer der modernen wissenschaftlichen Psychiatrie betrachtet werden. Er hat sich grosse Verdienste um die Besserstellung psychisch Kranker erworben. Unter anderem hat er sich auch mit abnormen Persönlichkeiten beschäftigt; ihm sind Menschen aufgefallen, welche eine Beeinträchtigung der affektiven Funktionen bei ungestörten Verstandeskräften hatten. In äthiologischer Hinsicht erwog er entweder mangelhafte Erziehung oder eine perverse, zügellose Veranlagung (Pichot, 1983). Auch damals wurde schon die heute noch aktuelle Streitfrage einer biographisch entstandenen oder endogenen Verursachung formuliert. Pinels Fälle einer „manie sans délire“ hätten, so meint zumindest Sass in seiner Ideengeschichte zum Psychopathiekonzept, nur in einem Fall den späteren Vorstellungen über abnorme Persönlichkeit entsprochen; bei den anderen hätte es sich um Epilepsie bzw. um eine paranoide Psychose gehandelt (Sass 1987). Pinels Schüler Esquirol, der von 1772 bis 1840 lebte, hat die Lehre von den Monomanien begründet, worunter er Veränderungen des Willens und der Gefühle bei unbeeinträchtigter Intelligenz verstand. Aus seinen Überlegungen entstanden Krankheitsentitäten wie die Kleptomanie, Pyromanie, Erotomanie oder auch Mordmonomanie, welche schon im letzten Jahrhundert aufgrund der forensischen Konsequenzen heftige Kritik erfahren haben: Die Tat alleine dürfe nicht die Annahme einer Geisteskrankheit begründen. Auch heute sind die „Störungen der Impulskontrolle“, welche in der ICD-10 unter dem Kapitel F63 subsumiert sind, Gegenstand heftiger Kritik (Nedopil 1996). Pinels Überlegungen über die „manie sans délire“ sind 1812 schon vom Amerikaner Benjamin Rush aufgegriffen worden. Er beschrieb Individuen, die bei ungestörten Kräften der Vernunft und des Intellekts frühzeitig Verantwortungslosigkeit, Aggressivität und mangelnde Rücksicht auf die anderen zeigten und sprach von einer „perversion of the moral faculties“ und von einer „moral allienation of the mind“. Bekannter allerdings ist der Engländer James Cowles Prichard, der 1835 in seinem Werk „treatise of insanity and other disorders affecting the mind“ den Begriff der „moral insanity“ geschaffen hat. Er meinte damit eine „Perversion der natürlichen Gefühle, der seelischen Regung, der Neigungen, Launen, Gewohnheiten, der moralischen Veranlagung und der natürlichen Triebe, ohne dass eine Störung oder ein merklicher Mangel des Intellekts oder der Erkenntnis und Urteilsfähigkeit vorliegt“. Der Begriff „moral“ hat bis heute für Verwirrung gesorgt. Einerseits umfasste der Begriff „moral“ die auch heute noch übliche Bedeutung von moralisch oder sittlich im Sinne eines ethisch richtigen Verhaltens. Andererseits umfasste „moral“ aber auch „die Kräfte des Gefühles und Willens in Unterscheidung zu denen des Intellektes“. „Moral“ könne man laut Sass als gemüthaft oder emotional affektiv übersetzen. Der Begriff „moral“ habe die Diskussion um Psychopathien oder Persönlichkeitsstörungen beträchtlich eingeengt, indem dem sozial-moralischen Aspekt grosse Bedeutung zugewiesen worden ist. In der Folge seien die Diskussionen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Leuten, die unter „moral insanity“ gelitten hätten, nicht abgerissen (Sass 1987). Auch der Begriff „insanity“ habe für Verwirrung gesorgt, indem chronisch delinquenten Menschen oft eine eingeschränkte intellektuelle Kapazität zugewiesen worden sei (Bleuler 1896). Zur Theorie der Degeneration Der Psychiater Benedikt Augustin Morel war der eigentliche Begründer der Degenerationslehre. 1857, zwei Jahre bevor Charles Darwin sein Werk über die Entstehung der Arten publizierte, erschien sein Buch „Traité des dégénérescences“. Morels Begriff der Entartung war eine völlig neue Konzeption. Sie entsprach nicht primär der medizinischen Vorstellung, sondern war Ausdruck seines religiösen Weltbildes. Entsprechend dem Zeitgeist war Morel durch die stetige Zunahme der Krankheiten und Kriminalität beeindruckt. Morel setze an den Anfang einen sogenannten „type primitif“, mit dem er 3 symbolisch Adam meinte. Die Ursache von Entartung und Krankheit waren nach Morel eine Abweichung von diesem „type primitif“. Für ihn gab es zwei grosse Gruppen: erstens die natürlichen Varietäten des Menschengeschlechtes, d.h. die verschiedenen Rassen, zweitens anomale Zustände, Entartungen. Die Entartungen würden von zwei fundamentalen Gesetzen beherrscht: die doppelte Vererbung im Sinne des körperlichen und moralischen Übels die Progressivität der Entartung bis zum Aussterben des Geschlechtes Entsprechend lautete seine These: Die erste Generation einer degenerierten Familie wäre nervös, sittlich verdorben mit einer Neigung zur Ausschweifung. In der nächsten Generation würden sich schwere Neurosen, Alkoholkonsum und eine Neigung zu Schlaganfällen anschliessen, in der dritten Generation folgten dann die schweren psychiatrischen Krankheiten. Der Abschluss der vierten Generation wäre der Kretinismus mit angeborenem Schwachsinn, Missbildungen und Entwicklungshemmungen aller Art. Durch Infertilität würde die betroffene Familie aussterben. Morel war also ein Verfechter der Theorie des Polymorphismus, womit die generelle Prädisposition für irgendeine psychische Störung gemeint ist (Hermle I., 1986). Valentin Mangan (1835-1916) nahm Morels Ideen auf, lehnte aber dessen religiösen Ausgangspunkt ab. Mangan sprach vom „dégénéré supérieur“, welcher sich durch ein Ungleichgewicht der cerebro-spinalen Zentren auszeichne. Magnan war mit seinen Ideen zugleich auch wieder durch Prichards „moral insanity“ beeinflusst. Die positivistische Schule Die Bestrebungen, dem Strafrecht eine wissenschaftliche, nicht moralisierende Prägung zu geben, haben zu einer Reihe abstruser Theorien geführt. Neben den Phrenologen, welche angaben, eine Beziehung zwischen Schädelform, Gehirn und sozialem Verhalten gefunden zu haben, muss hier vor allem der Arzt Cesare Lombroso erwähnt werden, der von 1835 bis 1909 lebte und das Kind italojüdischer Eltern gewesen war. Er arbeitete als Militärarzt und führte anthropometrische Messungen an 3'000 Soldaten durch, um physische Unterschiede zwischen Bewohnern der verschiedensten Gebiete Italiens zu untersuchen. Schon früh war er vom Thema der Degeneration bzw. des Zusammenhangs zischen Degeneration und Genie fasziniert. 1874 wurde er Dozent für Gerichtsmedizin und öffentliche Hygiene an der Universität von Turin, wo er auch Professor für Psychiatrie und Kriminalanthropologie wurde. 1876 veröffentlichte er sein bekanntestes Werk, „L’uomo delinquente“, welches bald im Ausland übersetzt wurde. In den folgenden fünf Auflagen hat Lombroso sein Werk ständig redigiert. Lombroso bemühte sich um eine induktive Arbeitstechnik, er glaubte fest an die Notwendigkeit der Direktbeobachtung und Messung des Einzelfalles anstelle von philosophisch-logisch-juristischen Spekulationen. Trotz seiner Vorliebe für Fakten soll sein Stil und seine grundsätzliche Behandlung der Probleme intuitiv, um nicht zu sagen, phantasievoll gewesen sein, meint der Kriminologe Hermann Mannheim. Seine Erkenntnisblitze wirken aus heutiger Sicht doch eher befremdlich. Eine wesentliche Idee soll ihm einmal gekommen sein, als er den Schädel eines berüchtigten Räubers in der Hand hielt und über das Problem der Verbrechen nachdachte, als plötzlich die Sonne durch die Wolken brach und der Schädel beleuchtet wurde. Damals soll ihm aufgegangen sein, dass die Lösung des Problems in diesem Schädel und seiner anatomischen Struktur läge (Mannheim, 1974). Lombroso meinte, in der hinteren Schädelgrube des Verbrechers eine Besonderheit gefunden zu haben, die ihn an den Schädel des Schimpansen erinnerte. Er folgerte, Kriminalität sei ein Atavismus, also ein Rückfall des Menschen auf eine frühere primitiv-menschliche oder sogar prä-humane Stufe mit kannibalischem Instinkt. Anders als die Phrenologen versuchte er aber auch das Gesamte des Menschen zu erfassen, also die Verformung von Skelett und Schädel, die Asymmetrie des Gesichtes, zu grosses oder zu kleines Gehirn, 4 fliehende Stirn, hohe Backenknochen, dünner Bartwuchs im Gegensatz zur allgemeinen Behaarung des Körpers und überentwickelte Arme. Ausserdem registrierte er ein mangelndes moralisches Bewusstsein, Eitelkeit, Grausamkeit, Faulheit, Gaunersprache, besondere nervliche Unempfindlichkeit für Schmerzen verbunden mit einer Verachtung von Tod und Leiden und schliesslich eine Vorliebe für Tätowierung. Später fügte er noch das Kriterium der Epilepsie hinzu: Nicht jeder Epileptiker war ein Verbrecher, aber jeder Verbrecher ein Epileptiker. Im Laufe der Zeit revidierte Lombroso Teile seiner Auffassungen, so räumte er schliesslich ein, dass nur 35% der Verbrecher „geborene Verbrecher“ seien und zählte Geisteskranke nicht in diese Kategorie. In einem späteren Werk unterstrich er auch die Bedeutung der sozio-ökonomischen Faktoren, ein aus heutiger Sicht moderner Aspekt. Ein wesentlicher Vorwurf, den man Lombroso macht, ist, dass er, ein Anhänger Darwins, diesen gar nicht richtig verstanden habe: Für Lombroso war z.B. Evolution notwendigerweise mit Fortschritt verbunden, was so ja nicht stimmt. Lombroso hat übrigens auch ein Werk „La donna delinquente“ geschrieben und die viel kleinere Häufigkeit von Verbrechen unter seinen „atavistischen“ Frauen damit erklärt, dass sie vermehrt der Prostitution nachgingen (Mannheim 1974). In seiner Monographie von 1926 „Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prostituierter“ hat sich Kurt Schneider übrigens diesem Thema angenommen. Unter 70 Prostituierten, die er sorgfältig psychiatrisch exploriert hat, fand er 27 mit psychopathischen Zügen, wovon nur 3 „gemütlos“ gewesen sein sollen. Erwähnenswert aus heutiger Sicht ist, dass der Autor sämtliche seiner Probandinnen mit Namen genannt hat (Schneider 1926). Lombroso als Vertreter der sogenannt positivistischen Schule war zuversichtlich, mittels empirisch gewonnener wissenschaftlicher Methoden und nicht aus ethisch-moralischen Erwägungen getroffenen Massnahmen das Verbrechen bekämpfen zu können. Konsequenterweise hat er denn auch vorgeschlagen, geborene Verbrecher zu isolieren, sie mit harter Arbeit zu beschäftigen oder schlimmstenfalls zu exekutieren. Lombroso selbst war kein Rassist und von eher liberaler politischer Überzeugung. Trotzdem haben seine Ideen das Strafgesetzbuch der Nazis wesentlich beeinflusst (Mosse, 1990). Seine Ideen sind auch ins Deutsche übersetzt worden, wo sie überraschenderweise von Eugen Bleuler aufgenommen wurden. In seiner Monographie „Der geborene Verbrecher“ (Bleuler, 1896) machte er sich einerseits für die Theorie der „moral insanity“, andererseits für die Ansichten Lombrosos stark. Dabei ging es Bleuler nicht um die fragwürdigen Untersuchungsmethoden Lombrosos, sondern um die einzelnen, von ihm herausgearbeiteten Kennzeichen des „Delinquente nato“, und die Erkenntnis, dass der Verbrecher in anthropologischer Beziehung körperlich und geistig vom Durchschnittstypus des gesunden, ehrlichen Menschen abweiche. Für Bleuler ist wesentlich, dass Lombroso auf eine moralethische Beurteilung des Verbrechens verzichtet und rein pragmatische Vorschläge hat, wie dies zu bekämpfen sei. Im Folgenden einige interessante Überlegungen Bleulers zum geborenen Verbrecher: 1. Verbrecher sind Leute, welche durch Defekte in der Bildung altruistischer Begriffe oder in der Gefühlsbetonung derselben und durch Mangel an genügenden Hemmungen verhindert sind, sich innert der von unserer sozialen Ordnung geforderten Schranken zu halten. 2. Diese Abnormität ist die Äusserung einer abnormen Hirnorganisation, welche ihrerseits bedingt wird durch eine von vornherein defekte Keimanlage und äussere Einflüsse. Die letzteren müssen, um den 5 eigentlichen Verbrecher zu erzeugen, lediglich die Hirnkonstitution selbst treffen, nicht nur nach Art einer schlechten Erziehung auf die Begriffsbildung einwirken. 3. Der Defekt des Verbrechers trägt alle Charaktere des Krankhaften. 4. Einen freien Willen gibt es überhaupt nicht. Bleuler gibt bemerkenswerterweise zu, dass Menschen aus der Unterschicht einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, Opfer einer derartigen Hirnpathologie zu werden. Aufgrund der offensichtlich beim Verbrecher vorhandenen Degenerationszeichen war Bleuler zuversichtlich, mittels guter Erziehung von Kindern aus degenerierten Familien, Hebung der Hygiene im Allgemeinen und namentlich mit der Verminderung des Alkoholismus prophylaktische Arbeit leisten zu können. Gerade der positivistischen Schule ist von liberal-konservativer Seite her Kritik erwachsen: Sie verneine den freien Willen des Menschen und sei letztlich inhuman, ein Vorwurf, den man auch der Psychoanalyse und der Soziologie machen könne, die kriminelle Handlungen als determiniert, also zwangsläufige Folge spezifischer biographischer oder gesellschaftlicher Bedingungen verstünden (Lange 1970). Der Psychopathiebegriff Der Begriff Psychopathie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals eingeführt. Koch (1841-1908) prägte den Begriff der psychopathischen Minderwertigkeiten. Er beschrieb diesen ganz im Sinne des Degenerationsgedankens: Die angeborenen psychopathischen Minderwertigkeiten haben ihre Ursache in der Vererbung einer Schädigung des Nervensystems. In besonderen Fällen bestanden bei den Vorfahren Geisteskrankheiten oder sonst Erbleiden (Hermle 1986). Auch wenn Kochs Minderwertigkeit nicht unbedingt pejorativ gemeint war, hat sie zweifellos zur negativen Konnotation der Psychopathie geführt. Koch insbesondere verstand unter psychopathischer Minderwertigkeit nicht nur geborene Verbrecher, sondern auch Menschen mit schwächlicher, vulnerabler Konstitution. Auch Kraepelin, auf den die heutige moderne psychiatrische Diagnostik zurückgeht, nahm den Psychopathiebegriff in sein mehrere Male revidiertes Lehrbuch auf. Zu Beginn stand er dabei eindeutig unter dem Eindruck der Degenerationslehre und beschrieb unter dem Begriff der Psychopathie hauptsächlich den geborenen Kriminellen, die unruhigen Personen, die Lügner, Schwindler und Pseudoquerulanten. In seiner achten Auflage unterscheidet er die Erregbaren, Haltlosen, Triebmenschen, Verschrobenen, Lügner und Schwindler, die Gesellschaftsfeinde sowie die Streitsüchtigen. Kraepelins moralisierende Betrachtungsweise lässt sich wohl am ehesten durch seine Persönlichkeit und den Zeitgeist verstehen (Sheperd 1995). Die Grundlage der heutigen Einteilung der Persönlichkeitsstörungen, also der modernen Bezeichnung für Psychopathie, bildeten aber Kurt Schneiders zehn Typen, die er 1928 formuliert hat. Kurt Schneider definiert den Psychopathen als Menschen, die entweder deutlich an sich selbst leiden oder unter deren Aktion andere Menschen leiden. Kurt Schneider war sich der Problematik der moralisierenden Konnotation des Begriffes der Psychopathie sehr wohl bewusst. Er attestierte nicht nur den Gemütlosen, sondern auch den Stimmungslabilen und Explosiblen einen Hang zu dissozialen und antisozialen Handlungen. Er verstand seine zehn Formen der Psychopathie als Typen, welche die Wirklichkeit nur unzureichend beschreiben. Den Begriff der Krankheit oder Diagnose lehnte er ausdrücklich ab. Da es für Kurt Schneider nicht vorstellbar erschien, dass irgend eine Hirnpathologie für diese Persönlichkeitsvarianten verantwortlich sein könnten, lehnte er hier, im Gegensatz zu den psychotischen Erkrankungen, bei denen er eine hirnorganische, noch nicht bestimmte Ursache annahm, eine Verminderung oder Aufhebung der 6 strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit ab. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Agnostizismus“ (Schneider 1950). Tabelle 1: Psychopathen nach Schneider (1928) die Hyperthymen, heiter Betriebsamen, mit einem Hang zu Übertreibung und pathologischem Lügen; die Depressiven, also pessimistisch, skeptisch, depressiv Verstimmte; die Selbstunsicheren mit den beiden Unterformen der Ängstlich-Sensitiven und der zwanghaft Anankastischen; die Fanatischen: Einerseits expansive, aktive Personen, andererseits die querulatorischen Verfechter ihrer Ideen; sowie die Sektierer; die Geltungsbedürftigen, also die theatralisch Phantasiereichen mit einer Neigung zu Pseudologia phantastica; den naheliegenden Begriff „Hysterisch“ lehnte Kurt Schneider ab; die Stimmungslabilen, also Menschen mit extremer Stimmungsschwankungen zwischen grob-brutal, jähzornig sowie plump-vertraulich, süsslich, bigott; die Explosiblen, die zwar allgemein angepasst und ruhig sind, jedoch zu Kurzschlussreaktionen im weitesten Sinne neigen; die Gemütlosen ohne Moral, mit fehlendem Gefühl für Moral und Normen; unverbesserlich; Neigung zur Kriminalität, auf der einen Seite zu erstaunlichen Leistungen im Sinne „stahlharter Naturen“ fähig, in Führungspositionen auf der anderen Seite; die Willenlosen, also abhängige Menschen ohne Widerstand mit einem Hang fürs Dissoziale aufgrund ihrer Verfügbarkeit und Unzuverlässigkeit; die Asthenischen, also überempfindliche, körperlich leicht versagende, sich selbst unzulänglich Fühlende. Petrilowitsch Monographie „Abnorme Persönlichkeiten“ aus dem Jahr 1960 fügt der Arbeit Schneiders wenig Neues dazu, sieht man von der dezidierten Ablehnung psychoanalytischen Gedankengutes ab: Für Petrilowitsch ist die Höhe der Jugendkriminalität in den USA oder auch in Schweden, Ländern, in denen sich psychoanalytische Anschauungen in überraschendem Masse durchgesetzt hatten, ein Indiz dafür, dass eine Erziehung zur totalen Freizügigkeit entsprechend der Beachtung des Lustprinzips negative Folgen haben könnte (Petrilowitsch 1966). Psychodynamische Konzepte Sigmund Freud legte sein Augenmerk primär auf die Symptome psychischer Störungen. Sie stellten für ihn besondere Möglichkeiten für die Patienten dar, ihre unbewussten Wünsche und nicht befriedigten Bedürfnisse in symbolisierter Form auszudrücken. Konsequent ist deshalb sein Verständnis dissozialen Verhaltens als Selbstbestrafungswunsch. Erst später in seinem Werk hat er sich für Charakter als überdauerndes Merkmal interessiert (Fiedler 1995). August Aichhorn (1957), ein ehemaliger Lehrer, leitete in Österreich nach dem ersten Weltkrieg zwei Erziehungsheime für jugendliche Verwahrloste. Aichhorn erklärte schwere Verwahrlosung durch eine missglückte Identifikation bzw. ein nicht erreichbares – wie er es nannte – Ich-Ideal, welches Schuldgefühle und den Wunsch nach Bestrafung auslösten. In anderen Fällen sei ein falsch ausgebildetes Ich-Ideal, welches durch eine spezifische Subkultur vermittelt würde, Ursache dissozialen Verhaltens. Seine oft erfolgsträchtige Methode würde man heute „Paradoxe Intervention“ nennen. Schliesslich räumte er aber auch ein, dass es defekte Erbanlagen gäbe, welche die Ausbildung eines gesunden Ich-Ideals verunmöglichten. 7 1981 hat Rauchfleisch seine Monographie „Dissozial“ veröffentlicht. Sein Anliegen ist es, eine Psychodynamik der dissozialen Entwicklung zu geben. Er bezieht sich dabei auf die ObjektBeziehungstheorie Margret Mahlers und beschreibt den Dissozialen als einen Menschen mit archaischen Abwehrmechanismen wie projektiver Identifikation und Spaltung. Ähnlich den Ausführungen Aichhorns versteht er das Über-Ich des Dissozialen als sadistisch und nicht in die Gesamtpersönlichkeit integrierbar, so dass dieses entweder verdrängt oder in die Umwelt projiziert würde. Dies erkläre, warum der Dissoziale unter harschen Bedingungen sehr wohl funktionieren könne, in Freiheit aber seinen Wünschen nach unmittelbarer Triebbefriedigung schutzlos ausgesetzt sei. Kritisch zu Rauchfleischs Ausführung kann bemerkt werden, dass es sich hauptsächlich um eine theoretische Arbeit handelt (Rauchfleisch 1981). Auch Kernberg geht von einer Über-Ich-Pathologie der Dissozialen aus: Die antisozialen Patienten würden bewusst ihre Therapeuten belügen. Sie verstünden zwar die moralischen Forderungen der äusseren Realität, denen sie Lippendienste erweisen müssten, sie verstünden aber nicht, dass diese Forderungen ein authentisches Moralsystem repräsentierten. Ihre Fähigkeit, wirkungsvoll zu lügen, zeige eine gewisse Integration des Selbst, diese Integration aber basiere auf dem pathologischen Grössenselbst der narzisstischen Persönlichkeit und folge ausschliesslich dem Lustprinzip. Es gäbe eine durchgehende Linie vom passiven, ausbeuterischen, parasitären Psychopathen bis zum offen sadistischen Kriminellen. Soziale Umstände, welche die Manifestation primitiver Aggression und Grausamkeit erleichterten, schüfen einen natürlichen Unterschlupf für diese Persönlichkeitsstrukturen. Normalerweise sei eine psychotherapeutische Behandlung in diesen Fällen äusserst problematisch (Kernberg 1992). Dimensionale Betrachtungsweisen Die medizinische kategorielle Betrachtungsweise ist nicht ganz unumstritten, da sie der Wirklichkeit nicht gerecht würde. Schon Jung unterschied die Dimensionen Extraversion versus Intraversion. Ebenfalls dimensional dachte Ernst Kretschmer mit seinem Körperbau und Charakter, wobei er den drei Körperbautypen leptosom, pyknisch und athletisch verschiedene Temperamente zuschrieb. Seine Theorien gelten heute als widerlegt (Sass 2003). Eysenck unterschied die Gegensatzpaare Intraversion/Extraversion und Neurotizismus/Stabilität. Später erweitere er diesen Gegensatz um die Dimension des Psychotizismus (Fiedler, 1995). Eysenck legt Wert auf personenspezifische biologische Prädispositionen. Für ihn gibt es primäre Psychopathen, welche einen erhöhten Psychotizismus und erhöhte Extraversion aufwiesen; sekundäre Psychopathen weisen einen hohen Neurotizismus sowie hohe Extraversion auf. Erstere hätten ein niedriges Angstniveau und seien unempfindlich für Drohungen und Bestrafung. Letzere seien ebenfalls wenig lernfähig und konditionierbar, sie litten jedoch unter schweren Frustrationen und inneren Konflikten. Während man der kategorialen Betrachtungsweise des Persönlichkeitsstörungs-Problems durchaus vorwerfen kann, sie sei nicht wirklichkeitstreu, muss man zu einer rein dimensionalen Betrachtungsweise sagen, diese erfülle nicht die Forderung, die man an die forensische Psychiatrie stellen muss, also klinische Störungsbilder einem – für die Juristen unerlässlichen – Rechtsbegriff zuzuordnen. The Mask of Sanity / Psychopathy 1930 schlug Patridge vor, die „Psychopathy“ von den Extremvarianten einer „Sociopathy“ zu trennen. Grossen Einfluss auf die spätere Definition der antisozialen Persönlichkeit hatte Cleckley mit seiner zwischen 1941 und 1976 in fünf Auflagen erschienenen Monographie „The mask of sanity“. (Cleckley 1996). Cleckley war es ein grosses Anliegen, dass der Begriff „Psychopath“ von anderen klinischen Entitäten wie Minderintelligenz oder sexuelle Deviation, die früher unter „konstitutionelle 8 psychopathische Minderwertigkeiten“ subsumiert worden sind, abgegrenzt wird. Cleckleys „Psychopath“ wurde in die DSM-II (1968), dort allerdings unter dem Begriff der „antisozialen Persönlichkeitsstörung“, aufgenommen. Cleckley arbeitete in einem „Federal Hospital“ in Augusta/Georgia in den Südstaaten der USA, also in einer Psychiatrischen Klinik, die für die bundesweite Versorgung von ehemaligen Armeeangehörigen (Veterans Administration) zuständig war. Über eine Zeit von 29 Monaten während der Jahre 1935-1937 führte er über die Neueintritte Statistik und berichtet, dass von 857 Zugewiesenen 102 die Diagnose „Psychopathic Personality“ erhalten hätten. Da man annehmen dürfe, dass bei den 134 Patienten mit der primären Diagnose Alkohol- oder Drogenabhängigkeit die Mehrzahl ebenfalls ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen dürften, schätzt er die Anteile von „Psychopaths“ unter den frisch Aufgenommenen dieser Klinik auf gut 1/5 der Patienten ein. Cleckley wundert sich über den geringen Raum, der dem Problem des „Psychopath“ in den Lehrbüchern der Psychiatrie gewidmet sei und nennt ihn den „forgotten man of Psychiatry“. Cleckley's Anliegen ist es, das klinische Bild des „Psychopath“ hinreichend abgrenzen zu können. Anhand von 15 Kasuistiken, darunter zwei Frauen, versucht er, den „Psychopath“ in seinen sozialen Bezügen zu charakterisieren. Da er im klinischen Status kaum je bedeutsame psychopatholgoische Symptome zeige, lasse sich eine Diagnose nur anhand seiner biographischen Analyse machen. In vielen Fällen handelt es sich um die Geschichte eines „schwarzen Schafes“, welches trotz intakter Familienverhältnisse und besorgter Eltern beständig gesellschaftliche Normen verletzt, ein bisweilen absurdes, selbstschädigendes Verhalten an den Tag legt, zu keinen verbindlichen Absprachen fähig ist und dem es aufgrund seines oberflächlichen Charmes immer wieder gelingt, trotz Betrügereien, Schlägereien, Trunkenheit und ungebührlichen Auftretens in der Öffentlichkeit, den widrigen Folgen seines unpassenden Benehmens zu entgehen, indem es vom Gefängnis in die Psychiatrie eingewiesen und von dort nach feierlichen Versprechungen in die Freiheit entlassen wird, um kurz nach erneutem Verstoss gegen die öffentliche Ordnung wieder verhaftet oder hospitalisiert zu werden. In fast allen Fällen handelt es sich um Menschen, die bis ins mittlere oder höhere Alter ihr Muster maladaptiven Verhaltens beibehalten. Interessant ist Cleckleys Exkurs über die nicht voll ausgebildete Manifestation dieses Krankheitsbildes, nämlich des gesellschaftlich erfolgreichen „Psychopath“, den er anhand von sechs Kasuistiken erläutert: Der „Psychopath“ als Geschäftsmann, als Mann von Welt, als Gentleman, Wissenschaftler, Arzt und Psychiater. Wohl jedermann kennt in seinem Bekanntenkreis durchaus vergleichbare Fälle. Vom gewöhnlichen Kriminellen insbesondere unterscheide sich der „Psychopath“ aufgrund seines wenig zielgerichteten Handelns, durch seine mangelnde Solidarität mit anderen Gesetzesbrechern und seine Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen. Zudem seien schwere Gewalttaten beim klassischen „Psychopath“ eher nicht zu erwarten. Um ein noch anschaulicheres Bild geben zu kennen, nennt er einige Beispiele aus der Weltliteratur und Geschichte: Scarlett O Hara, eine der beiden Hauptprotagonisten in „Vom Winde verweht“, scheint ihm ein besonders eindrückliches Beispiel zu sein. Besonders anschaulich sei aber die Biografie von Alkibiades, des begabten, charmanten und gleichwohl unverantwortlichen Politikers aus dem klassischen Athen, dessen kaum nachvollziehbares und sprunghaftes Verhalten zum Niedergang des klassischen Athen geführt hat. Cleckley legt Wert darauf, seine „Psychopaths“ von anderen notorischen „Übeltätern“ der Geschichte wie Adolf Hitler, Nero, Gilles de Rais oder Marquis de Sade abzugrenzen. Ich selbst empfinde Patricia Highsmith’s Tom Ripley als besonders gelungene Darstellung eines „Psychopath“. Als Synthese seiner klinischen Beschreibungen präsentiert Cleckley eine Kriterienliste mit 16 Items: 9 Tabelle 2: Psychopathie nach Cleckley (1976, S. 337) Oberflächlicher Charme und durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz; Keine Wahnvorstellungen oder andere Anzeichen emotionalen Denkens; Weder Angst noch andere neurotische Symptome, auffallende Gelassenheit, Ruhe und Wortgewandtheit; Unzuverlässigkeit, keinerlei Pflichtgefühl, weder in grossen noch in kleinen Dingen; Verantwortungsgefühl; Falsch und unaufrichtig; Kennt weder Reue noch Schamgefühl; Antisoziales Verhalten, dass weder angemessen motiviert noch geplant ist und dessen Ursache eine unerklärliche Impulsivität zu sein scheint; Geringe Urteilskraft und unfähig, aus Erfahrung zu lernen; Pathologisch, egozentrisch, vollkommen selbstzentriert, unfähig zu wirklicher Liebe und Bindung; Genereller Mangel an tiefen und dauerhaften Emotionen; Fehlen jeglicher Einsicht, unfähig, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen; Keine Anerkennung anderer für besonderes Bemühen für Freundlichkeit und entgegengebrachtes Vertrauen; Launenhaftes und anstössiges Verhalten unter Alkoholeinfluss und manchmal sogar auch nüchtern; Pöbelhaftigkeit, Grobheit; Keine ernsthafte Suizidversuche; Unpersönliches, triviales und kaum integriertes Sexualleben; Unfähig, sein Leben zu planen oder seinem Leben eine Ordnung zu geben. Cleckley gesteht, auch nach der 5. Auflage seines Buchse weder über Ursache noch Behandlung dieses klinischen Krankheitsbildes genaueres sagen zu können. Cleckley vermutet beim „Psychopath“ einen tiefliegenden Defekt, den er analog zum neurologischen Begriff der semantischen Aphasie, also dem Unvermögen, bei intakten Sprechwerkzeugen die Bedeutung des Gehörten und Gesprochenen zu verstehen, als semantischen Defekt („semantic disorder“) bezeichnet, der es dem „Psychopath“ verunmögliche, Werte wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Loyalität oder das, was er „meaning of life“ nennt, wirklich nachfühlen zu können. Er frage sich deshalb, ob man, wenn ein „Psychopath“ sein Ehrenwort gebe, um es bald darauf zu brechen, wirklich von Heuchelei sprechen könne. Der Krankheitswert dieser Störung entspreche für ihn demjenigen einer Psychose. Auffallend an Cleckleys Buch ist seine schroffe und wiederholte Ablehnung psychodynamischer, insbesondere psychoanalytischer Überlegungen. Um so mehr erstaunt, dass gerade ein psychoanalytischer Autor wie Kernberg Cleckleys Werk bahnbrechend bei der Definition der „Antisozialen Persönlichkeitsstörung“ nennt (Kernberg 1992). Cleckleys vermutet hinter vielen der irrational erscheinenden Handlungen von „Psychopaths“ die existentielle Sinnlosigkeit eines Lebens ohne „höhere Werte“ und infolgedessen eine fundamentale Langeweile. Gerade seine „höheren Werte“ offenbaren aber eine (zeitgebundene) konservative Einstellung des Autors, die sich insbesondere bei der Schilderung der beiden weiblichen Fälle offenbart. Trotz dieses Konservatismus ist Cleckleys Annahme eines „semantic disorder“ als eines Defektes, unter dem der „Psychopath“ leide, sowohl faszinierend als auch nützlich. Immer noch gültig ist seine 10 Erkenntnis, die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung oder eben von „Psychopathy“ lasse sich nur anhand einer umfassenden biographischen Analyse machen. Die Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) R. Hare hat, basierend auf Cleckley's Beobachtungen, seine PCL (Psychopathy Checklist) bzw. PCL-R (Psychopathy Checklist-Revised) entwickelt (Hare, 1991). Wichtig ist seine Aufteilung in die zwei je 10 Items umfassenden Faktoren Persönlichkeit oberflächlicher Charme, übersteigertes Selbstwertgefühl oder Abgestumpftheit,und antisozialer Lebensstil, also Sensation Seeking, Impulsiver Lebensstil oder Verantwortungslosigkeit. Jedes Merkmal kann mit 0 = „nicht vorhanden“, 1 = „möglicherweise vorhanden“ oder 2 = „ausgeprägt vorhanden“ kodiert werden. Das zu erzielende Maximum beträgt 40 Punkte, im angelsächsischen Sprachraum gilt man ab 30 Punkten als „Psychopath“, im europäischen schon ab 25. Der PCL-R kann auch in der Allgemeinpsychiatrie künftiges gewalttätiges Verhalten voraussagen. So bedeutete ein hoher Wert in der „MacArthur Study of Mental Disorder and Violence“, einer multizentrischen, prospektiven Studie über mehr als 900 Patienten, ein Risikofaktor für gewaltsame Zwischenfälle ein Jahr nach Entlassung aus einer Klinik, akute psychotische Symptome dagegen nicht (Monahan 2001). Hare hat in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Whithout conscience“ ausgeführt, was er unter einem Psychopathen versteht (1993). Die PCL-R wird immer mehr auch im deutschen Sprachraum angewendet (Hartmann 2001). So ist es zum Beispiel einer deutschen Forschungsgruppe gelungen, forensische Patienten, die entweder als „Psychopaths“ beurteilt worden sind oder an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung litten, mittels Änderung des Hautwiderstandes nach affektiven Reizen bezüglich ihrer emotionalen Antwort deutlich zu unterscheiden (Herpertz 2001). Was die o. e. PCL-R betrifft, ist sie in der Versicherungsmedizin von eher beschränktem Wert, da das Konstrukt „Psychopathy“ sich zu einem grossen Teil auf registrierte Kriminalität bezieht. Schon Fiedler, aber auch Kurt Schneider haben aber darauf hingewiesen, dass gewisse gesellschaftliche Bedingungen amoralisches, gewissenlose Verhalten belohnen; skrupellose „Tatmenschen“ können im Sport aber auch in sonstigen gesellschaftlich gerade opportunen Betätigungen durchaus erfolgreich und anerkannt sein (Fiedler 1995). Hirnorganische und soziobiologische Erklärungsmodelle Die Ähnlichkeiten der Verhaltensstörungen bei objektiver Hirnschädigung und die psychopathologischen Auffälligkeiten der dissozialen Persönlichkeiten haben immer wieder die Hypothese einer organischen Grundlage der abnormen Persönlichkeiten gestützt. Gut dokumentiert ist der Fall des Eisenbahnarbeiters Phineas Cage, dem 1848 durch einen Sprengunfall eine Eisenstange unter dem Jochbein hindurch ins Frontalhirn getrieben wurde und zur Folge hatte, dass der zuvor liebenswürdige Mann sich in einen missmutigen und gewalttätigen Asozialen verwandelte. Es ist immer wieder über den Zusammenhang der frühkindlichen Hirnschädigung, der minimalen zerebralen Dysfunktion und des Syndroms des hyperaktiven Kindes nachgedacht worden. Lempp, ein Kinderpsychiater, unterschied zwischen den primären Folgen des sogenannten psychoorganischen Syndromes, also des heutigen ADHS, welches zu charakteristischem Fehlverhalten führe sowie den sekundären Neurotisierungen durch die Umgebung dieser Kinder. Seit Jahrzehnten sind elektroenzephalographische Auffälligkeiten bei Psychopathen bekannt. Die am häufigsten beschriebenen Auffälligkeiten seien Thetawellen, temporale Dysrhythmien und Hyperventilationsänderung. All diese Studien sind aber vor den 70-er Jahren durchgeführt worden, zu 11 einem Zeitpunkt, als es meines Erachtens noch keine reliablen Kriterien für die Diagnose einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung gegeben hat. Zuckermann hat 1975 eine sogenannte „Sensation Seeking Scale“ entwickelt zur Erfassung der bei „Psychopathen“ immer wieder gefundenen Angstfreiheit. Lerntheoretisch orientierte Psychologen wie Eysenck schlossen auf eine verminderte Konditionierbarkeit, aus der die immer wieder beobachtete Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, folge (Fiedler, 1995). Kritisch bemerkt Sass, dass diese reduzierte Fähigkeit, Strafe zu erleben, gewisse sadistische Gewalttaten von Psychopathen nicht erkläre, wenn man diese Gewalttaten nicht auf ein menschliches Grundbedürfnis zurückführen wolle. Die zentralen Entscheidungsvorgänge und die Ebene des motivierten Verhaltens müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden, die sich so nur aus biographisch entstandenen Strukturelementen erklären liessen (Sass 1987). Raine beantwortet in seinem Werk „The Psychopathology of Crime“ die Frage, „Is Crime a Disorder?“ Eindeutig mit „ja“. Er verweist auf eine erniedrigte Herzfrequenz und verminderten Hautwiderstand von dissozialen Kindern als Ausdruck einer nur schlecht zu tolerierenden vegetativen verminderten Erregbarkeit, die ihrerseits das „Sensation seeking“ erkläre (Raine 1993). Gewalttätige Straftäter sollen im präfrontalen Cortex eine elfprozentige Volumenverminderung der grauen Substanz gegenüber einer Vergleichsgruppe aufweisen (Raine 2000). Evolutionsbiologisch könnte antisoziales Verhalten eine bestimmte Zeit von Vorteil sein, wie ein Modell aus der Spieltheorie („Tit for tat") zeigt: In einer fiktiven Gesellschaft, bestehend aus Betrügern, gutmütigen Trotteln und Misstrauischen würden die Gutmütigen und die Misstrauischen miteinander Geschäfte zum gegenseitigen Profit machen, die Betrüger ihre Mitspieler aber immer schädigen und zunächst grosse Vermögen anhäufen: Während die Misstrauischen sich nur aber einmal betrügen liessen, würden die Gutmütigen schon bald ihr Vermögen verloren haben, die Betrüger aber keine Geschäftspartner mehr finden und nur noch untereinander zum beidseitigen Nachteil miteinander handeln können (Raine, 1993). Mehrere grosse Langzeitstudien belegen, dass chronisch delinquentes Verhalten in der Regel seit der frühen Jugend persistiert. In seiner Monographie „Deviant Children Grown-up“ berichtete Robins über 524 Probanden, welche wegen kindlicher Auffälligkeiten klinisch untersucht und 30 Jahre später nachuntersucht worden waren. Beim Vergleich mit einer Kontrollgruppe stellte sich die Frage, ob Problemkinder auch zu Problemerwachsenen würden; diese Frage ist eindeutig bejaht worden. Robins kam zum Schluss, dass der beste kindliche Prädiktor für die „Sociopathic Personality“ das Ausmass des antisozialen und vor allem des aggressiven Verhaltens in der Kindheit und Jugend sei (Robins, 1966). Farrington und West haben schliesslich 1990 über 411 männliche Jugendliche berichtet, die in einer Arbeiterwohngegend in London aufgewachsen sind. Sie haben die Probanden erstmals im Alter von 8, dann 10 und 14, sowie erneut mit 16, 18 und 21 Jahren, später auch mit 25 und 32 Jahren untersucht. Folgende Faktoren, die bis zum Alter von zehn Jahren bei den Kindern festgestellt wurden, hatten den höchsten prädiktiven Wert für das Auftreten von Delinquenz und Kriminalität in der späteren Jugend und im Erwachsenenalter: Beurteilung der Kinder durch ihre Lehrer als besonders verhaltensauffällige und zugleich unehrliche Schüler; Grossfamilie in engem Raum, strenge und uneindeutige Erziehungsstile der Eltern, kriminelle Eltern und delinquente ältere Geschwister, Beziehungsschwierigkeiten und Konflikte der Eltern untereinander (Farrington & West, 1990). Moderne, operationalisierte Klassifikationssysteme Ende der 70-er Jahre ist die DSM-III, das diagnostische statistische Manual der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie, eingeführt worden, welches sich um eine „theoriefreie“, beschreibende, kaum die Ätiologie berücksichtigende, operationalisierte Diagnostik bemühte. Von diesen so leicht durch Dritte nachzuvollziehenden Diagnosen sollten nicht zuletzt Sozialversicherungen oder die forensische 12 Psychiatrie profitieren. Eine revidierte Fassung der DSM-III, die DSM-III-R wurde 1987 eingeführt und 1991 die ICD-10, welche das Prinzip der „theoriefreien“, operationalisierten Diagnostik übernahm. Neu war neben der Operationalisierung der Diagnose die sogenannte Komorbidität, also z.B. Suchterkrankung bei Persönlichkeitsstörung, was dem früheren „sekundären Suchtmittelabusus“ entspricht. DSM unterscheidet zwischen psychiatrischen Störungen im engeren Sinn, der sogenannten Achse I und den Persönlichkeitsstörungen, der Achse II. Es gibt auch komorbide, sog. kombinierte Persönlichkeitsstörungen. Zur Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung ist sowohl bei der DSM als auch der ICD-10 die Erfüllung von sogenannten Eingangskriterien notwendig. Definiert wird sie als schwere Unausgeglichenheit und mangelnde Flexibilität des Verhaltens und des Charakters bei fehlendem Nachweis einer hirnorganischen Veränderung. Tabelle 3: Die Eingangskriterien zur Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 - - - - - Deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und dem Verhalten in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu andern. Das abnorme Verhaltensmuster ist andauernd und nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt. Das abnorme Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen unpassend. Die Störung beginnt immer in der Kindheit oder Jugend und manifestiert sich auf Dauer im Erwachsenenalter. Die Störung führt zu deutlichem subjektivem Leiden, manchmal erst im späteren Verlauf. Die Störung ist meistens mit deutlichen Einschränkungen in der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit verbunden. Die einzelnen Typen von Persönlichkeitsstörungen werden anhand einer Auswahl von sechs bis zehn Kriterien diagnostiziert, von denen nur eine bestimmte Auswahl, meistens zwei bis drei, erfüllt sein muss. Man nennt dies eine polythetische Vorgangsweise. Die Tatsache, dass bei dieser Auswahl ein hoher Grad an Überlappung möglich ist, ist auf Kritik gestossen; gerade diese Überlappung scheint aber der Wirklichkeit zu entsprechen (Fehlenberg 2000). Tabelle 4: Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 und DSM-IV im Vergleich ICD-10 DSM-IV Cluster A sonderbar, exzentrisch Paranoide (F60.0) Schizoide (F60.1) Paranoide Schizoide Schizotype Cluster B dramatisch, emotional emotional instabile: vom Borderline-Typ oder vom impulsiven Typ (F60.3) Histrionische (F60.4) Dissoziale (F60.2) Borderline Histrionische Dissoziale Narzisstische 13 Cluster C ängstlich, vermeidend Ängstliche Abhängige Anankastische Passiv-aggressive (F60.6) (F60.7) (F60.5) (F60.8) Selbstunsichere Abhängige Zwanghaft Passiv-aggressive Die Gruppierung der Persönlichkeitsstörungstypen der DSM-IV in einem Cluster A, den „Sonderbaren“, einem Cluster B, den „Dramatischen“ und Cluster C, den „Asthenisch-Furchtsamen“, stösst nicht überall auf Gegenliebe, obwohl sie aufgrund praktischer Erfahrungen als sinnvoll erscheint. Sie macht nicht zuletzt deshalb Sinn, da es Hinweise gibt, dass Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster B oft im Kontext scherst dysfunktionaler Familien zu sehen sind, sodass man bisweilen fast von "ChronischPosttraumatischer Persönlichkeitsänderung" zu sprechen geneigt ist, während die Cluster A Persönlichkeitsstörungen in ihrer Entstehung stärker genetisch geprägt sind. Die Interraterreabilität, also die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Diagnostikern, ist auch heute noch nicht vollends befriedigend, wie man im klinischen Alltag immer wieder feststellen kann. Literatur und Film liefern z.T. hervorragendes Anschauungsmaterial zum Verständnis der diversen Persönlichkeits-störungen. Man mag das medizinische, kategoriale Ordnungsprinzip in der zeitgenössischen Psychiatrie kritisch sehen, allerdings würde man bei der Verwendung von „cut-off“-Werten bei einer quantitativen, d.h. dimensionalen, Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen genauso wiederum Kategorien schaffen. Laubichler und Kühberger (2003) haben in einer eigenen Arbeit aus Österreich über die Begutachtung der Arbeitsfähigkeit von 209 Personen, die nicht oder nur schwer auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten, berichtet. 118 (56%) von ihnen litten an einer Persönlichkeitsstörung, 46 (22%) an einer schweren psychiatrischen Störung i. S. eines „Major Mental Disorders“. 76 (64%) der Persönlichkeitsgestörten wurden als nicht arbeitsfähig eingestuft, davon wiesen 37 (49%) die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung, 25 (33%) die einer passiv-aggressiven und 11 (14%) die einer asthenischen Persönlichkeitsstörung auf. Leider haben die Autoren es versäumt, anzugeben, worauf sie ihre Einschätzung gründeten. Interessanterweise handelt es sich bei der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung um eine im deutschsprachigen Raum selten verwendete Diagnose – im nichtpsychiatrischen Sprachgebrauch würde man diese Menschen als „Miesmacher“ oder „Querulanten“ bezeichnen, aber kaum auf die Idee kommen, dass es sich dabei um eine psychiatrische Störung i. e. S. handelt. Ich selbst habe diese Diagnose i. d. R. bei chronischen Brandstiftern, die ich zu begutachten hatte, gestellt. Komorbiditäten und Differentialdiagnosen Fiedler (1995) hat in seinem Lehrbuch insbesondere auf die häufigen Komorbiditäten wie affektive Störungen oder Abhängigkeitserkrankungen und Persönlichkeitsstörung hingewiesen. Gerade Betäubungsmittel- und/oder Alkoholmissbrauch wären Ausdruck der eingeschränkten Copingstrategien beispielweise von narzisstisch gekränkten Menschen. Die untenstehende Tabelle gibt eine Übersicht differentialdiagnostisch zu erwägende und komorbide psychiatrische Störungen. 14 Tabelle 5: Komorbiditäten und Differentialdiagnosen Differentialdiagnosen - Residualsymptomatik einer chronisch paranoiden Schizophrenie - Posttraumatische Wesensveränderungen - Tiefgreifende Entwicklungsstörung i. S. des Aspergersyndroms - Erwachsenen ADHD - Posttraumatische Stressbelastungsstörung Typ II - Bipolar affektive Störung, hebephrene Schizophrenie - Tiefgreifende Entwicklungsstörung im Sinne des Asperger Syndroms - Allgemeine phobische Störung - Unspezifisch - Erwachsenen ADHD - Dysthymie ICD-10 Persönlichkeitsstörungen Komorbidität Paranoide (F 60.0) - Depressive Störung - Alkoholabhängigkeit Schizoide (F 60.1) - Nicht stofflich gebundene Abhängigkeitsstörung, z.B. Internetsucht (Kinderpornographie) - affektive Störung Dissoziale (F 60.2) Emotionale instabile vom Borderline-Typ (F 60.31) Histrionische (F 60.4) Anankastische (F 60.5) Ängstliche vermeidende (F 60.6) - Multipler Missbrauch psychotroper Substanzen - Multipler Substanzenmissbrauch - Keine spezifische - Nicht stoffgebundene Abhängigkeit - Alkoholmissbrauch Asthenische (F 60.0) - Chronisch affektive Störung - Abhängigkeitsstörung von legalen Substanzen Narzisstische (F 60.80) - Rezidivierend depressive Störungen, Abhängigkeitssyndrom von multiplen Substanzen Passiv aggressive (F 60.81) - Keine spezifische 15 Diagnostik und Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen in der Versicherungsmedizin Eine psychiatrische Diagnose begründet im forensisch psychiatrischen Kontext weder das Ausmass der Schuldfähigkeit noch im versicherungspsychiatrischen Kontext das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit. Selbstverständlich ist es auch für Laien offensichtlich, dass akut halluzinierende bzw. delirante Menschen weder schuldfähig noch arbeitsfähig sind; ferner lehrt die Erfahrung, dass zwischen diesem Extrem und der völligen Schuldfähigkeit bzw. Arbeitsfähigkeit ein Kontinuum eingeschränkter Fähigkeiten gibt. Sass hat in der Folge ein sog. psychopathologisches Referenzsystem entwickelt, anhand dessen der Grad der Gestörtheit bzw. das psychosoziale Funktionsniveau des Betroffenen in Analogie zu anderen psychischen Krankheiten gemessen werden kann (Sass 1987). Tabelle 6: Kriterien zur Beurteilung der möglichen Schuldfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen (nach Sass, 1987, S. 119) 1. 2. 3. 4. 5. 6. Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit Chronische konstellative Faktoren, z.B. Suchtmittelabusus, deprivierende Lebensumstände Schwäche der Abwehr und Realitätsprüfungsmechanismen Einengung der Lebensführung Stereotypisierendes Verhalten Häufig soziale Konflikte auch ausserhalb des Delinquenzbereiches .Es gibt mit Ausnahme des Erhebens der Biographie und des Stellens einer Diagnose anhand eines der modernen Diagnostikmanuale bisher keine gesetzlichen oder wissenschaftlichen Regelungen der bei Persönlichkeitsstörungen anzuwendenden Diagnostikmethoden, die Verwendung von psychologischen Tests soll aber nicht einem Selbstzweck dienen, sondern zur Entscheidung-sfindung. Tabelle 7: Vor- und Nachteile testpsychologischer Abklärungen bei Persönlichkeitsstörungen (Littmann 2007). Vorteile der testpsychologischen Abklärung: - Normierung und Eichung an repräsentativen Bevölkerungsstichproben - Die Ausrichtung auf die Querschnittsbetrachtung der Persönlichkeit mit Absicherung, Präzisierung, Bereicherung und Ergänzung der gutachterlichen Diagnosen Nachteil der testpsychologischen Abklärung: - Die meist einseitig eigenschaftszentrierte und isolierende Statusdiagnostik von Persönlichkeitsmerkmalen zum Zeitpunkt der Begutachtung Dazu kommen als spezielle Probleme der Psychodiagnostik bei sozial Auffälligen: - Die ungeprüfte und ungeklärte Validität vieler Tests als Entscheidungshilfen - Das Fehlen adäquater und möglichst auch aktualisierter Testnormen, z.B. auch für ausländische Begutachtungsfällen - Der mittelschichtorientierte Sprachstil vieler Fragebögen - Das Problem des Haltbarkeitsdatums für Testresultate 16 Was nun die Beantwortung der Fragen betrifft, die dem Versicherungspsychiater gestellt werden, sind die Überlegungen, die sich machen muss, denjenigen des forensischen Psychiaters grundsätzlich ähnlich. Im Falle der Persönlichkeitsstörung geht es um das Ausmass der Abweichung von einem gedachten normalen Menschen mit mannigfaltigen Bereichen, also nicht nur in der Arbeitswelt sondern in privaten und sozialen Bezügen. Während der forensische Psychiater bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit es aber in der Regel eher mit jungen Persönlichkeitsgestörten zu tun hat, dürfte dies in der Versicherungspsychiatrie nicht der Fall sein. Entsprechend der ICD-10 sind Persönlichkeitsstörungen als überdauernde Auffälligkeit und mangelnde Anpassungsfähigkeit in der Einstellung und des Verhaltens aufzufassen, m. a. W. sind diese Menschen in ihren Coping-Strategien beschränkt. Insofern sind einige der Sass’schen Kriterien, die für die Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit sprechen, wie deprivierende Lebensumstände, Schwäche der Abwehr und der Realitätsprüfungsmechanismen, Einengung der Lebensführung, Stereotypisierung des Verhaltens sowie häufige soziale Konflikte auch in der Versicherungspsychiatrie durchaus von Bedeutung. Bei psychischen Störungen nach Unfallereignissen wie dem Posttraumatischen Stresssyndrom z.B. wären bei Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster C, also den asthenischen, vermeidenden daran zu denken, dass an das sogenannte A- oder Eingangskriterium, also dem katastrophalen Ereignis, das bei den meisten Menschen zu tiefer Verzweiflung führen würde, die Schwelle möglicherweise tiefer gelegt werden muss als bei einem Durchschnittsmenschen. Auf der anderen Seite muss kritisch bemerkt werden, dass gerade Simulation bzw. Ausnützen der Sozialversicherung ein Kriterium von Psychopathy ist, was gerade bei der Begutachtung von psychischen Folgen eines Unfallereignisses von Relevanz sein dürfte (Dressing 2008). Bisher existierte kein Instrument, um das Ausmass der Beeinträchtigung aus versicherungsmedizinischer Sicht eines Probanden durch eine psychiatrische Störung objektiv und standardisiert messen zu können. Kürzlich ist nun tatsächlich ein derartiges Instrument publiziert worden, nämlich dar sog. Mini-ICF-APP Ratingbogen1 für Aktivitäts- und Partizipationsstörungen, der anhand von 13 Merkmalen einen weiten Bereich von Fähigkeiten abdeckt. Der Untersucher ist aufgefordert, eine fünfstufige Skala, reichend von 0=keine Beeinträchtigung bis 4=Aufhebung der Fähigkeit, reicht. Dieser Mini-ICF ist in Anlehnung an die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO spezifisch für psychische Störungen entwickelt worden. Zwar existiert kein Schwellenwert, bei welchem sie z.B. 100%ige Arbeitsunfähigkeit annehmen können, der Bogen kann aber durchaus als eine „aide mémoire“ verwendet werden, wenn es darum geht, die Fähigkeit und das Funktionieren eines Versicherten anschaulich schildern zu können. Persönlich habe ich noch keine Erfahrung mit diesem Instrument. 1 Linden M, Baron S, Muschalla B (2009), Verlag Hans Huber, Hogrefe AG Bern 17 Tabelle 8: Der Mini-ICF-APP Zu beurteilende Fähigkeit 1. 6. Anpassung an Regeln und Routinen Planung und Strukturierung von Aufgaben Flexibilität und Umstellungsfähigkeit Anwendung fachlicher Kompetenzen Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit Durchhaltefähigkeit 7. Selbstbehauptungsfähigkeit 8. Kontaktfähigkeit zu Dritten 9. Gruppenfähigkeit 10. 11. Familiäre bzw. intime Beziehungen Spontan-Aktivitäten 12. Selbstpflege 13. Verkehrsfähigkeit 2. 3. 4. 5. keine leicht 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 Schweregrad mittelgradig 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 schwer vollständig 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 Abschliessendes Fallbeispiel Der 1975 geborene Herr B. ist als das ältere von zwei Kindern eines gelernten Maschinenschlossers und dessen Frau, die keinen Beruf gelernt hat, geboren worden. Er ist in geordneten Verhältnissen aufgewachsen, über Unfälle oder Krankheiten während der Kindheit ist nichts bekannt. Gegen Ende der Schulzeit soll er gewisse „rebellische" Tendenzen aufgewiesen haben und hat sich einem rechtsextremen Lokalpolitiker angeschlossen. Sein Berufswunsch Ende der Sekundarschule war Betriebsdisponent, was an seinen mangelnden Französischkenntnissen scheiterte. Infolgedessen ist er in einem Internat im Welschland untergebracht worden, was ihm in schlechter Erinnerung ist. Als 18jähriger hat er schliesslich eine Lehrstelle bei der Kantonalbank in Emmenbrücke erhalten, die er erfolgreich abschloss. Die Rekrutenschule hat er mit einigen Schwierigkeiten absolviert, zuletzt aber alle 9 WK's regulär absolviert. Schon während seiner Lehrzeit entdeckte er seine Freude und Begabung für Computer und fand eine Anstellung als Supporter und Programmierer. Er schloss die Lehre als einer der 18 besten des Jahrganges im Kanton ab, fand aber keine Anstellung bei der Bank, was ihn enttäuschte. In der Folge arbeitete er nur noch sporadisch; etwa im Jahre 1972 kam es mit den Eltern bzw. mit seinen sogenannten Erzeugern zu einem Zerwürfnis; laut Angaben des Vaters stellte man ihn vor die Tür, da er mit 25 Jahren immer noch keine Anstellung gefunden hatte. Seit dem Jahr 2003 geht Herr B. keiner regelmässigen Arbeit nach und ist dem Fürsorgeamt der Stadt Luzern bestens bekannt. Sämtliche arbeitsrehabilitativen Massnahmen scheiterten. Seit Herbst 2007 fällt Herr B. durch verschiedene Ordnungswidrigkeiten auf, indem er sich unbefugt auf Geleiseanlagen bewegte, Bauarbeiten störte oder Buschauffeure massiv in ihrer Arbeit behinderte. Im Mai telefonierte er in den frühen Morgenstunden der Stadtpolizei Luzern und teilte mit, er habe soeben in seinem Kalender gesehen, dass er die Polizei ärgern müsse, weshalb er jetzt anrufe. Der Beamte bedeutete ihm, nur anzurufen, wenn er wirklich in Schwierigkeiten sei. Rund 45 Minuten rief er wieder an und der diensttuende Beamte bedeutete ihm wieder nicht mehr anzurufen. Eine knappe Viertelstunde später wiederholte sich das Ganze: Zwischen 03.31 Uhr und 03.34 Uhr rief er die Stadtpolizei sieben-, zwischen 03.48 Uhr und 03.53 Uhr elfmal und insgesamt in der Nacht vom 13.05.2009 zwischen 00.35 Uhr und 06.36 Uhr mehr als 70 Mal an. Man machte ihn schliesslich darauf aufmerksam, er werde zur Anzeige gebracht, wenn er weiterhin anrufen werde, was ihn offensichtlich nur noch mehr angespornt habe. Bei der polizeilichen Einvernahme vom folgenden Tag verweigerte Herr. B. die Angaben. Aufgrund der kaum nachvollziehbaren Natur seiner strafbaren Handlungen habe ich Herrn B. ein erstes Mal Ende Juni 2008 auf der Polizeiwache gesehen und kam zum Schluss, er leide vermutlich an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Er war damals kaum bereit, Auskunft zu geben. Als seine Handlungen nach wie vor persistierten, wurde er schliesslich Ende Juni 2009 in Haft genommen. In der Folge habe ihn aus der Haft in die Psychiatrische Klinik Luzern eingewiesen, in welcher er vom 21. 29.07.2009 hospitalisiert gewesen ist. Der Explorand war in der Folge bereit, oberflächlich Auskünfte über seine Biographie zu geben. Er erklärte sich sogar bereit, an der klinikinternen Fallvorstellung teilzunehmen, verweigerte aber in der Folge jegliche Kooperation, nachdem er mit dem „Service" (ungenügende Anzahl Gipfeli zum Zmorge trotz mehrmaliger Mahnung!) nicht zufrieden war, weshalb er in die Untersuchungshaft zurückverlegt wurde. Er hat in der Folge gegen seine Haft erfolgreich rekurriert. Die für die Erstellung des Gutachtens notwendige Entbindung der Sozialbehörden musste gerichtlich erwirkt werden. Am 22.09.2009 belästigte der Explorand erneut aggressiv einen Buschauffeur. Meine Nachforschung beim Sozialamt der Stadt Luzern ergab, dass man hinsichtlich Arbeitsrehabilitation resigniert habe. Analysiert man die Biographie des Exploranden, verlief diese bis zum frühen Erwachsenenalter recht unauffällig, sieht man vom Umstand ab, dass wir nichts über "romantische Beziehungen" während der Jugendzeit oder eine Leidenschaft im Sinne eines Hobbys erfahren haben. Den Beweis für das Bestehen einer gewissen sozialen Kompetenz hatte er mit dem Absolvieren der RS und der WK's erbracht, in seinem Beruf hat er es sogar zu einer gewissen Anerkennung gebracht, reagierte dann aber über die Massen, als er in seinem Lehrbetrieb nicht mehr arbeiten konnte und schaffte den Anschluss ans normale Berufsleben nicht mehr; der Explorand, der sich zumindest eine gewisse Zeit für eine "Law and order" Partei (Schweizer Demokraten) interessiert hat, scheint zunehmend einen antibürgerlichen Lebensstil gepflegt zu haben, der schliesslich dazu führte, dass ihn seine Eltern vor die Tür stellten. Dieser normalpsychologisch durchaus nachvollziehbare Schritt hat den Exploranden offensichtlich derart gekränkt, dass er seit der Konsequenz jeglichen Kontakt zu den Eltern aufgegeben hat. Dabei irritiert, dass der Explorand durchaus eine gewisse Selbstkritik gegenüber seinen Handlungen äussert. 19 Analysieren wir das Verhalten von Herrn B. aus versicherungspsychiatrischer Sicht, so besteht bei fehlendem Nachweis einer grobhirnorganischen Veränderung eine deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen das störende Verhalten von Herrn B. besteht seit Jahren es besteht kein Zweifel daran, dass sein Verhalten tiefgreifend gestört und in vielen persönlichen und sozialen Situationen unpassend ist Auffälligkeit im Verhalten zeigten sich seit seiner Jugend, wo er keine „romantischen“ Beziehungen einging und sich schon früh politischem Extremismus zugewandt hat, die Störung hat sich aber mit zunehmendem Alter zweifellos akzentuiert einen sicheren Hinweis über subjektives Leid finden wir mit Ausnahme der grotesken Kränkbarkeit nicht Herr B. hat nichts aus seinem zweifellos vorhandenen intellektuellen Fähigkeiten gemacht Nachdem feststeht, dass die Eingangskriterien zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erfüllt sind, untersuchen wir, wie sich diese näher Klassifizieren lässt. Herr B. seit Jahren nun eine Randexistenz mit einem Minimum an materiellen Gütern führe, geprägt von Misanthropie und gelegentlich infantil anmutenden Provokationen, die Ausdruck seines tiefgehenden Ärgers und Ressentiments sein könnten. Wir wissen nichts von intimen Beziehungen, sonstigen Freunden oder Freuden. Er zeige als überdauerndes Muster folgende Merkmale: 1. wenige oder überhaupt keine Tätigkeiten bereiten Vergnügen, 2. er leidet an einer ausgesprochenen Anhedonie 3. er zeigt eine ausgesprochen emotionale Kühle oder flache Aktivität 4. wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit anderen Personen 5. eine übermässige Vorliebe für einzelgängerische Beschäftigungen 6. einen Mangel an engen Freunden oder vertrauensvollen Beziehungen und auch keinen Wunsch nach dem Bestehen einer solchen 7. er zeigt eine deutliche mangelnde Sensibilität im Erkennen und Befolgen gesellschaftlicher Regeln. Die alles sind die Leitmerkmale einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Damit ist die Persönlichkeit des Exploranden aber nur unzureichend beschrieben, er zeigt nämlich auch 1. eine übertriebene Empfindlichkeit bei Rückschlägen und Zurücksetzung 2. eine Neigung zu ständigem Groll wegen der Weigerung, Beleidigungen, Verletzungen oder Missachtung zu verzeihen, wie die nicht mehr vorhandene Beziehung zu den Eltern deutlich zeigt 3. eine starke Neigung, eine neutrale oder freundliche Handlung anderer als feindlich oder verächtlich zu missdeuten 4. eine Tendenz zu überhöhtem Selbstwertgefühl in Verbindung mit ständiger Selbstbezogenheit. Dies wären die Leitmerkmale einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Der Explorand leidet also unter einer sogenannten kombinierten Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Anteilen. Die Auswirkungen der kombinierten Persönlichkeitsstörung auf das psychosoziale Funktionsniveau des Exploranden sind durchaus schwer. Eine derart schwere Persönlichkeitsstörung lasse sich kaum behandeln, zumal bei den Betroffenen kaum eine Einsicht in das Störungsbild bestehe. Die Wiederholungsgefahr für weitere Ordnungswidrigkeiten sei durchaus hoch, 20 eine gelegentliche Eskalation sowie das Ergreifen von unpassenden Mitteln i. S. einer "Kohlhasiade"2, welche andere gefährden könnten, sei nicht auszuschliessen, sollte er sich einmal in die Enge getrieben fühlen. Mittel der Wahl zur Behandlung der Störung des Exploranden sei das Entschärfen möglicher Konflikte. Aus diesem Grund habe ich denn auch empfohlen Herrn B. zu Berenten, was geschehen ist. Die versicherungspsychiatrische Abklärung von persönlichkeitsgestörten Menschen ist jedenfalls eine komplexe und schwierige Aufgabe, da die Auswirkungen der Störung, wie ich es bei der einführenden Kasuistik hoffe gezeigt zu haben, sich erst im Laufe des Lebens in ihrer vollen Tragweite auswirken können. Literatur - Aichhorn, A. (1957): Verwahrloste Jugend. 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