3. Expertinnen in eigener Sache - Netzwerk Frauen und Mädchen

Werbung
Zur Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Behinderung in NRW
Erfahrungen aus 11-jähriger Netzwerkarbeit
Stellungnahme des Netzwerkes und des Netzwerkbüros von Frauen und
Mädchen mit Behinderungen /chronischen Erkrankungen NRW
für den Bericht der Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit
Behinderung (§14 BGG NRW)
Die Aufgaben der Landesbeauftragte wie sie in §12 des BGG NRW beschrieben sind
umfasst neben der individuellen Information und Beratung einzelner Betroffener auch
die Anregung von Maßnahmen die darauf gerichtet sind, Benachteiligungen
abzubauen oder deren Entstehung entgegenzuwirken.
Dazu werden neben Informationen aus den Fachministerien vor allem Informationen
aus Sicht der betroffenen Menschen benötigt.
Im Folgenden wollen wir die Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit
Behinderung in NRW beschreiben, wie wir sie in 11-jähriger Netzwerkarbeit erfahren.
Dabei ist uns bewusst, dass unsere Analyse nicht vollständig sein kann, aber von
uns sehr sorgfältig recherchiert wurde. Als Themenschwerpunkte wählten wir neben
der Vorstellung unserer Arbeit die Bereiche
- gesundheitliche Versorgung
- Ausbildung
- Beruf
weil sie regelmäßig von den Frauen und Mädchen zum Thema gemacht werden.
Unsere Anregungen für die Arbeit von Frau Angelika Gemkow haben wir "was wir
uns wünschen" genannt, wohl wissend, dass Landes- und Bundesgesetze beteiligt
sind, alles unter dem Finanzierungsvorbehalt steht und nur langfristig zum Wohle
aller Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von Umfang oder Art einer Behinderung
durch- und umzusetzen sind.
Problemfelder und zukünftige Arbeitsaufgaben
1. Arbeit vor Ort
Unsere Erfahrung zeigt, dass die Umsetzung des Landesgleichstellungsgesetzes auf
kommunaler Ebene eher langsam voran geht und vor Ort unterschiedliche
Ergebnisse mit sich bringt. Sie sind abhängig von einer funktionierenden
"Selbsthilfelandschaft" und /oder dem Vorhandensein von hauptamtlichen
Behindertenkoordinatorinnen und – koordinatoren und Behindertenbeiräte.
Je besser sie – auch mit der Gleichstellungsbeauftragen – konkret und sachbezogen
Zusammenarbeiten, desto leichter sind Verbesserungen vor Ort durch- und
umzusetzen.
Die Gleichstellungsstellen, die Behindertenbeauftragten, die Frauenberatungsstellen,
Selbsthilfestellen sowie die Frauenbüros und auch die Ämter und Behörden müssen
noch detaillierter über die Lebenssituation von behinderten Frauen informiert werden
und benötigen Konzepte für die Arbeit vor Ort.
Informationen zum behindertengerechten Ausbau von Frauenbüros und
Gleichstellungsstellen, Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern sind in
Tagesveranstaltungen zu diskutieren, konkrete Schritte für barrierefreie Zugänge
einzuleiten.
1
Selbsthilfegruppen für und mit Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer
Erkrankung sind einzurichten.
Freizeit- und Kulturangebote sind so zu gestalten, dass Frauen und Mädchen mit
Behinderungen aktiv einbezogen werden.
2. Gegen eine gesellschaftliche Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt, gegen
Armut und diskriminierende Gesundheitspolitik gegenüber Frauen und
Mädchen mit Behinderungen in NRW
Bevor wir auf die berufliche Situation von Frauen mit Behinderungen eingehen ist es
notwendig, die schulische Situation von Mädchen mit Behinderungen zu beleuchten.
Trotz besserer Schulabschlüsse erhalten sie seltener einen Ausbildungs- und später
einen Arbeitsplatz. In Berufsbildungswerken sind sie mit 20-30% vertreten. Ihre
Berufswünsche und Lebenspläne unterscheiden sich nicht von denen nichtbehinderter Mädchen gleichen Alters.
Jedoch werden sie von den bestehenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten
nur schwer erfasst. Sie tauchen häufig in der Familie ab" und werden seltener
ermutigt, sich aktiv auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bewerben. Durch
entsprechende Angebote des Netzwerkes haben Mädchen die Gelegenheit, sich
auszutauschen, ihre Fähigkeiten auszuprobieren und zu erweitern sowie im
Austausch mit den erwachsenen Netzwerkfrauen positive Rollenbilder zu entwickeln.
Wir wünschen uns:

Eine Verbesserung der Information und Beratung an der Schnittstelle:
Übergang Schule – Ausbildung – Beruf.
 Die bestehenden Integrationsfachdienste müssen frühzeitig einbezogen
werden.
 Mehr Praktika und eine verstärkte Teilnahme von behinderten Mädchen am
"Girls Day"
So gewinnen sie Einblicke in die Arbeitswelt und hilft ihnen, die eigenen
Fähigkeiten und Begabungen einzuschätzen.
Als das Behindertengleichstellungsgesetz NRW 2002 in Kraft trat, war der Bereich
schulische Bildung mit der Erklärung ausgespart worden, dass er in einem eigenen
Schulgesetzt bearbeitet werden soll.
Inzwischen ist dieses Schulgesetz verabschiedet ohne den Bedürfnissen behinderter
Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden.
Die Integration in Regelschulen ist leider immer noch die Ausnahme; dabei würde sie
ein miteinander leben – voneinander lernen von Kindheit an erleichtern.
Wir wünschen uns daher eine umfassende Integration in Regelschulen, eine
Unterbringung in Sonderschulen sollte die Ausnahme sein. Hierzu ist es zwingend
erforderlich die Landesbauordnung NRW § 55 in der Form zu ändern, dass alle
Bereiche staatlicher Einrichtungen der vorschulischen und schulischen Erziehung
zum "öffentlichen Bereich" erklärt werden und deshalb barrierefrei zu gestalten sind.
2
Arbeit statt "Sozialhilfe" oder Rente
Laut LIVE-Studie (1999) - zur Lebenssituation behinderter Frauen in Deutschland ist die Gruppe behinderter Frauen – hier vor allem die der alleinstehenden Mütter –
ebenfalls den gesellschaftlichen Randgruppen zuzuordnen, denn sie sind im
Vergleich zu nicht behinderten Frauen überproportional von Armut und
Arbeitslosigkeit betroffen. Behinderte und chronisch erkrankte Menschen, vor allem
jüngere und ältere Frauen mit Behinderung, sind nach wie vor aus dem Arbeitsmarkt
ausgegrenzt, sind aktuell Hartz IV - (früher) Sozialhilfeempfängerinnen oder beziehen
eine geringe Rente.
Wenn sie nicht durch einen Partner oder eine Familie „versorgt“ werden, sind ihre
finanziellen Mittel sehr gering, so dass sie von wichtigen Bereichen gesellschaftlicher
Teilhabe ausgeschlossen bleiben. Behinderte Frauen benötigen aufgrund ihrer sehr
speziellen Lebenssituation besondere Wahlmöglichkeiten in Ausbildung und Beruf
und ihnen angepasste Arbeitsplätze und Arbeitszeiten.
Vor allem Teilzeitarbeitsplätze in Kombination mit Teilrenten könnten vielen
behinderten und chronisch erkrankten Frauen verstärkt ein selbstbestimmtes Leben
ermöglichen.
Auch die spezielle Lebenssituation behinderter Frauen in den Werkstätten ist nicht zu
vergessen. Nach wie vor ist der Frauenanteil in den Werkstätten für Behinderte sehr
hoch – die Durchlässigkeit der Werkstätten zum allgemeinen Arbeitsmarkt muss
dringend gefördert und ebenfalls muss eine leistungsgerechte Entlohnung installiert
und ein Arbeitnehmerinnenstatus geschaffen werden (Recht auf Kündigung,
Mutterschafts- und Erziehungsurlaub und eine Tarifentlohnung).
Was wir brauchen
Damit sich die Ausbildungs- und Berufschancen für Frauen mit Behinderungen
verbessern brauchen wir unter anderem folgendes:






Individuelle Berufsvorbereitungen, z.B. in Form von Zukunftsplanungen in
allen Schulen in Zusammenarbeit mit örtlichen Agenturen für Arbeit und
Integrationsfachdiensten
Bessere Kooperation mit anderen Interessenvertretungen (wenn es zum
Beispiel eine Vereinbarung der Bundesregierung mit Spitzenverbänden der
deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und
Männern in der Privatwirtschaft gibt, muss in dieser speziell auf behinderte
Frauen und Männer hingewiesen werden)
Widerspruchsrecht der Schwerbehindertenvertretung verankern (Wenn eine
Person trotz gleicher Eignung nicht eingestellt wird, muss die
Schwerbehindertenvertretung analog zum Betriebsverfassungsgesetz ihre
Zustimmung zu dem Verfahren verweigern können)
Verstärktes Nutzen der Integrationsvereinbarungen
Stärkung des Diversity Managements (Vielfalt in den Betrieben)
Schulungen des Personals von Agenturen für Arbeit und Gemeinsamen
Servicestellen zur Sensibilisierung für die Belange behinderter Frauen
3

Flächendeckende Beratungsmöglichkeiten für behinderte Frauen schaffen,
denn gut informierte und gestärkte Frauen setzen ihre Interessen besser
durch
Wir wünschen uns
Arbeitsverwaltungen, die Frauen mit Behinderung aus dem "Betreuungsstatus"
heraus holen und aktiv ihre Einstellung auf dem Arbeitsmarkt fördern.
Hierbei sind die bestehenden Förderungsmöglichkeiten gemäß SGB IX, dem
Bundesprogramm 4 Plus und verschiedener EU-Programme auszuschöpfen.
Arbeitszeitmodelle, Arbeitsassistenz und Telearbeitsplätze erleichtern besonders
Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf den Zugang zur Arbeitswelt und sind
auszubauen.
Was können wir als Selbsthilfeorganisationen tun?









Sensibilisierung der unterschiedlichen Lebensbedingungen behinderter
Frauen gegenüber Männern
Schulungen bei Rehaträgern als Expertinnen in eigener Sache anbieten
Frauen stärken, beraten und gut informieren
Frauen im Umgang mit (Arbeits)Assistenz stärken, denn Frauen nutzen die
Möglichkeit der Arbeitsassistenz weniger als Männer
ArbeitgeberInnen über Assistenz informieren
VHS Kurse zur Begleitung arbeitsloser behinderter Frauen anbieten, um
individuelle Lösungen zu erarbeiten
An örtlichen oder landesweiten Arbeitsgemeinschaften mit Politik, Verwaltung
u.ä. teilnehmen, um dort die Interessen behinderter Frauen einzubringen
Gemeinsame Servicestellen fordern und nutzen
Ein trägerübergreifendes persönliches Budget wird in Zukunft hoffentlich den
betroffenen Menschen mehr Selbstbestimmung in der persönlichen
Lebensführung ermöglichen
Gesundheitliche Versorgung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen
„Die Fortschritte in der Gesundheitsforschung haben den Anstieg der
Lebenserwartung insbesondere von kranken und schwerbehinderten Menschen
ermöglicht. Die soziale und finanzielle Infrastruktur ist jedoch unzureichend
ausgebaut, um die steigende Anzahl dieser Menschen zu unterstützen, sei es beim
Eintritt in den Arbeitsmarkt oder bei der Gewährung einer würdevollen Beschäftigung
und eines sozialen Umfeldes. Gefordert sind neue Konzepte zur gesellschaftlichen
Integration dieser Personengruppen.“
Sozialpolitik im Umbruch/Tagungsunterlagen des Kongresses „NRW in globaler Verantwortung“ vom
31.11. und 01.12.2000 in Bonn, Seite 96
Dieses allgemeingreifende Zitat würden wir im nachhinein gerne um den Passus
ergänzt wissen:
„Besonders Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, die auf
Pflege und Assistenz und auf dauernde medikamentöse Behandlungen angewiesen
sind, benötigen geschlechtsspezifische Konzepte zur Gesundheitsförderung und 4
behandlung sowie zur gesellschaftlichen Integration in den Arbeitsmarkt. Die
gesundheitliche Lebenssituation behinderter und chronisch erkrankter Frauen ist
besonders in den Bereichen der Zuwendung durch Hilfsmittel und Assistenz sowie in
der Prophylaxe und Rehabilitation stark beeinträchtigt. Abhängigkeiten von Ärzten
und Gutachtern, unqualifizierte Behandlungsmethoden spezieller behinderungsbedingter Probleme sowie frauenfeindliche Untersuchungsbedingungen erschweren
die gesellschaftlich Integration und die individuelle Genesung.“
Neue Konzepte und Daten zur gesundheitlichen Lebenssituation sind
erforderlich.
Leider gibt es bisher nur wenige Forschungsarbeiten, die die Untersuchung der
Lebenssituation Contergan geschädigter Frauen der WWU Münster 2001 sowie auch
die LIVE-Studie 1999, die Anteile enthalten, die die gesundheitliche Lebenssituation
von Frauen mit Behinderungen analysieren und wichtige Daten aufzeigen. Breiter
angelegte Untersuchungen sind tatsächlich leider nicht vorzufinden.
Forschungsansätze, wie der Bericht über die Lebenssituation contergangeschädigter
Frauen des Fachbereichs Frauenforschung der Westf. Wilhelms - Universität in
Münster, belegen für einen kleinen Teil behinderter Frauen, dass gesundheitliche
Probleme, Integrationsschwierigkeiten in das soziale System und Schwierigkeiten mit
den unterstützenden Diensten (Dritte) die Regel sind.
Bei den beiden genannten Untersuchungen ist zu beachten, dass in den Studien
ausschließlich körper- und sinnesbehinderte Frauen zum Teil mit einem geringeren
Grad der Behinderung befragt wurden. Schwerstmehrfachbehinderte Frauen sowie
geistig behinderte Frauen waren nicht in die Untersuchungen einbezogen.
Im Frühjahr 2001 veröffentlichte das Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und
Gesundheit NRW seinen ersten Geschlechter differenzierten
Landesgesundheitsbericht. In dieser umfangreichen Analyse sind unterschiedliche
Lebensbereiche auf ihre gesundheitlichen Bedingungen hin untersucht worden. Die
Analysen und Daten sind unseres Erachtens sehr aufschlussreich, auch sehr
zutreffend und geben einen guten Eindruck der gesundheitlichen Lebenssituation
allgemein von Frauen wieder.
Jedoch: in dem Gesundheitsbericht sind die Gruppen der behinderten Frauen und
der Frauen mit seltenen schweren chronischen Erkrankungen nicht einbezogen,
diese sind unter anderem im Netzwerk vertreten. Im Gesundheitsbericht ist diese
Lücke in der Berichterstattung positiverweise auch selbstkritisch formuliert worden.
Wie anzunehmen war, wurde dieser Themenkomplex aus Gründen fehlender
empirischer Untersuchungs- und Forschungsergebnisse und fehlender
geschlechterspezifischer Theorieansätze zur gesundheitlichen Lebenssituation
behinderter Frauen und Männer ausgespart. Sie soll jedoch in eine zukünftige
Gesundheitsberichterstattung eingeplant werden, hier sind unbedingt behinderte
Expertinnen und Experten einzubeziehen.
Daten zur gesundheitlichen Lebenssituation
Die Live Studie zeigt - durch die persönlichen und zeitintensiven Interviews mit
behinderten Frauen - auf:
5
- dass bei behinderten Frauen negative Erfahrungen mit ärztlichen Behandlungen
und Krankenhausaufenthalten zum Alltag gehören;
- dass behinderte Frauen zum Teil nur unter Inkaufnahme gesundheitlicher Risiken,
oftmals gegen den Rat der Ärzte, ihre Kinder zu Welt gebracht haben;
- dass ca. 12 % der Frauen schon einmal demütigende Erfahrungen bei
Frauenärztinnen gemacht haben, die im Zusammenhang mit Verhütungsfragen oder
Kinderwunsch standen;
- dass fast jeder 10ten behinderten Frau eine Abtreibung nahegelegt wurde; 8,2%
wurde als Verhütung die Sterilisation nahegelegt. Der Anteil von behinderten Frauen,
die sterilisiert sind (35,9%), ist zehnmal so hoch wie in der entsprechenden
Altersgruppe nicht behinderter Frauen.
- dass 18,3 % der Frauen demütigende Erfahrungen im Rahmen medizinischer,
pflegerischer oder technischer Untersuchungen, Behandlungen oder Maßnahmen im
Zusammenhang mit ihrer Behinderung gemacht haben.
Auch die Untersuchung zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von
contergangeschädigten Frauen der Westf. Wilhelms Universität Münster zeigt auf:
- dass 46 % der befragten Frauen sich zum Zeitpunkt der Befragung aufgrund
behinderungsbedingter Probleme in medizinischer Behandlung befanden;
- dass 43%, fast jede zweite Frau, zunehmende Probleme äußern, kompetente Ärzte
oder Ärztinnen zu finden, die in der Lage sind, behinderungsbedingte Probleme zu
behandeln;
- dass 41% der Frauen berichteten, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund ihrer
Behinderung in den letzten zwölf Monaten verschlechtert habe. Dabei stehen mit 83
% degenerative Veränderungen der Wirbelsäule an erster Stelle.
Diese Untersuchungen zeigen auch sehr deutlich auf, dass die reale gesundheitliche
Lebenssituation behinderter Frauen sich wesentlich von der nicht behinderter Frauen
unterscheidet und wie vor allem die Lebensplanung und die Umsetzung eines
selbstbestimmten Lebens mit der gesundheitlichen Verfassung im Zusammenhang
steht.
Bereits in diesen Untersuchungen ist zu erkennen, dass für eine zukünftige
Gesundheitsberichtserstattung die Daten repräsentativ alle Gruppen behinderter und
chronisch erkrankter Frauen im gleichen Maße berücksichtigen müssen.
Dabei sind die Daten über die Lebenssituation geistig behinderter Frauen und
Frauen, die auf Pflege und Assistenz angewiesen sind, gesondert zu erfassen; wird
doch gerade an ihrem Beispiel die Realität und der Wunsch einer gesundheitlichen
Versorgung im Verhältnis zur Selbstbestimmung, zum selbstbestimmten Leben,
deutlich.
Allein um zu zeigen, wie unterschiedlich die Bedürfnisse sind, ist hier kurz die
besondere Lage geistig behinderter Frauen und Mädchen sowie der
gehörlosen Frauen und Mädchen skizziert.
Die gesundheitliche Versorgung von Frauen mit geistiger Behinderung oder – wie sie
selber sagen – mit Lernschwierigkeiten gestaltet sich oft schwierig, da es sich hier
meist um ein mehrfach dimensionales Krankheitsbild handelt und es so gut wie keine
Fachärzte gibt, die sich mit akuten Krankheitsbildern kombiniert mit den Folgen einer
Behinderung gleichzeitig auskennen. Fehldiagnosen und falsche Medikamente sind
häufig die Folge. Auch fehlt dem gesamten Medizinpersonal die geeignete
6
Ausbildung, um die Frauen mit Lernschwierigkeiten in Diagnostik und Therapie
einzubeziehen. Erschwerend kommt das geringe Zeitbudget im Praxisalltag hinzu.
Dies wird besonders deutlich im Rahmen gynäkologischer Beratung und
Untersuchung. Entsprechend gering ist die Inanspruchnahme von
Vorsorgeuntersuchungen. Frauen mit Mobilitätseinschränkungen sind auf
barrierefreie Zugänge zu Arztpraxen und Untersuchungseinrichtungen angewiesen.
Deshalb unterstützt das Netzwerk ausdrücklich die Aktivitäten der
Landesbehindertenbeauftragten Frau Angelika Gemkow, Fachverbände, Ärzteschaft
und Öffentlichkeit auf diese Probleme hinzuweisen.
Industrie und Forschung sind aufgefordert, Untersuchungsgeräte entsprechend zu
gestalten oder geeignete Hilfsmittel zu entwickeln.
Ein besonderes Augenmerk ist auf die medizinische Versorgung der Menschen mit
Behinderung zu legen, die sich nicht sprachlich äußern können. Hier sind
Angehörige, Betreuungspersonal und Mediziner entsprechend zu schulen.
Als Negativbeispiel ist die zahnmedizinische Versorgung zu nennen:
Immer noch wird als "motorische Unruhe" gewertet und behandelt, was in
Wirklichkeit heftige Zahnschmerzen sind.
Wir wünschen uns eine ganzheitliche medizinische Versorgung, in der eine
Akuterkrankung auch in Zusammenhang mit der vorliegenden Behinderung gesehen
und behandelt wird.
Entsprechende Forschungsaufträge sind zu vergeben. Hierbei sind behinderte
Expertinnen einzubeziehen.
Zur Lebenssituation der gehörlosen Frauen in NRW.
Die Bedürfnisse gehörloser Frauen wurden bisher weder in Gruppen von Frauen mit
oder ohne Behinderung thematisiert. Die Abgeschnittenheit von der Kommunikation
in der hörenden Gesellschaft bringt spezielle Probleme mit sich. So werden sie u.a.
in Schulen, bei Ärzten oft nicht gehört oder ernst genommen. Auch sind viele
frauenspezifische Einrichtungen nicht über die Problematik gehörloser Frauen und
Mütter informiert.
Durch den Ausschluss vom Zugang zu allgemeinen Informationen benötigen sie in
vielen Bereichen Basisinformationen. Viele Medien sind für sie nicht nutzbar, so z.B.
das Radio und auch über das Fernsehen erhalten sie nur begrenzt Informationen, da
nur wenige Sendungen untertitelt sind oder eine Dolmetscherin bzw. ein Dolmetscher
eingeblendet wird. Da gehörlose Menschen die Gebärdensprache benutzen und in
der Gebärdensprache die Grammatik völlig anders aufgebaut ist als in der
Lautsprache, haben gehörlose Menschen erhebliche Probleme mit dem Verstehen
der Schriftsprache. Gehörlose Menschen hören nicht tagtäglich Sprache, daher bleibt
die Laut- und Schriftsprache für gehörlose Menschen so etwas wie eine
„Fremdsprache“, die, wenn überhaupt, nur unter viel Mühe und nur „künstlich“ und
mit Einschränkungen erworben werden kann. Fast alle gehörlosen Menschen haben,
erhebliche Einschränkungen im Schriftsprachbereich. Daher sind auch Zeitungen,
Literatur und Internet für gehörlose Frauen nur im ganz begrenzten Umfang
Informationsquellen. Bei einem Arztbesuch reicht es beispielsweise nicht aus, der
Patientin bzw. dem Patienten das Medikament zu verordnen und auf den
Beipackzettel zu verweisen. Diesen können Gehörlose nicht oder nur begrenzt
7
verstehen. Es kann so zu großen Missverständnissen kommen, die unter Umständen
sogar gesundheitliche Folgen haben können.
Behinderte und chronisch erkrankte Frauen haben Angst vor ihrer Zukunft.
Wie der Gesundheitsbericht deutlich aufzeigt, ist die soziale Lebenssituation
entscheidend für die gesundheitliche Stabilität der betroffenen Frauen.
Auf Kongress „NRW GLOBAL“ wurde dies bestätigt. Schlechten Perspektiven auf
dem Arbeitsmarkt führen zwangläufig zu Armut. Die daraus folgende verminderte
soziale Integration und die mangelhafte gesundheitliche Versorgung verschärfen die
behinderungbedingten Nachteile.
So zeigt die Untersuchung der Westf. Wilhelms Universität auf, dass ein Großteil der
contergangeschädigten Frauen mit Sorge in die Zukunft blickt:
-Zwei Drittel der Befragten befürchten, dass sich ihr körperlicher Zustand in den
nächsten zwei Jahren aufgrund der Behinderung verschlechtert. Dadurch wiederum
erwarten die meisten Frauen mit Sorge so weitreichende negative Auswirkungen auf
ihr Leben, wie beispielsweise mehr Abhängigkeit von Dritten und weniger
Möglichkeiten, den Alltag zu bewältigen. Auch Einschränkungen in der beruflichen
Leistungsfähigkeit, in den Freizeitaktivitäten und in der Mobilität werden befürchtet.
Um auch über die gesundheitliche Lebenssituation behinderter Frauen in NRW
ein genaueres Bild zu bekommen, hat das Netzwerk/Netzwerkbüro 2001 einen
umfassenden Fragebogen zur (gesundheitlichen) Lebenssituation entwickelt,
der von 150 Frauen beantwortet worden ist. (N = 500)
Die Auswertung ergibt:
Über 60% der Frauen befürchten in der Zukunft den Alltag nicht mehr wie bisher
bewältigen zu können, vor allem wegen eines sich verschlechternden
Gesundheitszustandes und Einschränkungen der Beweglichkeit. Je älter die
Befragten sind, desto eher wird eine Abnahme der Alltagsbewältigung befürchtet.
Knapp über die Hälfte der Befragten erwarten finanzielle Einbußen in der Zukunft,
und zwar je niedriger das Nettoeinkommen, desto eher. Die negativen Erwartungen
entstanden durch nicht bewilligte Sozialhilfeanträge oder befürchteten Kürzungen bei
der Sozialhilfe, Rente oder anderen Zuschüssen und dem (drohenden) Verlust des
Arbeitsplatzes. Auch bei der Finanzierung von Assistenz oder Hilfen und Therapien
sehen die Frauen Schwierigkeiten.
Genauso pessimistisch wird die Leistungsfähigkeit bei der Erwerbs- und
Berufstätigkeit beurteilt. Hier steht insbesondere ein schlechter bzw. sich
verschlechternder Gesundheitszustand und damit einhergehend eine verminderte
Leistungsfähigkeit im Vordergrund. Je niedriger der Behinderungsgrad und je jünger
die Befragten sind, desto weniger werden Einschränkungen diesbezüglich befürchtet.
Die Befürchtungen steigern sich mit zunehmendem Alter.
Gut 60% der Frauen haben nicht die Befürchtung soziale Kontakte zu verlieren,
diejenigen, die diese Befürchtung haben, sehen den Grund in ihrem schlechten bzw.
sich verschlechternden Gesundheitszustand und Mobilitätseinschränkungen. Frauen
ohne Partner hegen, im Vergleich zu Frauen mit, diese Befürchtung eher. Dasselbe
gilt für Frauen, die auf Assistenz/ Hilfe bei der persönlichen Pflege angewiesen sind.
8
Aus den gleichen Gründen, verbunden mit fehlenden finanziellen Mitteln befürchten
63% der Frauen Einschränkungen bei Sport- und Freizeitaktivitäten. Frauen, die nicht
berufstätig sind, befürchten diesbezüglich eher Einschränkungen als Berufstätige.
Die große Mehrheit der Frauen sorgt sich nicht um eine negative Veränderung ihrer
Wohnsituation.
So befürchten 61 % finanzielle Einbußen, 62,5% Einschränkungen der
Leistungsfähigkeit, 47,4% den Verlust sozialer Kontakte. 74% befürchten
Einschränkungen bei Freizeitaktivitäten, und 42 % der Frauen hat Angst, ihr Leben
weiterhin nicht selbstbestimmt leben zu können.
Von Bedeutung ist auch, dass die Frauen bemängeln, dass sie in ihrer
Selbstwahrnehmung, betreffend ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit, oft
durch den äußeren Anpassungszwang und aufgrund der Fremdbestimmung durch
Fachkräfte, Versicherungen und Krankenkassen stark eingeschränkt und behindert
werden. Die Folgen davon sind, dass die Eigenverantwortung und der eigene
Handlungsspielraum abnimmt. Unzureichende Beratung und Unterstützung wirken
sich zusätzlich negativ aus.
Insgesamt ist aus den vorliegenden Analysen klar ersichtlich, dass eine zukünftige
Gesundheitsberichterstattung und ebenso eine zukünftige Gesundheitsreform sich
stärker an den Belangen behinderter und chronisch erkrankter Frauen und auch
Mädchen orientieren müssen, sie müssen auch aktiver in die Gestaltung zukünftiger
Gesundheitspolitik mit einbezogen werden. Dieses ist nicht nur gesellschaftlich
wünschenswert, sondern notwendig, um ein Leben in Selbstbestimmung und
gleichberechtigter Teilhabe zu ermöglichen.
Aufgrund dieser Tatsachen hat das Netzwerkbüro/ Netzwerk eine Stellungnahme für
eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung verfasst und anlässlich einer Anhörung
im Landtag im Frühjahr 2001, den Teilnehmern zukommen lassen.
(Sie ist über den Protokolldienst des Landtages NRW zu erhalten)
3. Expertinnen in eigener Sache
„Gegenseitige Beratung und Unterstützung, Interessenvertretung und
gesellschaftliche Partizipation - das erwarten Menschen mit Behinderungen und
chronischen Erkrankungen, wenn sie auf regionaler Ebene Initiativen und Vereine
bilden. Aufgrund ihrer vielfältigen Erfahrungen sind sie nicht nur zu Experten in
eigener Sache und der kollektiven Selbsthilfe geworden, sondern haben auch eine
besondere Kompetenz und soziale Phantasie für die Entwicklung und Gestaltung
einer Gesellschaft in Solidarität und Gerechtigkeit entwickelt.
Sie wollen, das eine Sozial- und Gesundheitspolitik nicht nur für sie, sondern mit
ihnen, d.h. mit ihrer Mitwirkung und ihrer Mitbestimmung gestaltet wird. Wesentliche
Forderungen der Behinderten-Selbsthilfe sind die gesellschaftliche Teilhabe und die
Mitbestimmung bei den betreffenden politischen Entscheidungen und Initiativen, aber
auch bei der Gestaltung der konkreten Lebensverhältnisse.“
Die Landesregierung NRW hat in ihrem Aktionsprogramm „Mit gleichen
Chancen leben“ u.a. die spezielle Lebenssituation von Frauen und Mädchen
9
mit Behinderungen aufgegriffen und ihren künftigen Beitrag zur Eingliederung
konkretisiert.
Das Ziel der Landesregierung ist es u. a., die Rahmenbedingungen für ein
selbstbestimmtes Leben von Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu
verbessern. Hierzu gehören neben der Beratung in Problemsituationen auch die
Unterstützung im täglichen Leben und die Motivierung der Betroffenen, sich durch
Selbsthilfe und Zusammenarbeit mit anderen behinderten Frauen Mut zu machen
und Selbstvertrauen zu entwickeln. Frauen und Mädchen mit Behinderungen müssen
wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Beratung und Hilfe brauchen.
Ein besonderes Augenmerk gilt der Vernetzung mit den Behindertenzusammenschlüssen auf örtlicher Ebene und der Zusammenarbeit mit den Gleichstellungsstellen in den Kommunen, sowie dem Aufbau eines Beratungssystems nach dem
Prinzip „Behinderte beraten Behinderte"; so ist eine Forderung der behinderten
Frauen, die vorhandenen Beratungsteams z.B. durch Frauen mit Behinderungen zu
verstärken.
In den zurückliegenden Jahren der Netzwerkarbeit und aus den Erfahrungen der
zahlreichen, vielerorts geführten Gespräche mit behinderten Frauen und
Mädchen und in den unterschiedlichsten Veranstaltungen des Netzwerks, ist
deutlich geworden, dass viele Frauen mit Behinderung dringend psychosoziale
Beratung und konkrete Lösungsangebote für eine Vielzahl ihrer Probleme
benötigen, aber keine geeigneten Anlaufstellen oder Therapeutinnen finden.
Hierbei ist festzustellen, dass Frauen, die zusätzlich in Selbsthilfeorganisationen
auf bundes-, landes-, oder kommunaler Ebene organisiert sind, bereits ein
breiteres Wissen, das ihre spezielle Erkrankung oder Behinderung betrifft,
vorweisen, und von daher stärker die Netzwerkarbeit nutzen, um ihre
frauenspezifischen Probleme sozialpolitisch zu artikulieren und um ihre Rechte
durchzusetzen.
Das Netzwerk vertritt jedoch auch viele nicht organisierte Frauen. Mindestens die
Hälfte aller verzeichneten Netzwerkerinnen sind keiner Selbsthilfeorganisation
beigetreten, da ihnen diese zu sehr von Männern regiert werden und sie sich mit
ihren speziellen Interessen und Problematiken nicht vertreten fühlen.
Viele dieser Frauen waren Gewalt und Dominanz ausgesetzt und bedürfen einer
professionellen Beratung, die sie sich ausschließlich von weiblichen
Vertrauenspersonen wünschen,
Diese Frauen, die oft langjährige negative Erfahrungen aufgrund ihrer
Behinderung oder chronischen Erkrankung gemacht haben, weisen häufig starke
Defizite in ihrem Selbstbewusstsein auf. Besonders die Frauen, die zusätzlich
diskriminierende Erfahrungen in ihrer beruflichen Entwicklung und in ihren
persönlichen Beziehungsstrukturen erlebt haben. Von diesen Frauen haben
wiederum viele eine ihnen nicht adäquate Ausbildung und einen unteren
Sozialstatus. Zu dieser Gruppe gehören lernbehinderte oder psychisch
beeinträchtigte Frauen. Sie erhoffen sich durch die aktiven Forumsfrauen und die
Mitarbeiterinnen des Netzwerkbüros an erster Stelle konkrete Unterstützung und
an zweiter Stelle politisches Engagement. Durch die aktive Einbeziehung in die
10
Netzwerkarbeit gewinnen sie an Selbstbewußtsein und Vertrauen in ihre eigenen
Fähigkeiten.
Probleme der allgemeinen Beratung
Trotz vielfältiger Angebote von Seiten der versorgenden Institutionen, der Anbieter,
wie den Krankenkassen, den Rentenversicherungsträgern etc. - trotz neu
eingerichteter Servicestellen, ist bei den meisten Frauen eine tiefe Unsicherheit
bezüglich der Bewältigungsmöglichkeiten ihrer sozialen, oft sozial schwachen,
Lebenssituation zu spüren.
Es fängt damit an, dass sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen und ob
ihnen wirklich geholfen werden kann. Angst vor den Ämtern, den mittlerweile
unüberschaubaren bürokratischen Verfahrensweisen und Antragsverfahren und
die Unwissenheit über ihre Rechte entmutigen viele Frauen und lassen sie erst
gar nicht die beratenden Stellen aufsuchen.
Beratungsbedarf besteht auch in vielen anderen Lebensbereichen. Rechtliche und
soziale Entscheidungen müssen immer wieder neu überdacht und gegebenenfalls
korrigiert werden. So z.B. bei der Wahl des Arbeitsplatzes oder der Ausbildung.
„Kann ich das mit meiner Behinderung schaffen?“ und bei der Wahl des Wohnortes
oder der Wohnung. „Ist sie behindertengerecht genug, was benötige ich, wenn ich
nicht mehr so mobil bin?“
Bei der Wahl der Ärzte. „Wer kennt sich mit meiner speziellen Behinderung oder
Erkrankung aus?“ und bei der Wahl der Assistenz oder der Einstufung in die
Pflegekasse, bei der Wahl der Rehabilitationsmaßnahmen und der Hilfsmittel, bei der
Wahl der Freizeit und der sozialen Kontaktmöglichkeiten etc.. Es liegt vor jeder
betroffenen Frau ein Dschungel an Gesetzen und Rechten, nur wer gibt ihnen
Orientierungshilfe und zeigt ihnen den optimalen Weg?
Das Selbstverständnis - eine „gesellschaftlich definierte“ behinderte oder schwer
erkrankte Frau zu sein - und der persönliche Umgang mit einer Behinderung
oder chronischen Erkrankung ist von Frau zu Frau sehr unterschiedlich. Deutlich
ist doch, dass die meisten Frauen und Mädchen ihre Behinderung als einen
schwer zu akzeptierenden Zustand erfahren. Äußere erschwerende
gesellschaftliche Bedingungen und Vorurteile treffen dann auf innere
Verunsicherungen und Unklarheiten in der Frage der Zugehörigkeit und
Definition der Rollenidentität bei den betroffenen Frauen oder Mädchen. Ein
manchmal explosiver Mix, bestehend aus der Gegensätzlichkeit zwischen den
„normalen“ gesellschaftlich anerkannten Wünschen und den realen Bedingungen
in der Welt der behinderten Frauen und Mädchen.
Aus den Ergebnissen der Beratungen und aus den Erfahrungen der
sozialpolitischen Arbeit mit den Frauen des Netzwerks kann festgehalten
werden, dass die beiden Faktoren:
a) die sozialpolitische Selbsthilfearbeit und
b) die psychosoziale Beratung oder Unterstützung 11
untrennbar miteinander gekoppelt sind. Belegt werden kann dieses dadurch, dass
z.B. auf den Plenumsveranstaltungen des Netzwerks immer Alltagserfahrungen
durch die Frauen benannt und ganz konkrete Wünsche nach Unterstützung in den
unterschiedlichsten Thematiken gefordert werden. Hilfe wird benötigt, meistens direkt
und am besten gestern schon.
Unterstützung und Beratung in der Selbsthilfe und politisches Engagement
gehören zusammen, sie sind nicht voneinander zu trennen.
Wege der Verbesserung der Beratung in der Selbsthilfe
Die o.g. Problematik bedarf der Lösung und verlangt nach verbesserten Formen
der Beratung und Unterstützung im Zusammenspiel mit sozialpolitischem
Engagement.
Einerseits sammelt das Netzwerkbüro /Netzwerk Erfahrungsberichte und ist in
der Problematik der Frauen verankert, andererseits ist es zur Zeit nicht leistbar,
dieser Gruppe von Frauen Unterstützung und Beratung zukommen zu lassen, da
dafür die notwendige Personalkapazität und die nötige Beratungsstruktur fehlt.
Eine Form der Selbsthilfearbeit, sowie der Beratung, muss aus Wegweisungen durch
den Dschungel der sozialen Versorgungsangebote und Integrationsmöglichkeiten
bestehen. Die andere Form der Beratung muss den genauso relevanten Bereich der
Hilfe bei der psychischen und gesellschaftlichen Bewältigung der Behinderung
oder/und chronischer Erkrankung umfassen und Formen der gesellschaftlichen
Integration darbieten können. Dieses Angebot muss eine, dem Bildungsstand und
Alter der Frauen, entsprechende Lernstruktur vorweisen.
Kreative Veranstaltungsformen sind zu entwickeln. Intellektuelle Diskussionen allein
helfen hier nicht.
Dieses wurde besonders deutlich in unseren Seminaren zur Selbstverteidigung und
Selbstbehauptung, in denen in Rollenspielen z.B. selbstbewusstes Auftreten
gegenüber einem Berater/ einer Beraterin oder unterschiedlichen Institutionen, geübt
wurde. Das Erlangen sozialer Kompetenz verbunden mit fundiertem Wissen über ihre
persönlichen Rechte wird zur Grundlage sich selbst helfen zu können.
Ein ganz brisantes Thema: Sexueller Missbrauch
Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind vermehrt sexueller Gewalt ausgesetzt.
Gewalt - insbesondere auch sexuelle Übergriffe gegen Mädchen und Frauen mit
Behinderungen - wird immer noch tabuisiert. Dieses Thema muss offen diskutiert
werden, vor allem auch dann, wenn in Einrichtungen, in denen behinderte Menschen
Schutz und Sicherheit erwarten, Gewalt und sexueller Missbrauch geschehen. Hier
existiert eine hohe Dunkelziffer von sexueller und anderer Formen von
Unterdrückung besonders im Lebensraum geistig behinderter und psychisch
erkrankter Frauen und Mädchen.
Die bestehenden Frauenberatungsstellen gegen Gewalt bieten in der Regel keine
Angebote für diese Gruppen an. Auch gibt es in NRW nur wenige barrierefreie
Frauenhäuser oder Mädchenzufluchtsstätten in denen die betroffenen Frauen und
Mädchen Zuflucht finden können. Leider gibt es nur wenige Rechtsanwältinnen, die
in diesem Bereich angemessene Rechtsberatung und Opferschutz anbieten.
12
Unsere Erfahrung zeigt, dass Übungen und Veranstaltungen zur Stärkung des
Selbstbewußtseins zur Gewaltprävention beitragen. Daher sind sie im SGB IX
ausdrücklich aufgenommen worden und werden durch die Krankenkassen finanziert.
Leider wird dies im Alltag in der Kommune bisher noch zu wenig genutzt.
Auch ist es möglich, entsprechende Kurse im Bereich des Rehasportes anzubieten.
Ein entsprechendes Curriculum wurde erarbeitet und wird zur Zeit erprobt. Leider
fehlen in den Kommunen oft geeignete Übungsleiterinnen und Trainingsräume.
Probleme in der Beratung und die möglichen Lösungsansätze
Das größte Problem ist der Mangel an kommunalen oder regionalen
Beratungsstrukturen. Außerhalb der größeren Städte wie Köln, Düsseldorf,
Dortmund oder Münster, gibt es gar keine adäquate Beratungsstruktur, von
barrierefreien Angeboten ganz zu schweigen.
Beratungsangebote, wie in Münster (AK Frauen mit Behinderung in Münster), die
nach dem peer support und peer councelling Prinzip entwickelt wurden
(Betroffene beraten Betroffene), sind ansonsten in NRW nicht vorzuweisen.
Viele Kommunen führen dies auf eine fehlende Nachfrage zurück. Dem
widersprechen wir entschieden. Dies ist durch die Arbeitsergebnisse des
münsteraner Angebotes zu widerlegen. Zeigt sich hier doch deutlich, dass beidesein individuelles Beratungsangebot und sozialpolitische Unterstützung sich
gegenseitig positiv bedingen und so eine wichtige Lücke in der Integration
behinderter und chronisch kranker Frauen schließen. Das heißt, ein kommunal gut
ausgebautes Informations- und Beratungsangebot und eine sich regelmäßig
treffende Selbsthilfeinitiative behinderter Frauen – in Zusammenarbeit mit der
zuständigen Kommunalverwaltung – ist eine Grundvoraussetzung für eine
kontinuierliche gesellschaftspolitische regionale Veränderung: Sei es in dem
öffentlichen Bewusstsein oder in der Selbsteinschätzung der behinderten Frauen und
Mädchen.
Notwendig sind Aus- und Fortbildungskurse, in denen die ehrenamtlichen Frauen,
sowie auch die Mitarbeiterinnen des Büros, Beratung nach dem Prinzip des peer
support lernen. Ebenfalls ist der Ausbau einer flächendeckenden Beratungsstruktur
speziell für Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu entwickeln.
Es gibt genug Ansatzmöglichkeiten, eine professionelle sozialpolitische
Selbsthilfearbeit zu fördern. Dieses käme letztendlich nicht nur den betroffenen
Frauen zugute, sondern ebenfalls allen anderen Menschen und versorgenden
Institutionen, die sie umgeben.
So formulierte auch Frau Geesken Wörmann, Vorsitzende der LAG SB NRW auf
dem Workshop „Bedeutung und Beurteilung von Patientenberatung in der Arbeit der
Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen“ am 19.09.02 in Münster,
„das die Beratung nach dem Prinzip „ Betroffene beraten Betroffene“ in der
Selbsthilfe einen hohen Stellenwert habe. Die erbrachte gegenseitige Hilfe aufgrund
ihrer eigenen Erfahrungen sei durch nichts zu ersetzen und stelle den eigentlichen
Wert einer guten Beratung dar. „Wir müssen das, was wir tun, nicht unter den
Scheffel stellen- sondern sollten unser Licht leuchten lassen…“, so Frau Wörmann
auf dem Workshop "Bedeutung und Beurteilung von Patientenberatung in der Arbeit
der Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen" 2002.
13
Wir wünschen uns:
Ein Beratungsangebot, das konsequent die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen
mit Behinderungen in allen Lebensbereichen einbezieht. Als Expertinnen sind
Fachleute mit Behinderungen einzustellen.
Siehe hierzu Gertrud Servos, Ulrike Scheen in dem Handbuch "Beratung körperbehinderter Frauen und
Mädchen", Wildwasser Baden-Württemberg 2004.
Finanzielle Anreize können dies erleichtern und würden die hohe Arbeitslosigkeit
behinderter gut ausgebildeter Frauen reduzieren.
Wir wissen, dass die Integration von Menschen mit Behinderungen in die
Gesellschaft und eine selbstbestimmte Teilhabe in allen Lebensbereichen ein
wechselseitiger und dauerhafter Prozess ist.
Die Arbeit der Beauftragten für die Belange für Menschen mit Behinderungen in
NRW, Frau Angelika Gemkow, unterstützt und fördert mit Engagement diese
gesellschaftliche Unterstützung.
Münster, den 07.November 2006
Netzwerk von Frauen und Mädchen mit Behinderungen NRW
Petra Stahr
Gertrud Servos
Projektleiterin NetzwerkBüro
Sprecherin des Netzwerkes
14
Herunterladen