Zur Funktionsweise des Alkoholismus

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Zur Funktionsweise
des Alkoholismus’
Dr. Gerald Abl, Tagesklinik Premnitz
Premnitz, 31.05.2007
Einleitende Annäherungen
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Zur Funktionsweise des Alkoholismus‘
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1. Ökonomische Funktionen
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1.1 Impulsfreisetzung durch Hemmungsabbau
1.2 Operieren mit Ersatzgefühlen
1.3 Regression
1.4 Introversionsumkehrung und Extroversionsverbesserung
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2.Strukturelle Funktionen
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2.1 Kompensation und Umdeutung
2.2 Autonomie und Ich-Grenzen
2.3 Selbst- und Fremdwahrnehmung
2.4 Nähe-Distanz-Konflikt
2.5 Fürsorglichkeit durch Hilflosigkeit
2.6 Fassadengestaltung und innere Struktur
2.7 Kontrolle und Kontrollverlust
2.8 Pseudoprogression durch Regression
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3. Existentielle Funktionen
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3.1 Allseitige Betäubung
3.2 Pränatales Regressionsziel
3.3 Selbstzerstörung als Progressionsziel
3.4 Repressives Gewissen
3.5 Objektbezüge und Introjektionen
3.6 Leistungsdrang und Depression
3.7 Ehrgeiz und Selbstverurteilung
3.8 Introversion
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Anmerkungen
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Bibliografie
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Einleitende Annäherungen
Meine erste theoretische Annäherung an das Thema Sucht versuchte ich über den Zusammenhang mit der
Sexualität, wozu ich ein Kolloquium ausarbeitete. Je weiter ich mich mit dem Erleben und Verhalten von
süchtigen Menschen befasste, desto mehr drängte sich allerdings der Eindruck auf, dass der aggressive
Aspekt darin ebenso seinen entsprechenden Platz behauptet. Dieser Eindruck erhielt reichlichst
Unterstützung durch meine konkreten Erfahrungen in der Praxis.
Die verschiedenen Funktionen des Alkoholkonsums, die ich hier zusammenfasse, wurden in den Gesprächen
von diesen KlientInnen selbst beschrieben. Ihre individuellen Beschreibungen umfassten regelmäßig mehrere
der hier gesondert beschriebenen Funktionen und gelegentlich durchaus gegensätzliche Formen. Zur
besseren Darstellung habe ich sie allerdings voneinander getrennt angeordnet. Um einen genaueren Einblick
zu erhalten, fragte ich teilweise auch gezielt nach und in manchen Fällen erwies es sich auch zusätzlich als
ergiebig, die KlientInnen zu fragen, wie sie im alkoholisierten Zustand von ihren Mitmenschen erlebt
werden. Dabei zeigten sich zusammengefasst jedenfalls folgende Funktionen:
Häufig wurde als Ausgangspunkt eine Angst vor Einsamkeit und Langeweile, spezielle soziale Ängste mit
Sprechhemmung in Gruppen oder auch eine allgemeinere Ziellosigkeit angegeben. Mithilfe des Alkohols
wird dem ein Hochgefühl entgegengesetzt, das nicht nur als die Kommunikation, sondern auch das Leben
erleichternd wahrgenommen wird. Dabei wirkt eine Enthemmung wie ein Motor oder ein Kick, womit sich
mehr Redseligkeit und Geselligkeit einstellt, was insgesamt die Gefühlslage verbessert und die Lebenslust
erhöht.
Als mindestens ebenso häufige Quelle wurden die vielfältigen Möglichkeiten einer Frustration erwähnt. Auf
diese Herausforderung wird dann mit einer alkoholisch verstärkten Aggression geantwortet. Mit gesteigerter
Konfliktfreude können aggressive Impulse freigesetzt werden, wodurch oft das Bild des leicht aufbrausenden
und laut schimpfenden Betrunkenen entsteht, der ‚die Sau rauslässt’. Dabei handelt es sich teilweise auch um
eine Art Trotzreaktion gegen Bevormundungen, etc., die dazu dient, die Aggressionsbalance gegenüber
anderen Menschen zumindest vorübergehend zu verschieben. Damit wirkt der Rausch als Antwort auf die
Frustration im Sinne einer Bestrafungsaktion für andere.
Zu den deutlich sexuellen oder aggressiven Funktionen des Alkoholkonsums äußerten die KlientInnen auch
noch zahlreiche andere wirksame Momente, die sich in dieser Zuordnung nicht so ohne weiteres einfügen
lassen. Meine anfängliche besondere Beachtung dieser Funktionen erwiesen sich nach bereits kürzerer
Erfahrung als eine zu enge Kategorisierung, welche die erfahrbaren Phänomene nicht zufriedenstellend zu
erfassen imstande war. So sprachen die KlientInnen oftmals von ihrer Haltlosigkeit gegenüber
Schwierigkeiten, ihren Selbstzweifeln, ihrem Selbstmitleid, ihren Ängsten vor Überforderung und Versagen
und Wünschen nach Perfektion und Großartigkeit. In einem Fall wurde auch eine Angst vor Regression als
ein rückwärtslaufender Film beschrieben, den es zu vermeiden gilt. In solchen Zusammenhängen setzen die
KlientInnen den Alkohol zur Herstellung von Selbstsicherheit ein. Sie fühlen sich dann unerschütterlich,
können ihre sozialen Ängste nicht nur verringern, sondern gleichsam in ein Gefühl sozialer Sicherheit
verwandeln. Wo sonst nur Belastungen und Stress erlebbar war, bildet sich der Eindruck eigener Stärke.
Probleme verlieren damit ihr Gewicht und lassen sich leicht verschieben, was sie als verarbeitet und gelöst
erscheinen lässt. Sperrige Gedanken lassen sich dann zusammenführen und Ambivalenzen werden auflösbar.
Und gegenüber den nicht so einfach ‚wegtrinkbaren’ Anforderungen der Umwelt wirkt der Alkohol
zumindest auch als Schutz. Wie es ein Klient ausdrückte: er ist wie eine Hornhaut zwischen Innen und
Außen.
Schließlich führten die KlientInnen noch weitere Funktionen an, die vielleicht geeigneten sind, im ersten
Moment kaum besonders wahrgenommen zu werden, die mir aber als besonders beachtenswert erscheinen.
Das beginnt bei ihrer schlichten Aussage, dass sie eigentlich nur aus Gewohnheit trinken und gar keinen
besonderen Grund dafür wissen. Auf weitere Nachfragen ergeben sich dann doch einige Funktionen, wie
etwa die Betäubung von Gefühlen oder das Vergessen von Sorgen. Alkohol wird hier entspannend,
beruhigend und ermüdend erlebt. Er wird regelrecht als Schlafmittel eingesetzt. Das mag zwar nicht
spektakulär klingen, aber diese Funktion zeigt gerade durch ihre Stellung gegenüber den anderen
Funktionen, dass sie erst eine lange Zeit eine gewisse Schattenexistenz führt, sich dann aber zunehmend
durchzusetzen beginnt. Es geht dann nicht mehr um eine Verbesserung gegenüber den Spannungen des
Lebens, sondern um die Erreichung einer allgemeinen Entspannung. Der Lebenskampf scheint hier einer
Lebensmüdigkeit zu weichen. Hierzu passen dann auch wieder die bei den aggressiven Funktionen noch
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ausgesparten Formen der Selbstbestrafung, die beispielsweise bei den depressiven KlientInnen bemerkbar
war, wenn sie durch ihren Alkoholkonsum ihren Depressionen regelrecht alle Hindernisse aus dem Weg
räumten. Gegenüber der Entspannungsfunktion handelt es sich hierbei allerdings um eine aktivere Funktion.
Zur Funktionsweise des Alkoholismus’
Wenn ich nun dazu übergehen möchte, mit dieser Grundlage die Dynamik der Sucht herauszuarbeiten, dann
möchte ich zunächst wieder bei den oben beschriebenen Funktionen ansetzen. Diese Funktionen weisen
verschiedene Mechanismen auf, die sich weiter systematisieren lassen.
Die zuerst beschriebenen Funktionen beginnen entweder mit einer als unerträglich empfundenen Angst vor
Einsamkeit, Langeweile und Ziellosigkeit. Diese ruhige Oberfläche wird dann einerseits mit Alkohol in
Bewegung gebracht, sodass Spannungen entstehen, andererseits wird aber auch relativ rasch wieder für eine
Entladung gesorgt, womit sich der sogenannte Kick ergibt. Diese Entladungsmöglichkeit entsteht durch die
toxisch herbeigeführte Enthemmung. Nachdem der Alkohol kaum etwas in Bewegung bringen kann, was
nicht vorhanden ist, liegt die Annahme nahe, dass hierbei psychische Blockaden gelockert werden, die
ansonsten gegenüber der Wahrnehmung äußerer Reize und dem affektiven Bezug darauf stabil bleiben
würden, dass also innere Widerstände gegen eine Lebenslust überwunden werden. Wo also im nüchternen
Zustand ein sozial isoliertes, schüchternes und orientierungsloses Dasein vorherrscht, soll eine gesellige und
befreite Stimmung ermöglicht werden. Diese Funktionsreihe kann allgemein als sexuelle im weiteren Sinne
begriffen werden.
Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich bei den aggressiven Funktionen. Der Unterschied zur ersten Reihe
besteht dabei nicht nur in der Qualität der Impulse, sondern auch darin, dass regelmäßig bereits ein äußerer
Reiz angegeben werden kann, der für den inneren Spannungsaufbau als zuständig erklärt wird. Dieser Reiz
wird dabei als Frustration erlebt, die eine als unerträglich empfundene aggressive Anspannung ergibt, die
aber durch innere Widerstände zurückgehalten wird. Mithilfe des Alkoholkonsums kommt es dann zur
Enthemmung und damit zur Freisetzung der angestauten aggressiven Impulse. So wird aus einem frustrierten
und eingeschüchterten Wesen eine dominant wirkende Persönlichkeit, der kein äußeres Hindernis als nicht
eines Angriffes würdig erscheint. Damit verschiebt sich zumindest vorübergehend ein als repressiv
empfundenes Gleichgewicht der zwischenmenschlichen Kräfte zugunsten der ansonsten eher introvertierten
Person.
Diese beiden Funktionen, die sexuellen wie die aggressiven, weisen auf eine so große Stärke psychischer
Blockaden hin, dass eine erleichternde Spannungsabfuhr für ein befriedigendes Lebensgefühl unmöglich
erscheint. Die zentrale Funktion des Alkoholkonsums dürfte hier in einer Enthemmung bestehen, im
zumindest zeitweiligen Abbau psychischer Blockaden, die eine erleichternde Freisetzung von verschiedenen
affektiven Impulsen zu sehr behindern. Die Beschreibungen des Alkohols als Genussmittel mögen sich zwar
mit dem Geschmack des Getränkes befassen, gemeint dürfte aber vielmehr die gespürte Emotionalität sein,
die befreit wird. Es geht hier um einen Versuch, einen besseren Zugang zu einer emotionalen
Ausgeglichenheit zu finden. Und das geschieht eben durch eine Rückbildung von zu stark wirksamen
psychischen Strukturen, also durch eine toxisch herbeigeführte Regression. Erst damit ist der Weg für die
angestauten Impulse frei und kann eine umfassendere Befriedigung erlebt werden. Der hierin stattfindende
innere Konflikt ist ein ökonomischer, der sich vor allem struktureller Maßnahmen bedient.
Ein anderer Mechanismus ist allerdings in den nächsten Funktionen zu beobachten. Hier ist nicht die Stärke
der hemmenden Kräfte das Problem, sondern ihre Schwäche. Die Manövrierfähigkeit zwischen den
Impulsen auf der einen und den Anforderungen der Außenwelt auf der anderen Seite ist hier deutlich
geringer ausgebildet. Kommen zu dieser ungünstigen Ausgangslage dann noch zusätzliche Anforderungen
und Schwierigkeiten, können massive Versagensängste und Gefühle der Haltlosigkeit entstehen. Im
ständigen Kampf um Wachstum und Stabilisierung droht gleichsam ständig der Untergang gegenüber den
inneren und äußeren Ansprüchen. Durch den Alkoholkonsum scheint sich dieses Verhältnis so weit
umzukehren, dass sich die unter Selbstzweifeln leidenden Menschen zu selbstsicheren und stark wirkenden
Persönlichkeiten entwickeln. Indem auch hier davon ausgegangen werden kann, dass der Alkohol nicht
etwas herstellen kann, was nicht existiert, dass er vielmehr auch hier psychische Strukturen, die ohnehin
schon mit geringerer Ausreifung bestehen, weiter zurückbildet, stellt sich die Frage, wie die gegensätzliche
Selbstwahrnehmung zustande kommen kann?
Dieses Phänomen erklärt sich vermutlich dadurch, dass einerseits die Ansprüche zur Lösung von Problemen
geringer werden, einfachere Verarbeitungen unkritisch Anerkennung finden und Komplikationen
schlichtweg ausgeblendet werden können. Andererseits wird auch die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung
eingeschränkt, womit der Weg frei wird für die Erfüllung von kompensatorischen Bedürfnissen, zu denen an
prominenter Stelle der Wunsch nach einer omnipotenten Persönlichkeit zählt. Ihre Ausstrahlungskraft leiht
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sich diese dabei gewissermaßen von ihren Gegnern, indem sie deren ungezügelteres und umfassenderes
Wirken als das eigene Wollen empfindet. Die im alkoholisierten Zustand praktizierten sexuellen und
aggressiven Übergriffe werden dann als besondere persönliche Stärke erlebt und die Belastungen der
Umwelt erscheinen als das eigene Gewicht. Was eigentlich Resultat einer allgemeineren Regression ist, wird
so als die ersehnte Progression verstanden. Die zentrale Funktion in dieser Reihe ist also eine
Pseudoprogression, ein Stärkungsgefühl durch zusätzliche Schwächung des Urteilsvermögens, das die
Person vor dem Untergang schützt. Die innere Problemstellung ist hierin vor allem strukturell und die
Maßnahmen bestehen in einer Neuinterpretation struktureller und ökonomischer Verhältnisse.
Die letzten Funktionen waren besonders schwierig zugänglich. Das lag daran, dass sie einerseits kaum
benennbar schienen, sich gewissermaßen hinter einer nicht weiter benennbaren Gewohnheit verschanzten,
andererseits die Motivation des Alkoholkonsums sich auch in der verringerten Bereitschaft zur
Kommunikation bemerkbar machte. Wenn es nämlich hier um die Betäubung von Affekten und das
Vergessen von Sorgen geht, dann drückt das eine Tendenz zum Rückzug aus, zu der eine äußere
Auseinandersetzung damit keineswegs passt. Ein Gespräch über die Trinkfunktionen bringt nur wieder
Bewegung in das Ruhebedürfnis und riskiert zudem, dass die gefundene Entspannungsmöglichkeit wieder in
Frage gestellt werden könnte. Im Gegensatz zu den anderen Funktionen geht es hierbei nicht um einen
Versuch, mehr Lebensfreude zu spüren und die Möglichkeiten zur befriedigenden Teilnahme am sozialen
Geschehen zu vergrößern, sondern darum, das lebendige Pulsieren zu verlangsamen, die Wahrnehmung nach
innen und außen einzuschläfern und eine totale Ruhe zu erreichen, in der jegliche Aktivität erlischt. Soweit
sich hierin eine Todessehnsucht ausdrückt, erscheint sie als regressive, als eine, die in der Konsequenz
wieder einen pränatalen Zustand anstrebt, bzw. das Noch-nicht-Lebendige.
In der aktiveren Form dieser Funktionen zeigt sich zumindest noch ein innerer Konflikt, der auch ein
Aufbegehren gegen diese Tendenz beinhaltet. Wenn nämlich eine Depression eine Person zu Boden drückt
und diese ihre bestehende Stimmung gezielt noch künstlich verstärkt, dann offenbart dies nicht nur eine
besondere Lust an der Autoaggression und am Leiden insgesamt, sondern auch eine Angst vor dem Verlust
dieses elenden Zustandes. Die Selbsterniedrigung, die Selbstbestrafung und letztlich die Selbstvernichtung
sollen hier durch den Alkohol beschützt und bestärkt werden. Die Todessehnsucht erscheint hier als eine
finale, als ein Streben nach dem Nicht-mehr-Lebendigen.
Die passive wie die aktive Zielrichtung dieser letzten Funktionen erscheint als im Grunde dieselbe: Es geht
hier um eine Aufhebung des Lebens. Eine Aufhebung deshalb, weil damit nicht nur die Vernichtung des
eigenen Lebens ausgedrückt wird, sondern auch ein Wunsch nach einer verbesserten Form der Fortsetzung.
Auch wenn sich im Verhalten fast ausschließlich Todessehnsüchte manifestieren, so sind diese Sehnsüchte
keineswegs unumstritten. Vielmehr ist das bewusste Erleben in der Regel durchaus vom eigenen Tod
abgewandt oder verbindet starke Ängste damit. Aber indem sich diese Todeswünsche im Sinne einer
Selbstaufhebung eher bei einem bereits sehr fortgeschrittenen Alkoholismus zeigen, ist das Bewusstsein als
Bezugsebene zum Leben meistens bereits sehr beeinträchtigt, was die Interventionsmöglichkeiten
dementsprechend schwierig macht. Die Konfliktlage ist hier gewissermaßen fundamental, nachdem es hier
prinzipiell um den Willen zum Leben geht. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine existenzielle, in der
die affektiven Kräfte entweder als Gegner auftreten, oder im Kampf gegen die eigenen vitalen Bedürfnisse
instrumentalisiert werden und in der die psychische Struktur selbst zunehmend abgebaut oder zu einer
Festung der Selbstzerstörung wird.
So ergibt sich schließlich ein Gesamtbild von drei Funktionsreihen im Alkoholismus, die sich als
ökonomische, strukturelle und existenzielle zusammenfassen lassen. Die ökonomischen Funktionen wollen
sexuelle und aggressive Impulse freisetzen, wozu sie die strukturellen Hindernisse reduzieren. Sie dienen
sozusagen einer Selbstregulierung. Die strukturellen Funktionen wollen die persönlichen Kompetenzen
stärken, wozu sie eine narzisstische Umwertung der psychischen Ökonomie und Struktur vornehmen. Ihre
Absicht kann als Selbstheilung beschrieben werden. Die existenziellen Funktionen wiederum zeigen im
Unterschied zu den Intentionen der ökonomischen und strukturellen Funktionen deutliche Züge der
Introversion und Regression. Sie wollen sozusagen den Lebenswillen ertränken und führen letztlich zur
Selbstvernichtung.
1. Ökonomische Funktionen
Hinsichtlich des Inventars verschiedener Bewältigungs- und Abwehrmechanismen fällt auf, dass manche
davon durch den Konsum von Alkohol nicht abgebaut werden müssen, sondern auch noch bestärkt werden
können. Das scheint mir besonders bei der Regression, der Projektion, der Identifizierung, der Leugnung der
Realität, der Ich-Einschränkung, der Spaltung, Affektualisierung und der projektiven Identifizierung der Fall
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zu sein. Weitere Mechanismen könnten je nach Zusammenhang hier auch noch angeführt werden. Am
deutlichsten dürfte von der Schwächung im Sinne der ökonomischen Funktionen die Verdrängung, die
Reaktionsbildung, die Introjektion, die Wendung gegen die eigene Person, die Verkehrung ins Gegenteil, die
Sublimierung, die Intellektualisierung, die Rationalisierung, die Affektisolierung, die Verschiebung, die
Verlagerung und das psychosoziale Arrangement betroffen zu sein.
Es gibt also spezielle Leistungen des Ichs, die seine allgemeine Leistungsfähigkeit bereits beträchtlich
reduzieren. Wenn also der Alkoholkonsum eine Enthemmung bezweckt, sind die Abwehrmechanismen nicht
insgesamt ein zu verringerndes Gegenüber, sondern teilweise auch gute Verbündete. Die spezielle
Kombination aus Stärkung und Schwächung der Abwehrmechanismen ist auch je nach Bedarf der
ökonomischen, strukturellen und existenziellen Funktionen aufgrund der verschiedenen Zielsetzung auch
unterschiedlich angelegt. Dabei ergibt sich allgemeiner der Eindruck, dass die von Süchtigen verwendeten
Abwehrmechanismen eher die unreiferen sind – wie die Verleugnung, Spaltung und Projektion. (14)
1.1 Impulsfreisetzung durch Hemmungsabbau
Die Untersuchungen der Persönlichkeitsstrukturen von Alkoholabhängigen kommen oftmals zu einem Bild
einer besonders gehemmten Persönlichkeit. Die meisten AlkoholikerInnen zeigen nämlich nüchtern eine
ausgesprochene Triebhemmung und wirken eher schüchtern. Sie benutzen den Alkohol zur Freisetzung
libidinöser und aggressiver Triebregungen. (15)
Zu den sogenannten Hauptwirkungen des Alkoholkonsums, die während der Zeit des ansteigenden
Blutalkoholspiegels entstehen, rechnet Lindenmeyer z.B. auch die Enthemmung und ein Stimmungshoch.
Sie entstehen bereits bei geringem Alkoholkonsum in Verbindung mit einer gefilterten Wahrnehmung
bestimmter Aspekte der Wirklichkeit und einer gedämpften Selbstreflexion, einer alkoholbedingten
Kurzsichtigkeit: “Damit ist gemeint, dass der Betroffene die längerfristigen Konsequenzen seines Verhaltens
nicht mehr im Auge hat. In vielen Situationen fühlt sich der Betroffene dadurch gelöster, freier,
kontaktfreundlicher oder enthemmter. Entsprechend kann Alkohol zum Beispiel sexuell stimulierend
wirken.” (16)
Da sich die sexuelle Lustempfindung und Erregung in der Regel nicht mit Angstgefühlen und innerer
Anspannung verträgt, werden diese Hindernisse im Alkohol ertränkt. Abraham betont beispielsweise die
entsprechenden Funktionsweisen des Alkohols, d.h. dass er Hemmungen und Widerstände verringert,
Sublimierungen rückgängig macht und die sexuelle Aktivität steigert. (17)
Ähnlich verhält es sich im Falle einer aggressiven Dynamik. Alkoholkranke zeichnen sich häufig durch eine
depressive Position aus und können –abgesehen von den aggressiven Durchbrüchen im Rausch – keine
Aggressivität verspüren. Der Alkohol schafft hier nicht die Gewalttätigkeit, sondern setzt die in der
Persönlichkeitsstruktur angelegte frei. Für Knight dient das Trinken der Alkoholkranken allgemein der
Befreiung von Hemmungen und Angstgefühlen sowie der Freisetzung unterdrückter Aggression. (18)
In messbarer Form stellt sich das so dar, dass ab 0,8 Promille Alkohol im Blut die realistische
Situationseinschätzung und moralische Hemmung dramatisch sinken, starke emotionale Schwankungen und
Ausbrüche auftreten und die Handlungsweisen äußerst riskant werden können. Was sich am Beginn des
Alkoholismus noch an den anfänglichen Effekten während des Trinkens zeigt, kann sich später auch als
anhaltende Auswirkung und in Steigerungen festsetzen. So beschreibt Lindenmeyer folgende
Beeinträchtigungen durch die Schädigung des Groß- und Zwischenhirns: gesteigerte Ermüdbarkeit und
geringere Konzentrationsfähigkeit, schwerfälligeres und eingleisigeres Denken, Gedächtnisstörungen,
erhöhte Reizbarkeit und starke Gefühlsschwankungen. (19)
Aus qualitativer Sicht gelangt Freud zu einer ausdrücklichen Würdigung des Alkohols: “Die Veränderung
der Stimmungslage ist das Wertvollste, was der Alkohol dem Menschen leistet, und weshalb dieses “Gift”
nicht für jeden gleich entbehrlich ist. Die heitere Stimmung, ob nun endogen entstanden oder toxisch
erzeugt, setzt die hemmenden Kräfte, die Kritik unter ihnen, herab und macht damit Lustquellen wieder
zugänglich, auf denen die Unterdrückung lastete.” (20)
Solchen Funktionsweisen verdankt der Alkoholkonsum seinen Ruf als angenehme Lockerungs- und
Entspannungsmöglichkeit, als Mittel, das humorvoller und einfallsreicher macht. Früh erkannt wurde hierbei
speziell die Freisetzung der verdrängten Triebregungen durch die Beseitigung der Hemmungen im Sinne
einer Aufhebung des Verdrängungsaufwandes. Radó weist zusätzlich darauf hin, dass es dabei nicht nur um
eine Lusterzeugung geht, sondern auch um eine Unlustverhütung. (21)
Personen, die vor allem diese ökonomischen Funktionen nutzen, sind im einfachsten Fall vermutlich häufig
neurotisch Gehemmte, die sich im nüchternen Zustand gegen die Durchsetzung einer verpönten
Triebhandlung wehren und damit eine Unlustentbindung durch innere Gefahr verhindern. In komplexeren
Fällen ist die leibliche Empfindung insgesamt gestört, sodass den Gefühlen und Bedürfnissen kein
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sprachlich-bewussten Ausdruck verliehen werden kann. Sie erleben diese als unlustvolle, diffuse körperliche
Spannung, die erst im Alkoholrausch zum Durchbruch gelangen kann. (22)
Dieses innere Verhältnis eignet sich hervorragend für eine generationenübergreifende Übertragung, was sich
beispielsweise darin zeigt, dass etwa die Hälfte der AlkoholikerInnen selbst in einem Alkoholikerhaushalt
aufgewachsen sind. Und Kinder aus Alkoholikerfamilien, die sich im Sog der Abhängigkeit an ein krankes
System anpassen müssen, können sich bekanntermaßen weniger um ihre eigenen Gefühle kümmern und
bemühen sich darum, diese zu verdrängen. Sie setzen darin das erlebte Verhältnis zu sich fort. Wie sie von
ihren Eltern nicht beachtet und nicht für wichtig genommen werden, so gehen sie in der Folge mit sich weiter
um. Sie fallen dann dadurch auf, dass sie konfliktscheu sind, dabei aber auf unwesentliche Veränderungen in
ihrer Umwelt gelegentlich sehr heftig reagieren und häufig von ihren Emotionen überwältigt werden. Als
Erwachsene wollen sie ihre Gefühle entweder nicht wahrhaben, oder ihnen entkommen. Aber sie sind
ausgestattet mit einer Erinnerung, die arbeitet “wie ein Magnet, der alles, was zu verletzend, zu schamvoll,
zu belastend ist, abgleiten und nur die Sätze, Bilder und Ereignisse haften läßt, die von seinem auf die
Familienkrankheit ausgerichteten Magnetfeld angezogen werden. Je mehr man verdrängt, umso stärker wird
das Magnetfeld.” (23)
1.2 Operieren mit Ersatzgefühlen
Viele AlkoholikerInnen waren als Kinder einer psychischen Form der Gewalt ausgeliefert, mussten extrem
gegensätzliche Gefühle gleichzeitig ertragen oder wurden von ihrem Gefühlsleben in umfassender Weise
abgeschnitten. Sie neigten in der Folge dazu, ihr Einfühlungsvermögen auf andere auszurichten oder auch
ersatzweise erwünschte Gefühle inszenieren. Die eigenen Gefühle nicht zu zeigen, war für sie Norm.
Vielmehr waren sie dazu gezwungen, erwünschte Gefühle zu demonstrieren. Um einer Ängstlichkeit und
verwirrten Gefühlen zu entgehen, nehmen sie in ihrem späteren Leben oft Zuflucht zu unterschiedlichen
Aufregungen, Ärger oder Schmerz. (24)
Durch den ‚Griff zur Flasche‘ können Ersatzgefühle hervorgerufen werden, indem dieser Weg zunächst zum
Reizschutz nach innen verwendet wird und dann z.B. sexuelle Bedeutung erlangt, also ein ursprüngliches
Hilfsmittel zu einem Lustspender werden lässt. Dieser Funktionswechsel zur Lustquelle beschränkt sich
keineswegs etwa auf einen symbolischen Ersatz der Muttermilch durch den Alkohol. Vielmehr geht es hier
um den Ersatz für einen allgemein mangelnden Sexualgenuss. Durch ihre Genussunfähigkeit versuchen die
Alkoholkranken, sich durch Alkohol eine sonst nicht erreichbare Lustbefriedigung zu verschaffen. Und
indem bei längerem Gebrauch der Alkohol die sexuelle Kraft raubt, wird er selbst zu einem Surrogat.
Schließlich wird dann auch die Genitallust durch ihren Ersatz überflüssig und der Alkohol wird zum einzigen
und ständig verfügbaren Beziehungsobjekt. Spätestens dann zeigt sich, dass Alkoholismus und
partnerschaftliche Sexualität kaum zusammenpassen. Wenn also festgestellt wird, das die Mehrheit der
Alkoholabhängigen auch sexuelle Probleme hat, ist das nicht besonders verwunderlich. (25)
Radó entwickelt hierzu zunächst den Begriff des ‚pharmakogenen Orgasmus’’, der einen langgestreckten
Erregungsverlauf im Wettbewerb mit der natürlichen Sexualbefriedigung beschreibt. Soweit sich eine Sucht
ausbildet, werden die Sexualobjekte und schließlich auch die Realität uninteressant. Kennzeichen der Sucht
ist es somit, dass der ‚pharmakotoxische Orgasmus’ höher eingeschätzt wird als die sexuelle Lust.
Verhängnisvoll ist dabei, dass die Süchtigen zunehmend ‚pharmakotoxisch orgastisch impotent’ werden,
dass also das ursprüngliche Mittel des Reizschutzes zuerst die Sexualbefriedigung ersetzt und dann wegen
der Gewöhnung und Toleranzsteigerung wieder als Reizschutz eingesetzt wird – und auch hier letztlich nicht
mehr die erwünschte Wirkung erzielt. (26)
Später spricht Radó vom ‚alimentären Orgasmus’, dem er ein allgemeineres diffuses Wollustgefühl
zuschreibt. Dieser Orgasmus kennzeichnet die orale Entwicklungsstufe und dient dem pharmakotoxischen
gewissermaßen als Vorlage. (27)
Was hier von der sexuellen Seite aus beschrieben ist, verhält sich – abgesehen von der spezifischen
orgastischen Zuspitzung - ähnlich auf der aggressiven Seite. Die nicht freisetzbaren Impulse und Emotionen
werden jedenfalls durch den Alkoholkonsum in der Absicht, sie zu betäuben, einer künstlichen Zielrichtung
zugeführt. Damit kann der Alkohol zwar die originalen Triebkräfte befreien, aber nur zum Preis einer
inflationären Bindung an sich.
1.3 Regression
Wie im Zuge der Durchsicht der verschiedenen Abwehrmechanismen deutlich wurde, können bestimmte
Mechanismen durch den Alkoholkonsum sogar noch verstärkt werden. Der Regression muss hierbei eine
besonders bedeutender Platz eingeräumt werden. Eine sehr naheliegende Methode zur Beseitigung von
Hindernissen ist es nämlich, den Entwicklungsprozess bei der Erstellung dieser Hindernisse wieder
rückwärts laufen zu lassen. Diese Methode bietet sich auch deshalb an, weil sich im Laufe einer
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Alkoholismuskarriere so zahlreiche persönliche Errungenschaften wieder zurückbilden, dass sie sich bequem
daran anlehnen kann.
Die Regression macht sich aber bereits bei einmaligem Alkoholgenuss bemerkbar, wenn z.B. Erwachsene
plötzlich wieder wie ein Kind erscheinen. Psychoanalytisch gesehen wird dabei das Über-Ich zersetzt und
das Ich zum Es zurückverwandelt. Durch den Zerfall der Ichfunktionen erfolgt der Verlust von
Selbstkontrolle und eine Realitätsverleugnung. Wurmser sieht in diesem Mechanismus nicht nur ein Mittel
zum Zweck, sondern auch den Ausdruck einer zielgerichteten Bestrebung. Er meint nämlich, Süchtige
streben nach einer regressiven Gratifikation durch einen Rückzug auf die omnipotenten Eindrücke der frühen
Kindheit. (28)
In Anlehnung an Radó beschreibt Fenichel die fortschreitende Sucht als chronischen Zerfall der
Persönlichkeit, bei dem die Libidoentwicklung rückwärts wiederholt wird: “Die genitale Organisation löst
sich auf, eine großartige Regression setzt ein, je nach den verschiedenen Fixierungspunkten kommen
verschiedene Gebiete der infantilen Sexualität, Ödipuskomplex, infantile Onaniekonflikte und prägenitale
Regungen, wieder in den Vordergrund, und schließlich bleibt die Libido in Form einer “amorphen erotischen
Spannkraft” ohne “differenzierende Merkmale und Organisationsform” übrig.” (29)
Fenichel betont ausdrücklich die Rolle der Forderungen der Außenwelt: wenn die Forderungen die
gewünschten Leistungen nicht mehr erfüllbar sind, macht sich eine Neigung zur Regression bemerkbar – bis
in die passiv orale Zeit, wo Außenweltmächte die Ich-Funktionen erledigten und keine Anstrengungen
darüber hinaus erforderlich waren. “Wenn immer die Durchsetzung der Ich-Funktionen erschwert erscheint,
besteht im Menschen die Tendenz, die Ich-Funktionen überhaupt einzustellen und Objekten der Außenwelt
zuzuweisen.” (30)
1.4 Introversionsumkehrung und Extroversionsverbesserung
Eine besonders häufige Funktion des Alkoholgenusses ist die Umkehrung der Introversion und Verbesserung
der Extroversion. Entsprechend einer gängigen Meinung stärkt gemeinsames Trinken von Alkohol die
zwischenmenschlichen Beziehungen, erleichtert eine sexuelle Annäherung und allgemein den sozialen
Kontakt, weshalb er auch als ‚soziales Schmiermittel’ gilt. Andererseits gehört es beim sogenannten
Rauschtrinken zu den bekannten Verhaltensmustern, im Vollrausch unkontrolliert und gewalttätig zu
handeln. Die systematische Nutzung dieser Funktion beschreibt Simmel mit dem Begriff des ‚sozialen
Trinkers’, der ohne Alkohol nur schwer kommunizieren kann. In schwerwiegenderen Fällen verweist die
zugrundeliegende Objektbeziehung bereits auf einen entsprechenden Ich-Funktionsmangel. (31)
Das deutet auch auf die situationsgebundenen Wirkungen des Alkoholkonsums hin. Vor allem in
Situationen, die einer Erholung und Entspannung dienen und bei denen Alkohol als Stimmungsmacher
eingesetzt wird, wird dadurch die erhoffte Wirkung verstärkt. Erfahrungsgemäß ergibt sich dann auch, “dass
Alkohol diese Situationen (noch) angenehmer werden lässt, indem sich die Beteiligten unter Alkohol in
ihrem Denken und Verhalten freier, enthemmter, unternehmenslustiger, ausgelassener, witziger,
einfallsreicher oder einfach besser gelaunt fühlen. Manche Menschen können dadurch zum Beispiel ihren
Gefühlen freien Lauf lassen oder angenehme Erlebnisse intensiver genießen, andere trauen sich plötzlich
Verhaltensweisen zu, die sie sonst eher vermeiden.” (32)
Mit zunehmender Abhängigkeit werden solche Situationen zielgerichtet aufgesucht, wodurch sich schließlich
der ursprüngliche Zweck der Verbesserung der sozialen Beziehungen zumindest insofern ändert, als die
Ansprüche an solche Situationen sinken, also beispielsweise nur noch für flüchtige Kneipenbekanntschaften
taugen. (33)
Besonders diese Funktion zeigt eine deutliche geschlechtspezifische Nutzung. Während nämlich Männer
ihren Alkohol eher öffentlich konsumieren und als angenehmes Erlebnis beschreiben, trinken Frauen
häufiger heimlich zur Regulierung unangenehmer Gefühle. (34)
Bevor ich zu den strukturellen Funktionen komme, möchte ich noch auf eine Ähnlichkeit und ihre
Unterschiede hinweisen: Rost ordnet nämlich das, was ich hier als ökonomischen Funktionen beschreibe,
überwiegend einem ‚triebpsychologischen Modell’ zu, das vor allem die Erscheinungen des Trinkens
neurotischer Personen erklären lasse. Was er den ‚ichpsychologischen Theorien’ zuordnet, findet großteils
bei den strukturellen Funktionen Platz, und sein objektpsychologisches Modell kann als Bestandteil der
existentiellen Funktionen verstanden werden. Die Objektpsychologie befasst sich demnach mit den frühesten
postnatalen Zuständen, der Entwicklung der Identität und der Aufnahme der Beziehung zur Welt. Die
Ichpsychologie beschreibt die Strukturierung und Ausdifferenzierung der kindlichen Persönlichkeit, die
Strukturen und Funktionen des Ichs. Die Triebpsychologie wiederum konzentriert sich auf die reiferen und
höheren Formen der Beziehungsaufnahme. Dabei ist sich Rost durchaus bewusst, dass er gerade im letzten
Fall, den er für nicht besonders praxisrelevant hält, eine erhebliche Verkürzung vornimmt. (35)
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Ohne die Unterschiede jetzt im Detail auszuführen, sehe ich meine Differenz zu Rost vor allem darin, dass
ich die ökonomischen Funktionen weniger zu unterschätzen geneigt bin, d.h. die Möglichkeiten der
‚Triebpsychologie‘ für relevanter und ausbaufähiger halte. Der Mangel an ökonomischen Aspekten
durchzieht die gesamte ‚Ichpsychologie‘ und ist ihr regelrechtes Markenzeichen. Sie stellt sich allgemein als
formalistisches Konzept dar, dem seine Inhalte zur Füllung seines strukturellen Rasters dienen. Und in der
‚Objektpsychologie‘ wird die Ökonomie fast nur noch metaphorisch erfasst.
Auch in der Zuschreibung der Kompetenzen dieser verschiedenen psychologischen Konzeptionen zu den
verschiedenen Altersstufen sehe ich einige Schwierigkeiten. Selbst wenn dieselben Entwicklungsschritte mit
unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet verschiedene Schwerpunkte ergeben, halte ich die unterstellte
Entwicklungsrichtung ‚vom Objekt zum Ich zum Trieb‘ für einigermaßen schief.
2. Strukturelle Funktionen
Die strukturellen Funktionen gehen im Unterschied zu den ökonomischen Funktionen nicht aus der Stärke
der psychischen Strukturen hervor, sondern aus ihrer Schwäche. Diese Schwäche befindet sich in vitalen
Funktionen des Ichs, weshalb auch häufig von Ich-Schwächen oder Ich-Störungen gesprochen wird. Darüber
hinaus findet sich hier auch regelmäßig ein schwaches Über-Ich. (36)
In Anlehnung an Heigl und Heigl-Evers gelangen König und Lindner zu folgender Zusammenfassung: “Bei
Patienten mit strukturellen Ich-Störungen sind meist die Introspektionsfähigkeit, die Frustrationstoleranz, die
Fähigkeit im Ertragen von Affekten und die Fähigkeit, Impulse zu steuern, die Fähigkeit, sich durch adaptive
und selektive Wahrnehmung von Reizen abzuschirmen, die Fähigkeit, die Wirkung des eigenen Verhaltens
auf andere vorauszusehen, die Fähigkeit, Regression im Dienst des Ich zuzulassen und schließlich die
Antizipation der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere in wechselndem Ausmaß gestört.” (37)
Wenn diese Auflistung mit dem, was Goertz im Zusammenhang mit der Ich-Schwäche chronischer
AlkoholikerInnen erfasst, verglichen wird, stellt sich eine eindrucksvolle Übereinstimmung dar, die sich
kaum mehr als in der Kategorienbildung unterscheiden dürfte. So werden hier erwähnt die mangelnde
Frustrationstoleranz, die fehlende Triebkontrolle, die verminderte Realitätsanpassung und eine gestörte
Umwelt- und Selbsteinschätzung. (38)
Bei strukturellen Persönlichkeitsdefiziten genügen beispielsweise vergleichsweise geringe Frustrationen zur
Auslösung eines regressiven Prozesses. Der im täglichen Leben notwendigen Aufschub der
Bedürfnisbefriedigung wird damit unerträglich. Rost fasst die grundlegende Sicht des ichpsychologischen
Suchtmodells so zusammen, “dass die zentrale Instanz des Ichs beim Süchtigen geschwächt und
unentwickelt geblieben ist. Es versagt dabei in seinen stabilisierenden und regulierenden Funktionen, in der
Realitätsprüfung und der Auseinandersetzung mit der Außenwelt wie in seiner Regulationsfähigkeit nach
innen, gegenüber dem Es (den Triebwünschen).” (39)
Damit ist davon auszugehen, dass im Falle eines chronischen Alkoholismus stets mit strukturellen IchStörungen zu rechnen ist. Entweder bestand diese Störung bereits vor der Sucht, oder sie resultiert aus den
Folgen der Sucht. Im Falle einer bereits bestehenden Ich-Störung sind die biographischen Hintergründe
mittlerweile auch relativ gut bekannt. Die Väter sind oft nicht vorhanden, schwach oder besonders
gewalttätig, z.B. als Alkoholiker. Die Mütter missbrauchen das Kind oft als narzisstische Erweiterung ihrer
Person, setzen eine ungünstige Kombination aus Verwöhnung und plötzlicher Zurückweisung um, zeigen
sich durch ihr Kind schlichtweg überfordert oder verbergen ihre unsensible und sadistische Umgangsform
hinter einer altruistischen Fassade. (40)
Dieser deutliche Zusammenhang kann sich dann aber nicht übersehen lassen. Trotz seiner erwähnten
Position zur Frage der Persönlichkeit alkoholabhängiger Menschen entgeht es folglich auch Lindenmeyer
nicht, dass besonders jene Menschen besonders schnell in eine Suchtmittelabhängigkeit geraten können, “die
sich in bestimmten Situationen unsicher oder hilflos fühlen, da sie über keine ausreichenden Bewältigungsund Konfliktlösungsstrategien verfügen.” (41)
Aus solchen geschwächten Positionen heraus versucht sich nun das Ich durch verschiedene Möglichkeiten zu
stärken. Im Kontext dieser Arbeit geht es vor allem um die Rolle, die der Alkohol dabei spielt. Dieser erhält
zwangsläufig eine wesentliche Rolle, weil sein Konsum entsprechend einer verbreiteten Meinung das
Selbstvertrauen stärkt und starke Belastungen leichter ertragen und aktiv überwinden lässt. Nachdem also
alkoholkranke Menschen sich nur sehr schwer akzeptieren können, wie sie sind, fühlen sie sich nicht gut
genug, nicht liebenswürdig und bilden ein geringes Selbstwertgefühl aus. Getrieben vom Wunsch, mit dem
Leben besser klar kommen zu wollen, als ihre Mitmenschen und dabei wertvoller und gesünder zu sein als
sie, versuchen sie ihr Glück mit einer alkoholischen Stärkung. (42)
8
Radó erkennt in der Sucht auch einen regelrechten Abwehrmechanismus des Ichs. Und De Vito u.a. haben
verschiedene Schutzfunktionen des Alkoholkonsums für die Abwehrstrukturen herausgearbeitet. Dazu zählt
ein Schutz gegen zu starke Affektzustände, gegen drohende Hoffnungslosigkeit und gegen die Angst vor
einer Desintegration des Ichs. (43)
2.1 Kompensation und Umdeutung
Beginnen wir zunächst mit einer quantifizierbaren Erkenntnis. Bekanntermaßen stellt sich ab etwa 0,3
Promille Alkohol im Blut Leistungsabbau bei gleichzeitigem eigenem Eindruck erhöhter Leistungsfähigkeit
ein. Dabei werden die Sinne beeinträchtigt, die Reaktionszeit wird verlängert und das Denken und Handeln
eingleisiger und unflexibler. (44)
Was sich hier schüchtern als Eindruck erhöhter Leistungsfähigkeit andeutet, ist freilich eher in Richtung
einer Dimension zu sehen, die Rost als die Funktion der Droge in Anlehnung an Krystal und Raskin
beschreibt: “Die eigene seelische Realität kann umgedeutet werden, die Vorstellungen von sich selbst und
der Welt werden verändert, das eigene Selbst wie die Außenwelt können als angenehmer erlebt werden.”
(45)
Es ist vor allem diese Möglichkeit der Umdeutung, die den Alkohol für Menschen mit strukturellen Defiziten
so attraktiv macht und auch die Rückfallquote entsprechend hoch hält. Indem eine massive Störung des
Selbstgefühls eine Pendelung zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und kompensatorischen
Omnipotenzfantasien auslöst, wird das schwache und instabile Ich sich Kompensationen suchen, um diese
Fantasien zu bedienen. Der Alkohol wird hierin zum Treibstoff für die erforderliche kompensatorische
Aufblähung. Wegen solcher Nutzungsmuster sieht die Ichpsychologie im Alkoholismus insgesamt einen
Versuch der Kompensation eines Defekts in der Persönlichkeitsstruktur. (46)
Die Folgen dieser Kompensationskunst bleiben keineswegs bloß eine innere Wahrnehmungswohltat für
betrunkene Person. Die Umdeutung greift über auf das näheste Umfeld: “Alle Skriptregeln im
Alkoholikerhaus unterbinden einen offenen Austausch von Meinungen oder Wahrnehmungen. Bestimmte
Gefühle müssen unterdrückt, Wahrheiten umdefiniert und der jeweiligen Situation angepaßt werden.” (47)
2.2 Autonomie und Ich-Grenzen
Was bei vielen Alkoholabhängigen relativ rasch auffällt, ist ihre Unselbständigkeit und ihre
Grenzenlosigkeit. Sie haben beträchtliche Schwierigkeiten, sich als autonomes Individuum zu erleben und
verhalten sich mehr oder weniger übergriffig gegenüber anderen Personen. Die Übergriffe betreffen dabei
alle Verhaltensmöglichkeiten und können auch in einer Gegensätzlichkeit kombiniert werden. Wenn z.B. ein
Alkoholiker seine Frau idealisiert, senkt er damit sein Selbstwertgefühl und lässt sie immer mächtiger
werden. Das fordert dann ihre Entmachtung mit Durchbrüchen des Hasses im alkoholisierten Zustand heraus.
(48)
Die Grenzen zwischen sich und anderen zu spüren und sich unabhängig von anderen zu sehen, fällt
AlkoholikerInnen mit geringer Autonomie besonders schwer. Darin offenbart sich eine allgemein
verminderte Realitätsanpassung und eine dürftig ausgebildete Fähigkeit, die Wirkung des eigenen Verhaltens
auf andere vorauszusehen. Das impliziert auch eine geringere Fähigkeit, sich durch adaptive und selektive
Wahrnehmung von Reizen abzuschirmen, was mit dem zusammenhängt, was in der Terminologie der
Objektpsychologie als Beeinträchtigung der Differenzierung von Selbst- und Objektrepräsentanzen genannt
wird. (49)
Die Folgen dieser unausgereiften Ich- und Autonomieentwicklung sind sehr vielschichtig. Nach innen neigen
die betroffenen Personen besonders häufig zu psychosomatischen Symptomen und Organerkrankungen, die
mit Beginn einer Sucht verschwinden können und mit dem Entzug wieder auftauchen. Und nach außen
bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen einer Kompensation durch meisterhafte Anpassung und einem
Versuch, sich in anderen zu reduplizieren, sie auszusaugen, um an ihren Gefühlen beteiligt zu sein. (50)
2.3 Selbst- und Fremdwahrnehmung
Wenn Interaktionserfahrungen fehlen oder eine symbiotische Fantasie in Beziehungen vorherrscht, bleibt die
Fähigkeit zur Einschätzung der Wirkung des eigenen Handelns auf andere gering. Der Umgang mit anderen
gleicht dann dem Umgang mit sich selbst – als ob diese die eigenen Gedanken, Eindrücke, Erwartungen und
Befürchtungen ohnehin kennen. Zu einer gestörten Selbsteinschätzung kommt damit regelmäßig eine schwer
beeinträchtigte Einschätzung der Umwelt insgesamt hinzu. Die Selbstwahrnehmung ist oft so weitgehend
gestört, dass die Impulse sich lediglich als diffuse Spannung spüren lassen. Die Anstrengungen zur
Vermeidung einer Konfrontation damit erreichen im Falle eines Erfolges ein kaum ausdrückbares Gefühl
innerer Leere. Durch die rigorose Abwehr von inneren Konflikten erscheint die Innenwelt dann völlig
belanglos. Und damit besteht dann auch wenig Anlass eines Interesses an der Außenwelt. Diese
9
Beeinträchtigung wird durch den Alkohol noch regelrecht vergrößert. Es genügen bereits kleine
Alkoholmengen, um die Introspektionsfähigkeit, die Fähigkeit zu Selbstwahrnehmung merklich zu
verringern. (51)
Als Beispiel für den biographische Hintergrund dazu kann das Aufwachsen in einer Familie mit
Alkoholabhängigkeit genommen werden. Kinder erfahren hier Liebe auch als getragen von der Euphorie des
Alkohols und damit zusammen mit Enttäuschung und Unberechenbarkeit. Sie lernen für ihr Leben: “Vertrau
Dich niemandem wirklich an, bleib auf Distanz, fühl den Schmerz nicht, den du dir dabei antust, und sieh die
Wirklichkeit nicht, wie sie ist. Nimm das Schöne, was du nehmen kannst, aber hab kein Vertrauen auf
harmonische Zustände. Glücksgefühle sind mit Gefahr verbunden, alles kann jeden Moment wieder anders
sein.” (52)
2.4 Nähe-Distanz-Konflikte
In den Beziehungsstrukturen bei AlkoholikerInnen finden sich immer wieder Spannungen in ihrem
Verhältnis zu Nähe und Distanz. Sie befinden sich im Konflikt zwischen der Suche von Nähe und ihrer
Angst davor. Diese äußere Suche scheitert vor allem an inneren Gründen, weil “Nähe zulassen kann man
nur, wenn man sich für die eigenen Bedürfnisse verantwortlich fühlt, sie nicht beiseite schiebt, sondern
erfüllt und sie auch dem anderen mitteilen kann.” (53)
Die Formen, in denen dieser Konflikt ausgetragen wird, sind ausgesprochen vielfältig. Die Sehnsucht nach
Nähe kann beispielsweise mit einer symbiotischer Beziehungsvorstellung oder einem streng limitierten
Kontakt einhergehen. Letzteres beschreibt Rost bei einer Frau mit Polytoxikomanie: “Immer wieder sucht sie
Kontakt und Nähe, ist anderen gegenüber äußerst sensibel. Aufgrund ihrer hohen Erwartungen bereitet Nähe
ihr zugleich Angst, da ihre eigenen Ichgrenzen zu schwach sind und sie zu verschmelzen droht. Sie zieht
andere an, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, an der ihr die Nähe bedrohlich wird, sie panisch reagiert
und die Flucht ergreift.” (54)
Das Bedürfnis nach Distanz sind nicht weniger vielfältig. Geschlechtsspezifisch gesehen können Männer
ihrem Distanzbedürfnis üblicherweise durch auswärtige Berufstätigkeiten und Hobbies entsprechen und
viele Frauen neigen dazu, die Distanz durch ihren Partner aktiv herstellen zu lassen. (55)
Die Funktion des Alkohols in diesem Zusammenhang beschreibt z.B. Lindenmeyer bei sexuellen Kontakten:
Alkohol ist demnach einerseits als Bindemittel einsetzbar, indem er beispielsweise sexuelle Erwartungs- und
Versagensängste verringert. Männern geht es oft um eine Dämpfung ihrer Erregung, Frauen häufig um die
Erleichterung sexueller Kontakte. Andererseits kann Alkohol auch als Distanzhalter dienen. Im Laufe der
Abhängigkeit kann eine enorme Angst vor sexuellem Versagen oder Zurückweisung und ein starker
Widerwille gegenüber der Sexualität entstehen, womit Alkohol auch als Distanzmittel eingesetzt wird. (56)
Was hier in kurzen Andeutungen zur Funktion des Alkohols in sexuellen Kontakten erwähnt wird, ist freilich
noch reichlich ausbaufähig. Dazu kommen noch unzählige Variationen im Rahmen sexueller Beziehungen
im weiteren Sinne und vielfältige Möglichkeiten der Gestaltung von Konflikten.
Wie die AlkoholikerInnen über einen entsprechenden sozialen Vorlauf für diese Konflikte zwischen Nähe
und Distanz mitbringen, hinterlassen sie durch ihr süchtiges Verhalten diese Problematik auch ihren Kindern.
Selbst noch bei erwachsen gewordenen Kindern aus Alkoholikerfamilien fällt auf, dass sie ein liebevolles
Zuhause suchen und wieder in einem dramatischen landen, dass sie Nähe wollen und Distanz erhalten. Sie
versuchen mit Vorliebe eine Bindung an eine bereits gebundene Person, die entweder räumlich oder durch
ihre Situation von ihnen weit entfernt sind, die weder bindungsfähig noch –willig sind. (57)
2.5 Fürsorglichkeit durch Hilflosigkeit
Der Eindruck, hilflos ausgeliefert zu sein, ist bei vielen AlkoholikerInnen geradezu ein Markenzeichen ihrer
Existenz. Sofern sich ihr Selbstwertbestreben dagegen sträubt, versuchen sie nach außen einen umgekehrten
Eindruck zu erwecken. Dabei können sie es bis zu einem ‚HelferInnen-Syndrom‘ bringen. Besonders wenn
im Rausch die eigene Hilflosigkeit verdeutlicht wird, folgt dann in nüchternem Zustand eine besonders
hilfsbereite Episode. Je intensiver sie ihren Zuwendungsbedarf ausdrückten, desto umfassender
dokumentieren sie in der Folge ihren Altruismus. Angetrieben durch ihre Schuldgefühle, versuchen
alkoholkranke Menschen dann Wiedergutmachungen gegenüber anderen und zeigen sich besonders
freizügig. (58)
Die hilfreiche Seite bietet eine ganze Reihe von Vorzügen: Sie können sich durch eine fürsorgliche
Aufmerksamkeit für andere von unangenehmen und angstvollen Situationen, von eigenen Schwächen und
dem Gefühl einer innerer Leere ablenken. Indem sie sich bemühen, eine andere Person zu beglücken, können
sie diese – zumindest vermeintlich – auch besser an sich binden, was ein Sicherheitsgefühl bewirkt und
damit den Selbstwert stärkt. Und mit diesem kompensierenden Verhalten versuchen sie schließlich auch ihre
allgemeineren Schwierigkeiten in Objektbeziehungen zu überbrücken. (59)
10
Wenn der Sprung in die hilfreiche Rolle nicht mehr gelingt, neigt diese Rolle mit sinkender
Frustrationstoleranz und damit steigender Hilfebedürftigkeit auf nahestehende Personen überzuspringen.
Diese Personen sind regelmäßig zuallererst die PartnerInnen. Indem ein alkoholkranker Mensch in seiner
Partnerschaft Auforpferungsbereitschaft und Verständnis findet, wird aber sein Gefühl von Wertlosigkeit
noch weiter verstärkt. (60)
Bei diesen unterstützenden PartnerInnen kommen durch ihre bereitwillige Hilfsfunktion auch beachtliche
Motivationen zum Tragen. Diese Motivationen beschränken sich keineswegs auf Erlösungsfantasien mit
einem masochistischen Hintergrund. Vielmehr kann für sie ihr ‚Helfersyndrom’ auch stabilisierend wirken,
was sich aber erst in der Abstinenz der alkoholabhängigen Person zeigt, wenn durch diese Veränderung neue
Konflikte entstehen oder die eigene Pathologie ausbricht. Manchmal zeigt sich auch zumindest nachträglich,
dass in der Partnerwahl die Einschätzung entscheidend war, ob die eigene Alkoholgefährdung delegiert
werden kann. (61)
Und bei den Kindern dieser Menschen zeigt sich ebenso eine nachhaltige starke Neigung, sich um die
Probleme anderer zu kümmern. Sie erfüllen auch noch als Erwachsene die Bedürfnisse anderer, weil sie
keinen Zugang zu ihren eigenen finden. (62)
2.6 Fassadengestaltung und innere Struktur
Wenn die innere Struktur mangelhaft ausgestattet ist und die äußere Fassade darum besonders makellos
erscheinen soll, besteht ein Konflikt zwischen Struktur und Fassade. Und nachdem dieser Widerstreit viel
Kraft kostet, ist ein Hilfsmittel gerne willkommen. Zur Überdeckung der vorhandenen Lücken in der
Struktur der Persönlichkeit erweist sich dann oft der Alkohol als ein funktionierendes Mittel. (63)
Dieser innere Konflikt kann sich ausgesprochen expansiv nach außen fortsetzen, wenn das soziale Umfeld
die entsprechenden Rollen anzunehmen bereit ist. Bei ich-strukturell gestörten Menschen gehen die IchFunktionsmängel dann regelrecht in die Bildung sozialer Normen ihres Umfeldes mit ein. So setzt sich etwa
in Alkoholikerfamilien das Phänomen durch, dass die wirklichen Gefühle verborgen bleiben und die
gezeigten nicht stimmen. Verharmlosung und Verheimlichung bestimmen dann die Beziehungen der
Familienmitglieder untereinander und ihr Verhältnis zur Umwelt. So wird die Suchtfamilie entscheidend
bestimmt von einem gegenseitigen Misstrauen. Meistens kommt es in diesem Rahmen auch zu einer
schleichenden Rollenverschiebung, wobei die abhängige Person zunehmend an den Rand gedrängt wird, um
nach außen ein intaktes Bild zu bewahren. Angehörige erlernen die Fähigkeit zur Bewahrung der äußeren
Fassade so gut, dass sie zu einem dauerhaften Bestandteil ihrer Persönlichkeit werden kann. Kinder in
Familien mit einem alkoholkranken Elternteil lernen: “Man muß sich erklären, entschuldigen, Tatsachen
verdrehen, eigene Gefühle übersehen und Theater spielen, um geliebt zu werden.” (64)
2.7 Kontrolle und Kontrollverlust
Wenden wir uns nun der Fähigkeit im Ertragen von Affekten, zur Kontrolle und Steuerung von Impulsen von
der Seite der Ich-Struktur zu, dann zeigt sich bei vielen AlkoholikerInnen ein ausgesprochen starkes
Bemühen um eine starke Impuls- und Verhaltenskontrolle. Sie spüren bei sich ein gestörtes Affekterleben
und reagieren darauf mit vermehrten Kontrollen. Sie erlebten oft nur geringe entwicklungsfördernde
Interaktionen und konnten in ihrem Ich nicht die Strukturen aufbauen, die erforderlich sind für die
Frustrationstoleranz, Affekttoleranz und Impulssteuerung. (65)
Dieses Kontrollverhalten wird zunächst auch auf den Alkoholkonsum übertragen. Doch indem der Alkohol
die quasi brennbaren und glimmenden Emotionen entflammt, werden die Kontrollinstanzen regelrecht
ausgebrannt. Der damit eintretende Kontrollverlust gegenüber dem Alkohol lässt aber nicht das
Kontrollbedürfnis insgesamt verschwinden. Dieses Bedürfnis sucht sich nach seinem verlorenen Kampf
gegen die Flasche besonders dringend neue Betätigungsfelder und Unterstützung von außen.
Die äußere Unterstützung wird in der Regel dem nähesten sozialen Umfeld aufgebürdet. Ein wesentliches
Motiv ist dabei, liebevolle Zuwendung zu erhalten durch einen geschwächten Zustand als unheilbar Kranker.
Dabei kann es auch zu kompensatorischen Gegenhaltungen und einem Schwanken zwischen der
Grundhaltung und ihrer Kompensation kommen. Nach Blane sucht die alkoholkranke Person grundlegend
eine Abhängigkeit. Sie erscheint als ‚direkt und offen abhängiger Typ’ passiv und versorgungsbedürftig,
angepasst und unterwürfig. Durch ihren Alkoholkonsum versucht sie, die Versorgung zu erzwingen. Der
‚gegenabhängige Typ’ verleugnet seine Abhängigkeitswünsche und zeigt sich aktiv bis aggressiv. Der
‚fluktuierende und ambivalente Typ’ pendelt zwischen den anderen Typen. (66)
Im Fall einer Unhaltbarkeit einer ‚Gegenabhängigkeit‘ und klaren Dominanz der Abhängigkeit stellt sich das
Denken und Fühlen nahestehender Personen zunehmend auf die trinkende Person ein. Sie sehen sich als
Opfer und versuchen dabei, die unberechenbarere gewordenen Verhältnisse zu regeln. “In bester Absicht,
dem Betroffenen beizustehen, übernehmen viele immer mehr seine unrealistische Sichtweise der Situation
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und sind schließlich nur noch damit beschäftigt, ihn vor den negativen Folgen seines Suchtverhaltens zu
schützen.” (67)
Die schützenden Personen sind nun auch angehalten, die von der abhängigen Person preisgegebenen
Kontrollfunktionen zu übernehmen. Diese Übernahme kann zu einem Kontrollverhalten führen, das sie
immer mehr einschränkt, über sich und die eigene Rolle nachzudenken und letztlich alle ihre Lebensbereiche
durchzieht. Je intensiver sie die Kontrollfunktion übernehmen, desto mehr strahlt sie gewissermaßen auf das
gesamte Leben aus und desto mehr werden auch andere soziale Bezüge vernachlässigt. Lambrou stellt diese
Ausstrahlungskraft der Suchtkrankheit innerhalb familiärer Zusammenhänge fest und meint: “Nicht nur der
einzelne – am Anfang die süchtige Person – ist krank, sondern das System Familie selbst.” (68)
Dieses Kontrollverhalten strahlt dabei nicht nur auf nahestehende Personen und bei diesen auf ihre anderen
sozialen Interessen aus, sondern auch in die Folgezeit hinein. Selbst bei erfolgreicher Abstinenz der
abhängigen Person, können bereits deren bloße Fantasien eines Objektverlustes oder Außenseitergefühle
einen Rückfall einleiten. So droht bereits durch eine Andeutung zu einer Begrenzung der Kontaktwünsche
ein dafür sich rächender abermaliger Griff zum Alkohol. Es setzt sich aber auch im weiteren Leben der
Kinder als allgemeiner Vertrauensmangel fort. Selbst im späteren Erwachsenenleben setzen sie den Kampf
des alkoholabhängigen Elternteils um Kontrolle fort, indem sie versuchen, sich selbst und andere zu
kontrollieren. “Sie bleiben wachsam, beobachten alles ganz selbstverständlich und manipulieren durch ihre
Bereitschaft, alles zu bewältigen, die Menschen in ihrer Umgebung.” (69)
Jedenfalls zeigt sich hierin, wie weit die Kontrollfunktion, die der alkoholkranken Person abhanden kommt,
sich außerhalb aufblähen kann. Sie kann nicht mehr kontrolliert trinken, verlagert die Kontrollinstanzen nach
außen und kontrolliert schließlich die äußere Kontrolle durch ein kontrollierendes Trinken. Lambrou
beschreibt diesen Mechanismus in einer Familie mit einer alkoholkranken Person: “In einer
Alkoholikerfamilie ist die Person, die trinkt, die bestimmende Person. Die Verhaltensweisen eines
Alkoholikers sind rigide darauf ausgerichtet, genug zu trinken zu bekommen. Alles andere ist untergeordnet.
Obwohl der Alkoholiker in der Suchtfalle sitzt, ist er zugleich die Person, die die Regeln setzt, z.B. auch
diese: jeder in der Familie muß durch sein Verhalten mithelfen, dass der / die Abhängige die Sucht fortsetzen
kann.” (70)
2.8 Pseudoprogression durch Regression
Wie erwähnt, fehlt Personen mit strukturellen Ich-Störungen die Fähigkeit, Regression im Dienst des Ichs
zuzulassen. “Mangelnde Fähigkeiten zur Regression im Dienste des Ich hängen ... mit mangelnder
Affekttoleranz und Impulssteuerung zusammen. Affekte ergreifen dann das Ich in allen Bereichen, es bleibt
kein reflektierender Bereich im Ich übrig. Daraus, daß Impulse generell nicht zurückgehalten werden,
resultiert, daß die mit einer Regression verbundenen Handlungsimpulse gefürchtet werden.” (71)
Wenn also der Alkohol die Regression befördert, könnte eigentlich davon ausgegangen werden, dass diese
Personen ein zusätzliches Motiv haben, abstinent zu bleiben. Trotzdem zeigt die Praxis, dass dieses Motiv
von einer anderen Motivation kräftig überlagert werden kann. Wie das funktionieren kann, beschreibt bereits
Radó folgendermaßen: Der Rausch schwächt die Leistungsfähigkeit des Ichs und lässt es auf seine
narzisstische Urgestalt regredieren. Diesen pharmakogene Lusterfolg erlebt das Ich als eigene Leistung, als
Anknüpfung an die frühkindliche narzisstische Omnipotenz. Mit der Zeit erhält dann das in Zersetzung
befindliche Ich sein Selbstgefühl zunehmend mit einer artifiziellen, d.h. ‚pharmakothymen Steuerung’. (72)
Durch den Alkohol eröffnet sich also die Möglichkeit einer Regression, die das Ich nicht handlungsunfähig
und von Impulsen überflutbar erscheinen lässt, sondern als ausgerüstet mit einer künstlichen
Steuerungsmöglichkeit und eingebettet in ein Allmachtsgefühl. Fenichel beschreibt die Erhöhung des
Selbstgefühls im Rauscherlebnis durch eine Undifferenziertheit in der ontogenetischen Urzeit: “Narzißtische
Befriedigung des Selbstgefühls und erotische Befriedigung fallen im Rausch wie im Erlebnis des Festes
zusammen. Es ist wahrscheinlich, daß das durch Regression in eine Zeit geschieht, in der
Selbstgefühlsbefriedigung und erotische Befriedigung noch nicht differenziert waren, in die Säuglingszeit.”
(73)
Die durch die Berauschung beruhigend und entspannend wirkende Abstumpfung schränkt zwar die
Leistungsfähigkeit des Ichs empfindlich ein, wird jedoch subjektiv als Befähigung von sonst nicht
erreichbaren Ich-Leistungen wahrgenommen. Dieses Kunststück gelingt durch eine Regression in
frühkindliche Allmachtsfantasien, die eine noch autoerotisch geprägten Entwicklungsstufe prägten. Und
indem die Regression besonders von den Fixierungspunkten früher Störungen angezogen wird, können diese
schwachen und labilen Bereiche gezielt in den Genuss omnipotenter Fähigkeiten gelangen. (74)
Zusammenfassend kann das Bestreben der strukturellen Funktionen als Versuch einer Selbstheilung
beschrieben werden. Im Falle eines schwachen Ichs spricht auch Radó vom Selbstheilungsversuch einer
12
Sucht. Ähnlich betont hierzu auch die Ichpsychologie den Selbstheilungscharakter. Und auch Rost hält fest,
dass, wenn eine Fixierung aus einer Zeit besteht, in der das Ich noch nicht hinreichend entwickelt war, die
Droge als Selbstheilungsmittel eine elementare Rolle im Leben erhält. (75)
3. Existentielle Funktionen
Wenn Alkoholabhängige dazu befragt werden, weshalb sie eigentlich trinken, stellt sich regelmäßig heraus,
dass nur eine Minderheit unter ihnen in der Lage ist, die angestrebte Wirkung durch den Alkohol klar zu
benennen. Die Mehrheit beruft sich auf den Geschmack, einen nicht näher beschreibbaren Bedarf oder
schlichtweg auf ihre Gewohnheit. (76)
Wenn sich bei eingehenderen Nachfragen weder ökonomische, noch strukturelle Funktionen in den
Vordergrund drängen, dann sind hier vermutlich existenzielle Funktionen am Werk. Eine passive
Zielrichtung des Alkoholkonsums, d.h. ein Bedürfnis nach Beruhigung und Konfliktvermeidung, nach Ruhe
und Schlaf äußert sich dann beispielsweise darin, dass einer drohenden Überflutung mit Emotionen mit einer
Stillstellung aller Gefühle geantwortet wird. (77)
3.1 Allseitige Betäubung
Die existenziellen Funktionen mit passiver Zielrichtung können zwar relativ rasch erreichbar sein, aber für
eine tiefergehende Wirkung muss doch ein beträchtliches Quantum Alkohol zugeführt werden. So können
die Effekte der Beruhigung, Entspannung und Schmerzlinderung beim Trinken schon bereits während des
ansteigenden Blutalkoholspiegels eintreten. Aber erst ab etwa 1,4 Promille Alkohol im Blut werden die
Gefühle nicht mehr stimuliert, sondern stark betäubt. Der Kummer und selbst starke Gefühle werden so in
einer schleichenden Ermüdung gewissermaßen ersoffen. “Bei sehr großen Alkoholmengen kommt es
schließlich zu einem dumpfen Rausch, bei dem sich der Betroffene weitgehend gleichgültig oder apathisch
verhält, weil ihm alles egal geworden ist.” (78)
Am Beispiel der sexuellen Reaktionen des Körpers zeigt sich, dass sie ab einer bestimmten Alkoholmenge so
gedämpft werden, dass selbst ein stärkeres sexuelles Verlangen keinen befriedigenden Geschlechtsverkehr
erreichen kann. Und was sich bei einer einzelnen Berauschung bemerkbar macht, setzt sich im Laufe einer
Abhängigkeitsentwicklung allgemein durch. Hier stellt sich nämlich zunehmend ein Nachlassen der
sexuellen Empfindung und eine allgemeine sexuelle Lustlosigkeit ein. (79)
Diese Wirkungsmöglichkeit beschränkt sich nicht auf die Sexualität, sondern den gesamten emotionalen
Haushalt. Und wie der Alkohol auf Affekte dämpfend wirken kann, so kann er gegenüber den Reizen der
Außenwelt gleichgültig machen. Darum gilt Alkohol als Mittel eines Rückzuges von Verpflichtungen und
zum Vergessen von Sorgen und besseren Abschalten. Das Trinken dient hier dazu, unangenehme Situationen
erträglicher zu machen, eine Erleichterung gegenüber Problemen und Belastungen zu finden und eine
Nervosität und Anspannung zu dämpfen. (80)
3.2 Pränatales Regressionsziel
Diese Rückzugstendenzen, die einen alkoholabhängigen Menschen von außen unzugänglich machen und
nach innen betäuben und dabei ein umfassendes Ruhebedürfnis ausdrücken, drücken ein Prinzip aus, das
Freud nach einem Ausdruck von Barbara Low Nirwanaprinzip nennt. Er versteht dieses Prinzip im Sinne
eines Strebens nach Herabsetzung, Konstanterhaltung der inneren Reizspannung, nach Erlöschen der
Bedürfnisspannung, das dem Lustprinzip dient und dabei den Todestrieb durchsetzt. (81)
Die in diesem Prinzip ausgedrückte Tendenz wird seit Freud in vielfältiger Weise beschrieben. So streicht
Glover die Selbsttötung zur Beseitigung der Triebspannung hervor, für Blane sind AlkoholikerInnen auf der
Suche nach der Gott-Mutter und dem Nirwana, bei Haas geht es um die Erreichung der präambivalenten
Beziehung durch die Auslöschung der aktuellen Identität und Henseler betont das Motiv einer Rückkehr in
die Kindheit, einer Neugeburt, einer Symbiose, eines tiefen Friedens, eines friedvollen Schlafes, eines
Aufgehens im Universum, etc. – vor allem eines Verschmelzens zwischen Selbst und Objekt. Rost fasst die
Konzeption von Simmel auch passend zusammen: “Ziel ist die totale Verschmelzung, die Rückkehr in den
Mutterleib als unbewusste Todessehnsucht und der Wunsch nach dem Nirwana, in dem die totale
Vereinigung herrscht und die den Alkoholiker quälenden Ambivalenzen und Gefühle von Liebe und Haß
fehlen.” (82)
Hier geht es also vor allem um eine Verringerung der inneren Reizspannung und Ambivalenz mit dem Mittel
der Regression in einen Zustand vor der Differenzierung zwischen Ich und Objekt. Der Reizschutz nach
13
außen wird durch eine Unterdrückung der Triebkräfte bereits in ihrer Entstehung mit dem Ergebnis einer
allgemeiner Bedürfnisaufhebung bedeutungslos. Der anzustrebende Endpunkt ist hier der Anfangspunkt der
individuellen Existenz, der Tod im Sinne des erst entstehenden Lebens und damit auch eine Unsterblichkeit.
(83)
3.3 Selbstzerstörung als Progressionsziel
Die aktive Zielrichtung der existenziellen Funktionen äußert sich durch einen intensiven inneren Konflikt.
Soweit hierin ökonomische Funktionen zum Vorschein kommen, werden sie von einer massiven Reaktion
darauf überwältigt. Wenn also beispielsweise noch ein Geschlechtsverkehr stattfindet, wird er im Anschluss
daran oftmals von Angst, Ekel oder Scham begleitet. Und wenn die Alkoholsucht den Hass freisetzt, dann
folgt die Antwort so, dass sie ihn wieder introjiziert mittels einer kräftigen Portion Selbstzerstörung. (84)
Simmel hebt insgesamt den autodestruktiven Charakter der Sucht hervor, für Glover sind die eigentlichen
Triebkräfte der Sucht destruktiver Hass und Sadismus und Wurmser hält die Selbstzerstörung für eine
Prädisposition zur Sucht. Rost findet bei vielen Süchtigen auch eine Selbstzerstörungstendenz im Sinne einer
‚primären autodestruktiven Tendenz’ und spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Lust an der
Selbstzerstörung’. Radó wiederum betont diese Seite einerseits durch die ‚Inflation des Narzissmus’, durch
die das Ich den Todestrieb freisetzt und andererseits im Entzug, der den Masochismus durchbrechen lässt
und sich als masochistische Orgie darstellt. Ähnlich stellt auch Goertz den Entzug als Selbstbestrafung zur
Befreiung von den quälenden Schuldgefühlen dar. (85)
Wenn das hierbei aktiv zu erreichende Ziel beschrieben werden soll, dann handelt es sich dabei auch um den
Tod. Allerdings diesmal in einer finalen Bedeutung. Das endgültige und zugrundeliegende Ziel ist hier die
Vernichtung des eigenen Lebens. Auf diesem Weg können viele Zwischenziele liegen. So kann etwa die bei
Alkoholkranken signifikant vergrößerte Unfallhäufigkeit auch in Zusammenhang mit dieser Zielrichtung
verstanden werden. Viele erreichen aber schließlich ihr Ziel durch einen Suizid. Jeder zweite
Selbstmordversuch wird von einer alkoholabhängigen Person begangen. Und bei abstinenten Alkoholikern
ist die Suizidhäufigkeit besonders hoch. (86)
Die Rolle des Alkoholismus wird auf diesem Weg auf verschiedene Weise verstanden. Weyl etwa sieht darin
einen partiellen Suizidversuch, Battegay einen oftmals nur verzögerten Suizid und Menninger einen
schleichenden Selbstmord zum Schutz vor einer gefährlicheren Form der Selbstzerstörung. (87)
Manchmal kann sich dabei noch das Ringen mit der Selbstzerstörung zeigen, indem sie etwa dem Versuch
einer Selbsterhaltung dienen soll. Eine solche Funktionsweise beschreibt Ringel, wenn er den Alkoholismus
als eine Art Opfergang erfasst, d.h. einen Versuch, durch eine Schädigung des eigenen Körpers und
Zerstörung der sozialen Position die eigene Person am Leben zu erhalten. (88)
Wenn es jedenfalls zum Ziel des Alkoholismus gehört, das eigene Leben zu zerstören, dann ist es fraglich,
ob der Rat von Lambrou mehr als eine Bewusstmachung bewirken kann, wenn sie meint, “daß ein
Alkoholiker, eine Süchtige an dem Punkt angekommen sein muß, wo er oder sie aufhört, die Sucht unter
Kontrolle bringen zu wollen. Die süchtige Person muß an ihrem persönlichen Tiefpunkt angelangt sein, da,
wo sie zugibt, daß sie am Ende ist und eine einzige Erkenntnis nur noch zählt: das Trinken zerstört mich
völlig.” (89)
3.4 Repressives Gewissen
Wie kann es zu einer solchen Zielsetzung eigentlich kommen? Um diese Problematik zu erfassen, ist ein
genauerer lick in die strukturellen Geschehnisse lohnenswert.
Zunächst ist es nicht besonders verwunderlich, wenn sich im Laufe einer Abhängigkeitsentwicklung
Schuldgefühle und Selbstzweifel mehren und das Selbstwertgefühl verringert. Solche Tendenzen erscheinen
als zu erwartendes Nebenprodukt des Alkoholismus‘. Wenn sie sich allerdings als keine ‚Nebenwirkung‘ des
Alkohols offenbaren, sondern als absichtlich angestrebter Effekt, wenn also Alkoholabhängige sich und ihrer
Umwelt durch ihr Trinken beweisen wollen, dass sie schlecht, verkommen und nicht liebenswert sind, dann
wirkt das einigermaßen erstaunlich. (90)
Wer solche Tendenzen bedient, braucht mit Sicherheit gute Hintergründe dafür. Lambrou beschreibt hierzu
ein unangepasstes Sündenbockverhalten. Durch dieses Verhalten kann ein vernachlässigtes Kind eine
negative Aufmerksamkeit verursachen, um zumindest auf diese Weise für die Eltern zu existieren. Im
sozialen Gefüge kann dieses Verhalten den Effekt haben, von anderen wesentlichen Problemen abzulenken
und eine Ursachenansammlung für diese darzustellen. Außerdem beschützt es durch seine konfliktträchtige
Außenorientierung auch vor den inneren Qualen. (91)
14
In der psychoanalytischen Diskussion dazu geht es hier ganz zentral um die Rolle des Über-Ichs. Radó
erklärt die destruktiven Komponenten im Über-Ich der Alkoholkranken durch die im Zuge der Regression
stattfindenden Triebentmischung, die sich in einer steigenden Gewissensspannung und einem intensiven
Strafbedürfnis äußert. Antons gelangt allgemeiner zur Beschreibung eines nervösen, depressiven und
gehemmten Typs als Konflikttrinker mit Über-Ich-Problematik und Battegay streicht noch die verzweifelte
Auflehnung von Süchtigen gegen ihr strafendes Über-Ich hervor. (92)
3.5 Objektbezüge und Introjektionen
Die Einbeziehung der objektpsychologischen Sichtweise hierzu beginnt schon sehr früh in der
psychoanalytischen Diskussion. So bemerkt beispielsweise Fenichel ein dysfunktionales Über-Ich bei
Süchtigen, das einerseits im regressiven Zerfall vom Ich wieder sexualisiert werden kann und andererseits
Merkmale einer Identifizierung im Sinne einer völligen Einverleibung aufweisen kann, wie sie der
Objektbeziehung der oralen Entwicklungsstufe entspricht. (93)
Glover erklärt den intensiven Zwang der Sucht über primitive Teilobjektbeziehungen: durch die Projektion
des guten Selbst und der guten Objekte in die Außenwelt, wo sie isoliert Schutz finden und die Zerstörung
des negativen Selbst und introjizierten bösen Objekte. Mit dem Suchtmittel wird dann versucht, ein
ambivalent geliebtes, aber destruktiv wirksames Objekt in seiner verinnerlichten Form zu zerstören. (94)
Nach Simmel versucht die süchtige Person die mit Kastration drohende Person in sich zu vergiften und eine
pseudo-objektlibidinöse Beziehung zum Suchtmittel als schließlich einzig verbleibenden Objekt zu
unterhalten. Von den Schuldgefühlen her betrachtet ergibt sich dabei: “Der Alkohol steht für die Mutter als
frühes Objekt aus einer Zeit, in der sie noch als ein externes Überich fungierte. Durch das Trinken
verschlingt der Süchtige dieses externalisierte Überich, um damit seine Schuldgefühle zu bekämpfen. Das
Verbrechen und dessen Bestrafung sind dabei für den Alkoholiker eins: Das Trinken ist das Verbrechen, die
Selbstbestrafung zu genießen.” (95)
Adams sieht hierbei eine andere Auflösung. Er spricht von einem mütterlichen Objekt, in das alles Gute
externalisiert wird und einer bösen Mutter, die internalisiert und zerstört wird. Dabei gelten die Fantasien zur
Droge der guten Mutter. (96)
Krystal und Raskin wiederum beschreiben das Ich als Fusion von Selbst- und Objektrepräsentanzen, die bei
Süchtigen schwach ausgebildet geblieben sind. Zur Kompensation dieses Mangels streben sie besonders
stark eine Verschmelzung dieser Repräsentanzen an. Aber indem die Objektrepräsentanzen noch mit der
narzisstischen Libido der oralen Stufe besetzt sind, also eine Verschlingung des Objekts nahe legen,
entstehen durch dieses Streben starke Schuldgefühle. Die Aufrechterhaltung der Objektrepräsentanzen
gegenüber den Selbstrepräsentanzen bewahrt also zumindest vor einer Überflutung mit Aggression. So
bleiben sie dauerhaft von realen äußeren Objekten abhängig. Im Suchtmittel finden sie schließlich ein
Substitut, mit dem sie eine vorübergehende symbiotische Vereinigung eingehen können. (97)
Auch König und Lindner gehen vom Verhältnis des Ichs zu den Objekten aus. Objektbeziehungen können
demnach Ich-Funktionen unzugänglich machen und eine geringere Ausbildung von Ich-Funktionen kann
archaische Objektbeziehungsfantasien mit einem entsprechenden Erleben und Verhalten fördern. (98)
Rost, der klassisch psychoanalytisch wie objektpsychologisch argumentiert, erkennt bei einigen
AlkoholikerInnen ein überstrenges und sadistisches Über-Ich. Er meint, dass sie gerade die destruktive und
strafende Wirkung des Alkohols suchen. Das erklärt er sich dadurch, dass bei Süchtigen ‚unintegrierte,
zerstörerische Überich-Kerne’ und ‚innere böse Objekten’ wirksam sind und der Ichideal-Aspekt des ÜberIchs als Projektion im Außen bleibt, weshalb sie sich dauerhaft um Anerkennung von außen bemühen. Er
beschreibt dabei allgemein die Schwierigkeiten von Süchtigen mit ihren Ambivalenzen, die sie kaum spalten
können. Sie erleben ihre Droge nicht bewusst als ein zerstörerisches Objekt und statten sie mit guten
Eigenschaften aus. Erst nach ihrer Einnahme verwandelt sie sich dann in ein böses Introjekt, das einen
Kreislauf von Schuldgefühlen und Verzweiflung in Gang setzt und den Körper angreift. Ihre Spaltung
geschieht zwischen innen und außen, wobei beispielsweise Personen idealisiert werden und die bösen
Anteile auf die Droge projiziert und wieder inkorporiert werden. (99)
3.6 Leistungsdrang und Depression
Lindenmeyer führt als historisches Beispiel Fabriksbesitzer an, die einen Teil des Lohnes der bei ihnen
beschäftigten Arbeiter mittels Gutscheine an den Kauf von Alkohol banden und auch das Trinken während
der Arbeitszeit erlaubten, um die Arbeitsmotivation und Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Immerhin zählt es ja
zu den bekannten Effekten des Alkoholkonsums, dass zunächst ein Stärkungsgefühl entsteht. Das kann auch
durchaus zur Steigerung der Produktivität beigetragen haben. Die Problematik dieser Form der Vergütung
und Arbeitsweise dürfte aber spätestens in den ‚Trockenzeiten‘ bemerkbar geworden sein, also in Zeiten des
15
zurückgehenden Blutalkoholspiegels, in denen die aktivistische Euphorie in eine Verstimmung und
Depression umschlägt. Und längerfristig gesehen wird das Arbeitsverhalten einer alkoholabhängigen Person
auch zunehmend sprung- und wechselhaft und lässt ihre Zuverlässigkeit abnehmen. (100)
Die inneren Konflikte mit den Leistungsansprüchen lassen sich freilich nicht auf solche physiologischen
Auswirkungen und äußerlichen Beobachtungen beschränken. Im Zusammenhang mit den sexuellen
Beziehungen spricht Lindenmeyer auch von einem ‚Selbstverstärkungsmechanismus’. Dieser Mechanismus
zeigt sich beispielsweise darin, wenn ein sexuelles Misserfolgserlebnis zu Ängstlichkeit, und erhöhtem
Leistungsdruck führt, was die weitere sexuelle Erfolgswahrscheinlichkeit verringert und eine hartnäckige
sexuelle Störung verfestigen kann. Daraus können sich wiederum weitergehende ängstliche
Selbstbeobachtungen und Minderwertigkeitsgefühle ergeben. (101)
Bei Lambrou kommt auch die Rolle der Bedürfnisse und Gefühle hinzu. Sie sieht beispielsweise die
Mehrarbeit als Übernahme fremder Bedürfnisse in die eigenen, die nicht wahrnehmbar sind. Und für
Gefühle, die nicht zugelassen werden, besteht auch die Möglichkeit einer Überlagerung durch Handlungen.
Die Entstehung solcher Mechanismen beschreibt sie anhand der Rolle des Machers in Alkoholikerfamilien,
die oft vom ältesten Kind übernommen wird. Damit ergibt sich einerseits eine Überwindung ihrer
Hilflosigkeit und viel Anerkennung, andererseits ein Defizit bezüglich eines spielerischen Ausprobierens und
eine dauerhafte Angst vor Passivität, die wieder die Ängstlichkeit freilegt. (102)
Lindenmeyer deutet also den Zusammenhang mit Versagen und darauf folgender Erhöhung des eigenen
Leistungsanspruches an. Lambrou geht aus von einer inneren Leere oder Unzugänglichkeit und einem
Bestreben nach Überwindung der Hilflosigkeit und Anerkennung. Und in der Psychoanalyse erweisen sich
diese Phänomene vor allem als Versuche des Ichs, den Forderungen des Über-Ichs zu entsprechen. Erst von
letzterer aus eröffnet sich ein deutlicher Zusammenhang mit einer manisch-depressiven Symptomatik. So
erfasst Freud den heiteren Alkoholrausch als künstliche Manie und Fenichel weist auf eine Verwandtschaft
von manisch-depressiven Erkrankungen mit Hunger und Sättigung, Spannung und Befriedigung sowie dem
Wechsel von Rausch und Kater hin. Und Rost merkt in diesem Zusammenhang noch an, dass der
Arbeitseifer nicht nur auf eine Arbeitssucht hinweisen muss, sondern auch zu einem möglichen Suchtersatz
werden kann. (103)
3.7 Ehrgeiz und Selbstverurteilung
Als weiteres Beispiel aus dem Konfliktverhältnis zwischen Ich und Über-Ich ist die Gestaltung des eigenen
Ehrgeizes und der drohenden Repressalien im Falle einer nicht befriedigenden Praxis. Ein Beispiel für die
Installation eines solchen Konfliktes liefert wieder Lambrou mit ihrer Darstellung der Kinder aus
Alkoholikerfamilien, welche die Verantwortung übernehmen: “Alles was sie tun, gilt anderen, sie haben nie
gelernt, für sich selbst liebevoll zu sorgen, sich Zeit für sich zu nehmen und für ihre Bedürfnisse. Sie kennen
sie nicht einmal. Sie brauchen die äußeren Erfolge, um sich wertvoll zu fühlen. Trotz der oft positiven
beruflichen Bilanz erleben sie sich in vielen Stunden als wertlos.” (104)
Die Ausbildung eigener Interessen bleibt hierbei in umfassender Weise auf der Strecke. Was zählt, ist die
Leistungsfähigkeit für andere. In einer Daueranstrengung wird hierbei die Entwicklung jener Aspekte der
Persönlichkeit vernachlässigt, die sich nicht äußerlich in Leistung messen lassen. Und über solche
Schwachstellen gelangt die alte Angst vor Wertlosigkeit und Einsamkeit leichter zum Durchbruch – als
Depression, Anspannung und unbestimmte Furcht. (105)
Der Alkoholismus entspricht hier gleichsam einem Aufstand des Ichs gegen das Über-Ich. Immerhin hilft ja
der Alkohol nach gängigem Meinungsbild gegen Niedergeschlagenheit und Depression. Dabei erweist sich
diese Hoffnung regelmäßig als trügerisch. Einerseits verringert sich nämlich die angenehme Wirkung des
Alkohols mit zunehmendem Trinken, andererseits steigern sich wegen der Folgen des Trinkens die
Schuldgefühle. (106)
Die beabsichtigte Wirkung des Alkohols, das Über-Ich zu schwächen, funktioniert also nur anfänglich und
vorübergehend. Längerfristig stärken sich dadurch vielmehr die Vorwürfe des Über-Ichs, die durch das
Versagen des im Rausch nur vermindert altruistisch aktiven Ichs reichlich Stoff bekommen. Und je mehr das
Ich vor den Ansprüchen des Über-Ichs versagt, desto höher werden dann die Ansprüche angesetzt, um auf
die Mängel wieder mit einem vorzeigbaren Gegengewicht zu antworten.
Eine besonders ehrgeizige Führung eines vorbildlichen Lebens mit einer gewissenhaften Aufopferung für
andere bildet allerdings auch keinen Schutz vor einem tyrannischen Über-Ich. Wenn das Ich nämlich zu viel
Zufriedenheit aus seiner idealen Praxis zieht, kann das Über-Ich auch dagegen vorgehen. In einigen Fällen
bildet sich dann ein Zirkel aus, wo das Trinken am Gipfel eines Erfolges einsetzt und einen tiefen Fall
einleitet. (107)
Dieser Mechanismus wirkt auch in vielen Rückfällen mit, die dann von einer vollkommenen Selbstaufgabe
begleitet werden. Lambrou beschreibt dies anhand einer tiefsitzenden Unruhe und einer äußeren Gefahr:
16
“Dann wird <Harmonie> nicht mehr ertragen. Lieber zerstört man sie selbst, als daß (wieder wie früher?)
jemand kommt und sie auf unvorhersehbare und unkontrollierbare Art kaputtmacht.” (108)
3.8 Introversion
“Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als
Wohltat geschätzt, daß Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt
haben. Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heiß ersehntes Stück
Unabhängigkeit von der Außenwelt. Man weiß doch, daß man mit Hilfe des “Sorgenbrechers” sich jederzeit
dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungsbedingungen Zuflucht
finden kann.” (109)
Mit dieser Stellungnahme Freuds soll noch eine wesentliche Funktion aus der existentiellen Reihe vorgestellt
werden. Es ist die Abkehr von der Außenwelt, die sich zur Unterstützung der aktiven wie der passiven
Zielrichtung eignet. Zur Bezeichnung der systematischen Nutzung dieser Funktion spricht Simmel hier von
einem ‚reaktiver Trinker’. Dieser sucht eine Flucht vor einer unerträglichen Realität und einen zumindest
künstlichen Glückzustand. (110)
Rost bezieht noch das Über-Ich mit ein, was in dieser Form wie gesagt eher kurzfristig zu übergehen ist:
“Die Droge läßt die von der Umwelt gestellten Anforderungen vergessen, läßt die Welt in einem rosigen
Licht erscheinen, stimmt das überstrenge, sadistische Überich gnädig, das im Alkohol betäubt und ertränkt
wird.” (111)
Ein anschauliches Beispiel für die beginnende systematische Einübung des Rückzuges in der Kindheit, wo
die Eltern sowohl wesentliche Außenwelt als auch anfänglich noch äußerliches Gewissen sind, liefert
Lambrou. Um sich also zu schützen, kann eine Technik eines Kindes in Alkoholikerfamilien nämlich auch
darin bestehen, sich quasi unsichtbar zu machen. “Wenn es einem Kind gelingt, sowenig wie möglich
beachtet zu werden, dann ist es zugleich auch vor den unkontrollierbaren Aktionen der Eltern wenigstens im
Moment sicher.” (112)
Allgemein ergibt sich jedenfalls der Eindruck, dass mit zunehmender Intensität und Dauer der
Alkoholabhängigkeit auch die Introversion zunimmt. Je stärker diese Sucht wird, desto schwächer wird der
Bezug zur Umwelt. Die Objektlibido erweist sich als zunehmend überflüssig und der soziale Rückzug zeigt
sich fast naturgesetzmäßig. Rost meint: “Die sogenannten geselligen Trinker, wie man sie in Kneipen findet,
sind eher ein Mythos, sie bewegen sich meist noch an der Grenze zwischen normalem Trinken und
Alkoholismus. Die schwerer gestörten Alkoholiker trinken nach meinem Eindruck meistens alleine.” (113)
Zumindest ist der bestehender soziale Bezugsrahmen ein wertvoller Hinweis zur Einschätzung des
Fortschrittes der Alkoholabhängigkeit. Am Verhalten zur Außenwelt ist der Grad des Zerfalls der
Objektbeziehungen abzulesen und dies hilft in der Beurteilung der Schwere der Krankheit. Wie Fenichel
bemerkt: “Wer mit Freunden zecht, gibt sicher eine bessere Prognose als der Alleinsäufer.” (114)
Nach dieser Übersicht über verschiedene Aspekte der unterschiedlichen Funktionsreihen ergaben sich nun
noch einige weitere wesentliche Merkmale, die ich noch kurz festhalten will:
Die ökonomischen Funktionen kommen vor allem dann in Gang, wenn das Ich zuwenig durchlässig wirkt
und das Über-Ich zuwenig Kompromisse akzeptiert. Sie wollen zu rigide Abwehrmechanismen lockern und
zu hohe Ansprüche wieder abbauen. Diese Funktionen stehen sozusagen im Dienste des Es und damit des
Lustprinzips.
Die strukturellen Funktionen werden wirksam, wenn das Ich gegenüber den Anforderungen aus dem Es, dem
Über-Ich und der Außenwelt größere Mühe hat, Herr im eigenen Haus zu bleiben. Sie leiten eine einseitige
Bevorzugung und Regression der Abwehrmechanismen ein, sodass beispielsweise eine Bewältigung durch
eine Spaltung ersetzt wird. Diese Funktionen wollen vor allem das Ich konsolidieren und den Eindruck einer
besseren Umsetzung des Realitätsprinzips gewinnen.
Die existenziellen Funktionen setzen ein, wenn das Es kapituliert und damit auch dem Ich und Über-Ich die
Energieversorgung entzieht, oder das Über-Ich sich im Vormarsch befindet und dabei alle Hindernisse aus
dem Weg räumt. Pragmatisch werden auch hierbei spezielle Abwehrmechanismen gezielt genutzt und
unpassende übergangen. Diese Funktionen streben entweder die absolute Herrschaft des Über-Ichs an oder
arbeiten dem Nirwanaprinzip zu.
17
Anmerkungen
13) Vgl. Freud, Anna, S. 36, 40, 55 – 73, 79 – 81, 85 – 96, 123 – 129, 137 – 139, Mentzos, S. 191 – 198, Rost, S. 85,
König und Lindner, S. 124, Lindenmeyer, S. 126, 131 – 137, Baer, S. 267 – 274, Lambrou, S. 155
14) Vgl. Rost, S. 57, 66, 85
15) Vgl. ders., S. 130 f.
16) Lindenmeyer, S. 116, vgl. S. 46
17) Vgl. Rost, S. 33, Lindenmeyer, S. 142
18) Vgl. Rost, S. 88, 92, 95, 104, 118
19) Vgl. Lindenmeyer, S. 57, 116
20) Freud, Bd. VI, S. 142
21) Vgl. Lindenmeyer, S. 17 f., Rost, S. 15, 41 f., Fenichel, S. 66, Freud, Bd. X, S. 441
22) Vgl. Freud, Anna, S. 79, Rost, S. 98 f.
23) Lambrou, S. 213, vgl. S. 21, 95, 118, 142, 148, 223, Rost, S. 108
24) Vgl. Lambrou, S. 72 f., 93 f., 101 – 105, 121, 135, 140
25) Vgl. dies., S. 139, Rost, S. 34, 36, 47, 116-121, 133, 155, Fenichel, S. 62 f., Freud, Bd. I, S. 506
26) Vgl. Fenichel, S. 63 f., Rost, S. 39
27) Vgl. Rost, S. 40 f.
28) Vgl. ders., S. 40, 65, 128, Freud, Bd. VI, S. 142
29) Fenichel, S. 63, vgl. S. 65, 68
30) Ders., Rundbrief, S. 1027, vgl. S. 1022 f., 1026
31) Vgl. Rost, S. 127, Lindenmeyer, S. 17 f., 19, 73, König und Lindner, S. 125
32) Lindenmeyer, S. 118, vgl. S. 119
33) Vgl. ders., S. 131
34) Vgl. ders., S. 20 f., 35
35) Vgl. ders., S. 25, 48, 50, 124 –127, 165
36) Vgl. ders., S. 57 – 60
37) König und Lindner, S. 123
38) Vgl. Rost, S. 52 f.
39) Ders., S. 51, vgl. S. 55, 62, 76
40) Vgl. ders., S. 107 f., 113
41) Lindenmeyer, S. 83
42) Vgl. Lindenmeyer, S. 17 f., 46, 114, 119, Lambrou, S. 15, 101 – 105, 120, 199
43) Vgl. Rost, S. 43, 56
44) Vgl. Lindenmeyer, S. 116
45) Rost, S. 65
46) Vgl. Rost, S. 52, 62, 68, 70 – 72, 123, 133, Lambrou, S. 161
47) Lambrou, S. 159, vgl. S. 175, 226
48) Vgl. Rost, S. 117 f.
49) Vgl. König und Lindner, S. 124, Lambrou, S. 49 – 53, 82 f., 119 f., 224
50) Vgl. Rost, S. 98 - 100, 155, 160
51) Vgl. Lindenmeyer, S. 114, König und Lindner, S. 123 f.
52) Lambrou, S. 115, vgl. S. 116, 130, 180
53) Dies., S. 128, vgl. Rost, S. 123
54) Rost, S. 162, vgl. S. 156
55) Vgl. Lambrou, S. 120 f.
56) Vgl. dies., S. 140, 144
57) Vgl. dies., S. 100 f., 105 f., 114 f., 120, 227
58) Vgl. dies., S. 86 f.
59) Vgl. dies., S. 64, 102, 107, 109, 119, 142 f., 146 f., 160, 218, König und Lindner, S. 125
60) Vgl. Rost, S. 117
61) Vgl. ders., S. 116 f., 119, Lindenmeyer, S. 109, Lambrou, S. 73, 138
62) Vgl. Lambrou, S. 112 f., 118
63) Vgl. Rost, S. 52
18
64) Lambrou, S. 114, vgl. S. 26 f., 30, 44, 62, 66 – 74, 80, 92, 104, 139, 148, 153 f., 156, 160 – 175, 197, König und
Lindner, S. 127, Lindenmeyer, S. 83, 129 f.
65) Vgl. König und Lindner, S. 123 f., Rost, S. 130 f., 153
66) Vgl. Rost, S. 94, 99, 122
67) Lindenmeyer, S. 126 f., vgl. Lambrou, S. 16, 57
68) Lambrou, S. 19, vgl. S. 18, 44, 64, 73, 79 f., 85, 102, 112, 131, 171 f.
69) Dies., S. 61, vgl. S. 60 – 66, 119, 127, 143, Rost, S. 102 f.
70) Lambrou, S. 139
71) König und Lindner, S. 124
72) Vgl. Rost, S. 42
73) Fenichel, S. 64, vgl. S. 66
74) Vgl. Rost, S. 125, 132 f.
75) Vgl. ders., S., 46, 52, 60, 132
76) Vgl. Lindenmeyer, S. 114
77) Vgl. Lambrou, S. 95, Rost, S. 15
78) Lindenmeyer, S. 117, vgl. S. 46, 116, 152 f.
79) Vgl. ders., S. 140 f., 143
80) Vgl. ders., S. 18, 25, 29, 118 f., Lambrou, S. 67, Rost, S. 56
81) Vgl. Freud, Bd. XIII, S. 60, 371 f., Bd. XVII, S. 129
82) Rost, S. 87, vgl. S. 84, 88 f., 96, 123
83) Vgl. ders., S. 96 f., 133
84) Vgl. ders., S. 128, Lindenmeyer, S. 141
85) Vgl. Rost, S. 43, 65, 82 f., 85 f., 92, 100 f., 160-162, 165
86) Vgl. Rost, S. 95f., 102, Lindenmeyer, S. 56, 116, 129 f.
87) Vgl. Rost, S. 94 f., 135
88) Vgl. ders., S. 95
89) Lambrou, S. 53, vgl. S. 169, 189
90) Vgl. Rost, S. 91, Lindenmeyer, S. 144, Lambrou, S. 86
91) Vgl. Lambrou, S. 119, 150, 152
92) Vgl. Rost, S. 21, 40, 59
93) Vgl. Fenichel, S. 65
94) Vgl. Rost, S. 84 f., 136
95) Ders., S. 87, vgl. S. 86 f., 135 f.
96) Vgl. ders., S. 91
97) Vgl. ders., S. 63 f., 67
98) Vgl. König und Lindner, S. 122
99) Vgl. Rost, S. 57 – 60, 66, 88 – 91, 95, 99 - 104
100) Vgl. Lindenmeyer, S. 30, 46 f., 129, 166
101) Vgl. ders., S. 143
102) Vgl. Lambrou, S. 112, 119 f., 144 f., 155
103) Vgl. Freud, Bd. X, S. 441, Bd. XIV, S. 436, Fenichel, S. 65, Rost, S. 157
104) Lambrou, S. 145
105) Vgl. Lambrou, S. 146
106) Vgl. Lindenmeyer, S. 18, 82, 114
107) Vgl. Rost, S. 93
108) Lambrou, S. 132, vgl. S. 134, Lindenmeyer, S. 135, 162 f.
109) Freud, Bd. XIV, S. 436
110) Vgl. Rost, S. 127
111) Ders., S. 133
112) Lambrou, S. 147
113) Rost, S. 161, vgl. S. 159, Fenichel, S. 67
114) Fenichel, S. 66
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20
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