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Ein Plädoyer für die Einhaltung
diagnostischer Leitlinien
(Auszug aus einem Interview, erschienen in Report Psychologie 9/02)
ADS/ADHS steht im deutschen Sprachraum für Aufmerksamkeitsstörungen mit oder ohne
Hyperaktivität (H) Hinter dieser Störung verbirgt sich ein komplexes Krankheitsbild, dessen
Hauptmerkmale einer Störung der Aufmerksamkeit und - jedoch nicht immer- ein übermäßiger
Aktivitätsdrang ist. Die international gebräuchliche Bezeichnung für dies Störungsbild ist ADD
oder ADHD, die Abkürzung für Attention Deficit Disorder bzw. Attention Deficit/Hyperactivity
Disorder.
Report Psychologie sprach mit dem Psychologen Prof. Dr. Gerhard Lauth vom Lehrstuhl für
Psychologie und Psychotherapie in der Heilpädagogik an der Universität Köln über das Thema.
Schaut man auf die Verschreibungsmengen von Ritalin, entsteht der Eindruck von einer in den
vergangenen Jahren dramatischen Zunahme von Kindern, die an einem Aufmerksamkeitsdefizit
leiden. Ist das ein in neuer Größenordnung auftretendes Phänomen unserer Zeit?
Ich glaube nein, die objektiven Zahlen belegen, dass die Zahl der so gestörten Kinder allenfalls
leicht angestiegen ist - von etwa 4 Prozent auf etwa 7 Prozent. Fast jeder aber hat heute bereits
etwas zum Thema ADS gelesen und greift darauf zurück, wenn er auffälliges Verhalten bei
Kindern erklären will. Das beginnt im Kindergarten und setzt sich in der Schule und im
Elternhaus fort. Die Kinder fallen dort dadurch auf, dass sie sich nicht an die normative
Vorgaben halten. Sie schaffen es beispielsweise nicht im erwarteten Maße, stetig dabei zu sein,
sich nicht ablenken zu lassen oder den (sublimen) Anforderungen rasch nachzukommen. Und
schon wird auch der erste Verdacht auf ADS ausgesprochen, so als könne man dem Verhalten
die Diagnose schon ansehen. Aus dieser diagnostischen Unschärfe erwachsen dann - wenn die
Verhaltensauffälligkeit weiter besteht - oft weitere Zuschreibungen und nicht selten eine
wirkliche "Krankheitskarriere". Denn die Kinder werden jetzt zumeist Kinderärzten zugeführt, die
die unspezifischen Auffälligkeiten oft genug als ADHS festschreiben. Spezialisten hingegen, die
sich mit krankheitswerten Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern auskennen werden hingegen
erst spät im Verlaufe dieser Karriere hinzugezogen. Oft werden sie erst eingeschaltet, wenn
Pädagogen, Eltern und Kinderärzte keinen Ausweg mehr wissen und bisherige Wege nicht zum
Erfolg geführt haben. Die Kinder, die wir in unsere Ambulanz bekommen, haben
durchschnittlich bereits 3,8 Behandlungen hinter sich. Dazu gehören in der Regel Ergotherapie,
Diätbehandlungen, unspezifische Bioresonanztherapien.
Die Zahlen, von denen ich spreche, haben aber nicht Lehrer erfunden, sie haben ihren
Ursprung letztlich in ärztlichen oder psychologischen Praxen.
Die auffällig angestiegenen Zahlen angeblich an ADS bzw. ADHD leidender Kinder gehen kaum
auf die Diagnosen von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bzw. Kinder- und
Jugendpsychiatern sondern eher auf vorgeschaltete Zuschreibungen und deren Fortschreibung
bzw. Verfestigung zurück. Sie sind oft die Folge von nicht sauber eingehaltener diagnostischer
Leitlinien.
Die Diagnosestellung besteht ... aus einem sehr gestuften Verfahren. Die Empirie zeigt, dass wenn man dieses Verfahren wirklich einhält– die Zahlen der ADHD Kinder mit der
Differenziertheit des diagnostischen Vorgehens deutlich sinken.
Was ist mit den anderen?
Entweder müssten sie eine andere Diagnose erhalten oder ihre Störung ist gar nicht
krankheitswertig. Beispielsweise sind in einigen Fällen die Klassen nicht gut geführt, das
"classroom management" funktioniert nicht und plötzlich häufen sich angebliche ADS-Fälle. In
anderen Fällen fehlt es an Liberalität bzw. Verständnis für andere kulturelle Prägungen. Wie
sonst ist erklärbar, dass so viele ausländische Kinder, meist türkische oder arabische Jungen,
als ADS-krank benannt werden? Auch viele lerngestörte, lernschwache und lernunwillige Kinder
werden fälschlich unter ADS subsumiert. Andere haben reaktive Verarbeitungsschwierigkeiten
aufgrund manifester familiärer Probleme.
Sind mehr Jungen als Mädchen betroffen und warum?
Jungen sind in der Tat häufiger von ADHD betroffen. Im allgemeinen im Verhältnis von 6: 1, bei
den behandelten Fällen oft sogar im Verhältnis von 9:1. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür:
Zunächst: Jungen leben Schwierigkeiten einfach stärker aus und legen deshalb auch mehr
expansive Verhaltensstörungen an den Tag. Außerdem haben Jungen es schwerer,
angemessene Vorbilder zu finden. Unsere Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten und Schule
sind durch weibliche Verhaltensstandards und Verhaltenserwartungen geprägt sind, es
herrschen "weibliche Normen" vor. Die Mehrheit der Lehrer und Erzieher ist weiblich. Ein Junge,
der einen Konkurrenzkampf auch einmal körperlich durch eine Balgerei austrägt und motorisch
aktiver ist, gilt in diesem Kontext rasch als gestört.
Ist das Problem also weniger die Zunahme kindlichen Fehlverhaltens als vielmehr die
Anpassung kindlichen Verhaltens an soziale, schulische oder organisatorische Strukturen?
Unsere Einrichtungen haben ein bestimmtes strukturelles Format; sie erwarten, dass Kinder
sich einfügen, was offenbar einer wachsende Zahl von ihnen nicht in der erwarteten Weise
gelingt. Die Erklärung, warum das so ist, wird allzu oft in einer Störung der Kinder gesucht.
Ebenso gut könnte man aber auch die Angemessenheit der Einrichtungen selbst diskutieren.
Sind sie für die Kinder ausreichend geeignet? Bräuchten sie nicht auch Innovation? Sollten sie
nicht neue Umgangsformen beispielsweise im Unterricht entwickeln?
Was ist von Medikation zu halten?
Der Anstieg der Verschreibungen ist exorbitant. Selbst von der Drogenbeauftragten Marion
Caspers-Merck ist er kritisch angesprochen worden. Hier liegt in der Tat eine gewisse
Schwierigkeit vor, weil die Medikation allzu unkritisch verschrieben wird und oft nicht an die
"richtigen" Kinder (die mit einer wirklich gesicherten Diagnose von ADHD) kommt.
Die Kinder verhalten sich nach der Medikamenteneinnahme normgerechter, vor allem in der
Schule. Sehr oft sind die Lehrer mit ihrem Verhalten nach einer Medikation zufrieden. Unser Ziel
darf aber nicht oder nicht nur normgerechtes Verhalten sein. Bestehende organisatorische,
schulische, didaktische vielleicht auch familiäre und soziale Probleme werden damit
verschleiert.
Wir müssen die Wirkung von Medikamenten heute differenziert diskutieren. Das Problem ist
nicht so sehr die häufig angesprochene Suchtgefahr. Studien haben dafür keine Beweise
erbracht. Lediglich in einer neuen Studie von Hüter aus Göttingen wird darauf aufmerksam
gemacht, dass die Einnahme von Methylphenidat vor der Pubertät zur Vermehrung der
Dopaminrezeporen führt und über das Bedürfnis nach vermehrter Reizzufuhr (sensationseeking) Suchtgefahr entstehen kann. Der Verdacht, dass sich die Kinder an die Einnahme von
Pillen gewöhnen, hat sich dagegen auch in neueren amerikanischen Studien nicht bestätigt. Die
Kinder sehen die Verhaltensänderung sehr wohl als eigene Leistung und schreiben sie nicht
vornehmlich den Tabletten zu.
Das Problem bei der medikamentösen Therapie ist ein anderes. Sie führt nicht quasi
automatisch zu "Normalität". Die Kinder verbessern sich im normativen Kontext, oft auch im
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sozialen Verhalten, unterscheiden sich aber immer noch deutlich von unauffälligen Kindern.
Medikation bewirkt also nicht, dass hier gleich "normales Verhalten" entsteht, wohl aber in der
Regel verbesserte Verhaltensvoraussetzungen (z. B. größere Ausdauer, bessere
Gedächtnisleistungen, größere Geduld). Dennoch entsprechen die so behandelten Kinder noch
nicht dem Mittel der anderen Kinder. Außerdem sprechen Kinder sehr unterschiedlich auf die
Psychostimulantien an. Bei einigen verbessern sich die schulischen Leistungen, bei anderen
das Sozialverhalten, bei einer dritten Gruppe treten Wirkungen überhaupt nur am Anfang ein.
Welche Rolle spielt der Kostenfaktor?
Tatsächlich wird der Ausweg häufig in Medikamenten gesucht, weil diese Behandlung billig ist.
Wie sollte die Therapie beschaffen sein und wie steht es um die von Ihnen angesprochenen
Behandlungsleitlinien?
Was in der Therapie zu tun ist, wird in sogenannten Behandlungsleitlinien festgelegt. Sie sehen
drei
Behandlungsschwerpunkte vor: Das erste Anliegen besteht darin, Kinder, Eltern,
Geschwister und Lehrer detailliert aufzuklären - was ist die Störung, woher kommt sie, wie geht
sie weg, was ist zu tun?
Der zweite Schwerpunkt in der Therapie besteht in einer problem- und alltagsnahen
Behandlung. Entweder trainiert man die Lehrer oder die Eltern im Umgang und in der
Strukturierung des kindlichen Verhaltens oder man ändert familiäre und schulische Abläufe (z.
B. wie man das Kind zu Bett bringt, welche Teilaufgaben einem ADHD Kind übertragen
werden). Im dritten Schwerpunkt geht es um die Ausstattung des Kindes selbst mit
Kompetenzen. Man lehrt das Kind, organisiert, geplant, gesteuert vorzugehen, beispielsweise
durch Selbstinstruktionstraining oder kognitive Trainings. Eine medikamentöse Therapie wird
dann empfohlen, wenn die Situation krisenhaft zugespitzt ist (z.B. eine Sonderschulüberweisung
droht, die Eltern überhaupt nicht mehr mit dem Kind klar kommen oder vorherige
Behandlungsversuche fehlgeschlagen sind). Diese soll aber ausdrücklich nie allein, sondern
immer in Kombination mit Psychotherapie stattfinden.
Aus: Report Psychologie 9/02 September 2002
Diesen Text finden Sie auch im Internet unter der Adresse
www.BDP-Verband.org/bdp/idp/2002-3/08.shtml
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