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1. ERZIEHUNG - BILDUNG - PÄDAGOGIK
Bildung und Erziehung als Aufgabe der Schule…
Der gesetzlich vorgegebene Erziehungsauftrag der Schule umfasst nicht nur die Vermittlung von
Wissen, Kenntnissen, und Fertigkeiten, sondern auch emotionales Wachstum, soziale Einstellungen,
verantwortliche Verhaltensweisen und Selbstverpflichtung.
1.1
WAS IST PÄDAGOGIK?
Ursprünglich und im vorwissenschaftlichen Verständnis (von griechisch "país" =
Kind und "ágo" = ich führe, leite) die theoretische und praktische Beschäftigung
mit Fragen der "Kindererziehung".
GLIEDERUNG DER
PÄDAGOGIK: SIEHE
ANHANG
WISSENSCHAFTSKONZEPTIONEN IN
DER PÄDAGOGIK
Heute werden "pädagogisch" und "Pädagogik" auch im wissenschaftlichen
Sprachgebrauch als allgemeine Sammelbezeichnungen auf Erziehung und auch
Ausbildung verschiedenster Personengruppen angewandt (z. B.
"Behindertenpädagogik", "Erwachsenenpädagogik").
"Pädagogik" umreißt (eher unscharf) jenes wissenschaftliche Arbeitsgebiet, auf
dem man sich vor allem mit Fragen der Entwicklung und Begründung von
Zielen der Erziehung und Ausbildung (bzw. des Unterrichts) befasst.
Es lassen sich drei Grundkonzeptionen bzw. Wissenschaftskonzeptionen
unterscheiden, die den drei historisch gesehen bedeutsamsten und
einflussreichsten Strömungen der Erziehungswissenschaft entsprechen:
- die geisteswissenschaftliche Pädagogik mit hermeneutischem Ansatz
- die Empirische Erziehungswissenschaft mit empirisch-analytischem
Ansatz
- die Kritische Erziehungswissenschaft.
Ein weiteres Feld der Pädagogik ist die kritische Auseinandersetzung mit den ihr
zugrunde liegenden Wertvorstellungen. Pädagogische Zielvorstellungen
beruhen auf obersten Werten und von ihnen abgeleiteten Normen, sodass auch
gerade deshalb deren allgemeine – kulturübergreifende Geltung umstritten ist.
Pädagogik charakterisiert sich auch durch eine Vielfalt von
wissenschaftlichen Zugängen. Es gibt Zugänge verstehender und erklärender
Art, aber auch Beiträge von angrenzenden Disziplinen wie Soziologie und
Psychologie
(Pädagogische
Soziologie,
Pädagogische
Psychologie,
Erziehungssoziologie).
"MÜNDIGKEIT" BZW.
"SELBSTÄNDIGKEIT"
ALS LEITZIEL
Inhaltlich hat die Pädagogik über lange Zeit die Schule als Bildungseinrichtung
und Raum für Lehren und Lernen fokusiert. Diese Orientierung hat sich durch die
Ausweitung der Lernräume und Lernzeiten wesentlich verändert.
Wenn
hier
zwischen
naturwissenschaftlichen,
geistesund
sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen getrennt wird, so darf diese Grenze nicht
absolut gesehen werden.
1
UNTERZIELE VON
ERZIEHUNG AUF
DEM WEG ZUR
MÜNDIGKEIT
KÖNNEN Z. B. SEIN:
1.2
Die / der zu Erziehende soll zur selbständigen Bewältigung der Anforderungen
seines/ihres Lebens hingeführt werden. Wenn diese erreicht wird, ist daher ein
Erziehungsprozess abgeschlossen, und die erzieherische Beziehung löst sich auf;
jedoch kann die "normale" zwischenmenschliche Beziehung zwischen den
Beteiligten aufrecht bleiben!
Unterziele:
Prävention (vorbeugendes Verhindern unerwünschten
Verhaltens)
- Intervention (Eingriffe zur Aufrechterhaltung oder Herbeiführung
erwünschten Verhaltens)
- Rehabilitation (Wiederherstellen von Fähigkeiten und Fertigkeiten
des Educandus)
Konfliktverarbeitung (z. B. Neubestimmung von Zielen und Wertvorstellungen
-
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT
DEFINITION VON
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT
Erziehungswissenschaft als Theorie der Erziehungswirklichkeit ist als
Wissenschaft nur möglich, wenn sie den vorgegebenen erzieherischen Lebens-,
Wirk- und Handlungsrahmen im Hinblick auf ihre Zusammenhänge und
Strukturen methodisch klar vergegenwärtigen kann.
Es lassen sich in der Hauptsache vier methodische Ansätze erkennen (Methode
verstanden als Verfahrensweise in einem bestimmten Bereich):
1. die hermeneutische1 Methode (des Sich-Einfühlens und Verstehens,
Erklärens, Deutens)
2. die dialektische Methode (der vermittelnden Konfrontation
unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und Aussageweisen)
3. die phänomenologische Methode (der phänomenologischen Schau der
Wesenszusammenhänge)
4. die empirische Methode (der konkret auslotenden Auseinandersetzung mit
den erzieherischen Wirkungszusammenhängen)
Die ersten drei werden meist unter dem Begriff "geisteswissenschaftliche"
Forschungsmethoden zusammengefasst.
Hermeneutik ist Methode des Auslegens und Deutens von sprachlichen, bildlichen und akustischen Aussagen;
erkenntnistheoretische Grundlage der Geisteswissenschaften. In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik liefert die
Hermeneutik über Interpretation historischer Dokumente und die Deutung der Erziehungs- und Lebenswirklichkeit Leitlinien
für pädagogisches Handeln.
1
2
1.3 DEFINITION UND AUFGABEN VON ERZIEHUNG
DEFINITION VON
ERZIEHUNG
Im allgemeinen versteht man unter Erziehung soziales Handeln, welches
bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will,
um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens, die bestimmten
Erziehungszielen entsprechen, zu erreichen.
Erziehung und erziehen (lt.Duden von ahd. irziohan = herausziehen) bedeutet,
jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern.
Allerdings ist dieser Erziehungsbegriff hierarchisch definiert, indem beteiligte
Personen ErzieherInnen und Zöglinge sind. Deshalb wird der Begriff der Erziehung
gern um die selbstorganisierten Lernprozesse erweitert, man versteht Erziehung
dann als spezifische Lernprozesse.
Des Weiteren heißt Erziehung auch Sozialisationshilfe, Enkulturationshilfe2 und
dient dem Aufbau der Persönlichkeit und der Ausbildung eines Individuums.
Perspektive der modernen (westlichen) Erziehung ist die eigenständig
handelnde und emanzipierte Person.
VERSCHIEDENE
DEFINITIONEN
VON ERZIEHEN…
VERSCHIEDENE
DEFINITIONEN
VON ERZIEHEN…
(1) Erziehung ist an eine Hierarchie gebunden: "Erziehung ist ... dasjenige
Handeln, in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen
gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen
(Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten)
und Maßnahmen ( Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung (
Erziehungswirkungen) zur eigenen Lebensführung verhelfen, und zwar so, dass die
Jüngeren das Handeln der Älteren als notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein
erfahren, kritisch zu beurteilen und selbst fortzuführen lernen" (BOKELMANN, in
SPECK & WEHLE 1970, Bd. II, S. 185).
(2) "Als Erziehung werden soziale Handlungen bezeichnet, durch die Menschen ...
versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in
irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten
Komponenten zu erhalten (BREZINKA 1974,S. 98).
(3) "Erziehung heißen wir zwischenmenschliche Einwirkungen ... insoweit, als
durch sie eine mehr oder minder dauernde Verbesserung fremden oder eigenen
Handelns beabsichtigt oder erreicht wird (DOLCH 1969, 106ff.).
(4) Merkmale des "pädagogischen Verhältnisses" (KLAFKI) bzw. des
"pädagogischen Bezuges" (NOHL):
2
3
4
2
positiv getönte gefühlsmäßige Bindung zwischen älterem und jüngerem
Menschen
Wechselwirkungsverhältnis zwischen den Beteiligten (auch Rückwirkung auf
Educans)
Unmöglichkeit des Erzwingens bzw. Verbot der Täuschung oder Manipulation
Enkulturation bedeutet das Hineinwachsen in eine Kultur
3
PÄDAGOGISCHE
BEZÜGE
5
6
7
(speziell durch den Älteren)
Aufrechterhaltung der Beziehung im Interesse des jüngeren Menschen und
seiner jeweiligen Lebenssituation
Notwendigkeit des Eingehens auf die gegenwärtigen Voraussetzungen und
zukünftigen Möglichkeiten des Jüngeren (nicht nur blinde Übernahme von
Traditionen)
Ausrichtung auf Mündigkeit des Jüngeren und Auflösung der Beziehung (sonst
Gefahr der Lebensuntüchtigkeit durch "Overprotection")3
Zur Definition von Erziehung:
AUSEINANDERSETZUNG MIT DER
DEFINITION
1. Bei Erziehung handelt es sich um ein "Verhältnis zwischen"
"heranwachsender" und "erwachsener" Generation; es besteht also ein
Verhältnis zwischen solchen, die Hilfe benötigen und solchen, die diese
geben können; man spricht hierbei von "pädagogischem Gefälle", das
jedoch kein unterdrückendes Herrschaftsverhältnis ist, sondern sich
vielmehr durch Verantwortung legitimiert.
2. Erziehung soll "planmäßige Führung" sein; sie geschieht also nicht zufällig,
nebenbei und nur durch die "Umstände"; sie wird vielmehr bewusst und
verantwortlich übernommen. Dabei beruht "Führung" auf einem personalen
Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und Zögling(en), wobei nicht
gegängelt wird, sondern alles auf die vertrauende und (später) auch
einsichtige
3. Zustimmung des Zöglings ankommt.
Es handelt sich um "Auseinandersetzung" mit der überkommenen Kultur, nicht um
ein bloßes Übernehmen und Reproduzieren von Kultur, die von äußerlichen
Verhaltensweisen über Sprache, Fertigkeiten, Wissenschaft usw. bis zu
Grundüberzeugung reicht."
1.4 GRUNDLAGEN VON ERZIEHUNG
ERZIEHUNG IST...
1. nach dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch: "Pflege und Erziehung
der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht."
2. die mehr oder weniger zielgerichtete Etablierung erwünschter
Verhaltensweisen, Werte und Normen bei Kindern und Jugendlichen und
damit verbunden auch das Setzen von Grenzen. Ziel der Erziehung ist es,
ihnen ihren Platz in sozialen Gruppen wie zum Beispiel der Familie
zuzuweisen, und später, sie an das Leben und Überleben in der Gesellschaft
anzupassen. Entscheidend ist, dass Erziehung immer nur im sozialen
Kontext - also durch andere Individuen - stattfinden kann, und anders als
Bildung ausschließlich für die Orientierung im sozialen Umfeld nützlich ist.
Bei Erwachsenen wird der Begriff Erziehung im Allgemeinen nicht mehr als
Prozess verstanden, da man davon ausgehen sollte, dass die Entwicklung des
3
Aus: DANNER, Helmut 1998 - Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik, S. 26-27:
4
Erwachsenen in großen Teilen abgeschlossen ist. Man verwendet hier den
Begriff Erwachsenenbildung, wenn man von Weiter- und Fortbildung spricht.
3. die eigene Erziehung, also die Verhaltensweisen, Werte und Normen, die
uns Eltern, Verwandte, Schule und andere pädagogische Einrichtungen als
Prägung auf den Weg ins Erwachsenenleben mitgegeben haben.
4. Die Selbsterziehung, bei der man sich selbst zu etwas erzieht, bei der also
dieselbe Person ErzieherIn und Zögling zugleich ist. Manchmal besteht die
Selbsterziehung auch in bewusster Abkehr vom bisherigen Weg - siehe z. B.
Umkehr oder Wende.
5. Die Ausbildung spezieller Fähigkeiten z. B. in musikalische Erziehung,
sportliche Erziehung, Verkehrserziehung.
6. Das Heranziehen von Tieren zu einem erwünschten Verhalten (siehe auch
Dressur) oder von Nutzpflanzen zu einem günstigen Wuchs.
7. Erziehung als (unmittelbare) Reaktion von Eltern und Gesellschaft auf die
Tatsachen, dass ein Individuum sich entwickelt und dafür Hilfe
benötigt.
Erziehungsbedürftigkeit
GRUNDTATBESTÄNDE
Sie ist z. B. damit zu begründen, dass der Mensch relativ zu anderen Primaten
BZW. ANNAHMEN
eine "physiologische Frühgeburt" ist. Um sein Überleben zu sichern, muss er
JEDER ERZIEHUNG
unterstützt bzw. beeinflusst werden. Der Mensch wird somit als Zögling zum
SIND…
Objekt eines anderen Menschen. Dieser ist (notwendigerweise) mehr oder minder
erfahrener, mächtiger, usw. als der Zögling. Jede erzieherische Beziehung ist
damit in bestimmter Hinsicht "ungleich".
Erziehungsfähigkeit
Sie umfasst die persönlichen Voraussetzungen von Lernenden, damit sie ihrer
Verhaltensweisen und Einstellungen erfolgreich bzw. dauerhaft ändern können (z.
B. Lernfähigkeit). Erziehungsfähigkeit enthält aber auch Möglichkeiten zu
selbstbestimmten Veränderungen, also den Zögling als Subjekt.
Mit Lernfähigkeit und Erziehbarkeit (Erziehungsfähigkeit) des Menschen wird 'die
Möglichkeit 'des Lernens und der Erziehung’ angesprochen, Lern- und
Erziehungsbedürftigkeit meint die Notwendigkeit des Lernens und der
Erziehung. Die Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie die Lern- und
Erziehungsbedürftigkeit des Menschen werden Teilgebiet der Anthropologie4,
der pädagogischen Anthropologie' , untersucht.
7.1
Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen und seiner Entstehung: sie untersucht das Wesen Mensch in seinen
Eigenarten und seiner besonderen Stellung in der Natur und der Geschichte.
4
5
1.5 ZUM BILDUNGSBEGRIFF
BILDUNGSBEGRIFF
Dass es in der Schule um Bildung geht, ist unbestritten. Sie verleiht
Bildungsabschlüsse und setzt Bildungsstandards.
Bildung im Mittelalter war Voraussetzung und Ziel der Gottebenbildlichkeit.
Im 17. und 18. Jhdt änderte sich die Situation: Es tritt Bildung zur
alergebrachten Begriff „Erziehung“ dazu und nimmt im Sinne der Aufklärung
die Aufforderung nach Kritikfähigkeit und Verantwortung auf.
Die Philantropen nutzen als Bildungsideal den vernunftbestimmten
handelnden, brauchbaren und glücklichen Menschen  Antwort war: die
Gründungen von berufsbildenden Schulen
Im Neuhumanismus wird Bildung dann als Entfaltung der im Menschen
angelegten Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden (Formale Bildung), die vor
allem durch Selbstgestaltung realisiert werden soll.
Im Idealismus gilt Bildung als Selbstverwirklichung des Menschen durch die
Beschäftigung mit den Manifestationen des objektiven Geistes.
Im Materialismus soll Bildung dazu verhelfen, sich über die Arbeit im
historisch-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang zu verwirklichen.
In den 80iger und 90iger Jahren (Postmoderne) verkam Bildung zu einer
Leerformel
NEUAUSRICHTUNG IN
DEN 50IGER JAHREN
Neuausrichtung der Bildung erfolgte durch die Bildungstheoretische Didaktik
(W. KLAFKI) im Sinne der Erschließung von Mensch und Umwelt.
Heute existieren 2 Strömungen nebeneinander:
1. Trivialvorstellung von Bildung:: „ Bildung als Lernergebnis
allgemein“
2. Geisteswissenschaftliche Bildungstheorie: „Bildung ist ein
ganzheitlicher Prozess der Ichwerdung, bei dem das Ich in aktiver,
selbstgestaltender Auseinandersetzung die anderen und die Welt
aneignet und sich selbst dadurch entwickelt. Bildung entwirft einen
unbewussten Lebensplan und versucht, ihn im Lebenslauf mit allen
emotionalen, sinnlichen, körperlichen und geistigen Kräften zu
verwirklichen“5
Bildung ist ein komplexer mehrdeutiger Begriff in der Schulpädagogik und beinhaltet die
folgenden Aspekte:
- Bildung als Vorgang und
- Bildung als Ergebnis
5
-
Bildung als Selbstbildung und
Bildung als Fremdbildung
-
Bildung als regulative Idee für Schulen und Bildungseinrichtungen und
Macha, H (2001): Bildung. In: Wiater, W. (Hg)Kompetenzerwerb in der Schule von morgen. S. 201
6
-
Bildung als trivialisierender, funktionalistischer Ausdruck
-
Formale Bildung als Entwicklung und Formung der inneren Kräfte und Befähigungen im
Sinne von Schlüsselqualifikationen und
Materiale Bildung als Aufnahme und Verfügen über klassische, kulturell wertvolle und
bedeutsame Wissensinhalte
-
Kategoriale Bildung als Integration formaler mit materialer Bildung im Sinne einer
doppelseitigen Erschließung und
Bildung als lebenslanger Prozess einer biografisch und durch Erziehung und Umwelt
geprägten Selbstgestaltung mittels Sachbildung mittels Selbstbildung, sowie mittels
sozialer Bildung.
Der moderne Bildungsbegriff – wenn er nicht als Leerformel abgetan werden soll – braucht zentrale
Bestimmungselemente:
- sachgerechtes Weltverstehen
- individual-soziales Selbstverstehen und Fremdverstehen
- verantwortliche Mitgestaltung mithilfe
- kritischer Vernunft und auf der
- Basis freier und solidarischer Selbstverwirklichung
Wissen macht also nicht Bildung aus, schon gar nicht Fach- oder Spezialwissen. Es muss vielmehr eine
grundlegende Kenntnis aller wichtigen Bereiche der heutigen Lebenswirklichkeit vorhanden sein,
ergänzt um die Fähigkeiten zum eigenen Wissensmanagement und um die Offenheit gegenüber neuen
Fragestellungen und kulturell anderen Positionsrahmen. Haltungen erwachsen aus den kritischen
Beschäftigungen mit der Lebenswirklichkeit und den Anforderungen, die sich daraus ergeben – sie
werden als Einstellungen handlungsrelevant.
Verhalten ist die Außenseite der Bildung. Wissen und Haltungen bedürfen den Ausdruck des
praktischen Handelns.
2. ERKENNTNISSE ZUR ERZIEHUNGSBEDÜRFTIGKEIT UND ERZIEHBARKEIT VON
MENSCHEN
Naturwissenschaftliche Positionen zur Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie zur Lernbedürftigkeit des
Menschen heben vor allem den Unterschied zwischen Tier und Mensch hervor.
2.1 BIOLOGISCHE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN MENSCH UND TIER
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier vor allem durch folgende Merkmale:
- aufrechte Körperhaltung
- Fähigkeit zu planen und planend zu antizipieren
- Wortsprache
- Umweltbeherrschung
- Denkvermögen
- Extreme Lernfähigkeit
7
Damit nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein, die aus biologischer Sicht zweifach begründet
werden kann (vgl. Kurt GÖRTTLER6,):
1. Anordnung und Gestaltung von Schädel, Kehlkopf, Wirbelsäule, Hand und Fuß ermöglichen dem
Menschen vielseitige Raumorientierung und mannigfaltige Verwendung von Organen. So kann der
Mensch zum Beispiel im Gegensatz zum Tier seine Hand vielseitig verwenden.
2. Die spezielle Beschaffenheit der menschlichen Großhirnrinde lässt die Ausbildung höherer
Funktionen wie Gedanken, Vorstellungen, Wortsprache, Planen u.ä. zu. Die besondere Hirnstruktur gibt
dem Menschen die Möglichkeit, nicht nur biologische Unzulänglichkeiten auszugleichen („Entlastung“
nach GEHLEN, A., 19867), sondern eine einzigartige Sonderstellung gegenüber dem Tier
einzunehmen.
2.1.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit des Lernens und der Erziehung:
 Die besondere Hirnstruktur macht den Menschen extrem lernfähig und erziehbar.
 Die Funktionen des Gehirns sind in ihrer Entfaltung auf Anregung und Lernhilfe seitens der Umwelt
angewiesen, was den Menschen in hohem Maße lern- und erziehungsbedürftig macht.
 Verhaltensweisen wie aufrechter Gang, Wortsprache, Denkvermögen, die Fähigkeit geplant zu
handeln oder Umweltbeherrschung vermag der Mensch nicht „von Natur aus“ zu vollbringen, sondern er
muss sie durch Erziehung erlernen.
2.2 DER MENSCH, EIN WESEN OHNE AUSREICHENDE INSTINKTE8
Die Lebensweise der Tiere wird weitgehend durch bestimmte Steuerungsmechanismen der Natur,
durch Instinkte geregelt. Instinkte dienender Selbst- und Arterhaltung. Beispiele für Instinkte sind
Nahrungsaufnahme, Sexualverhalten, Brutpflege, Nestbau, Aufzucht, Nestbau.
 Dass die Lebensweise der Tiere durch Instinkte geregelt wird, darf nicht absolut gesehen
werden, wir finden bei den "höheren" Tieren neben Instinkten auch erlernte Verhaltensweisen vor.
 In der Umgangssprache wird der Begriff "Instinkt" mehrdeutig gebraucht; oft wird gesagt,
der Mensch handelt "instinktiv" und man meint damit so etwas wie eine unbewusste Ahnung, die
automatisch zu einem richtigen Verhalten führt. Aus anthropologischer Sicht ist diese Ansicht jedoch
nicht brauchbar.
Beim Menschen sind nur noch Instinktreste vorhanden, auf die er sich nicht verlassen kann/ darf. Diese
wenigen Instinktreste reichen zur Regulierung der menschlichen Lebensweise nicht aus, sie können ihm
nicht helfen, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden.
„Dem Menschen sind … keine festgelegten Triebziele angeboren; er bringt keine
festgelegten Werthaltungen und WelteinsteIlungen mit auf die Welt.“ (Heinrich ROTH, Band 1, 1984)
Der niederländische Zoologe Nikolaas TINBERGEN (1907 - 1988) bezeichnet den Menschen deshalb
als ein instinktreduziertes Wesen.
6
7
in: H.-G. GADAMER/P. VOGLER (Hg.) (2000): Neue Anthropologie, Bd.7, 330-342.
GEHLEN, Arnold (1986): Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek, S. 23. 43.
Instinkte sind ererbte Verhaltensweisen, die durch entsprechende Reize, sogenannte Schlüsselreize,
ausgelöst werden und stets gleichförmig und automatisch ablaufen.
8
8
Wo sind denn bloß
meine Instinkte
hingekommen?
DER
MENSCH
WELTOFFENES
WESEN…
EIN
Die Instinktarmut des Menschen bildet die Voraussetzung für die Befreiung
des Menschen vom Zwang der Natur. Sie gibt ihm die Freiheit, zwischen
mehreren Verhaltensweisen zu wählen, überlegte Entscheidungen zu treffen
und produktive Lösungen zu finden.
Während das Tier in seine Umwelt eingebettet, "eingebunden" ist und nur
jeweils sein eingegrenztes Lebensfeld hat, das für es notwendig ist, kann der
Mensch die Welt als Ganzes erfassen; er ist "nicht nur auf Anpassung,
sondern auf Veränderung, auf aktive Gestaltung der Umwelt eingestellt und
ausgerichtet“ (Heinrich ROTH, Band 1, 1984).
Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung:
 Die Armut an Instinkten ermöglicht die enorme Lernfähigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Wäre
menschliches Verhalten durch Instinkte festgelegt, dann wäre Erziehung gar nicht möglich.
.
 Weil die menschliche Lebensweise instinktiv nicht zureichend geregelt wird, ist der Mensch auf Lernen
und Erziehung angewiesen; er muss die zum Leben und Überleben notwendigen Verhaltensweisen, die
die Natur nur unzureichend hervorgebracht hat, im Laufe seines Lebens erst erlernen.
.  In der Weltoffenheit des Menschen liegt einerseits seine Lern- und Erziehungsfähigkeit begründet,
andererseits muss er das Leben in der Welt und die aktive Gestaltung seiner Umwelt durch Erziehung
erst erlernen.
9
2.3
DER MENSCH, EIN BIOLOGISCH MANGELHAFTES WESEN
Im Vergleich mit den Tieren ist der Mensch aus biologischer Sicht recht mangelhaft ausgestattet. Der
Philosoph und Soziologe Arnold GEHLEN (1904-1976) bezeichnet den Menschen deshalb als
unspezialisiertes biologisches Mängelwesen:
 Der Mensch ist organisch unspezialisiert und unfertig: er ist "ohne natürliche Waffen, ohne
Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender
Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den „Spezialisten“ im Tierreich weit übertroffen“
(Arnold GEHLEN, 19749). Ebenso sind einzelne Organe des Menschen „unterentwickelt“, wie zum
Beispiel der Bau seiner Hand, die sich nicht zu Spezialleistungen (Greif-, Krallen- oder Schaufelhände)
eignet.
 Der Mensch ist, wie bereits in Abschnitt 3.1. dargestellt, instinktreduziert, was auch die Ursache
dafür ist, dass die menschlichen Antriebskräfte, wie zum, Beispiel die Sexualität, nicht auf bestimmte,
natürlich fixierte Ziele ausgerichtet und im Überschuss vorhanden sind.
Tiere werden als Spezialisten geboren, Menschen sind zum "Mängelwesen" erkoren.
DIE ORGANISCHE
UNSPEZIALISIERTHEIT des
Menschen, wie
beispielsweise die
vielseitige Verwendung
seiner Hände, seine
Unfertigkeit und
Instinktreduziertheit
befähigen ihn zum
ZIELBEWUSSTEN und
GEPLANTEN Handeln.
„Das unfertige Wesen Mensch, das im Gegensatz zum Tier nicht durch
Instinkte und Verhaltensketten festgelegt ist, kompensiert seine Mängel
durch Handlung. Sieht man die Mängelausstattung des Menschen an, so ist
es leicht einzusehen; er muss erkennen, um tätig zu sein, und muss tätig
sein, um morgen leben zu können.“ 10 (Arnold Gehlen, 1986)
Diese Möglichkeit zum Handeln ist dem Menschen durch die Struktur seines
Großhirns gegeben. Intellektuelle Fähigkeiten erlauben ihm planendes,
schöpferisches Handeln, wodurch er imstande ist, seine biologischen
Mängel auszugleichen.
Er gestaltet die Natur so um, dass er in ihr leben und überleben kann. Und
die vom Menschen ins lebensdienliche umgearbeitete Natur bezeichnet
Gehlen als Kultur.
Durch die Gestaltung der Umwelt und Schöpfung der Kultur ist der Mensch
selbst Teil der Kultur und muss deshalb „kultiviert" werden. Dies geschieht
nach GEHLEN durch ,Außenstützen’, also durch Institutionen, die
menschliches Verhalten regulieren.
2.3.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung
 Organische Unspezialisiertheit und Unfertigkeit des Menschen sowie seine Instinktreduktion und die
spezielle Struktur des Großhirns ermöglichen seine enorme Lernfähigkeit und Erziehbarkeit.
9
GEHLEN, Arnold 1974: Ende der Geschichte? in: Ders.: Einblicke, Frankfurt am Main: Klostermann , S. 113-133.
10
Aus: GEHLEN, Arnold (1986): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. S. 38
10
 Die Fähigkeit zur vielseitigen Verwendung der Organe muss durch Lernen und Erziehung erst
entwickelt werden.
 Intellektuelle Fähigkeiten, wie zum Beispiel Denken, Planen, Kreativität, entfalten sich organisch
nicht von selbst, sondern benötigen Anregung und Lernhilfe von außen.
 Als "Kulturwesen" muss der Mensch durch Erziehung lernen, in seiner Kultur leben
bzw. Kultur schaffen und ändern zu können (vgl. Abschnitt 3.1).
 Die noch nicht auf bestimmte Ziele gerichteten und im Überschuss vorhandenen Antriebskräfte des
Menschen müssen über Lernvorgänge geregelt und in kulturelle Bahnen gelenkt werden. Dazu sind
Institutionen von größter Bedeutung. So muss der Mensch zum Beispiel erlernen, wie er mit seiner
Sexualität umgeht.
 Die Schaffung von Institutionen ist sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft wichtig:
Einerseits kann der einzelne nur durch sie seine spezifisch menschlichen Verhaltensweisen entwickeln;
andererseits kann die Gesellschaft nur durch Institutionen weiter bestehen.
 Institutionen entwickeln sehr häufig eine Eigendynamik und nehmen auf Interessen und Bedürfnisse
von einzelnen Personen und auf Minderheiten keine Rücksicht. Institutionen ermöglichen zwar ein
geordnetes, geregeltes Zusammenleben: die Frage ist aber, wie weit sie dadurch auch zur Erstarrung
von Gewohnheiten, Normen und Werten und damit zur wenig sinnvollen persönlichen Unterdrückung
führen.
2.4. DER MENSCH, EIN WESEN, DAS ZU FRÜH ZUR WELT KOMMT
Bei Säugetieren gibt es zwei typische Formen des Geburtszustandes:
NESTHOCKER
Die Nesthocker, die nach kurzer Tragzeit in völlig hilflosem Zustand zur Welt
kommen, mit noch verschlossenen Sinnesorganen und unfähig zur Fortbewegung
(zB niedere Säuger wie Katzen und Mäuse).
NESTFLÜCHTER
Die Nestflüchter, deren Entwicklung im Mutterleib viel länger dauert, weshalb die
Neugeborenen über funktionsfähige Sinnes- und Bewegungsorgane verfügen (zB
höhere Säugetiere, wie beispielsweise Pferde und Affen, können sich gleich nach
der Geburt ihrer Art gemäß verhalten)
Seine Sinnesorgane funktionieren bereits, jedoch spezifisch menschliche
Verhaltensweisen wie aufrechter Gang, Sprache und einsichtiges Denken und
Handeln vermag er noch nicht zu vollbringen. Erst gegen Ende des ersten
Lebensjahres erreicht er den Ausbildungsgrad, den ein seiner Art entsprechendes
höheres Säugetier zur Zeit der Geburt aufweist.
Der Mensch ist also eine physiologische Frühgeburt, die im
Vergleich zu höheren Säugetieren zu früh zur Welt kommt. Im ersten Lebensjahr,
dem „extrauterinen11 Frühjahr“ , wie Portmann es nennt,
muss das Kind seine Entwicklung außerhalb des Mutterschoßes unter dem
Einfluss seiner Umwelt, für die ein Wesen noch ganz untauglich ist, vollenden.
AUSNAHME
MENSCH
.
11
.
Uterus = Gebärmutter, extrauterin = außerhalb der Gebärmutter
11
Oh Gott, ich bin ja zu
früh auf die Welt
gekommen!
2.4.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung:
 In der der Eigentümlichkeit des menschlichen Geburtszustandes liegt seine enorme Lernfähigkeit
und Erziehbarkeit begründet.
 Das, was die Natur nur unzureichend hervorgebracht hat, nämlich die menschliche Lebensweise,
muss der Mensch im "sozialen Mutterschoß“ erlernen.
 Dem ersten Lebensjahr wird in der Erziehung eine Schlüsselrolle zugewiesen. Emotionale
Zuwendung und ausreichende Reizvermittlung sollten Grundlagen dieser Erziehung sein.
2.4.2 Was kann die Erziehungswissenschaft von der modernen Anthropologie lernen?
- Die Zielfrage der Erziehung (Theorien der Bildung)
- Die Frage nach den Einflüssen auf die Erziehung (Theorien der Vergesellschaftung der
Sozialisation)
- Die Frage nach der Lernfähigkeit (Theorien des Lernens)
- Die Frage nach der Dauerstellung der Erziehung (Theorien der Institutionalisierung)
12
2.5 GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE ZUR ERZIEHBARKEIT UND
ERZIEHUNGSBEDÜRFTIGKEIT DES MENSCHEN
Bisher standen Aussagen im Vordergrund, die die Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie die Lern- und
Erziehungsbedürftigkeit des Menschen aus naturwissenschaftlicher Sicht. darstellten. Um das Wesen
des Menschen vollständig zu erfassen, müssen diese durch geisteswissenschaftliche Überlegungen
und sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte ergänzt werden.
2.5.1 Der Mensch, ein Wesen mit Geist und Vernunft
„Diese Geistigkeit des Menschen stellt sich dar im Denken, in der Sprache, in seiner
Wertempfänglichkeit und kulturellen Schaffenskraft, in all den menschlichen Fähigkeiten und Kräften,
die Voraussetzung sind für Kunst und Wissenschaft, Vernunft und Weisheit, Sittlichkeit und Religion,
Zivilisation und Kultur." (Heinrich ROTH, 196612)
Aufgrund seines Geistes kann sich der Mensch von sich selbst distanzieren und sich selbst zum Objekt
der Betrachtung machen. Diese Tatsache befähigt ihn, sich als Person zu erfassen.
Cogito ergo sum
(Ich denke, also bin ich)
„Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen
auf Erden lebenden Wesen.“ (KANT, I. 1724-1804)
2.5.1.1 Folgerungen für die Erziehung
 Die Ausstattung des Menschen mit Geist und Vernunft befreit den Menschen von der Natur und
ermöglicht ihm eine enorme Lern- und Erziehungsfähigkeit.
 Die Geistigkeit des Menschen entfaltet sich nicht von selbst, sondern muss durch
Lernprozesse und Erziehung im Laufe des Lebens hervorgebracht werden. Dies ist eine
sehr schwierige Aufgabe der Erziehung, weil von deren Realisierung das
Schicksal des Menschen und seiner Kultur abhängt.
2.6 DER MENSCH, EIN KULTURWESEN
Organische Unspezialisiertheit und Unfertigkeit, natürliches Nicht-Festgelegtsein und
Instinktarmut zwingen den Menschen zu kultureller Lebensführung. Es gibt denn auch
ganzen Erde keine Gruppe von Menschen, die keine kulturelle Lebensweise hätte. Der
Mensch lebt immer in einer Kultur, er ist ein kulturelles Wesen.
Kultur ist die umfassende Bezeichnung für das, was der Mensch selbst geschaffen hat, eine von
ihm geschaffene, und ständig in Veränderung befindliche Umwelt.
Dazu gehören beispielsweise die Sprache, die Neuschaffung und Veränderung von Wohnverhältnissen,
Kunst, Religion, Recht, Wissenschaft, Wert.- und Normvorstellungen ebenso wie die Veränderung und
Umgestaltung der Natur selbst.
12
ROTH, Heinrich: Pädagogische Anthropologie, Band I. Bildsamkeit und Bestimmung, Hannover 1966, S. 267 ",
13
Der Mensch als Kulturwesen im doppelten Sinn:
- Einerseits gestaltet sich der Mensch durch planendes und schöpferisches Handeln
seine eigene "Welt"; er ist also aktiver Erzeuger der Kultur.
- Andererseits wird er selbst Teil und somit auch ein Erzeugnis der Kultur.
2.6.1 Folgerungen für die Erziehung .
 Um in einer Kultur leben zu können, muss der Mensch die jeweilige kulturelle Lebens- weise
erlernen.
Dabei kommt es bei der Erziehung vor allem auf den Erwerb von Kulturtechniken an, die die Erhaltung
und Weitergabe der jeweiligen Kultur ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise Sprache, Denken,
Lesen und Schreiben, Wertbewusstsein, Moralvorstellungen u.a.
 Durch Lernen und Erziehung muss aber auch die Fähigkeit zu produktivem
Neuschaffen und zur Veränderung von kulturellen Verhältnissen vermittelt werden: z.B. Techniken wie
Kritikfähigkeit, Kreativität, Produktivität, Engagement, Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit,
fehlerhafte Entwicklungen zu erkennen

Wie die Entwicklung zeigt, ist der Mensch auch in der Lage, seine eigene Lebensbasis zu zerstören, wie
sich dies zum Beispiel in Umweltverschmutzung, Waldsterben, Rohstoffverbrauch bzw. -vergeudung,
Strahlenverseuchung, Aufrüstung zeigt.
 Deshalb kommt es heute in der Erziehung vor allem darauf an, zu einer mit der Natur stimmigen
Lebensweise aus besserer Einsicht zurückzufinden. Hier wird sich entscheiden, ob Kultur in Zukunft eine
Bedrohung oder eine Chance für die Menschheit bedeuten wird.
"Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur!"
2.7 DER MENSCH, EIN SOZIALES WESEN
Der Mensch ist von vornherein in ein umfassendes Ganzes, in eine soziale Situation eingebettet. Er ist
auf eine gesellschaftliche Lebensweise hin angelegt und von Geburt an auf die Mitmenschen und
soziale Beziehungen angewiesen. Nur durch das Zusammenleben mit anderen kann er existieren und
zum Menschen im humanen Sinne werden.
14
Biologisch gesehen ist ein einzelner Mensch undenkbar. Er / sie würde das Ende der
Menschheit bedeuten. „Die Sprache ... stellt eine Leistung der sprachtragenden Gemeinschaften durch
viele Generationen hindurch dar. Durch die Sprache ... wird sein Denken beeinflusst. Durch seine
Sprache hindurch spricht und denkt auch die Gemeinschaft. Der Mensch wird nur unter Menschen ein
Mensch, ..." (Rudolf LASSAHN, 1993) .
2.7.1 Folgerungen für die Erziehung
,  Um mit an
Neben der Anpassung an bestehende soziale Spielregeln und soziale Lebensformen hat Erziehung
zur Neuerung und Veränderung von sozialen Verhältnissen zu befähigen.
2.8. KRITISCHE ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT
DIE KRITISCHE THEORIE
DER FRANKFURTER
SCHULE
Wichtige Vertreter:
Theodor W. ADORNO,
Jürgen HABERMAS
Der wesentliche Gegenstand der Kritischen Theorie in den 60iger und
70iger Jahren waren autoritäre Gewaltverhältnisse in der Gesellschaft, wie
z.B. ökonomische Ausbeutung, die abgeschafft werden sollten.
Es ging um deren historische Entwicklung, die sozialen Folgen und ihre
aktuelle ideologische Verschleierung. Die Studentenbewegung der 60er und
70er Jahre war ein wichtiger Motor dieser Entwicklungen - aber auch
umgekehrt war die Studentenbewegung von den Vertretern der Kritischen
Theorie inspiriert.
Diese Kritik bezog sich u.a. darauf, dass Wissen relativ unabhängig von den
späteren Verwendungsmöglichkeiten produziert wurde. Es wurde gefordert,
dass wissenschaftliches Wissen der Befreiung und der Selbstaufklärung der
Gesellschaft dienen müsse: Es sollte in diesem Sinne unbedingt eine
kritische Funktion haben und so war die Ideologiekritik die Methode.
Ein wichtiger Begriff der Kritischen Erziehungswissenschaft ist der Begriff
der Ideologien: sie beschreiben die Argumente, Wissensbestände und
Interpretationen, die verschleiern, verdecken und die positive Entwicklung
unterbinden.
Der oben angesprochene Verlust des Pädagogischen wurde registriert und
der Emanzipationsbegriff schien zunächst ein angemessener Ersatz zu sein.
Emanzipation konnte als Ziel pädagogischer Tätigkeit bestimmt, als
Kriterium an praktisches Handeln angelegt und als Orientierung für die
gesellschaftliche Entwicklung verstanden werden.
DER EMANZIPATIONSBEGRIFF
Das Ziel 'Emanzipation' war also an sich gut legitimierbar, aber dennoch
mit großen Problemen behaftet. Emanzipation von politischer Herrschaft
und Unterdrückung, von autoritären Verhältnissen und ideologischer
Verschleierung waren Aufgaben, die unter anderem durch Pädagogik
realisiert werden sollten. Emanzipation der unterdrückten gesellschaftlichen
Gruppen sowie Kritik dessen, was Emanzipation verhindert, wurden als
Ziele des pädagogischen Handelns diskutiert13. Die Bedeutung der
BLANKERTZ, H. (1978).: Handlungsrelevanz pädagogischer Theorie. In: Z.f.Päd. 24, S. 171-182.
und MOLLENHAUER, K. (1968): Erziehung und Emanzipation. München 1968.
13
15
Kritischen Erziehungswissenschaft liegt u.a. darin, dass sie die Stellung der
Pädagogik in der Gesellschaft neu und provozierend zum Thema gemacht
hat. Ihre Herrschaftsdimension und ihre Funktion bei der Reproduktion der
sozialen Machtverhältnisse wurden kritisch diskutiert.).
2.9
GRUNDLAGEN UND AUFGABEN VON ERZIEHUNG
Obwohl jeder Mensch aus eigener Erfahrung zu wissen glaubt, was Erziehung ist, ist dieses Wort
mehrdeutig und wird in verschiedenen Zusammenhängen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet.
Dieses Problem liegt in den verschiedenen Vorstellungen von Erziehung begründet:
 Erziehung ist immer ein Geschehen, das sich zwischen Menschen vollzieht. Erziehung kann
also als wechselseitige Beeinflussung und Steuerung gesehen werden.
 Fragt man, zu welchem Zweck ErzieherInnen versuchen, die Zuerziehenden zu beein- flussen
und zu steuern, so wird damit die Zielgerichtetheit der Erziehung angesprochen.
 Durch Erziehung wird Verhalten geändert oder erworben. Geht man der Frage
nach, warum Verhalten geändert und/oder erworben werden soll, so kann Erziehung als
Einführung in Kultur und Gesellschaft sowie als Ausbildung des eigenen Selbst
verstanden werden.
2.9.1 Erziehung als soziales Handeln
Pädagogik hat es mit dem Menschen als lernendem Wesen zu tun, das, wie in Kapitel 2 ausgeführt, von
Natur aus auf Lernen angewiesen ist und erst durch das Lernen Menschen im humanen Sinn wird. Der
eigentliche Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen ist demnach der Begriff Lernen, und manche
Erziehungswissenschaftler würden auch lieber von "Lernwissenschaft" als von Erziehungswissenschaft
sprechen.
2.9.1.1 Der Begriff „Lernen“
Häufig ist es so, dass unter Lernen die Anhäufung von schulischem Wissen, die bewusste, teilweise
anstrengende Arbeit des Einprägens und Übens von Begriffen, Wissen, Kenntnissen oder Fertigkeiten
verstanden wird, wie zum Beispiel „Vokabeln lernen“, „Gedicht lernen“, „Tanzen lernen“, „Skifahren
lernen“ usw.
16
Die Wissenschaft fasst diesen Begriff jedoch wesentlich weiter und versteht darunter den Erwerb neuer
und/oder die Änderung bestehender Verhaltensweisen als Folge von Erfahrung und Übung.
Dieses erworbene bzw. veränderte Verhalten darf nicht nur zufällig zustande kommen, es muss den
Augenblick überdauern und relativ beständig sein.
Wenn ein Kind zufällig einmal das Hemd richtig überstülpt, so spricht man hier nicht von Lernen.
Man spricht auch nur dann von Lernen, wenn der Erwerb neuer und/oder die Änderung bestehender
Verhaltensweisen durch die Auseinandersetzung mit bestimmten Umweltsituationen zustande
kommen.
Damit wird der Begriff Lernen abgegrenzt von angeborenen Reaktionsweisen, wie zum Beispiel das
Angsthaben bei Lärm, Reifungsvorgängen, die primär organisch bedingt sind, und von
vorübergehenden oder andauernden Zuständen des Organismus wie Ermüdung, Stress, Rausch,
Drogen, Krankheit, etc.
Lernen selbst ist ein Prozess, der nicht beobachtbar ist. Unmittelbar beobachtbare Ursache, die diesen
Prozess ausgelöst hat, und die neue bzw. geänderte Verhaltensweise als Ergebnis des
Lernvorganges. Wir können beobachten, wie sich ein Mensch in einer früheren Situation A und in einer
späteren Situation B verhält. Daraus schließen wir auf dazwischen liegende Lernprozesse.
Lernen ist ein nicht beobachtbarer Prozess, der durch Erfahrung und Übung zustande kommt
und durch das Verhalten relativ dauerhaft entsteht oder verändert wird.
INTENTIONALES UND
FUNKTIONALES
LERNEN
Mit internationalem Lernen meint man alle Lernprozesse, die mit einer
bestimmten Intention, Absicht, bewusst ausgelöst werden.
Ich möchte beispielsweise das Skifahren lernen. Hierbei handelt es sich um einen Lernprozess
den ich bewusst mit einer bestimmten Absicht herbeiführe.
Wir lernen aber auch vieles im Leben, was ungeplant und ohne Absicht, meist gar
nicht bewusst geschieht.
Obwohl mir das gar nicht bewusst ist, übernehme ich beispielsweise die Kopfhaltung meines Vaters.
Solche unbeabsichtigten, meist nicht bewussten Lernvorgänge bezeichnen wir als
funktionales Lernen.
Dem Begriff der „funktionalen Erziehung“ müssen wir jedoch mit Skepsis
17
begegnen: Erziehung ist stets soziales Handeln, das bestimmte Lernprozesse
bewusst und absichtlich auslösen will, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und
das immer im zwischenmenschlichen Bereich geschieht. Alles andere sollte eher
als „funktionales Lernen“ (nicht als Erziehung) bezeichnet werden. Ein großer Teil
der Lerneinwirkungen ist funktional. Erziehung ist also nur als „intentionaler“ Akt
denkbar, dem unbeabsichtigte und nicht bewusste Einflüsse von allen möglichen
Bereichen (z.B. Medien, Gruppen, ungewolltes Vorbild der Eltern)
gegenüberstehen.
„Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns." (Eugene IONESCo)
2.10 ERZIEHUNG ALS WECHSELSEITIGE BEEINFLUSSUNG
Zur Erziehung gehören mindestens zwei Personen: Ein/e ErzieherIn, die/der bestimmte Lernprozesse
bei der/ dem Zu-Erziehenden herbeiführen, auslösen bzw. unterstützen will, und ein/e Zu-Erziehende/r,
der/die diese Lernprozesse vollbringen muss.
Erziehung ist soziales Handeln, das im zwischenmenschlichen Kontakt von Erzieher/i und ZuErziehendem/r stattfindet. Erzieherische Handlungen werden "sozial" genannt, weil sie sich auf einen
anderen Menschen, auf den Zu-Erziehenden, beziehen.
Soziales Handeln ist eine besondere Art des Handelns, die sich durch eine bestimmte Intention von
anderen Arten unterscheidet: es ist bewusst und willentlich auf andere Menschen bezogen.
(Wolfgang BREZINKA, 199014)
SOZIALE INTERAKTION
Der Begriff „soziale Interaktion“ bezieht sich auf alle Vorgänge, die sich
zwischen Menschen abspielen. Er meint das wechselseitig aufeinander
bezogene Verhalten zwischen zwei oder mehreren Personen (vgl. Dieter
Ulich, 1989). Beide - Erzieher und Zu-Erziehender - stehen zueinander in
einer bestimmten Beziehung und sind voneinander abhängig. Diesen
Sachverhalt bezeichnen wir soziale Interaktion.
Am Beispiel eines Gespräches zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehenden kann man diesen
Begriff veranschaulichen: Beide, Erziehern und Zu-Erziehende, gehen aufeinander ein und
beziehen sich aufeinander; jede/r reagiert auf den/die andere/n, die Äußerungen und
Handlungen des einen sind oft zugleich Ergebnis und Ursache für die Äußerungen und
Handlungen des/der anderen.
In dem Moment, in welchem Menschen miteinander in Beziehung treten,
beeinflussen und steuern sie sich gegenseitig. Damit bedeutet soziale
Interaktion auch ein Geschehen zwischen Menschen, die wechselseitig
aufeinander reagieren, sich gegenseitig beeinflussen und steuern.
W. BREZINKA (1990): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. In: Franzjörg Baumgart (Hrsg.),
Erziehungs- und Bildungstheorien. S. 45
14
18
Soziale Interaktion gilt als Bezeichnung für das wechselseitig aufeinander bezogene Verhalten
zwischen Menschen, für das Geschehen zwischen Personen, die wechselseitig aufeinander reagieren,
sich gegenseitig beeinflussen und steuern.
Erziehung ist stets soziale Interaktion: ErzieherIn und Zu-Erziehende reagieren ständig aufeinander,
beeinflussen und steuern sich gegenseitig; Erziehung ist immer ein Wechselspiel von Aktionen und
Reaktionen, jedoch ist nicht jede soziale Interaktion gleich Erziehung.
Der Erzieher schimpft mit dem Kind, weil es ein Glas fallen ließ. Er reagiert auf das Kind. Zugleich ist dieses Schimpfen
Anlass dafür, dass das Kind zu weinen beginnt. Das wiederum ruft beim Erzieher hervor, dass er das Kind in den Arm
nimmt. Dieses hört daraufhin mit dem Weinen auf.
In der Regel orientieren sich ErzieherInnen am Alter der Zu-Erziehenden, an den Interessen,
Fähigkeiten, Bedürfnissen und dgl. Indem er/sie sich dem Verhalten, der Zu-Erziehenden anpasst und
die Handlungen auf sie abstimmt, verändert auch er/sie sich.
Der Prozess der Erziehung verändert sowohl die Zu-Erziehenden als auch die ErzieherInnen
selbst.
Wer den anderen beeinflusst und steuert, teilt ihm auch zugleich etwas mit, das heißt bei jeder sozialen
Interaktion werden Informationen ausgetauscht. Diesen Informationsaustausch bezeichnen wir als soziale
Kommunikation.
Unter sozialer Kommunikation versteht man den Austausch, die Vermittlung und Aufnahme von
Information zwischen zwei oder mehreren Personen.
Der Begriff Information umfasst nicht nur sachliche Inhalte, wie zum Beispiel Nachrichten, sondern auch
Gefühle, Empfindungen, Wünsche, Bedürfnisse.
So können Erziehende dem Zu-Erziehenden durch Streicheln mitteilen, dass er/sie ihn mag.
ERZIEHUNG
= KOMMUNIKATION
&
INTERAKTION
Alles Verhalten in einer Beziehung hat Mitteilungscharakter. Selbst wenn sich der
Erzieher vom Kind abwendet oder der Zu-Erziehende mit seinem Erzieher nicht
mehr sprechen will, teilen sie sich gegenseitig etwas mit. In jedem
Erziehungsprozess werden Informationen ausgetauscht, jedoch nicht jede soziale
Kommunikation ist gleich Erziehung.
19
.
Kommunikation ist ohne Interaktion nicht denkbar.
Wer dem anderen Informationen mitteilt, beeinflusst und steuert ihn zugleich.
Ebenso ist Interaktion ohne Kommunikation unmöglich: Wer mit dem anderen in
Beziehung tritt, übermittelt ihm zugleich Informationen.
Eine wichtige Rolle in der Erziehung spielt die Beziehung zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehenden.
Von der Art und Weise, wie sich die persönliche Beziehung zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehendem
gestaltet, hängt einem erheblichen Maße der Erfolg der Erziehung bzw. die Persönlichkeitsentfaltung
des Zu-Erziehenden ab.
"Die Grundlage der Erziehung ist ... das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem
werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form
komme." (Hermann NOHL, 194915)
"Wo die Beziehung nicht stimmt, hat die Sache wenig Chance"
2.11. Erziehung als beabsichtigte Lernhilfe
Wenn Menschen miteinander in Beziehung treten, so tun sie das immer mit einer bestimmten Absicht,
sie verfolgen ein Ziel. Und um dieses Ziel zu erreichen, tauschen sie miteinander Informationen aus
und beeinflussen und steuern sich gegenseitig.
Menschen interagieren und kommunizieren miteinander, um ein bestimmtes Ziel
zu erreichen.
"
ERZIEHUNGSZIELE
Der Erzieher findet den Zu-Erziehenden in einem gewissen „Ist-Zustand“
vor. Das Kind kann beispielsweise noch nicht laufen, sprechen, es ist noch nicht
WERDEN DEFINIERT
selbständig oder es sagt bzw. tut Dinge, die ihm schaden könnten.

 Auf der anderen Seite hat der Erzieher einen
.
„Soll-Zustand“ vor Augen.
Das Kind soll beispielsweise laufen und sprechen können, soll selbstständig werden
15
NOHL, Herman (1949): Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt/M. S. 12
20
und ein Verhalten lernen, das ihn nicht gefährdet.
Aufgabe des Erziehers/der Erzieherin ist es, durch bestimmte Handlungen
das Verhalten der Zu-Erziehenden relativ dauerhaft dahingehend zu ändern,
dass der künftige Ist-Zustand mit dem jetzigen Soll-Zustand übereinstimmt.
(vgl. Wolfgang BREZINKA,1995)
WESEN DER ERZIEHUNG
Erziehung geschieht immer im Wechselspiel zwischen dem ZuErziehenden, der bestimmte Lernprozesse bewältigen muss, und dem
Erzieher, der diese Lernprozesse absichtlich und bewusst herbeiführt,
auslöst oder unterstützt und mit bestimmten Handlungen das Verhalten
des Zu-Erziehenden relativ dauerhaft ändern will, und dem
Erziehungsziel, das der Erzieher vor Augen hat.
Erziehung ist ein soziales Handeln, welches bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich
herbeiführen und unterstützen will, um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens, die
bestimmten Erziehungszielen entsprechen, zu erreichen.
LEBENSLANGES
LERNEN
Mit Erziehung ist auch immer der Vorgang der Lernhilfe gemeint, nicht deren
Ergebnis. Dieser Prozess darf allerdings nicht auf das Kindes- und Jugendalter
eingeschränkt werden. Kulturelle Lebensbedingungen wandeln sich ständig und
jedem Menschen wird ein lebenslängliches Um- und Weiterlernen abverlangt. So
sind auch Erwachsene wieder auf erzieherische Lernhilfen angewiesen (zum
Beispiel Erwachsenenbildung). Während jedoch bei Kindern und Jugendlichen
ErzieherInnen die Verantwortung für Erziehung tragen, beanspruchen
Erwachsene Lernhilfen in eigener Verantwortung.
„Erziehung darf nicht enden, sobald der Mensch mündig geworden ist, wenn er mündig bleiben
will.“ (Erich WEBER, 1987)
Manche PädagogInnen verstehen unter Erziehung auch alle unbeabsichtigten, ungewollten
Einwirkungen auf die Zu-Erziehenden, soweit sie Wirkungen im Sinne der Erziehungziele erkennen
lassen, und nennen dieses ohne erzieherische Absicht erfolgende Lernen missverständlich funktionale
21
Erziehung. Davon wird dann die intentionale Erziehung unterscheiden als ein mit erzieherischer
Absicht (Intention) ausgeführtes soziales Handeln (vgl. Wolfgang Brezinka,1994; Erich Weber, 1987).
3. SCHULTHEORIEN, WESENSMERKMALE DER SCHULE
3.1.ALLGEMEINES
Theorie: leitet sich vom griechischen/lat. Begriff „theoria“ ab, was soviel bedeutet wie Anschauen,
die Gesamtschau, das Über- bzw. Durchschauen einer Sache, ohne Berücksichtigung des
Nutzwertes.
Schultheorien sind das Ergebnis von Reflexionen über Schule, angestellt auf der Grundlage von
Forschungsergebnissen geistes – und sozialwissenschaftlicher Art und unter Verwendung von
anerkannten quantitativen und qualitativen Methoden.
Theorien sind nicht zeitlos gültig, sie führen zu Modifikationen und Verwerfungen. Es kann auch
verschiedene Theorien zu einem Phänomen geben (zB Theorien zu Gewalt).
Zielsetzungen der Schultheorie:
- soll LehrerInnen kritisch, selbstkritisch und selbstsicher machen.
- begründet das Berufsethos der LehrerInnen
- schaffen eine kritische Funktion gegenüber Schulpraxis und Bildungspolitik
- schaffen Ordnungszusammenhänge für alles, was mit Schule zu tun hat
- klären und strukturieren die Bedingungen des Handelns in der Schule gegenüber den
Schulpartnern, der Schulaufsicht, den Behörden
- Sind die Grundlage für quantitative und qualitative Forschung in der Schule16
3.2 ZUR BEGRIFFSBESTIMMUNG VON SCHULE
Es gibt nicht „die“ Schule, sondern die konkreten Rahmenbedingungen und die Interaktionspraktiken vor
Ort. Nachfolgend die 3 Bestimmungsstücke von Schule:
3.2.1 Die Schule ist ein Subsystem der Gesellschaft
Schule ist ein Subsystem im Sozialsystem der Gesellschaft, das mit anderen Subsystemen in
Beziehung steht. Eng sind die Beziehungen mit dem Rechtssystem, dem Politischen System, sowie
mehr und mehr mit dem Wirtschafts- bzw. Beschäftigungssystem.
Die Subsysteme tragen eng zur Identität und Typik des Subsystems Schule bei.
Im Auftrag der Gesellschaft nimmt die Schule Einfluss auf die Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz
derjenigen, die mit dem Subsystem Schule interagieren (müssen).
Schule ist zweifach verpflichtet:
- Der individuellen Förderung der Lernenden und der
- Den Inhalten der Kultur
Daher müssen die Erwartungen von anderen Subsystemen an Schule „gefiltert“ werden und damit wird
auch eine „relative“ Autonomie von Schule begründet.
16
Vergl. Apel, H.J; Sacher, W. (2005): Studienbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn. S. 33
22
Jede Schule agiert als System mit Selbstorganisation und Eigenlogik. Sie wird von allen Beteiligten
mitgestaltet und an Veränderungen angepasst.
Schule weist eine gewisse Beharrungstendenz auf
Schule ist ein offenes System, ein statisches System, ein reproduktives System (den gesellschaftlichen
Bedürfnissen nachkommend) und ein soziales System, das Miteinander konstituiert (LehrerInnen,
SchülerInnen)
3.2.2. Die Aufgaben der Schule sind historisch gesellschaftlich bedingt
Im Laufe der Zeit verändern sich die Aufgaben der Schule:
Im Kaiserreich war es Aufgabe der Schule, die Untertanen für Gott, den Kaiser und das Vaterland zu
erziehen. Der Nationalsozialismus unterstellt die Schule der Blut- und Bodenideologie und verkürzt die
Dauer der Schule. Die Nachkriegsdemokratie reorganisiert die Schule und führt große Bildungsreformen
durch: Motto sind: Demokratie, Chancengleichheit, Integration…
3.2.3 Die Schule ist ein Lern- und Lebensraum für junge Gesellschaftsmitglieder
Die meisten Schulen sind für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene da. Als Lernort wirft die
Schule die Frage auf, was, wie und wozu gelernt wird und welches Menschenbild den Zielen zugrunde
liegt.
Schule ist aber auch Lebensraum: Damit stellt sich die Frage, welche Lebenserfahrungen die
Lernenden dort machen, wie diese Lernerfahrungen die Anforderungen des Lebens außerhalb der
Schule ergänzen.
Schule ist auch Arbeitsplatz für LehrerInnen, DirektorInnen und Schulaufsicht17.
3.2.4 Schultheorien im Vergleich:
Funktionen
von Schule
Theorie der Schule nach H.J. APEL
- Unterricht mit den Aufgaben der
Wissensvermittlung und Erziehung mit den
Zielen in den Bereichen:
Lern-, Leistungs- und Sozialverhalten
- Entwicklung des Denkens und der
Förderung von Fähigkeiten, sozialen
Erfahrungen,
- Vergabe von Berechtigungen
Selektion durch Leistungsprinzip
- Ausgleich von Benachteiligungen und
ungleich verteilten Chancen
Prioritäten
Funktionen sind aus Sicht der Lernenden
entwickelt
Schule
= Bildungs- und Reperaturbetrieb
17 17
Theorie der Schule nach W. WIATER
- Qualifikation der jungen
Gesellschaftsmitglieder
- Personalisation der jungen
Gesellschaftsmitglieder
- Sozialisation der
Gesellschaftmitglieder
- Enkulturation der
Gesellschaftsmitglieder
- Selektion, durch die nach
optimaler Förderung deren
Allokation und Platzierung im
Gesellschaftssystem vorbereitet
wird.
- Funktionen sind aus
Gesellschaftsperspektive
entworfen
Schule ist eine selektive und
qualitfizierende Organisation.
Vergl. Apel, H.J; Sacher, W. (2005): Studienbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn. S. 37
23
3.2.5 Anforderungen an Schultheorien:
-
Schultheorie soll systemorientiert sein: Komplexität der Schule erfassen, pädagogischen
Auftrag berücksichtigen.
Schultheorie soll problem- und praxisorientiert sein: Probleme der jeweiligen Schulrealität
erfassen/ erforschen; Orientierungshilfe für die Schulpraxis anbieten.
Schultheorie soll entscheidungsorientiert sein: Argumente bereit stellen, Revision und
Innovation voranbringen.
4. ZIELE IN DER ERZIEHUNG
4.1
DAS ERZIEHUNGSZIEL ALS WESENTLICHES MERKMAL JEDER ERZIEHUNG
ERZIEHUNG
STREBT EIN
ZIEL AN…
Wer erzieht, will Unzulänglichkeiten überwinden bzw. Erwünschtes erreichen. ErzieherInnen hegen bestimmte Erwartungen: sie finden Zu-Erziehende in einem
gewissen "Ist-Zustand" vor und wollen sie in einen "Soll-Zustand", den sie vor Augen
haben, überführen. Das setzt in jedem Falle eine Vorstellung vom Erstrebenswerten,
ein Erziehungsziel, voraus. Sobald ErzieherInnen auf Zu-Erziehende einwirken, wollen
sie etwas erreichen.
Zwischen den Verhaltensweisen eines Erziehers und den Zielen und Ergebnissen seiner
Erziehung besteht ein grundlegender Zusammenhang.
Soll die Erziehung beispielsweise demokratisches Verhalten erreichen, dann kann nicht mit
dem autoritären Erziehungsstil gearbeitet werden.
4.2 ERZIEHUNGSZIELE ALS ORIENTIERUNGSHILFE
ERZIEHUNGSZIELE Wenn Eltern und Erzieher gefragt werden, worauf es ihnen bei der Erziehung ankommt, so können
GEBEN
ERZIEHERN EINE
ZWEIFACHE
ORIENTIERUNG
FÜR IHR
ERZIEHERISCHES
HANDELN
sie daraufhin in zweierlei Hinsicht antworten:
"Mir kommt es, darauf an, dass meine Kinder selbständig und entscheidungsfreudig werden und im
späteren Leben gut mit sich selbst zurechtkommen."
In diesem Beispiel werden Vorstellungen angesprochen, wie sich der Zu-Erziehende
gegenwärtig und zukünftig verhalten soll. Das Ziel ist eine Orientierungshilfe
hinsichtlich des Soll-Zustandes des Zu-Erziehenden.
„Wenn ich will, dass meine Kinder im späteren Leben gut mit sich zurechtkommen, so muss ich
darauf achten, dass ich meinen Kindern viel Zuwendung gebe und ihnen einen Freiraum lasse, in
welchem sie selbständige Erfahrungen sammeln können.“
AUSSAGE ZUM
ERGEBNIS VON
ERZIEHUNG
Im zweiten Beispiel wird erwähnt, wie sich ErzieherInnen in der Erziehung verhalten
sollen. Das Ziel enthält hier eine Vorschrift für ErzieherInne und stellt eine
Orientierungshilfe hinsichtlich des erzieherischen Verhaltens dar.
Zugleich stellt jedes Ziel in der Erziehung eine Aussage über das Ergebnis der
Erziehung dar.
24
4.3 ERZIEHUNGSZIELE ALS SOZIALE WERT- UND NORMVORSTELLUNGEN
WERTE18 UND
NORMEN19
Bei Erziehungszielen handelt es sich immer um soziale Wert- und Normvorstellungen die in einer Gesellschaft bzw. in einer ihrer Gruppen aktuell sind. Eltern und
andere ErzieherInnen halten bestimmte Werte und Normen für sehr wichtig und
versuchen sie deshalb in der Erziehung zu verwirklichen.
Selbständigkeit, Entscheidungsfreudigkeit sind Wert- und Normvorstellungen, die in
unserer Gesellschaft als wichtig erachtet und deshalb in der Erziehung ausdrücklich
und bewusst gesetzt werden.
So stellen Verfassungen eine Bündelung der sozialen, ethischen und rechtlichen
Wertvorstellungen und Normen einer Gesellschaft dar.
In der Erziehungspraxis unterscheiden wir bei den sozialen Wert- und Normvorstellungen, solche, die in der Erziehung wirksam werden, und solche, die nicht in die
Erziehung einfließen.
WIRKSAM
WERDENDE
NORMEN
IN DER ERZIEHUNG
MITWIRKENDE
NORMEN
So zum Beispiel ist es sehr wahrscheinlich, dass Zu-Erziehende mit der Norm "beim Essen rülpst
man nicht" in der Erziehung konfrontiert werden, während sie mit dem Brauch des Fahnenschwingens in einem bestimmten Verein eher nicht in Berührung kommen.
Zum anderen unterscheiden wir bei den Normen, die in der Erziehung wirksam werden, solche, die unreflektiert, oft gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess
einfließen – wir nennen sie "in der Erziehung mitwirkende Normen" - und solche, die
ausdrücklich und bewusst in der Erziehung gesetzt werden.
So kann beispielsweise eine Frau ihrem Mann eine dominierende Stellung zuspielen und seinen
Entscheidungen ein größeres Gewicht beimessen als ihren eigenen. Diese Norm "Anerkennung der
Dominanz des Mannes gegenüber der Frau" kann gleichsam
unbemerkt, vielleicht gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess mit einfließen,
während die Norm „beim Essen rülpst man nicht“ bewusst und ausdrücklich in der
Erziehung gesetzt wird.
Solche in der Erziehung ausdrücklich und bewusst gesetzten Werte und
Normen bezeichnet Wolfgang KLAFKI (198620) als Erziehungsziele.
Erziehungsziele sind bewusst gesetzte Wert- und Normvorstellungen über das Ergebnis der
Erziehung die Auskunft darüber geben, wie sich der Zu-Erziehende gegenwärtig und zukünftig
verhalten soll und wie Eltern und andere Erzieher in der Erziehung handeln sollen.
WERTE sind Lebensinhalte, Handlungsziele, Sinndeutungen, die Individuen, eine Gruppe, eine Schicht, oder die ganze
Gesellschaft für erstrebenswert halten.
18
NORMEN sind: Regeln, Maßstäbe, die von einer Institution oder Gruppe zur Verhaltenssteuerung an ihre Mitglieder
herangetragen werden. Die Einhaltung der Normen ist verbindlich , wird sanktioniert oder belohnt.
Normen wollen Hilfen für verantwortliches Handeln bieten und die Gewissensentscheidung des Einzelnen erleichtern.
Normen ermöglichen erst ein geordnetes Zusammenleben der Menschen.
20 KLAFKI, W.; WOLF, W.; RÜCKRIEM G. M. (1986): Funk – Colleg Erziehungswissenschaft. Fischer Taschenbuch. S. 224
19
25
4.4 FAKTOREN UND WANDEL VON ERZIEHUNGSZIELEN
FAMILIALE
ERZIEHUNG
–
ORGANISIERTE
Wer setzt die Erziehungsziele fest?
Man könnte annehmen, dass sie in erster Linie von den Theoretikern oder
Praktikern der Erziehung formuliert und in der Erziehungspraxis
durchgesetzt werden. Das ist nur zum Teil und unter bestimmten
Bedingungen möglich.
ERZIEHUNG
Entscheidend ist, ob es sich um familiäre Erziehung oder um eine
organisierte Erziehungsinstitution handelt, in der BerufserzieherInnen
tätig sind, wie zum Beispiel den Kindergarten oder die Schule.
MITEINTSCHEIDEN
EINFLUSSNAHME
AUF DIE
ERZIEHUNG
RECHTE…
LEHRPLÄNE…
ORIENTIERUNGSHILFEN…
In der Familie legen die Eltern ihre Zielvorstellungen mehr oder weniger
bewusst selber fest. BerufserzieherInnen und vor allem
ErziehungswissenschaftlerInnen entwickeln zwar Leitvor-stellungen der
Erziehung, doch ihre Einflussmöglichkeit auf die Festlegung und
Durchsetzung von Erziehungszielen hängt davon ab, ob wieweit sie selbst
bloß ausführende Organe ihrer Institution bzw. deren Träger sind oder ob
sie mehr oder weniger Mitentscheidungsmöglichkeiten haben und diese
auch nutzen.
Es liegt letztlich an den Machtverhältnissen und an den
Einflussmöglichkeiten einzelner Gruppen in einem Staate, ob und in
welchem Maße TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Erziehung bei der
Setzung von Erziehungszielen - zum Beispiel bei Richtlinien oder
Lehrplänen für die Schulen, bei der Berufsausbildung oder im Jugendrecht Mitsprachemöglichkeit haben.
4.4.1 Instanzen, die Erziehungsziele festsetzen
Die Zielsetzungen für die Erziehung und die Durchsetzung von Erziehungszielen erfolgen durch die
Personen bzw. Personengruppen, die in einem Staat bzw. einer Gesellschaft den größten Einfluss auf
die Erziehung und Erziehungsinstitutionen haben.
Wolfgang KLAFKI (1986) führt dazu einige Beispiele aus:


Wirtschaftsinstanzen: Ziele der beruflichen Ausbildung werden in der Bundesrepublik
Deutschland vor allem durch die Interessenverbände und Selbstverwaltungseinrichtungen der
Wirtschaft wie die Industrie- und Handelskammern oder den Gewerkschaften formuliert und
durchgesetzt.
Politische Machthaber bzw. Regierungen eines Staates legen Erziehungsziele fest. So
entwickeln Herrscher und Diktatoren ihre eigenen Zielvorstellungen, und zwar solche, die ihren
persönlichen, politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Absichten entsprechen. In der
26
Bundesrepublik Deutschland werden beispielsweise durch einzelne Gesetze und Verordnungen
die Erziehungs- und Bildungsziele bestimmt.
 Politische Parteien nehmen in ihre Parteiprogramme bestimmte Vorstellungen von den
Zielen in der Erziehung auf.
 Kirchen und Verbände wie zum Beispiel Elternvereinigungen oder Träger von Erziehungsinstitutionen versuchen, ihre Vorstellungen von Erziehung durchzusetzen.
4.4.2 Faktoren, die Erziehungsziele beeinflussen
Eltern und ErzieherInnen - soweit sie diesbezüglich einen Freiraum haben – werden bei der Setzung
ihrer pädagogischen Ziele von bestimmten Umweltbedingungen und vor allem von ihren eigenen
Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst:

Soziokulturelle Faktoren:
- Eltern und ErzieherInnen orientieren sich bei ihrer Setzung von Erziehungszielen
grundsätzlich an den Wert- und Normvorstellungen der betreffenden Gesellschaft
bzw. einer ihrer Gruppen.
- Das Staatssystem ist sehr entscheidend:
- Trends, wie zum Beispiel die antiautoritäre Erziehung in den 70er Jahren
- Medien (Fernseher, Zeitschriften, Literatur usw.).

Ökonomische Faktoren:
- Die Wirtschaftsordnung einer Gesellschaft nimmt Einfluss auf die Setzung von Zielen
in der Erziehung.
- Auch wirtschaftliche Verhältnisse

Individuelle Faktoren:
- Die familiäre Situation:
- Bezugsgruppen besitzen oft eine große Macht hinsichtlich der Orientierung bei der
Verfolgung von bestimmten Erziehungszielen.
- Persönlichkeitsmerkmale der ErzieherInnen
 Arbeitsaufgabe: Die Liste der Faktoren ist nicht vollständig; es lassen sich noch weitere
Bedingungen finden, die Eltern und andere ErzieherInnen bei ihren Vorstellungen über das "Wohin" der
Erziehung beeinflussen. Decken Sie diese auf.
4.4.3 Der Wandel von Erziehungszielen
Wie die Geschichte der Pädagogik zeigt, wurden nach- und nebeneinander recht unterschiedliche
Erziehungsziele vertreten. Je nach dem jeweiligen Menschenbild und der Weltanschauung, je nach den
politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten und Interessen einer Gesellschaft, je
nach ihren aktuellen Wert- und Normvorstellungen wurden und werden im Laufe der Zeit
unterschiedliche Erziehungsziele formuliert.
„Während bis in die 60er Jahre hinein Vorstellungen wie Disziplin, Pflichterfüllung, Gehorsam, Leistung,
Ordnung usw. im Mittelpunkt standen, hat sich in den letzten Jahren so etwas wie ein Wertewandel und damit eine Veränderung der Erziehungsziele ergeben: Sogenannte 'Selbsterfahrungswerte' wie
27
Emanzipation, Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung, Kritikfähigkeit etc. werden betont.“
(Herbert GUDJONS, 199421)
Erziehungsziele können nur aus der jeweiligen historischen Struktur einer Gesellschaft und Kultur
verstanden werden.
Unterschiedliche Erziehungsziele zu ein und demselben Zeitpunkt ergeben sich aus den verschiedenen
Denk- und Einstellungsrichtungen innerhalb einer Gesellschaft. Dies ist vor allem in demokratischen
Systemen der Fall, die unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche Wert- und Normvorstellungen
zulassen. Deshalb kann es in einer demokratiefreundlichen Gesellschaft niemals nur das Ziel der
Erziehung geben, es herrscht immer eine Vielfalt von Erziehungszielen vor.
Der Wandel von Erziehungszielen ist bedingt durch:
 politische Interessen und Gegebenheiten,
 Weltanschauung und Menschenbild,
 kulturelle und soziale Gegebenheiten,
 ökonomische Gegebenheiten und Interessen,
 wissenschaftliche Erkenntnisse,
 Persönlichkeitsmerkmale des Erziehers, insbesondere seine Einstellungen und Haltungen.
4.5 FUNKTIONEN, PROBLEME UND BEGRÜNDUNG VON ERZIEHUNGSZIELEN
Oft wird ErzieherInnen vorgeworfen, dass sie in ihrer Erziehung ungerechtfertigt manipulieren würden.
Aus diesem Grund muss sich die Erziehungswissenschaft mit Erziehungszielen auseinandersetzen, ihre
Funktionen und die Probleme, die sich bei der Setzung von Erziehungszielen ergeben können,
aufzeigen und eine Begründung von Zielen in der Erziehung anstreben.
4.5.1 Funktionen von Erziehungszielen
Erziehungsziele dienen der Verwirklichung von Wert- und Normvorstellungen,
gesellschaftlichen Interessen.
aber auch von
So sollen Zu-Erziehende zum Beispiel in ihrem Leben die Wertvorstellungen Leistung, Verantwortlichkeit oder Anständigkeit
realisieren, was zugleich als Ziel der Erziehung angestrebt wird.
ZIELE ZUR
Erst wenn das „Wohin“ der Erziehung bekannt ist, wird es möglich sein,
ORGANISATION VON
geeignete und angemessene Mittel und Verfahrensweisen des Erziehens
ERZIEHUNG
anzuwenden. Bei einer reflektierten Erziehung werden immer die
Erziehungsziele das weitere Erziehungsgeschehen bestimmen.
Nur durch die Setzung von Zielen in der Erziehung wird eine Reflexion des
erzieherischen Verhaltens möglich. Vom Ziel her kann erzieherisches Handeln
auf seine Effektivität hin überprüft werden; praktisches Erziehungsgeschehen
wird so kontrollierbar. Erziehungsziele dienen somit auch der Verbesserung der
21
GUDJONS, Herbert. (1994). Handlungsorientiert lehren und lernen. 4. Bad Heilbrunn: Julius. Klinkhardt. S. 64.
28
ERZIEHUNG ALS
MOTIVATION ZUM
DIALOG
Erziehungspraxis: Aufgrund der Reflexion ist es möglich, angemessene
Konsequenzen für das weitere erzieherische Vorgehen zu ziehen und
angewandte Mittel und Verfahrensweisen zu korrigieren.
ERZIEHUNG ALS
ANSTOß ZU
REFORMEN
Erziehungsziele dienen der Verständigung und Kooperation zwischen
ErzieherInnen, und nicht zuletzt geben sie Anstoß für eine reflektierte und
verantwortungsbewusste Diskussion in der Öffentlichkeit über Erziehung. Ziele
in der Erziehung ermöglichen somit auch eine Planung sinnvoller Reformen.
4.6 PROBLEME PÄDAGOGISCHER ZIELSETZUNG
Obwohl Erziehungsziele wichtige Funktionen erfüllen, bringt die pädagogische Zielsetzung bestimmte
Probleme und Gefahren mit sich.


Ein Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft ist der Wert- und Normenpluralismus: Zu ein und demselben Sachverhalt gibt es verschiedene, gelegentlich auch
widersprüchliche Wert- und Normvorstellungen, Meinungen und Ansichten, gleichberechtigt
nebeneinander. Eltern und Erzieher wissen deshalb oft nicht, was „richtig“ und „falsch“ ist,
welche Erziehungsziele sie nun aus der Vielfalt für sich verbindlich machen sollen.
Oft kommt es bei der Anstrebung von bestimmten Erziehungszielen zu einem Normenkonflikt:
Zwei oder mehrere bewusst gesetzte Erziehungsziele stehen in Widerspruch zueinander.
So zum Beispiel lassen sich Ziele wie Durchsetzungsvermögen, die Verwirklichung persönlicher Interessen oder das Streben
nach Individualität schwer mit Vorstellungen wie Hilfsbereitschaf oder Achtung vor Bedürfnissen anderer vereinbaren.
Zu einem Normenkonflikt kann es auch kommen, wenn sich bewusst angestrebte Erziehungsziele mit
den in der Erziehung unreflektiert mitwirkenden Normen widersprechen.
Ein Elternpaar lässt sich zum Beispiel stark beeinflussen von dem, was momentan "in" ist. Diese Norm fließt gleichsam
unbemerkt, vielleicht gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess mit ein und steht im Widerspruch zu dem Erziehungsziel
"Kritikfähigkeit", das die Eltern bewusst verfolgen wollen.
„Es
ist wichtig festzuhalten, dass in allen diesen Fällen zunächst völlig offen ist, ob die unbewusst mitwirkenden
Normen oder die speziellen Erziehungsziele in der Praxis auf Kinder und junge Menschen die größere und
dauerhaftere Wirkung ... haben." (Wolfgang KLAFKI u.a., 1986) .

Erziehungsziele können völlig unrealistisch und an unerreichbaren Idealen ausgerichtet sein.
Das Streben nach Perfektion des Menschen beispielsweise kann zu einer fortwährenden Überforderung und einem
chronisch schlechten Gewissen führen und verhängnisvolle Schuldgefühle und Neurosen des Zu-Erziehenden bewirken
29

Die Setzung von Zielen in der Erziehung kann die Zukunftsoffenheit verbauen: Kinder und
Jugendliche werden für morgen erzogen; in der Erziehung können aber meist nur Ziele verfolgt
werden, die für heute wichtig sind, weil die Zukunft nicht weggenommen werden kann.
Die Offenheit für neue Situationen und Herausforderungen wird vor allem dort behindert, wo
Erziehungsziele ausschließlich traditionell orientiert und auf Anpassung ausgerichtet sind oder starr
festgelegt werden, wie dies häufig bei organisierten Erziehungsinstitutionen, wie der Schule, der Fall ist.
Dadurch kann es zur Verfestigung des Herkömmlichen und zur Beeinträchtigung der
Umstellungsfähigkeit und -bereitschaft kommen (vgl. Erich Weber, 1987).

Ziele der Erziehung sind oft Leitbilder weltanschaulicher Manipulation: Eltern und
ErzieherInnen missverstehen Erziehung oft als Menschenformung nach einem festgesetzten
Menschenbild. Hier gelten Erziehungsziele als Zweck, zu deren Erfüllung die nachwachsende
Generation nur Mittel ist. Dadurch werden aber Selbstbestimmung und freie Entfaltung der
Persönlichkeit be-, wenn nicht gar verhindert.
"Der Mensch soll nicht zu etwas gemacht werden, was der Erzieher sich vorstellt, sondern er soll die
Aufgaben und Realitäten der Welt der Instanz des mündigen Bewusstseins vorführen; damit geht der
Erzieher jederzeit das Risiko ein, dass das von ihm Vorgetragene von dieser Instanz abgelehnt wird."
(Hermann Giesecke, 1991)
 Politik zum Beispiel hat Partei ergriffen, und bestimmte Gruppen versuchen, ihre eigenen Vorstellungen über
das, was politisch als "richtig" zu gelten hat, durchzusetzen, für die auch die nachwachsende Generation
gewonnen werden soll. Junge Menschen werden aber damit zum Mittel, die dem Zweck der Realisierung eines
bestimmten politischen Programms zu dienen haben. Erziehung muss zwar zu einer selbst bestimmten und
verantwortlichen Wahrnehmung von politischen Pflichten und Rechten befähigen; es darf aber nicht ihre Aufgabe
sein, spezifische politische Programme einzelner Parteien oder Gruppen durchzusetzen, für die die
nachwachsende Generation lediglich Mittel zum Zweck ist (vgl. Erich Weber, 1987).

Die Gesellschaft oder bestimmte Menschengruppen können ihre eigenen Interessen mehr oder
weniger bewusst hinter Erziehungszielen, die sie zu formulieren und durchzusetzen versuchen,
verbergen, um bei anderen Menschen - auch beim Erzieher oder bei dem Zu-Erziehenden
selbst - ein falsches Bewusstsein zu erzeugen. Im Extremfall können pädagogische
Zielsetzungen zur ganz bewussten Verschleierung eigener Machtansprüche benutzt werden.
So zum Beispiel kann in dem proklamierten Ziel "Erziehung zur Friedfertigkeit" das Interesse einer bestimmten Gruppe
versteckt sein, sich eine bestimmte Verteilung von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht zu sichern, in den ZuErziehenden eine Abwehrhaltung gegen Aufmucken und Widerstand aufzubauen und aus Friedfertigkeit heraus alles
hinnehmen und schlucken zu lernen.

Eine weitere Möglichkeit zur Verschleierung und Durchsetzung von bestimmten Interessen ist die
Umdefinierung von bereits bekannten Erziehungszielen.
So wurde der Begriff "Emanzipation" beispielsweise von neomarxistischen Sozialtheoretikern und Pädagogen der
sogenannten "Neuen Linken" mit einem anderen Inhalt belegt als dieser ursprünglich zum Ausdruck bringen wollte, um damit
eine leichtere Manipulation zu ermöglichen.
30
Erziehungsziele
Funktionen





Problemfelder
Verwirklichung von Wert- und
Normvorstellungen
Verwirklichung von gesellschaftlichen
Interessen
Organisation der Erziehung
Reflexion des erzieherischen Verhaltens
Planung von notwendigen Reformen

Unsicherheit durch Werte- und Normenpluralismus

Normenkonflikt

unrealistische und unerreichbare Ideale
Verbauung der Zukunftsoffenheit


Leitbilder weltanschaulicher Manipulation
Erzeugung falschen Bewusstseins,
Verschleierung von Macht- und
Interessenansprüchen
4.7 BEGRÜNDUNG VON ERZIEHUNGSZIELEN
Die Erziehungswissenschaft muss sich mit pädagogischen Zielen auseinandersetzen. Da es sich bei
Erziehungszielen um normative Verhaltenserwartungen handelt, ist das „Beweisen“ der "Richtigkeit"
bzw. "Falschheit" von pädagogischen Zielen nicht möglich. Die Erziehungswissenschaft strebt deshalb
eine "Rechtfertigung" im Sinne einer Begründung von Erziehungszielen an. Diese kann aus
verschiedener Sicht erfolgen:
4.7.1 Anthropologische Begründung
Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen bilden die Aussagen über das Wesen des
Menschen, wie sie in Kapitel 2 dargestellt sind. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt gelten,
wenn sie dem Wesen und der Würde des Menschen entsprechen.
Erziehungsziele müssen sich am Wesen des Menschen orientieren!
4.7.2 Normative Begründung
Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen sind die für das gesellschaftliche
Zusammenleben notwendigen Werte und Normen. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt
gelten, wenn sie ein geregeltes Zusammenleben ermöglichen.
Erziehungsziele müssen sich an den für das Zusammenleben notwendigen
Werten und Normen orientieren!
4.7.3 Pragmatische22 Begründung
Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen sind gegenwärtige und zukünftige Aufgaben
und Probleme, die zu bewältigen sind. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt gelten, wenn
durch sie wichtige Kompetenzen erworben werden, die zur Lösung von Aufgaben und Problemen
unserer Gesellschaft bzw. Kultur notwendig sind.
.
Erziehungsziele müssen sich an den anstehenden Aufgaben und Problemen der Zeit orientieren!
22
Pragmatisch heißt „auf das Handeln bezogen“, „der Praxis dienen“
31
4.8 DIE PÄDAGOGISCHE MÜNDIGKEIT ALS LEITVORSTELLUNG IN DER PÄDAGOGIK
Die wissenschaftliche Pädagogik kann keine allgemeingültigen, konkreten Aussagen tätigen, was und
wie der Mensch werden soll; sie kann lediglich übergreifende Erziehungsziele im Sinne eines Leitzieles
formulieren, das jedoch mit konkreten Inhalten ergänzt werden muss. Ein solches übergreifendes
Leitziel ist die pädagogische Mündigkeit.
4.8.1 Der Begriff „Pädagogische Mündigkeit“
Mündigkeit ist ursprünglich ein Rechtsbegriff und meint (im rechtlichen Sinne) die Berechtigung, seine
eigenen Interessen selbst wahrnehmen, verbindliche Rechtsgeschäfte abschließen und politische
Bürgerrechte entsprechend der jeweiligen Rechtsordnung ausüben zu können (vgl. Erich Weber, 1987).
Der pädagogische Begriff der Mündigkeit bedeutet nach Heinrich Roth "Kompetenz23 im
dreifachen Sinn":
Sozial-Kompetenz ist "... die Fähigkeit zur partnerschaftlichen Begegnung mit anderen
Menschen, zur produktiven Teilnahme an Gruppenprozessen und zur aktiven
Auseinandersetzung mit den Hintergründen und aktuellen Prozessen der gesellschaftlichen
Entwicklungen."
 Selbst-Kompetenz ist "... die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zu erfahren, über sich
selbst zu bestimmen und sein Leben auf der Basis allgemein-menschlicher ... Verbindlichkeiten
selbst zu gestalten."
 Sach-Kompetenz ist die Fähigkeit, "... in Ausbildung, Beruf, öffentlichem und privatem Bereich
die Sachgüterwelt kooperativ und verantwortlich so zu gebrauchen oder zu verändern, dass sie
der gesamten Menschheit nutzbar gemacht und dennoch ihrer eigenen Strukturen und
Gesetzmäßigkeiten nicht beraubt wird."
(Paul Hastenteufel, 198024)

Mündigkeit als pädagogische Zielvorstellung bedeutet die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen,
das soziale Leben zu bewältigen, sein eigenes Leben autonom zu gestalten und für sich selbst
verantwortlich zu sein sowie mit der Sachwelt zurechtzukommen und in dieser angemessenen zu
urteilen und zu handeln.
23
24
Kompetenz bedeutet soviel wie Zuständigkeit, Befugnis
HASTENTEUFEL, Paul (1980): Lernen, Lehren, Leben. Baltmannsweiler. S. 67-82
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