Vortrag an der Universität Dortmund, FB Sonderpädagogik am 19. Juni 2001 Referentin: Petra Stahr, Projektleitung NetzwerkBüro Einblick in die Selbsthilfe von Frauen mit Behinderung Lebenssituation behinderter und chronisch kranker Frauen sowie Ausprägungen struktureller Diskriminierung Zu Anfang unserer Stellungnahme und zum besseren Verständnis unseres Anliegens ist es sicherlich notwendig unseren Begriff „Behinderte Frau / behindertes Mädchen“ zu definieren. Wir verstehen unter dem Begriff „Behinderte Frau / behindertes Mädchen“ all diejenigen, die durch eine Hör-, Seh-, Körperbeeinträchtigung und / oder eine geistige oder psychische Beeinträchtigung eingeschränkt sind. In unserem Verständnis sind ebenfalls die Frauen und Mädchen eingeschlossen, die durch chronische Erkrankungen, wie z. B. Diabetes, Aids, Krebs und Multiple Sklerose etc., in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt sind, so dass sie sich als beeinträchtigt und behindert – subjektiv und / oder objektiv (durch den Schwerbehindertenausweis) – begreifen. Bei der Definition von „Behinderung“ orientieren wir uns an der bestehenden Definition der WHO. Diese benennt 3 Stufen: a) die Schädigung b) die Beeinträchtigung c) die Behinderung. Unter einer Schädigung ist die jeweilige körperliche, geistige oder seelische Funktionseinschränkung zu verstehen. Daraus folgt die körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung. Die Behinderung schließlich umfasst, infolge der Beeinträchtigung, alle gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen sowie alle Maßnahmen, die den beeinträchtigten Menschen Lebensmöglichkeiten nehmen bzw. erschweren und so die Lebensqualität einschränken. 1. Strukturelle Gewalt – der Boden für die Diskriminierung behinderter und chronisch erkrankter Frauen und Mädchen In Vorbereitung dieses Seminars habe ich mich noch einmal intensiv mit unterschiedlicher Literatur und den neueren Forschungsergebnissen zum Thema behinderte und chronisch erkrankte Frauen befasst, die an erster Stelle die Lebenssituation körper- und sinnesbehinderten Frauen untersucht hat und nicht die der psychisch oder schwerstpflegeabhängiger oder geistig behinderten Frauen. Ich selbst bin als Referentin in der Praxis täglich mit den Problemen behinderter Frauen konfrontiert und unser Netzwerkbüro im Zusammenspiel mit den ehrenamtlich tätigen Netzwerkfrauen arbeitet an vielen Themen. Eigentlich ist mir also fast nichts mehr unbekannt ist. Dennoch muss ich doch ganz ehrlich sagen, dass mich der intensive Einblick in die Lebenssituation behinderter Frauen und auch Mädchen immer wieder tief berührt. 1 1.1 Abhängigkeit von gesetzlichen Strukturen und deren Anwendern Wenn Sie emphatisch die vorhandene Literatur studieren, werden Sie feststellen, dass die Lebenssituationen chronisch erkrankter und behinderter Frauen und natürlich auch besonders die der Mädchen, sehr von den festgelegten Strukturen in der Gesellschaft wie der Politik, Wirtschaft und dem Gesundheitswesen sowie der Ideologie abhängig und geformt sind. Wie Sie auch den Forschungsstudien entnehmen können, ist für die individuelle Bewältigung von behindert sein und behindert werden sehr entscheidend welche gesellschaftlichen rechtlichen Strukturen vorgegeben werden, denn sie geben meines Erachtens die entscheidenden Grenzen vor. Die rechtlichen Gesetze und die Menschen die sie auslegen legen fest, und das oft in unüberschaubare Art und Weise, was für wen und was für wen nicht wer für was und wie für wen und so weiter und so fort bewilligt und finanziert wird. Wenn Sie die Erfahrungen behinderter und chronisch erkrankter Frauen unter einem bestimmten Blickwinkel beleuchten, werden sie sehen, dass bei den meisten Frauen die entscheidenden sozialen Säulen eines, im weitesten Sinne „gesunden“ Lebens, wie Arbeit, Familie und Kinder, finanzielle Absicherung, keine Armut, Freunde und soziale Kontakte, die psychische wie physische Gesundheit, Teilnahme an Freizeit und Kultur wie die Teilhabe an den demokratischen politischen Entscheidungsinstanzen, dass die meisten Säulen nicht nur wackeln, sondern bereits umgefallen sind. Eine psychosoziale Stabilität – im Rahmen der NORM – kann somit nicht mehr gewährleistet werden. Unseren Erfahrungen nach, und diese finden wir in der Literatur bestätigt, liegen die Grundübel vieler Probleme, welche behinderte und chronisch erkrankte Frauen oft „erleiden“ müssen vor allem in strukturellen Vorgaben: Der hohe Grad der Abhängigkeit von vorgegeben gesetzlich festgelegten Strukturen und deren Anwendern machen es den Frauen und den ihnen nahe stehenden Menschen oft unmöglich, einen individuellen Weg der Bewältigung einer Behinderung oder Krankheit zu gehen. Und es sind diese Vorgaben, welche letztlich lebenswichtige Säulen ins Wanken bringen. Sozialstaatliche rechtliche Strukturen und deren ausführende Institutionen haben natürlich auch sehr positive Funktionen. Sie schützen das Individuum in Krisensituationen. Es sind jedoch dieselben Strukturen, die vielen beeinträchtigten Frauen ein Leben in Selbstbestimmung verwehren und die sogar explizit frauenfeindlich sind. Sie begrenzen und behindern entgegen aller Vernunft. So bekommen behinderte Mütter beispielsweise, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, keinen PKW finanziert, den sie dringend zur Bewältigung des Lebensalltags benötigen. Sie müssen extrem für Assistenz und Unterstützung kämpfen, haben insgesamt wenig Vorteile aufgrund der Schwerbehinderung und sind zudem hohen psychischen Belastungen auch aufgrund von finanzieller Armut ausgesetzt. Wenn sie sich die Menge der Leistungsträger und die damit verbundenen rechtlichen Vorschriften angucken, werden sie erschlagen, von der Fülle von Gesetzen und der unglaublichen Breite an Auslegungsmöglichkeiten. Sie werden feststellen, das wir, 2 die Betroffenen selbst von einem bürokratischen Überbau verwaltet werden, der irrsinnig Geld verschlingt, nicht vernünftig kooperiert und zum Teil diktatorisch (im Sinne von verwehren, beschränken oder auch ermöglichen) herrscht. Wenn sich Sie alleine die Praxis der Gutachtertätigkeiten näher anschauen, sei es für die Einstufung in die Pflegeklassen oder für ein Berentungsverfahren, spüren sie die Abhängigkeit, die Unsicherheit und die Ängste der zu Begutachtenden. An dieser Stelle werden übrigens Tür und Tor geöffnet für so genannte freiberufliche Rentenberater oder ambulante Dienste etc., die ein horrendes Honorar berechnen und von der Unwissenheit, der Angst und der Abhängigkeit Betroffener, vor allen älterer, schwerst pflegebedürftiger und geistig behinderter Menschen leben. Obwohl die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung von der Selbsthilfebewegung über die Jahre hinweg immer wieder auf die Mißstände aufmerksam gemacht wurden, und auch so einiges in Bewegung gekommen ist, (so soll z. B. das SGB IX mit seinen Regelungen anwenderfreundlicher gestaltet werden, sollen z. B. Rechte zur Rehabilitation überarbeitet werden, es sollen Patientenberatungsstellen, im Sinne von Verbraucherberatungsstellen, eingerichtet und die Kooperation unterschiedlicher Leistungsträger verbessert werden ), haben sich in den letzten Jahren wenige konstruktive Vorschläge, die von der Selbsthilfebewegung gefordert wurden, umsetzen lassen. Gerade deswegen werden wir, die Selbsthilfebewegung, achtsam ein Auge darauf werfen, in welchem Sinne Dinge verändert oder eingerichtet werden. Struktureller Machtmißbrauch ist in fast jeder Geschichte einer beeinträchtigten Frau zu finden. Und bislang kann diesen Missständen von Seiten der Selbsthilfe keine adäquate Beratung oder Vertretung im Sinne des peer counseling entgegengesetzt werden. Diese Kontrolle unsererseits ist eine zentrale Aufgabe von Selbsthilfearbeit, besonders von Frauen mit Beeinträchtigungen. 1.2 Das gesellschaftliche Spiegelbild Das gesellschaftliche Verhältnis zu den Frauen mit Beeinträchtigungen ist immer abhängig von dem, was die Gesellschaft, die Menschen in ihr, im weitesten Sinne tolerieren, ablehnen, verachten oder befürworten. Sie können an der Handhabung unseres Themas genau sehen, wie „unser“ Gesellschaftssystem denkt, wie es zu Krankheiten und Behinderungen steht, welche rationalen oder irrationalen Ängste entwickelt werden, wie weit es von technologischem Fortschrittsglauben und Allmachtsphantasien abhängig ist. Sehr schön kann dieses gesellschaftliche Denken an der Diskussion um die Gentechnologie und Biomedizin und anhand der ethischen Diskussionen um die Pränataldiagnostik verfolgt werden. Das „Anderssein“ – wie das Kind mit Down-Syndrom – scheint im Zusammenhang mit finanziellem Aufwand für eine spezielle Betreuung und Pflege nicht mehr tragbar, nicht mehr zu verkraften. Oder betrachten Sie die vielen Sterilisationsempfehlungen bei behinderten Frauen oder die Zwangssterilisationen bei psychisch oder geistig behinderten Frauen. Wenn sie das alles intensiv verfolgen, was denken und fühlen Sie wohl, wenn sie selbst von Geburt an behindert sind? Was denke ich von mir? Welch einen Wert billige ich mir zu? 3 Wie Sie sicherlich wissen, ist für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit entscheidend, wie sie sich in der Gesellschaft „spiegeln“ kann und wie sie „widergespiegelt“ wird. Das positive, anerkennende „Spiegeln“ impliziert ein stabiles Selbstwertgefühl für die Durchführung und das Erleben geschlechtsspezifischer sozialer Rollen. Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen müssen jedoch aufgrund ihrer speziellen Lebenssituation an der Teilhabe vieler Rollen und Einstellungen wie z. B. zur Liebe, Sexualität, Weiblichkeit und Mutterschaft, oder der Arbeit und Berufsvorstellungen verzichten. Sie sind gezwungen, spezifische Bewältigungsstrategien entwickeln, um ein defizitäres Lebensgefühl zu kompensieren oder im besten Fall konstruktiv in andere Wertvorstellungen umzuwandeln. Denken wir hier z. B. an das heutige Schönheitsideal, an Sexualität und Erfolg. Schon nicht behinderte Frauen tragen große Konflikte in sich. Was diese Haltungen und Ansprüche an von außen so genannte „leistungsschwache“, „geschlechtslose und unerotische“ Frauen mit einer Beeinträchtigung bedeutet, kann ebenfalls der vorhandenen Literatur entnommen werden. Besonders den Mädchen fehlen positive Orientierungen, Leitbilder. Wie Frau Prof. Schildmann betont, müssen diese jungen Frauen Wege der Sozialisation gehen, die geprägt sind von Krankenhausaufenthalten, schmerzhaften operativen Eingriffen und krankengymnastischen Tortouren, etc. Ganz zu Schweigen von den Kränkungen ihrer Person und Persönlichkeit aufgrund der kontinuierlichen „Ablehnung ihres unvollkommenen Erscheinungsbildes“ (Schildmann). Es ist schon eine große psychische Leistung einiger beeinträchtigter Frauen und Mädchen, den gängigen Klischees und Rollen entgegenzutreten und für sich persönlich einen Wertewandel zu vollziehen. Und wir sprechen hier nicht von Verdrängung der schmerzhaften, gesellschaftlich diskriminierten Außenseiterposition sondern von der Möglichkeit, aus der eigenen Situation Kraft zu schöpfen. In diesem Sinne ist die Arbeit des Netzwerkbüros und des Netzwerks angelegt. Ein Schritt zur Partizipation behinderter und chronisch erkrankter Frauen und Mädchen in NRW in Form der sozialpolitischen Selbsthilfearbeit. Allerdings müssen wir auch immer wieder aufpassen, uns nicht in den Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen „Machtstrukturen“ zu verlieren. Keinesfalls dürften wir die Frauen, die wir mit vertreten, deren Stimme wir nutzen dürfen, verlieren. Und auch wenn Sie demnächst mit behinderten Menschen arbeiten, werden Sie immer mit strukturellen Grenzen in Verbindung kommen. Wenn Sie geschickt sind, werden Sie in der Beratung, z. B. der Eltern, Unterstützung anbieten können und gut über Rechte und Hindernisse Bescheid wissen. Dieses ist eine nicht zu unterschätzende Assistenz. Von Bedeutung ist auch Ihr kreativer Umgang mit den Finanzen. Wie wir mittlerweile täglich hören, diktieren uns die Finanzen das Machbare. Lassen Sie sich davon nicht abhalten, genau hinzugucken, wo es bessere und effektivere Methode gibt, das Geld auszugeben oder sogar einzusparen. Besonders in dem Bereich, in dem Sie arbeiten 4 werden, gibt es Vieles zu überdenken und alternativ zu lösen. Feilen Sie an Lösungsansätzen und Verbesserungsvorschlägen. Unterstützen Sie die Selbsthilfebewegungen mit konstruktiven Vorschlägen. 2. Arbeitsweisen und Arbeitsgebiete in der Selbsthilfe behinderter Frauen am Beispiel „Gesundheit“ Zum Schluss möchte ich Ihnen an einem konkreten Arbeitsgebiet des Netzwerkbüros und des Netzwerks verdeutlichen, wie wir arbeiten. Die Landesregierung hat eine geschlechterspezifische Berichterstattung zur gesundheitlichen Lage von Frauen und Männern in NRW vorgelegt. Leider sind große Gruppen von behinderten und chronisch erkrankten Frauen dort noch nicht aufgenommen worden, so haben Netzwerkbüro und Netzwerk eine Stellungnahme zur Gesundheitsberichterstattung verfasst. Unsere Anforderungen an eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung sind aus den im folgenden dargestellten Gegebenheiten zu entnehmen. Wie Sie dem Gesundheitsbericht NRW „ Zur Gesundheit von Frauen und Männern“ entnehmen können, ist die spezielle gesundheitliche Lebenssituation von Frauen und Männern mit Behinderungen nicht Gegenstand der Untersuchung gewesen, jedoch in eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung eingeplant. Wie anzunehmen ist, wurde dieser Themenkomplex aus Gründen fehlender empirischer Untersuchungs- bzw. Forschungsergebnisse und fehlender geschlechtsspezifischer Theorieansätze zur gesundheitlichen Lebenssituation behinderter Frauen und Männer ausgespart. Leider liegen uns keine Forschungsergebnisse vor, die ausschließlich die gesundheitliche Lebenssituation behinderter und chronisch erkrankter Frauen und Mädchen betreffen. Diese sind jedoch vonnöten, wenn wir langfristig gesellschaftspolitische Verbesserungen in diesen, zum Teil unflexiblen und den Bedürfnissen der Betroffenen nicht entsprechenden, bürokratischen (und von daher teuren) Versorgungsbereichen erreichen wollen. Forschungsansätze, wie der noch nicht veröffentlichte Bericht über die Lebenssituation contergangeschädigter Frauen des Fachbereichs Frauenforschung der Westfälische Wilhelms- Universität in Münster, belegen für einen kleinen Teil behinderter Frauen, dass gesundheitliche Probleme, Integrationsschwierigkeiten in das soziale System und Schwierigkeiten mit den unterstützenden Diensten (Dritte) die Regel sind. Wir möchten in diesem Rahmen auch noch auf die behinderten und chronisch erkrankten Kinder hinweisen, die oft von Geburt an, mit den medizinischen und rehabilitativen Versorgungsstrukturen konfrontiert sind. Sie durchlaufen, wie wir durch von Geburt an behinderten Frauen wissen, oft Leidenswege, die sich im Nachhinein als überflüssig und schädigend herausgestellt haben. Ebenso ist die gesundheitliche Lebenssituation geistig behinderter Frauen im besonderen Maße zu untersuchen, hier liegen uns ebenfalls keine Daten vor. 5 Der Gesundheitsbericht bezieht ansonsten „nur“ die Lebenssituation von Frauen mit Herzkreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, psychischen Erkrankungen und psychosomatischen Erkrankungen mit ein. Es fehlen auch die Daten von hör-, seh-, und körperbehinderten Frauen und Mädchen und vieler chronisch erkrankter Frauen mit schweren Krankheitsverläufen und unheilbaren Beeinträchtigungen, die letztendlich zur Behinderung führen, so zum Beispiel bei MS-Erkrankten. Diese Gruppen werden im Verlauf ihrer Erkrankung oftmals mit psychischen wie körperlichen schweren Beeinträchtigungen konfrontiert und müssen letztlich als schwerstbehinderte Frauen mit ihrer Erkrankung leben. Viele der oben genannten Beeinträchtigungen führen zu starken gesundheitlichen Belastungen, lebenslangen Abhängigkeiten von Assistenz, Hilfen und Hilfsmitteln sowie von medizinischer Versorgung. Die meisten der beeinträchtigen und behinderten Frauen sind in regelmäßigem Kontakt mit Medizinern, Krankenhäusern, Pflegepersonal und Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern, Rehabilitationseinrichtungen und Medizinischen Diensten etc. Ihr Leben ist geprägt von Arztbesuchen und Behördengängen, die unseren Erfahrungen nach die Frauen oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führen und ihnen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben nehmen. Besondere Auswirkungen haben diese Gegebenheiten auf die soziale Lebenssituation als berufstätige Frau und Mutter, der es vielfach zeitlich noch nicht einmal möglich ist, sich um ihre persönliche gesundheitliche Befindlichkeit zu kümmern. 2.1 Forderung nach einer differenzierten Datenerhebung unter Beteiligung der Selbsthilfe Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen dürfen nicht als eine homogene Gruppe gesehen werden. Die unterschiedlichsten Beeinträchtigungen verlangen nach sehr differenzierter Analyse und Datenerhebung. Die zukünftige Gesundheitsberichterstattung muß auf jeden Fall repräsentativ sein. In eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung, das bedeutet in die Datenerhebungen, Auswertungen und in die Erarbeitung und Umsetzung politischer Handlungskonzepte müssen, unserer Vorstellung nach, die Selbsthilfeverbände mit einbezogen werden. Sie müssen mitbestimmen können. Nur so können langfristige Konzepte zur Verbesserung der gesundheitlichen und gesundheitspolitischen Lebenssituation behinderter und chronisch kranker Frauen (und Männer) auf eine positive und reale Basis gestellt werden. Blicken wir auf die gesamtgesundheitliche Lage der betroffenen Frauen, und hier speziell auf das gesundheitliche Befinden und Verhalten sowie auf die medizinische Versorgung (Präventionsmedizin, Rehabilitationsmedizin und den dementsprechenden Rehabilitationsmaßnahmen) wird vor allem eines deutlich: Frauen mit Behinderungen sind gegenüber Frauen ohne Behinderungen und gegenüber Männern ohne Behinderungen stark benachteiligt. 6 Frauen mit Behinderungen sind, laut Gutachten zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen in NRW 1996 von Frau Dr. Mathilde Niehaus, nur vereinzelt in „Brot und Arbeit“. Sie leben an der Armutsgrenze mit weitreichenden Konsequenzen für die psychische wie physische Gesundheit. So besitzen viele von ihnen nicht genug Geld um die notwendigen (zusätzlichen) gesundheitserhaltenden bzw. gesundheitsfördernden Maßnahmen selbst zu zahlen oder zuzahlen zu können, z. B. für Kuren, Reha-Maßnahmen, Krankengymnastik und alternative Heilmethoden. 2.2 Ausführungen zur bisherigen Forschungslage Im Gesundheitsbericht werden besonders Gruppen benachteiligter Frauen benannt, die durch die soziale Schichtzugehörigkeit (Bildungsstand, Einkommen, beruflicher Status) besondere gesundheitliche Probleme vorweisen und durch die herkömmlichen Versorgungsstrukturen nicht erreicht werden können. Dies sind zum Beispiel die weniger gut gestellten allein lebenden Frauen, die alleinstehenden Mütter und die wohnungslosen Frauen. Auch das Thema „Sexuelle Gewalt“ ist im Gesundheitsbericht benannt, und es wird dort ausführlich aufgezeigt, wie stark diese Thematik im Zusammenhang mit Gesundheit steht. So heißt es dort, dass sexuelle Gewalt ebenfalls Frauen mit Behinderung betrifft, sie sind gleichermaßen Opfer sexueller Gewalt wie Frauen ohne Behinderung. Frauen mit vorwiegend geistiger Behinderung, die in Heimen leben, sind in ungleich höherem Maße sexueller Gewalt ausgesetzt. „Ein besonderes Thema stellen gegenwärtig auch sexuelle Übergriffe in der Pflege dar. Ca. 75 % aller sexuellen Übergriffe in der Pflege erfolgen im Krankenhaus.“ ( Zitat Jahresbericht S. 288) Laut LIVE-Studie zur Lebenssituation behinderter Frauen in Deutschland aus dem Jahr 1999 ist jedoch die Gruppe behinderter Frauen – hier vor allem die der alleinstehenden Mütter – ebenfalls den Randgruppen zuzuordnen, denn sie sind im Vergleich zu nicht behinderten Frauen überproportional von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Behinderte und chronisch erkrankte Menschen, vor allem jüngere und ältere Frauen mit Behinderungen, sind nach wie vor aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt, sind Sozialhilfeempfängerinnen oder beziehen eine geringe Rente. Besonders zu beachten ist hierbei, dass in der LIVE Studie ausschließlich die körper- und sinnesbehinderten Frauen mit einem geringen Grad der Behinderung gefragt wurden, und leider die schwerstbehinderten Frauen sowie die geistig behinderten Frauen nicht an der Untersuchung beteiligt waren! So benannte die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Dr. Bergmann in ihrer Rede anlässlich des Symposiums „ Frauen mit Behinderung“ zu den Ergebnissen der LIVE STUDIE folgende Faktoren, die zu einer verschlechterten Lebenssituation behinderter Frauen führen: Frauen mit Behinderung verfügen über weniger Geld als der Durchschnitt der Bevölkerung und geraten häufiger in den Armutsbereich, zumal Behinderung zusätzliche Kosten verursacht. Das heißt: wenn behinderte Frauen nicht durch einen Partner oder eine Familie „versorgt“ werden, sind ihre finanziellen Mittel sehr gering. So 7 bleiben sie von wichtigen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe – hier vor allem im Bereich ihrer gesundheitlichen Lage und Versorgung – ausgeschlossen. Behinderte Frauen sind nicht benachteiligt bei der Ausbildung, jedoch bei der Eingliederung in den Beruf. Trotz guter beruflicher Qualifikation sind im Durchschnitt nur 44,8% der befragten Frauen erwerbstätig. Obwohl die Live Studie nur einen kleinen Anteil der Fragen zur gesundheitlichen Versorgung aufweist, zeigt sie ebenfalls auf: dass bei behinderten Frauen negative Erfahrungen mit ärztlichen Behandlungen und Krankenhausaufenthalten häufig zum Alltag gehören, dass behinderte Frauen zum Teil nur unter gesundheitlichen Risiken, oftmals gegen den Rat der Ärzte, ihre Kinder zur Welt gebracht haben, dass ca. 12 % der Frauen schon einmal demütigende Erfahrungen bei FrauenärztInnen gemacht haben, die im Zusammenhang mit Verhütungsfragen oder Kinderwunsch standen, dass fast jeder zehnten Frau eine Abtreibung nahegelegt wurde und 8,2 % der Frauen als Verhütung die Sterilisation ungefragt angeboten wurde. Der Anteil von Frauen, die sterilisiert sind (35,9 %) ist zehnmal so hoch wie in der entsprechenden Altersgruppe, dass 18,3 % demütigende Erfahrungen im Rahmen medizinischer, pflegerischer oder technischer Untersuchungen, Behandlungen oder Maßnahmen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung gemacht haben. Neue Konzepte der gesundheitlichen Versorgung und der Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt sind gefragt Auch wurde auf dem Kongress „NRW in globaler Verantwortung“ im Jahr 2000 das Augenmerk auf die gesundheitliche Lebenssituation von schwerbehinderten Menschen gerichtet. Dort heißt es: „Die Fortschritte in der Gesundheitsforschung haben den Anstieg der Lebenserwartung insbesondere von kranken und schwerbehinderten Menschen ermöglicht. Die soziale und finanzielle Infrastruktur ist jedoch unzureichend ausgebaut, um die steigende Anzahl dieser Menschen zu unterstützen, sei es beim Eintritt in den Arbeitsmarkt oder bei der Gewährung einer würdevollen Beschäftigung und eines sozialen Umfeldes. Gefordert sind neue Konzepte zur gesellschaftlichen Integration dieser Personengruppen.“(Zitat siehe Seite 96 / Tagungsunterlagen) Dieses Zitat würden wir hier an dieser Stelle im Nachhinein gerne um einen Passus ergänzt wissen: „Besonders Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, die auf Pflege und Assistenz und auf dauernde medikamentöse Behandlungen angewiesen sind, benötigen geschlechtsspezifische Konzepte zur Gesundheitsforschung und -behandlung sowie zur gesellschaftlichen Integration. Die gesundheitliche Lebenssituation behinderter und chronisch erkrankter Frauen ist besonders in den Bereichen der Zuwendung durch Hilfsmittel und Assistenz sowie in der Prophylaxe und Rehabilitation stark beeinträchtigt. Abhängigkeiten von Ärzten und Gutachtern, unqualifizierte Behandlungsmethoden spezieller behinderungsbedingter Probleme sowie frauenfeindliche Untersuchungsbedingungen erschweren das Leben und damit auch die Gesundung (im angemessenen Maße).“ Der Kongress machte auch deutlich, was die soziale Analyse des Gesundheitsberichts ergänzt, dass in NRW die sozial schwachen Gruppen von Armut und Chancenungleichheit auf dem Arbeitsmarkt betroffen sind. Benannt wurden an erster Stelle die Gruppen der gering Qualifizierten, der Älteren und der ausländischen Jugendlichen. 8 „In NRW ist insbesondere das Ruhrgebiet durch hohe Sozialhilfezahlen, sozialräumliche Ballung von Problemlagen, Verstetigung von Armutsverläufen und Verdichtung struktureller Armut gekennzeichnet. Probleme bereitet die umfassende Integration aller Arbeitssuchenden in den ersten Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund müssen als zentrale Handlungsfelder eine Politik der Chancengleichheit, die Bekämpfung dauerhafter Ausgrenzung und struktureller Armut sowie die institutionelle Modernisierung gelten. Dazu müssen zum einen die Ausgangs- und Startbedingungen für alle Bürgerinnen und Bürger verbessert, insbesondere auch die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann und das Prinzip der weiten Chance im Sinne von Übergangshilfen verfolgt werden. Zum zweiten müssen den neuen Problemlagen angepasste Strategien zur Bekämpfung dauerhafter Ausgrenzung und struktureller Armut entwickelt werden, die besonders Geringqualifizierte, Ältere und ausländische Jugendliche betreffen [...]“ (Zitat aus „Sozialpolitik im Umbruch“ / Tagungsunterlagen des Kongresses „NRW in globaler Verantwortung“ vom 31.11. und 01.12.2000 in Bonn, Seite 93.) Auch hier fehlen unseres Erachtens die Gruppen der behinderten Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung aus dem sozialen Netz fallen. So ist z. B. die spezielle Lebenssituation behinderter Frauen in den Werkstätten nicht zu vergessen. Nach wie vor ist der Frauenanteil in den Werkstätten für Behinderte sehr hoch – die Durchlässigkeit der Werkstätten zum allgemeinen Arbeitsmarkt sehr kompliziert. So würde die Schaffung einer leistungsgerechten Entlohnung und eines Arbeitnehmerinnenstatus (Recht auf Kündigung, Mutterschafts- und Erziehungsurlaub und angemessene Entlohnung) vielen behinderten Frauen, die in den Werkstätten arbeiten, eine Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben innerhalb und außerhalb der Werkstatt einräumen. Das hätte auch eine Verbesserung der gesundheitlichen Lage besonders der lern- und geistig behinderten Frauen zur Folge. Wie ebenfalls im Gesundheitsbericht deutlich wurde, ist die soziale Lebenssituation mitentscheidend und mitverantwortlich für die gesundheitliche Lage der betroffenen Frauen. Insbesondere hier sehen wir eine große Gefahr für die weitere Verschlechterung einer Situation, die jetzt schon nicht stabil und in der Entwicklung absehbar ist. Insgesamt ist aus den vor uns liegenden Analysen klar ersichtlich, dass beide Faktoren (soziale und gesundheitliche Lebenssituation) sich gegenseitig bedingen. Für uns Menschen mit Behinderung sind daher Verbesserungen, die übrigens nicht immer mehr kosten müssen, nur im „Gesamtpaket“ zu fordern. Dazu ist eine differenzierte Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsreform mit ihren Investitionen und Innovationen, die sich an den Belangen behinderter Frauen orientieren und sie aktiv in die Gestaltung zukünftiger Gesundheitspolitik miteinbeziehen, wünschenswert und gesellschaftlich notwendig. 2.3 „Chronisch Kranksein“ ist nicht gleichbedeutend „Behindert“ sein und „Behindert“ sein ist nicht gleichbedeutend „Chronisch Kranksein“ Natürlich sind wir uns bewusst, dass behinderte Frauen nicht automatisch als chronisch kranke Menschen einzustufen sind und chronisch kranke Frauen nicht automatisch als behinderte Frauen zu behandeln sind und sich auch nicht so definieren lassen wollen. So grenzen sich viele chronisch erkrankte Frauen von den behinderten Frauen ab, weil sie z. B. Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und der dementsprechenden gesellschaftlichen Abwertung in eine sozial niedrig stehende Randgruppe haben. Dieses zeigt sich z. B. daran, wie schwer es vielen Frauen fällt, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen, ohne den sie bedeutend schlechter eine Arbeitsstelle erhalten. Behinderung und Krankheit werden jedoch von der "Gesellschaft" oft gleichbedeutend gesehen und behinderte Menschen werden in der Regel als "kranke" Menschen eingestuft und dementsprechend behandelt. So entstehen durch gesellschaftliche Definitionen und Zuordnungen in "Behinderte" und „Kranke“ bei den Betroffenen selbst Verwirrung und ein ausgeprägtes Abgrenzungsverhalten untereinander. Dieses gesellschaftliche Denken fördert oft 9 eine uneinheitliche Behandlung der Betroffenen durch Ärzte, Ämter, Behörden und Arbeitgeber. Ebenfalls ist eine gemeinsame Interessenpolitik dadurch erschwert. Es trifft jedoch auf viele Menschen zu, dass sie chronisch krank und behindert sind. Wie z. B. Tumorerkrankte, die durch die Erkrankung Krebs Verluste der körperlichen Ganzheit erleiden oder MS-Erkrankte, die mit starker Beeinträchtigung ihrer Mobilität zu kämpfen haben. Oder umgekehrt: Menschen, die mit Folgeschäden von Behinderung konfrontiert sind; so contergangeschädigte Frauen, die eine Erkrankung der inneren Organe und der Wirbelsäule als Folgeschäden vorweisen können oder auf den Rollstuhl angewiesene Personen, die durch den Bewegungsmangel an HerzKreislauferkrankungen leiden, etc. Gemeinsam ist jedoch allen, dass jede Frau mit einer Beeinträchtigung, sei es eine chronische Erkrankung und / oder eine Behinderung, in einer Gesellschaft lebt, in der das oberste Ziel und der oberste Wert die geistige und körperliche Leistungsstärke ist. Nur wer normativ gut aussehend, körperlich fit, geistig flexibel und hervorragend ausgebildet ist, kann langfristig seinen Altersruhestand sichern, unabhängig von staatlicher Unterstützung selbstbestimmt leben und ausreichend Geld in die eigene Gesundheitsfür- und -vorsorge investieren. Auch verbindet chronisch erkrankte und / oder behinderte Frauen, dass sie sich unzureichend bis falsch unterstützt und beraten fühlen und dass sie sich bei der Bewältigung ihrer seelischen wie körperlichen Probleme – wie auch bei der Bewältigung des so genannten Alltagslebens – oftmals allein gelassen und an den „Rand, das heißt, ins Abseits“ gestellt fühlen. In der Öffentlichkeit wird zur Zeit die Frage gestellt, ob Frauen (im allgemeinen) das kränkere Geschlecht sind, da allgemein gesellschaftlich der Anteil von Frauen in der medizinischen Rehabilitation, in der Selbsthilfe, im Rehabilitations- und Behindertensport sowie bei anderen gesundheitsfördernden Maßnahmen und insgesamt bei Arztbesuchen besonders hoch ist. 2.4 Ursachen der Überbelastung Die Frauen des Netzwerks von Frauen und Mädchen mit Behinderungen NRW und die Mitarbeiterinnen des Netzwerkbüros können aus ihren Erfahrungen in der Beraterinnentätigkeit feststellen, dass hohe Stresswerte – durch die Vielfalt der Lebensbelastungen bedingt – die Lebensqualität, insbesondere die gesundheitliche, von beeinträchtigten Frauen und Mädchen stark einschränken. Zusätzlich zu "normalen" Stressoren, die viele Frauen benennen konnten, wie Stress bei der Arbeitsplatzsuche, Geldmangel, soziale Isolation, familiäre Überlastung, Existenzängste, Beziehungsproblemen etc. treten die Sorgen um die Gesundheit sowie der zeitlich und finanziell intensive Aufwand für medizinische und rehabilitative Maßnahmen hinzu. In den zahlreichen Gesprächen mit beeinträchtigten Frauen wurden folgende konkrete „Stressoren“ besonders hervorgehoben, die den Frauen ein starkes Gefühl von Abhängigkeit und Fremdbestimmung vermitteln. Diese sind: 10 Der Mangel an Mitbestimmungsmöglichkeiten über medizinische wie rehabilitative Maßnahmen, hier insbesondere die uneingeschränkte Fremdbestimmung und die starke Abhängigkeit von Gutachtern. Die Gutachter (in der Regel sind es Männer) "betrachten" die gesamte Lebenssituation der „Kundin“ nicht, die Einstellung der Gutachter. Sie ist oft einseitig an den Interessen ihrer „Geldgeber“ orientiert. Bislang gibt es keine unabhängige Kommission von Gutachtern unter Mitwirkung von Selbstbetroffenen z. B. aus der Selbsthilfe, die notwendigen Maßnahmen in der Gesundheitsfürsorge und -vorsorge werden in Einzelfällen verweigert, da Ärzte und Gutachter sich nicht einig sind und letztlich steht die Betroffene als "Leidtragende" dieser Konflikte da, die zeitlich intensiven (da oft jahrelangen) „Irrwege“ von Arzt zu Arzt, von Maßnahme zu Maßnahme, die im Verhältnis zum Aufwand und zu den Kosten, wenig Erfolge bringen, der damit verbundene „Diagnoseboom“ unterschiedlichster Art und die Vielfalt an Behandlungsmethoden – die sich letztendlich oft als "teuer und nutzlos" herausstellen, die unzureichenden Informationen über gesundheitsfördernde Maßnahmen im Allgemeinen – hier besonders über Maßnahmen der Rehabilitation, die unzureichende Aufklärung über dementsprechende Rechte – hier besonders die Patientenrechte, die unzureichende Information über rechtliche Vertretungsmöglichkeiten im Allgemeinen und die dazugehörende Problematik der (eventuell) zu hohen Rechtsanwaltskosten und der oft negativen Aussichten gegen „Mediziner“ einen Prozess zu gewinnen, die Problematik der Abhängigkeit von einigen SachbearbeiterInnen von Ämtern und Behörden. Die Antragsstellerinnen fühlen sich wie Bittstellerinnen - sie werden in der Regel nicht über ihre Rechte informiert. Viele SachbearbeiterInnen arbeiten nicht für die "Kundinnen" sondern sie bevormunden sie, die mangelnde Aufklärung und Prophylaxe über (eventuell) auftretende Spätfolgen der Behinderung bzw. chronischen Erkrankung, das Fehlen langfristig angelegter Behandlungskonzepte, die wohnortnahe (ambulante und stationäre) medizinische Rehabilitation ist für manche Frauen oft eine zusätzliche Belastung zu Familie und Beruf (lange Wartezeiten, lange Anfahrtswege etc.). Beruf, Familie und medizinische, ambulante Rehabilitation sind für viele Frauen schwer zu vereinbaren, in der stationären und ambulanten medizinischen Rehabilitation wird zu wenig auf die familiäre Lebenssituation geachtet. Assistenz und Haushaltshilfen werden zu wenig bewilligt, die Maßnahmen wie z.B. Krankengymnastik sind oft aus zeitlicher wie rehabilitativer Sicht nicht effektiv genug und zeigen keine Langzeitwirkung, Sparmaßnahmen erschweren die gesamte ambulante Rehabilitation/Prävention, es fehlen vor allem Forschungsergebnisse und Weiterbildungs- und Ausbildungsangebote für Ärzte und Fachpersonal und Betroffene. Dieses betrifft 11 besonders die Ausbildung der Frauenärztinnen bzw. der Frauenärzte und Hebammen, zu bemängeln ist in dem Zusammenhang, dass keine besonderen Einrichtungen bei Frauenärzten und Frauenärztinnen vorhanden sind, um körperbehinderte Frauen zu untersuchen, durch die von der Bundesregierung angeordnete Budgetierung kann der Arzt willkürlich zuordnen welcher Patient was bekommen darf und wer nicht, das erzeugt Abhängigkeiten und Misstrauen, in der stationären und ambulanten Pflege werden die Interessen von behinderten und chronisch erkrankten Frauen nicht differenziert genug analysiert und in dementsprechende Konzepte umgesetzt, Probleme mit der Pflegeversicherung treten fast überall auf, Unsicherheiten und starke Abhängigkeiten sind die Folge, viele nehmen ihre Rechte deshalb nicht wahr, der Pflegenotstand in NRW wirkt sich bezüglich einer angemessenen Versorgung negativ aus, dieses merken besonders die schwerst pflegebedürftigen Frauen und Mädchen, der Gesamtbereich der Zuzahlungen für Kuren, Krankenhausaufenthalte etc. wird bei chronisch erkrankten und behinderten Frauen nicht differenziert analysiert und statistisch festgehalten (laut LIVE Studie werden pro Person zum Teil bis zu 3000,00 DM privat monatlich dazugezahlt), auf kommunaler Ebene sowie auf Landesebene werden so gut wie keine speziellen Weiterbildungsangebote in den Bereichen Entspannung, Körperarbeit, Antistressprogramme für behinderte Frauen/Mädchen angeboten, last not least stehen für viele behinderte Frauen und Mädchen das Mobilitätsproblem und die Problematik der barrierefreien Zugänge zu Ärzten und anderen Rehabilitationseinrichtungen im Vordergrund. Diese Liste ist sicherlich noch um Vieles zu erweitern und im Einzelfall haben diese so genannten „Unzulänglichkeiten“ für die Bewältigung des Lebensalltags von behinderten / chronisch erkrankten Frauen eine nicht zu ermessende Bedeutung, besonders sind Mütter davon betroffen. Die zeitliche Belastung (lange Wartezeiten, lange Wege etc.) plus die finanzielle Belastung (Bus, Pkw, Assistenz, Zuzahlungen) sowie die Sorge um die Gesundheit wirft die Frauen, hier besonders die Mütter mit Behinderungen, aus ihrem eigensten Rhythmus von Familie, Arbeit und sozialen Kontakten heraus. Oft ist die Konsequenz eine völlige persönliche Überlastung, bis hin zu Burn-out-Symptomen, Depressionen und erneuten Krankheiten. Frauen mit Beeinträchtigungen müssen in ihren alltäglichen Lebenslauf, in ihrer Lebensplanung immer die Krankheit und / oder Behinderung miteinplanen. Das bedeutet insgesamt, dass beeinträchtigte Frauen „verschärft auf sich hören müssen“, um für das alltägliche Leben Stabilität und eine optimale Selbstentfaltung zu gewährleisten. Dieses ist bei der Flut von alltäglichen Stressoren nicht einfach – aber 12 wer akzeptiert und hört auf die Stimmen der betroffenen Frauen, wer akzeptiert die Grenzen der Belastbarkeit? Frauen mit Beeinträchtigungen bemängeln, dass sie in ihrer Selbstwahrnehmung und in ihrer Intuition, was ihre körperliche und seelische Gesundheit und Gesundung angeht, durch den äußeren Anpassungszwang und aufgrund der Fremdbestimmung durch "Fachkräfte" stark eingeschränkt und behindert werden. Die Folgen sind u. a., dass die Eigenverantwortung und der eigene Handlungsspielraum für sie selbst stark eingeschränkt werden. Unzureichende Beratung und Unterstützung wirkt sich zusätzlich negativ aus. Die Folge der Negation der eigenen Grenzen (sei es durch andere oder durch sie selbst) ist in Form von Depressionen und Erschöpfungszuständen deutlich zu sehen. Angstzustände, Panikattacken, Beziehungsstörungen, insgesamt ein Gefühl von „Ohnmacht“ dem Leben gegenüber werden in Beratungsgesprächen deutlich artikuliert. 2.5 „Alternative“ ganzheitliche Wege der Heilung sind dringend angesagt Nehmen wir an, dass Frauen insgesamt einen bewußteren Umgang bezüglich ihres Gesundheitsverhaltens pflegen und dass behinderte / chronisch erkrankte Frauen doppelt oder mehrfach belastet sind – nämlich sich für die Gesellschaft und für sich selbst so "gesund" wie möglich zu „halten". Eines ist jedoch deutlich zu ersehen: ein anderes (anders als Männer) Hilfesucheverhalten impliziert die Suche nach Unterstützung, nach anderen alternativen Formen und Wegen der Gesundheitsversorgung und Gesundheitserhaltung unter Einbeziehung aller Faktoren, die die Frauen und Mädchen umgeben. Es gilt, ganzheitliche Ansätze (Psyche, Körper, Geist und Umwelt) zu entwickeln, zu fördern und anzuwenden. Wesentliche Grundlage einer ganzheitlichen Unterstützung ist es, eine ganzheitliche Beratungsstruktur für beeinträchtigte Frauen und Mädchen zu schaffen. Ebenso ist eine feministisch – ganzheitlich orientierte Forschung und Wissenschaft, die diese Aspekte unter einem „weiblichen Blickwinkel“ speziell für Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen betrachtet, zu fördern. Aufklärung, eine breite finanzielle Unterstützung der Selbsthilfe und des Ehrenamtes sowie Aus- und Weiterbildungen für Betroffene wie auch für Fachkräfte sind einzuleiten. Ein wesentliches Ziel sollte es sein, ein Umdenken in den Köpfen der Politiker und der zuständigen Behörden zu erreichen, denn sie entscheiden letztlich, wie was umgesetzt wird. 13