1. ERZIEHUNG - BILDUNG - PÄDAGOGIK Bildung und Erziehung als Aufgabe der Schule… Der gesetzlich vorgegebene Erziehungsauftrag der Schule umfasst nicht nur die Vermittlung von Wissen, Kenntnissen, und Fertigkeiten, sondern auch emotionales Wachstum, soziale Einstellungen, verantwortliche Verhaltensweisen und Selbstverpflichtung. 1.1 WAS IST PÄDAGOGIK? Ursprünglich und im vorwissenschaftlichen Verständnis (von griechisch "país" = Kind und "ágo" = ich führe, leite) die theoretische und praktische Beschäftigung mit Fragen der "Kindererziehung". GLIEDERUNG DER PÄDAGOGIK: SIEHE ANHANG WISSENSCHAFTSKONZEPTIONEN IN DER PÄDAGOGIK Heute werden "pädagogisch" und "Pädagogik" auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als allgemeine Sammelbezeichnungen auf Erziehung und auch Ausbildung verschiedenster Personengruppen angewandt (z. B. "Behindertenpädagogik", "Erwachsenenpädagogik"). "Pädagogik" umreißt (eher unscharf) jenes wissenschaftliche Arbeitsgebiet, auf dem man sich vor allem mit Fragen der Entwicklung und Begründung von Zielen der Erziehung und Ausbildung (bzw. des Unterrichts) befasst. Es lassen sich drei Grundkonzeptionen bzw. Wissenschaftskonzeptionen unterscheiden, die den drei historisch gesehen bedeutsamsten und einflussreichsten Strömungen der Erziehungswissenschaft entsprechen: - die geisteswissenschaftliche Pädagogik mit hermeneutischem Ansatz - die Empirische Erziehungswissenschaft mit empirisch-analytischem Ansatz - die Kritische Erziehungswissenschaft. Ein weiteres Feld der Pädagogik ist die kritische Auseinandersetzung mit den ihr zugrunde liegenden Wertvorstellungen. Pädagogische Zielvorstellungen beruhen auf obersten Werten und von ihnen abgeleiteten Normen, sodass auch gerade deshalb deren allgemeine – kulturübergreifende Geltung umstritten ist. Pädagogik charakterisiert sich auch durch eine Vielfalt von wissenschaftlichen Zugängen. Es gibt Zugänge verstehender und erklärender Art, aber auch Beiträge von angrenzenden Disziplinen wie Soziologie und Psychologie (Pädagogische Soziologie, Pädagogische Psychologie, Erziehungssoziologie). "MÜNDIGKEIT" BZW. "SELBSTÄNDIGKEIT" ALS LEITZIEL Inhaltlich hat die Pädagogik über lange Zeit die Schule als Bildungseinrichtung und Raum für Lehren und Lernen fokusiert. Diese Orientierung hat sich durch die Ausweitung der Lernräume und Lernzeiten wesentlich verändert. Wenn hier zwischen naturwissenschaftlichen, geistesund sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen getrennt wird, so darf diese Grenze nicht absolut gesehen werden. 1 UNTERZIELE VON ERZIEHUNG AUF DEM WEG ZUR MÜNDIGKEIT KÖNNEN Z. B. SEIN: 1.2 Die / der zu Erziehende soll zur selbständigen Bewältigung der Anforderungen seines/ihres Lebens hingeführt werden. Wenn diese erreicht wird, ist daher ein Erziehungsprozess abgeschlossen, und die erzieherische Beziehung löst sich auf; jedoch kann die "normale" zwischenmenschliche Beziehung zwischen den Beteiligten aufrecht bleiben! Unterziele: Prävention (vorbeugendes Verhindern unerwünschten Verhaltens) - Intervention (Eingriffe zur Aufrechterhaltung oder Herbeiführung erwünschten Verhaltens) - Rehabilitation (Wiederherstellen von Fähigkeiten und Fertigkeiten des Educandus) Konfliktverarbeitung (z. B. Neubestimmung von Zielen und Wertvorstellungen - ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT DEFINITION VON ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT Erziehungswissenschaft als Theorie der Erziehungswirklichkeit ist als Wissenschaft nur möglich, wenn sie den vorgegebenen erzieherischen Lebens-, Wirk- und Handlungsrahmen im Hinblick auf ihre Zusammenhänge und Strukturen methodisch klar vergegenwärtigen kann. Es lassen sich in der Hauptsache vier methodische Ansätze erkennen (Methode verstanden als Verfahrensweise in einem bestimmten Bereich): 1. die hermeneutische1 Methode (des Sich-Einfühlens und Verstehens, Erklärens, Deutens) 2. die dialektische Methode (der vermittelnden Konfrontation unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und Aussageweisen) 3. die phänomenologische Methode (der phänomenologischen Schau der Wesenszusammenhänge) 4. die empirische Methode (der konkret auslotenden Auseinandersetzung mit den erzieherischen Wirkungszusammenhängen) Die ersten drei werden meist unter dem Begriff "geisteswissenschaftliche" Forschungsmethoden zusammengefasst. Hermeneutik ist Methode des Auslegens und Deutens von sprachlichen, bildlichen und akustischen Aussagen; erkenntnistheoretische Grundlage der Geisteswissenschaften. In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik liefert die Hermeneutik über Interpretation historischer Dokumente und die Deutung der Erziehungs- und Lebenswirklichkeit Leitlinien für pädagogisches Handeln. 1 2 1.3 DEFINITION UND AUFGABEN VON ERZIEHUNG DEFINITION VON ERZIEHUNG Im allgemeinen versteht man unter Erziehung soziales Handeln, welches bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will, um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens, die bestimmten Erziehungszielen entsprechen, zu erreichen. Erziehung und erziehen (lt.Duden von ahd. irziohan = herausziehen) bedeutet, jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern. Allerdings ist dieser Erziehungsbegriff hierarchisch definiert, indem beteiligte Personen ErzieherInnen und Zöglinge sind. Deshalb wird der Begriff der Erziehung gern um die selbstorganisierten Lernprozesse erweitert, man versteht Erziehung dann als spezifische Lernprozesse. Des Weiteren heißt Erziehung auch Sozialisationshilfe, Enkulturationshilfe2 und dient dem Aufbau der Persönlichkeit und der Ausbildung eines Individuums. Perspektive der modernen (westlichen) Erziehung ist die eigenständig handelnde und emanzipierte Person. VERSCHIEDENE DEFINITIONEN VON ERZIEHEN… VERSCHIEDENE DEFINITIONEN VON ERZIEHEN… (1) Erziehung ist an eine Hierarchie gebunden: "Erziehung ist ... dasjenige Handeln, in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen (Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maßnahmen ( Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung ( Erziehungswirkungen) zur eigenen Lebensführung verhelfen, und zwar so, dass die Jüngeren das Handeln der Älteren als notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein erfahren, kritisch zu beurteilen und selbst fortzuführen lernen" (BOKELMANN, in SPECK & WEHLE 1970, Bd. II, S. 185). (2) "Als Erziehung werden soziale Handlungen bezeichnet, durch die Menschen ... versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten (BREZINKA 1974,S. 98). (3) "Erziehung heißen wir zwischenmenschliche Einwirkungen ... insoweit, als durch sie eine mehr oder minder dauernde Verbesserung fremden oder eigenen Handelns beabsichtigt oder erreicht wird (DOLCH 1969, 106ff.). (4) Merkmale des "pädagogischen Verhältnisses" (KLAFKI) bzw. des "pädagogischen Bezuges" (NOHL): 2 3 4 2 positiv getönte gefühlsmäßige Bindung zwischen älterem und jüngerem Menschen Wechselwirkungsverhältnis zwischen den Beteiligten (auch Rückwirkung auf Educans) Unmöglichkeit des Erzwingens bzw. Verbot der Täuschung oder Manipulation Enkulturation bedeutet das Hineinwachsen in eine Kultur 3 PÄDAGOGISCHE BEZÜGE 5 6 7 (speziell durch den Älteren) Aufrechterhaltung der Beziehung im Interesse des jüngeren Menschen und seiner jeweiligen Lebenssituation Notwendigkeit des Eingehens auf die gegenwärtigen Voraussetzungen und zukünftigen Möglichkeiten des Jüngeren (nicht nur blinde Übernahme von Traditionen) Ausrichtung auf Mündigkeit des Jüngeren und Auflösung der Beziehung (sonst Gefahr der Lebensuntüchtigkeit durch "Overprotection")3 Zur Definition von Erziehung: AUSEINANDERSETZUNG MIT DER DEFINITION 1. Bei Erziehung handelt es sich um ein "Verhältnis zwischen" "heranwachsender" und "erwachsener" Generation; es besteht also ein Verhältnis zwischen solchen, die Hilfe benötigen und solchen, die diese geben können; man spricht hierbei von "pädagogischem Gefälle", das jedoch kein unterdrückendes Herrschaftsverhältnis ist, sondern sich vielmehr durch Verantwortung legitimiert. 2. Erziehung soll "planmäßige Führung" sein; sie geschieht also nicht zufällig, nebenbei und nur durch die "Umstände"; sie wird vielmehr bewusst und verantwortlich übernommen. Dabei beruht "Führung" auf einem personalen Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und Zögling(en), wobei nicht gegängelt wird, sondern alles auf die vertrauende und (später) auch einsichtige 3. Zustimmung des Zöglings ankommt. Es handelt sich um "Auseinandersetzung" mit der überkommenen Kultur, nicht um ein bloßes Übernehmen und Reproduzieren von Kultur, die von äußerlichen Verhaltensweisen über Sprache, Fertigkeiten, Wissenschaft usw. bis zu Grundüberzeugung reicht." 1.4 GRUNDLAGEN VON ERZIEHUNG ERZIEHUNG IST... 1. nach dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht." 2. die mehr oder weniger zielgerichtete Etablierung erwünschter Verhaltensweisen, Werte und Normen bei Kindern und Jugendlichen und damit verbunden auch das Setzen von Grenzen. Ziel der Erziehung ist es, ihnen ihren Platz in sozialen Gruppen wie zum Beispiel der Familie zuzuweisen, und später, sie an das Leben und Überleben in der Gesellschaft anzupassen. Entscheidend ist, dass Erziehung immer nur im sozialen Kontext - also durch andere Individuen - stattfinden kann, und anders als Bildung ausschließlich für die Orientierung im sozialen Umfeld nützlich ist. Bei Erwachsenen wird der Begriff Erziehung im Allgemeinen nicht mehr als Prozess verstanden, da man davon ausgehen sollte, dass die Entwicklung des 3 Aus: DANNER, Helmut 1998 - Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik, S. 26-27: 4 Erwachsenen in großen Teilen abgeschlossen ist. Man verwendet hier den Begriff Erwachsenenbildung, wenn man von Weiter- und Fortbildung spricht. 3. die eigene Erziehung, also die Verhaltensweisen, Werte und Normen, die uns Eltern, Verwandte, Schule und andere pädagogische Einrichtungen als Prägung auf den Weg ins Erwachsenenleben mitgegeben haben. 4. Die Selbsterziehung, bei der man sich selbst zu etwas erzieht, bei der also dieselbe Person ErzieherIn und Zögling zugleich ist. Manchmal besteht die Selbsterziehung auch in bewusster Abkehr vom bisherigen Weg - siehe z. B. Umkehr oder Wende. 5. Die Ausbildung spezieller Fähigkeiten z. B. in musikalische Erziehung, sportliche Erziehung, Verkehrserziehung. 6. Das Heranziehen von Tieren zu einem erwünschten Verhalten (siehe auch Dressur) oder von Nutzpflanzen zu einem günstigen Wuchs. 7. Erziehung als (unmittelbare) Reaktion von Eltern und Gesellschaft auf die Tatsachen, dass ein Individuum sich entwickelt und dafür Hilfe benötigt. Erziehungsbedürftigkeit GRUNDTATBESTÄNDE Sie ist z. B. damit zu begründen, dass der Mensch relativ zu anderen Primaten BZW. ANNAHMEN eine "physiologische Frühgeburt" ist. Um sein Überleben zu sichern, muss er JEDER ERZIEHUNG unterstützt bzw. beeinflusst werden. Der Mensch wird somit als Zögling zum SIND… Objekt eines anderen Menschen. Dieser ist (notwendigerweise) mehr oder minder erfahrener, mächtiger, usw. als der Zögling. Jede erzieherische Beziehung ist damit in bestimmter Hinsicht "ungleich". Erziehungsfähigkeit Sie umfasst die persönlichen Voraussetzungen von Lernenden, damit sie ihrer Verhaltensweisen und Einstellungen erfolgreich bzw. dauerhaft ändern können (z. B. Lernfähigkeit). Erziehungsfähigkeit enthält aber auch Möglichkeiten zu selbstbestimmten Veränderungen, also den Zögling als Subjekt. Mit Lernfähigkeit und Erziehbarkeit (Erziehungsfähigkeit) des Menschen wird 'die Möglichkeit 'des Lernens und der Erziehung’ angesprochen, Lern- und Erziehungsbedürftigkeit meint die Notwendigkeit des Lernens und der Erziehung. Die Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie die Lern- und Erziehungsbedürftigkeit des Menschen werden Teilgebiet der Anthropologie4, der pädagogischen Anthropologie' , untersucht. 7.1 Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen und seiner Entstehung: sie untersucht das Wesen Mensch in seinen Eigenarten und seiner besonderen Stellung in der Natur und der Geschichte. 4 5 1.5 ZUM BILDUNGSBEGRIFF BILDUNGSBEGRIFF Dass es in der Schule um Bildung geht, ist unbestritten. Sie verleiht Bildungsabschlüsse und setzt Bildungsstandards. Bildung im Mittelalter war Voraussetzung und Ziel der Gottebenbildlichkeit. Im 17. und 18. Jhdt änderte sich die Situation: Es tritt Bildung zur alergebrachten Begriff „Erziehung“ dazu und nimmt im Sinne der Aufklärung die Aufforderung nach Kritikfähigkeit und Verantwortung auf. Die Philantropen nutzen als Bildungsideal den vernunftbestimmten handelnden, brauchbaren und glücklichen Menschen Antwort war: die Gründungen von berufsbildenden Schulen Im Neuhumanismus wird Bildung dann als Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden (Formale Bildung), die vor allem durch Selbstgestaltung realisiert werden soll. Im Idealismus gilt Bildung als Selbstverwirklichung des Menschen durch die Beschäftigung mit den Manifestationen des objektiven Geistes. Im Materialismus soll Bildung dazu verhelfen, sich über die Arbeit im historisch-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang zu verwirklichen. In den 80iger und 90iger Jahren (Postmoderne) verkam Bildung zu einer Leerformel NEUAUSRICHTUNG IN DEN 50IGER JAHREN Neuausrichtung der Bildung erfolgte durch die Bildungstheoretische Didaktik (W. KLAFKI) im Sinne der Erschließung von Mensch und Umwelt. Heute existieren 2 Strömungen nebeneinander: 1. Trivialvorstellung von Bildung:: „ Bildung als Lernergebnis allgemein“ 2. Geisteswissenschaftliche Bildungstheorie: „Bildung ist ein ganzheitlicher Prozess der Ichwerdung, bei dem das Ich in aktiver, selbstgestaltender Auseinandersetzung die anderen und die Welt aneignet und sich selbst dadurch entwickelt. Bildung entwirft einen unbewussten Lebensplan und versucht, ihn im Lebenslauf mit allen emotionalen, sinnlichen, körperlichen und geistigen Kräften zu verwirklichen“5 Bildung ist ein komplexer mehrdeutiger Begriff in der Schulpädagogik und beinhaltet die folgenden Aspekte: - Bildung als Vorgang und - Bildung als Ergebnis 5 - Bildung als Selbstbildung und Bildung als Fremdbildung - Bildung als regulative Idee für Schulen und Bildungseinrichtungen und Macha, H (2001): Bildung. In: Wiater, W. (Hg)Kompetenzerwerb in der Schule von morgen. S. 201 6 - Bildung als trivialisierender, funktionalistischer Ausdruck - Formale Bildung als Entwicklung und Formung der inneren Kräfte und Befähigungen im Sinne von Schlüsselqualifikationen und Materiale Bildung als Aufnahme und Verfügen über klassische, kulturell wertvolle und bedeutsame Wissensinhalte - Kategoriale Bildung als Integration formaler mit materialer Bildung im Sinne einer doppelseitigen Erschließung und Bildung als lebenslanger Prozess einer biografisch und durch Erziehung und Umwelt geprägten Selbstgestaltung mittels Sachbildung mittels Selbstbildung, sowie mittels sozialer Bildung. Der moderne Bildungsbegriff – wenn er nicht als Leerformel abgetan werden soll – braucht zentrale Bestimmungselemente: - sachgerechtes Weltverstehen - individual-soziales Selbstverstehen und Fremdverstehen - verantwortliche Mitgestaltung mithilfe - kritischer Vernunft und auf der - Basis freier und solidarischer Selbstverwirklichung Wissen macht also nicht Bildung aus, schon gar nicht Fach- oder Spezialwissen. Es muss vielmehr eine grundlegende Kenntnis aller wichtigen Bereiche der heutigen Lebenswirklichkeit vorhanden sein, ergänzt um die Fähigkeiten zum eigenen Wissensmanagement und um die Offenheit gegenüber neuen Fragestellungen und kulturell anderen Positionsrahmen. Haltungen erwachsen aus den kritischen Beschäftigungen mit der Lebenswirklichkeit und den Anforderungen, die sich daraus ergeben – sie werden als Einstellungen handlungsrelevant. Verhalten ist die Außenseite der Bildung. Wissen und Haltungen bedürfen den Ausdruck des praktischen Handelns. 2. ERKENNTNISSE ZUR ERZIEHUNGSBEDÜRFTIGKEIT UND ERZIEHBARKEIT VON MENSCHEN Naturwissenschaftliche Positionen zur Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie zur Lernbedürftigkeit des Menschen heben vor allem den Unterschied zwischen Tier und Mensch hervor. 2.1 BIOLOGISCHE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN MENSCH UND TIER Der Mensch unterscheidet sich vom Tier vor allem durch folgende Merkmale: - aufrechte Körperhaltung - Fähigkeit zu planen und planend zu antizipieren - Wortsprache - Umweltbeherrschung - Denkvermögen - Extreme Lernfähigkeit 7 Damit nimmt der Mensch eine Sonderstellung ein, die aus biologischer Sicht zweifach begründet werden kann (vgl. Kurt GÖRTTLER6,): 1. Anordnung und Gestaltung von Schädel, Kehlkopf, Wirbelsäule, Hand und Fuß ermöglichen dem Menschen vielseitige Raumorientierung und mannigfaltige Verwendung von Organen. So kann der Mensch zum Beispiel im Gegensatz zum Tier seine Hand vielseitig verwenden. 2. Die spezielle Beschaffenheit der menschlichen Großhirnrinde lässt die Ausbildung höherer Funktionen wie Gedanken, Vorstellungen, Wortsprache, Planen u.ä. zu. Die besondere Hirnstruktur gibt dem Menschen die Möglichkeit, nicht nur biologische Unzulänglichkeiten auszugleichen („Entlastung“ nach GEHLEN, A., 19867), sondern eine einzigartige Sonderstellung gegenüber dem Tier einzunehmen. 2.1.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit des Lernens und der Erziehung: Die besondere Hirnstruktur macht den Menschen extrem lernfähig und erziehbar. Die Funktionen des Gehirns sind in ihrer Entfaltung auf Anregung und Lernhilfe seitens der Umwelt angewiesen, was den Menschen in hohem Maße lern- und erziehungsbedürftig macht. Verhaltensweisen wie aufrechter Gang, Wortsprache, Denkvermögen, die Fähigkeit geplant zu handeln oder Umweltbeherrschung vermag der Mensch nicht „von Natur aus“ zu vollbringen, sondern er muss sie durch Erziehung erlernen. 2.2 DER MENSCH, EIN WESEN OHNE AUSREICHENDE INSTINKTE8 Die Lebensweise der Tiere wird weitgehend durch bestimmte Steuerungsmechanismen der Natur, durch Instinkte geregelt. Instinkte dienender Selbst- und Arterhaltung. Beispiele für Instinkte sind Nahrungsaufnahme, Sexualverhalten, Brutpflege, Nestbau, Aufzucht, Nestbau. Dass die Lebensweise der Tiere durch Instinkte geregelt wird, darf nicht absolut gesehen werden, wir finden bei den "höheren" Tieren neben Instinkten auch erlernte Verhaltensweisen vor. In der Umgangssprache wird der Begriff "Instinkt" mehrdeutig gebraucht; oft wird gesagt, der Mensch handelt "instinktiv" und man meint damit so etwas wie eine unbewusste Ahnung, die automatisch zu einem richtigen Verhalten führt. Aus anthropologischer Sicht ist diese Ansicht jedoch nicht brauchbar. Beim Menschen sind nur noch Instinktreste vorhanden, auf die er sich nicht verlassen kann/ darf. Diese wenigen Instinktreste reichen zur Regulierung der menschlichen Lebensweise nicht aus, sie können ihm nicht helfen, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. „Dem Menschen sind … keine festgelegten Triebziele angeboren; er bringt keine festgelegten Werthaltungen und WelteinsteIlungen mit auf die Welt.“ (Heinrich ROTH, Band 1, 1984) Der niederländische Zoologe Nikolaas TINBERGEN (1907 - 1988) bezeichnet den Menschen deshalb als ein instinktreduziertes Wesen. 6 7 in: H.-G. GADAMER/P. VOGLER (Hg.) (2000): Neue Anthropologie, Bd.7, 330-342. GEHLEN, Arnold (1986): Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek, S. 23. 43. Instinkte sind ererbte Verhaltensweisen, die durch entsprechende Reize, sogenannte Schlüsselreize, ausgelöst werden und stets gleichförmig und automatisch ablaufen. 8 8 Wo sind denn bloß meine Instinkte hingekommen? DER MENSCH WELTOFFENES WESEN… EIN Die Instinktarmut des Menschen bildet die Voraussetzung für die Befreiung des Menschen vom Zwang der Natur. Sie gibt ihm die Freiheit, zwischen mehreren Verhaltensweisen zu wählen, überlegte Entscheidungen zu treffen und produktive Lösungen zu finden. Während das Tier in seine Umwelt eingebettet, "eingebunden" ist und nur jeweils sein eingegrenztes Lebensfeld hat, das für es notwendig ist, kann der Mensch die Welt als Ganzes erfassen; er ist "nicht nur auf Anpassung, sondern auf Veränderung, auf aktive Gestaltung der Umwelt eingestellt und ausgerichtet“ (Heinrich ROTH, Band 1, 1984). Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung: Die Armut an Instinkten ermöglicht die enorme Lernfähigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Wäre menschliches Verhalten durch Instinkte festgelegt, dann wäre Erziehung gar nicht möglich. . Weil die menschliche Lebensweise instinktiv nicht zureichend geregelt wird, ist der Mensch auf Lernen und Erziehung angewiesen; er muss die zum Leben und Überleben notwendigen Verhaltensweisen, die die Natur nur unzureichend hervorgebracht hat, im Laufe seines Lebens erst erlernen. . In der Weltoffenheit des Menschen liegt einerseits seine Lern- und Erziehungsfähigkeit begründet, andererseits muss er das Leben in der Welt und die aktive Gestaltung seiner Umwelt durch Erziehung erst erlernen. 9 2.3 DER MENSCH, EIN BIOLOGISCH MANGELHAFTES WESEN Im Vergleich mit den Tieren ist der Mensch aus biologischer Sicht recht mangelhaft ausgestattet. Der Philosoph und Soziologe Arnold GEHLEN (1904-1976) bezeichnet den Menschen deshalb als unspezialisiertes biologisches Mängelwesen: Der Mensch ist organisch unspezialisiert und unfertig: er ist "ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den „Spezialisten“ im Tierreich weit übertroffen“ (Arnold GEHLEN, 19749). Ebenso sind einzelne Organe des Menschen „unterentwickelt“, wie zum Beispiel der Bau seiner Hand, die sich nicht zu Spezialleistungen (Greif-, Krallen- oder Schaufelhände) eignet. Der Mensch ist, wie bereits in Abschnitt 3.1. dargestellt, instinktreduziert, was auch die Ursache dafür ist, dass die menschlichen Antriebskräfte, wie zum, Beispiel die Sexualität, nicht auf bestimmte, natürlich fixierte Ziele ausgerichtet und im Überschuss vorhanden sind. Tiere werden als Spezialisten geboren, Menschen sind zum "Mängelwesen" erkoren. DIE ORGANISCHE UNSPEZIALISIERTHEIT des Menschen, wie beispielsweise die vielseitige Verwendung seiner Hände, seine Unfertigkeit und Instinktreduziertheit befähigen ihn zum ZIELBEWUSSTEN und GEPLANTEN Handeln. „Das unfertige Wesen Mensch, das im Gegensatz zum Tier nicht durch Instinkte und Verhaltensketten festgelegt ist, kompensiert seine Mängel durch Handlung. Sieht man die Mängelausstattung des Menschen an, so ist es leicht einzusehen; er muss erkennen, um tätig zu sein, und muss tätig sein, um morgen leben zu können.“ 10 (Arnold Gehlen, 1986) Diese Möglichkeit zum Handeln ist dem Menschen durch die Struktur seines Großhirns gegeben. Intellektuelle Fähigkeiten erlauben ihm planendes, schöpferisches Handeln, wodurch er imstande ist, seine biologischen Mängel auszugleichen. Er gestaltet die Natur so um, dass er in ihr leben und überleben kann. Und die vom Menschen ins lebensdienliche umgearbeitete Natur bezeichnet Gehlen als Kultur. Durch die Gestaltung der Umwelt und Schöpfung der Kultur ist der Mensch selbst Teil der Kultur und muss deshalb „kultiviert" werden. Dies geschieht nach GEHLEN durch ,Außenstützen’, also durch Institutionen, die menschliches Verhalten regulieren. 2.3.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung Organische Unspezialisiertheit und Unfertigkeit des Menschen sowie seine Instinktreduktion und die spezielle Struktur des Großhirns ermöglichen seine enorme Lernfähigkeit und Erziehbarkeit. 9 GEHLEN, Arnold 1974: Ende der Geschichte? in: Ders.: Einblicke, Frankfurt am Main: Klostermann , S. 113-133. 10 Aus: GEHLEN, Arnold (1986): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. S. 38 10 Die Fähigkeit zur vielseitigen Verwendung der Organe muss durch Lernen und Erziehung erst entwickelt werden. Intellektuelle Fähigkeiten, wie zum Beispiel Denken, Planen, Kreativität, entfalten sich organisch nicht von selbst, sondern benötigen Anregung und Lernhilfe von außen. Als "Kulturwesen" muss der Mensch durch Erziehung lernen, in seiner Kultur leben bzw. Kultur schaffen und ändern zu können (vgl. Abschnitt 3.1). Die noch nicht auf bestimmte Ziele gerichteten und im Überschuss vorhandenen Antriebskräfte des Menschen müssen über Lernvorgänge geregelt und in kulturelle Bahnen gelenkt werden. Dazu sind Institutionen von größter Bedeutung. So muss der Mensch zum Beispiel erlernen, wie er mit seiner Sexualität umgeht. Die Schaffung von Institutionen ist sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft wichtig: Einerseits kann der einzelne nur durch sie seine spezifisch menschlichen Verhaltensweisen entwickeln; andererseits kann die Gesellschaft nur durch Institutionen weiter bestehen. Institutionen entwickeln sehr häufig eine Eigendynamik und nehmen auf Interessen und Bedürfnisse von einzelnen Personen und auf Minderheiten keine Rücksicht. Institutionen ermöglichen zwar ein geordnetes, geregeltes Zusammenleben: die Frage ist aber, wie weit sie dadurch auch zur Erstarrung von Gewohnheiten, Normen und Werten und damit zur wenig sinnvollen persönlichen Unterdrückung führen. 2.4. DER MENSCH, EIN WESEN, DAS ZU FRÜH ZUR WELT KOMMT Bei Säugetieren gibt es zwei typische Formen des Geburtszustandes: NESTHOCKER Die Nesthocker, die nach kurzer Tragzeit in völlig hilflosem Zustand zur Welt kommen, mit noch verschlossenen Sinnesorganen und unfähig zur Fortbewegung (zB niedere Säuger wie Katzen und Mäuse). NESTFLÜCHTER Die Nestflüchter, deren Entwicklung im Mutterleib viel länger dauert, weshalb die Neugeborenen über funktionsfähige Sinnes- und Bewegungsorgane verfügen (zB höhere Säugetiere, wie beispielsweise Pferde und Affen, können sich gleich nach der Geburt ihrer Art gemäß verhalten) Seine Sinnesorgane funktionieren bereits, jedoch spezifisch menschliche Verhaltensweisen wie aufrechter Gang, Sprache und einsichtiges Denken und Handeln vermag er noch nicht zu vollbringen. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres erreicht er den Ausbildungsgrad, den ein seiner Art entsprechendes höheres Säugetier zur Zeit der Geburt aufweist. Der Mensch ist also eine physiologische Frühgeburt, die im Vergleich zu höheren Säugetieren zu früh zur Welt kommt. Im ersten Lebensjahr, dem „extrauterinen11 Frühjahr“ , wie Portmann es nennt, muss das Kind seine Entwicklung außerhalb des Mutterschoßes unter dem Einfluss seiner Umwelt, für die ein Wesen noch ganz untauglich ist, vollenden. AUSNAHME MENSCH . 11 . Uterus = Gebärmutter, extrauterin = außerhalb der Gebärmutter 11 Oh Gott, ich bin ja zu früh auf die Welt gekommen! 2.4.1 Folgerungen für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erziehung: In der der Eigentümlichkeit des menschlichen Geburtszustandes liegt seine enorme Lernfähigkeit und Erziehbarkeit begründet. Das, was die Natur nur unzureichend hervorgebracht hat, nämlich die menschliche Lebensweise, muss der Mensch im "sozialen Mutterschoß“ erlernen. Dem ersten Lebensjahr wird in der Erziehung eine Schlüsselrolle zugewiesen. Emotionale Zuwendung und ausreichende Reizvermittlung sollten Grundlagen dieser Erziehung sein. 2.4.2 Was kann die Erziehungswissenschaft von der modernen Anthropologie lernen? - Die Zielfrage der Erziehung (Theorien der Bildung) - Die Frage nach den Einflüssen auf die Erziehung (Theorien der Vergesellschaftung der Sozialisation) - Die Frage nach der Lernfähigkeit (Theorien des Lernens) - Die Frage nach der Dauerstellung der Erziehung (Theorien der Institutionalisierung) 12 2.5 GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE ZUR ERZIEHBARKEIT UND ERZIEHUNGSBEDÜRFTIGKEIT DES MENSCHEN Bisher standen Aussagen im Vordergrund, die die Lernfähigkeit und Erziehbarkeit sowie die Lern- und Erziehungsbedürftigkeit des Menschen aus naturwissenschaftlicher Sicht. darstellten. Um das Wesen des Menschen vollständig zu erfassen, müssen diese durch geisteswissenschaftliche Überlegungen und sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte ergänzt werden. 2.5.1 Der Mensch, ein Wesen mit Geist und Vernunft „Diese Geistigkeit des Menschen stellt sich dar im Denken, in der Sprache, in seiner Wertempfänglichkeit und kulturellen Schaffenskraft, in all den menschlichen Fähigkeiten und Kräften, die Voraussetzung sind für Kunst und Wissenschaft, Vernunft und Weisheit, Sittlichkeit und Religion, Zivilisation und Kultur." (Heinrich ROTH, 196612) Aufgrund seines Geistes kann sich der Mensch von sich selbst distanzieren und sich selbst zum Objekt der Betrachtung machen. Diese Tatsache befähigt ihn, sich als Person zu erfassen. Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) „Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebenden Wesen.“ (KANT, I. 1724-1804) 2.5.1.1 Folgerungen für die Erziehung Die Ausstattung des Menschen mit Geist und Vernunft befreit den Menschen von der Natur und ermöglicht ihm eine enorme Lern- und Erziehungsfähigkeit. Die Geistigkeit des Menschen entfaltet sich nicht von selbst, sondern muss durch Lernprozesse und Erziehung im Laufe des Lebens hervorgebracht werden. Dies ist eine sehr schwierige Aufgabe der Erziehung, weil von deren Realisierung das Schicksal des Menschen und seiner Kultur abhängt. 2.6 DER MENSCH, EIN KULTURWESEN Organische Unspezialisiertheit und Unfertigkeit, natürliches Nicht-Festgelegtsein und Instinktarmut zwingen den Menschen zu kultureller Lebensführung. Es gibt denn auch ganzen Erde keine Gruppe von Menschen, die keine kulturelle Lebensweise hätte. Der Mensch lebt immer in einer Kultur, er ist ein kulturelles Wesen. Kultur ist die umfassende Bezeichnung für das, was der Mensch selbst geschaffen hat, eine von ihm geschaffene, und ständig in Veränderung befindliche Umwelt. Dazu gehören beispielsweise die Sprache, die Neuschaffung und Veränderung von Wohnverhältnissen, Kunst, Religion, Recht, Wissenschaft, Wert.- und Normvorstellungen ebenso wie die Veränderung und Umgestaltung der Natur selbst. 12 ROTH, Heinrich: Pädagogische Anthropologie, Band I. Bildsamkeit und Bestimmung, Hannover 1966, S. 267 ", 13 Der Mensch als Kulturwesen im doppelten Sinn: - Einerseits gestaltet sich der Mensch durch planendes und schöpferisches Handeln seine eigene "Welt"; er ist also aktiver Erzeuger der Kultur. - Andererseits wird er selbst Teil und somit auch ein Erzeugnis der Kultur. 2.6.1 Folgerungen für die Erziehung . Um in einer Kultur leben zu können, muss der Mensch die jeweilige kulturelle Lebens- weise erlernen. Dabei kommt es bei der Erziehung vor allem auf den Erwerb von Kulturtechniken an, die die Erhaltung und Weitergabe der jeweiligen Kultur ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise Sprache, Denken, Lesen und Schreiben, Wertbewusstsein, Moralvorstellungen u.a. Durch Lernen und Erziehung muss aber auch die Fähigkeit zu produktivem Neuschaffen und zur Veränderung von kulturellen Verhältnissen vermittelt werden: z.B. Techniken wie Kritikfähigkeit, Kreativität, Produktivität, Engagement, Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, fehlerhafte Entwicklungen zu erkennen Wie die Entwicklung zeigt, ist der Mensch auch in der Lage, seine eigene Lebensbasis zu zerstören, wie sich dies zum Beispiel in Umweltverschmutzung, Waldsterben, Rohstoffverbrauch bzw. -vergeudung, Strahlenverseuchung, Aufrüstung zeigt. Deshalb kommt es heute in der Erziehung vor allem darauf an, zu einer mit der Natur stimmigen Lebensweise aus besserer Einsicht zurückzufinden. Hier wird sich entscheiden, ob Kultur in Zukunft eine Bedrohung oder eine Chance für die Menschheit bedeuten wird. "Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur!" 2.7 DER MENSCH, EIN SOZIALES WESEN Der Mensch ist von vornherein in ein umfassendes Ganzes, in eine soziale Situation eingebettet. Er ist auf eine gesellschaftliche Lebensweise hin angelegt und von Geburt an auf die Mitmenschen und soziale Beziehungen angewiesen. Nur durch das Zusammenleben mit anderen kann er existieren und zum Menschen im humanen Sinne werden. 14 Biologisch gesehen ist ein einzelner Mensch undenkbar. Er / sie würde das Ende der Menschheit bedeuten. „Die Sprache ... stellt eine Leistung der sprachtragenden Gemeinschaften durch viele Generationen hindurch dar. Durch die Sprache ... wird sein Denken beeinflusst. Durch seine Sprache hindurch spricht und denkt auch die Gemeinschaft. Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch, ..." (Rudolf LASSAHN, 1993) . 2.7.1 Folgerungen für die Erziehung , Um mit an Neben der Anpassung an bestehende soziale Spielregeln und soziale Lebensformen hat Erziehung zur Neuerung und Veränderung von sozialen Verhältnissen zu befähigen. 2.8. KRITISCHE ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT DIE KRITISCHE THEORIE DER FRANKFURTER SCHULE Wichtige Vertreter: Theodor W. ADORNO, Jürgen HABERMAS Der wesentliche Gegenstand der Kritischen Theorie in den 60iger und 70iger Jahren waren autoritäre Gewaltverhältnisse in der Gesellschaft, wie z.B. ökonomische Ausbeutung, die abgeschafft werden sollten. Es ging um deren historische Entwicklung, die sozialen Folgen und ihre aktuelle ideologische Verschleierung. Die Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre war ein wichtiger Motor dieser Entwicklungen - aber auch umgekehrt war die Studentenbewegung von den Vertretern der Kritischen Theorie inspiriert. Diese Kritik bezog sich u.a. darauf, dass Wissen relativ unabhängig von den späteren Verwendungsmöglichkeiten produziert wurde. Es wurde gefordert, dass wissenschaftliches Wissen der Befreiung und der Selbstaufklärung der Gesellschaft dienen müsse: Es sollte in diesem Sinne unbedingt eine kritische Funktion haben und so war die Ideologiekritik die Methode. Ein wichtiger Begriff der Kritischen Erziehungswissenschaft ist der Begriff der Ideologien: sie beschreiben die Argumente, Wissensbestände und Interpretationen, die verschleiern, verdecken und die positive Entwicklung unterbinden. Der oben angesprochene Verlust des Pädagogischen wurde registriert und der Emanzipationsbegriff schien zunächst ein angemessener Ersatz zu sein. Emanzipation konnte als Ziel pädagogischer Tätigkeit bestimmt, als Kriterium an praktisches Handeln angelegt und als Orientierung für die gesellschaftliche Entwicklung verstanden werden. DER EMANZIPATIONSBEGRIFF Das Ziel 'Emanzipation' war also an sich gut legitimierbar, aber dennoch mit großen Problemen behaftet. Emanzipation von politischer Herrschaft und Unterdrückung, von autoritären Verhältnissen und ideologischer Verschleierung waren Aufgaben, die unter anderem durch Pädagogik realisiert werden sollten. Emanzipation der unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen sowie Kritik dessen, was Emanzipation verhindert, wurden als Ziele des pädagogischen Handelns diskutiert13. Die Bedeutung der BLANKERTZ, H. (1978).: Handlungsrelevanz pädagogischer Theorie. In: Z.f.Päd. 24, S. 171-182. und MOLLENHAUER, K. (1968): Erziehung und Emanzipation. München 1968. 13 15 Kritischen Erziehungswissenschaft liegt u.a. darin, dass sie die Stellung der Pädagogik in der Gesellschaft neu und provozierend zum Thema gemacht hat. Ihre Herrschaftsdimension und ihre Funktion bei der Reproduktion der sozialen Machtverhältnisse wurden kritisch diskutiert.). 2.9 GRUNDLAGEN UND AUFGABEN VON ERZIEHUNG Obwohl jeder Mensch aus eigener Erfahrung zu wissen glaubt, was Erziehung ist, ist dieses Wort mehrdeutig und wird in verschiedenen Zusammenhängen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Dieses Problem liegt in den verschiedenen Vorstellungen von Erziehung begründet: Erziehung ist immer ein Geschehen, das sich zwischen Menschen vollzieht. Erziehung kann also als wechselseitige Beeinflussung und Steuerung gesehen werden. Fragt man, zu welchem Zweck ErzieherInnen versuchen, die Zuerziehenden zu beein- flussen und zu steuern, so wird damit die Zielgerichtetheit der Erziehung angesprochen. Durch Erziehung wird Verhalten geändert oder erworben. Geht man der Frage nach, warum Verhalten geändert und/oder erworben werden soll, so kann Erziehung als Einführung in Kultur und Gesellschaft sowie als Ausbildung des eigenen Selbst verstanden werden. 2.9.1 Erziehung als soziales Handeln Pädagogik hat es mit dem Menschen als lernendem Wesen zu tun, das, wie in Kapitel 2 ausgeführt, von Natur aus auf Lernen angewiesen ist und erst durch das Lernen Menschen im humanen Sinn wird. Der eigentliche Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen ist demnach der Begriff Lernen, und manche Erziehungswissenschaftler würden auch lieber von "Lernwissenschaft" als von Erziehungswissenschaft sprechen. 2.9.1.1 Der Begriff „Lernen“ Häufig ist es so, dass unter Lernen die Anhäufung von schulischem Wissen, die bewusste, teilweise anstrengende Arbeit des Einprägens und Übens von Begriffen, Wissen, Kenntnissen oder Fertigkeiten verstanden wird, wie zum Beispiel „Vokabeln lernen“, „Gedicht lernen“, „Tanzen lernen“, „Skifahren lernen“ usw. 16 Die Wissenschaft fasst diesen Begriff jedoch wesentlich weiter und versteht darunter den Erwerb neuer und/oder die Änderung bestehender Verhaltensweisen als Folge von Erfahrung und Übung. Dieses erworbene bzw. veränderte Verhalten darf nicht nur zufällig zustande kommen, es muss den Augenblick überdauern und relativ beständig sein. Wenn ein Kind zufällig einmal das Hemd richtig überstülpt, so spricht man hier nicht von Lernen. Man spricht auch nur dann von Lernen, wenn der Erwerb neuer und/oder die Änderung bestehender Verhaltensweisen durch die Auseinandersetzung mit bestimmten Umweltsituationen zustande kommen. Damit wird der Begriff Lernen abgegrenzt von angeborenen Reaktionsweisen, wie zum Beispiel das Angsthaben bei Lärm, Reifungsvorgängen, die primär organisch bedingt sind, und von vorübergehenden oder andauernden Zuständen des Organismus wie Ermüdung, Stress, Rausch, Drogen, Krankheit, etc. Lernen selbst ist ein Prozess, der nicht beobachtbar ist. Unmittelbar beobachtbare Ursache, die diesen Prozess ausgelöst hat, und die neue bzw. geänderte Verhaltensweise als Ergebnis des Lernvorganges. Wir können beobachten, wie sich ein Mensch in einer früheren Situation A und in einer späteren Situation B verhält. Daraus schließen wir auf dazwischen liegende Lernprozesse. Lernen ist ein nicht beobachtbarer Prozess, der durch Erfahrung und Übung zustande kommt und durch das Verhalten relativ dauerhaft entsteht oder verändert wird. INTENTIONALES UND FUNKTIONALES LERNEN Mit internationalem Lernen meint man alle Lernprozesse, die mit einer bestimmten Intention, Absicht, bewusst ausgelöst werden. Ich möchte beispielsweise das Skifahren lernen. Hierbei handelt es sich um einen Lernprozess den ich bewusst mit einer bestimmten Absicht herbeiführe. Wir lernen aber auch vieles im Leben, was ungeplant und ohne Absicht, meist gar nicht bewusst geschieht. Obwohl mir das gar nicht bewusst ist, übernehme ich beispielsweise die Kopfhaltung meines Vaters. Solche unbeabsichtigten, meist nicht bewussten Lernvorgänge bezeichnen wir als funktionales Lernen. Dem Begriff der „funktionalen Erziehung“ müssen wir jedoch mit Skepsis 17 begegnen: Erziehung ist stets soziales Handeln, das bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich auslösen will, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und das immer im zwischenmenschlichen Bereich geschieht. Alles andere sollte eher als „funktionales Lernen“ (nicht als Erziehung) bezeichnet werden. Ein großer Teil der Lerneinwirkungen ist funktional. Erziehung ist also nur als „intentionaler“ Akt denkbar, dem unbeabsichtigte und nicht bewusste Einflüsse von allen möglichen Bereichen (z.B. Medien, Gruppen, ungewolltes Vorbild der Eltern) gegenüberstehen. „Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns." (Eugene IONESCo) 2.10 ERZIEHUNG ALS WECHSELSEITIGE BEEINFLUSSUNG Zur Erziehung gehören mindestens zwei Personen: Ein/e ErzieherIn, die/der bestimmte Lernprozesse bei der/ dem Zu-Erziehenden herbeiführen, auslösen bzw. unterstützen will, und ein/e Zu-Erziehende/r, der/die diese Lernprozesse vollbringen muss. Erziehung ist soziales Handeln, das im zwischenmenschlichen Kontakt von Erzieher/i und ZuErziehendem/r stattfindet. Erzieherische Handlungen werden "sozial" genannt, weil sie sich auf einen anderen Menschen, auf den Zu-Erziehenden, beziehen. Soziales Handeln ist eine besondere Art des Handelns, die sich durch eine bestimmte Intention von anderen Arten unterscheidet: es ist bewusst und willentlich auf andere Menschen bezogen. (Wolfgang BREZINKA, 199014) SOZIALE INTERAKTION Der Begriff „soziale Interaktion“ bezieht sich auf alle Vorgänge, die sich zwischen Menschen abspielen. Er meint das wechselseitig aufeinander bezogene Verhalten zwischen zwei oder mehreren Personen (vgl. Dieter Ulich, 1989). Beide - Erzieher und Zu-Erziehender - stehen zueinander in einer bestimmten Beziehung und sind voneinander abhängig. Diesen Sachverhalt bezeichnen wir soziale Interaktion. Am Beispiel eines Gespräches zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehenden kann man diesen Begriff veranschaulichen: Beide, Erziehern und Zu-Erziehende, gehen aufeinander ein und beziehen sich aufeinander; jede/r reagiert auf den/die andere/n, die Äußerungen und Handlungen des einen sind oft zugleich Ergebnis und Ursache für die Äußerungen und Handlungen des/der anderen. In dem Moment, in welchem Menschen miteinander in Beziehung treten, beeinflussen und steuern sie sich gegenseitig. Damit bedeutet soziale Interaktion auch ein Geschehen zwischen Menschen, die wechselseitig aufeinander reagieren, sich gegenseitig beeinflussen und steuern. W. BREZINKA (1990): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. In: Franzjörg Baumgart (Hrsg.), Erziehungs- und Bildungstheorien. S. 45 14 18 Soziale Interaktion gilt als Bezeichnung für das wechselseitig aufeinander bezogene Verhalten zwischen Menschen, für das Geschehen zwischen Personen, die wechselseitig aufeinander reagieren, sich gegenseitig beeinflussen und steuern. Erziehung ist stets soziale Interaktion: ErzieherIn und Zu-Erziehende reagieren ständig aufeinander, beeinflussen und steuern sich gegenseitig; Erziehung ist immer ein Wechselspiel von Aktionen und Reaktionen, jedoch ist nicht jede soziale Interaktion gleich Erziehung. Der Erzieher schimpft mit dem Kind, weil es ein Glas fallen ließ. Er reagiert auf das Kind. Zugleich ist dieses Schimpfen Anlass dafür, dass das Kind zu weinen beginnt. Das wiederum ruft beim Erzieher hervor, dass er das Kind in den Arm nimmt. Dieses hört daraufhin mit dem Weinen auf. In der Regel orientieren sich ErzieherInnen am Alter der Zu-Erziehenden, an den Interessen, Fähigkeiten, Bedürfnissen und dgl. Indem er/sie sich dem Verhalten, der Zu-Erziehenden anpasst und die Handlungen auf sie abstimmt, verändert auch er/sie sich. Der Prozess der Erziehung verändert sowohl die Zu-Erziehenden als auch die ErzieherInnen selbst. Wer den anderen beeinflusst und steuert, teilt ihm auch zugleich etwas mit, das heißt bei jeder sozialen Interaktion werden Informationen ausgetauscht. Diesen Informationsaustausch bezeichnen wir als soziale Kommunikation. Unter sozialer Kommunikation versteht man den Austausch, die Vermittlung und Aufnahme von Information zwischen zwei oder mehreren Personen. Der Begriff Information umfasst nicht nur sachliche Inhalte, wie zum Beispiel Nachrichten, sondern auch Gefühle, Empfindungen, Wünsche, Bedürfnisse. So können Erziehende dem Zu-Erziehenden durch Streicheln mitteilen, dass er/sie ihn mag. ERZIEHUNG = KOMMUNIKATION & INTERAKTION Alles Verhalten in einer Beziehung hat Mitteilungscharakter. Selbst wenn sich der Erzieher vom Kind abwendet oder der Zu-Erziehende mit seinem Erzieher nicht mehr sprechen will, teilen sie sich gegenseitig etwas mit. In jedem Erziehungsprozess werden Informationen ausgetauscht, jedoch nicht jede soziale Kommunikation ist gleich Erziehung. 19 . Kommunikation ist ohne Interaktion nicht denkbar. Wer dem anderen Informationen mitteilt, beeinflusst und steuert ihn zugleich. Ebenso ist Interaktion ohne Kommunikation unmöglich: Wer mit dem anderen in Beziehung tritt, übermittelt ihm zugleich Informationen. Eine wichtige Rolle in der Erziehung spielt die Beziehung zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehenden. Von der Art und Weise, wie sich die persönliche Beziehung zwischen ErzieherIn und Zu-Erziehendem gestaltet, hängt einem erheblichen Maße der Erfolg der Erziehung bzw. die Persönlichkeitsentfaltung des Zu-Erziehenden ab. "Die Grundlage der Erziehung ist ... das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme." (Hermann NOHL, 194915) "Wo die Beziehung nicht stimmt, hat die Sache wenig Chance" 2.11. Erziehung als beabsichtigte Lernhilfe Wenn Menschen miteinander in Beziehung treten, so tun sie das immer mit einer bestimmten Absicht, sie verfolgen ein Ziel. Und um dieses Ziel zu erreichen, tauschen sie miteinander Informationen aus und beeinflussen und steuern sich gegenseitig. Menschen interagieren und kommunizieren miteinander, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. " ERZIEHUNGSZIELE Der Erzieher findet den Zu-Erziehenden in einem gewissen „Ist-Zustand“ vor. Das Kind kann beispielsweise noch nicht laufen, sprechen, es ist noch nicht WERDEN DEFINIERT selbständig oder es sagt bzw. tut Dinge, die ihm schaden könnten. Auf der anderen Seite hat der Erzieher einen . „Soll-Zustand“ vor Augen. Das Kind soll beispielsweise laufen und sprechen können, soll selbstständig werden 15 NOHL, Herman (1949): Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt/M. S. 12 20 und ein Verhalten lernen, das ihn nicht gefährdet. Aufgabe des Erziehers/der Erzieherin ist es, durch bestimmte Handlungen das Verhalten der Zu-Erziehenden relativ dauerhaft dahingehend zu ändern, dass der künftige Ist-Zustand mit dem jetzigen Soll-Zustand übereinstimmt. (vgl. Wolfgang BREZINKA,1995) WESEN DER ERZIEHUNG Erziehung geschieht immer im Wechselspiel zwischen dem ZuErziehenden, der bestimmte Lernprozesse bewältigen muss, und dem Erzieher, der diese Lernprozesse absichtlich und bewusst herbeiführt, auslöst oder unterstützt und mit bestimmten Handlungen das Verhalten des Zu-Erziehenden relativ dauerhaft ändern will, und dem Erziehungsziel, das der Erzieher vor Augen hat. Erziehung ist ein soziales Handeln, welches bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will, um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens, die bestimmten Erziehungszielen entsprechen, zu erreichen. LEBENSLANGES LERNEN Mit Erziehung ist auch immer der Vorgang der Lernhilfe gemeint, nicht deren Ergebnis. Dieser Prozess darf allerdings nicht auf das Kindes- und Jugendalter eingeschränkt werden. Kulturelle Lebensbedingungen wandeln sich ständig und jedem Menschen wird ein lebenslängliches Um- und Weiterlernen abverlangt. So sind auch Erwachsene wieder auf erzieherische Lernhilfen angewiesen (zum Beispiel Erwachsenenbildung). Während jedoch bei Kindern und Jugendlichen ErzieherInnen die Verantwortung für Erziehung tragen, beanspruchen Erwachsene Lernhilfen in eigener Verantwortung. „Erziehung darf nicht enden, sobald der Mensch mündig geworden ist, wenn er mündig bleiben will.“ (Erich WEBER, 1987) Manche PädagogInnen verstehen unter Erziehung auch alle unbeabsichtigten, ungewollten Einwirkungen auf die Zu-Erziehenden, soweit sie Wirkungen im Sinne der Erziehungziele erkennen lassen, und nennen dieses ohne erzieherische Absicht erfolgende Lernen missverständlich funktionale 21 Erziehung. Davon wird dann die intentionale Erziehung unterscheiden als ein mit erzieherischer Absicht (Intention) ausgeführtes soziales Handeln (vgl. Wolfgang Brezinka,1994; Erich Weber, 1987). 3. SCHULTHEORIEN, WESENSMERKMALE DER SCHULE 3.1.ALLGEMEINES Theorie: leitet sich vom griechischen/lat. Begriff „theoria“ ab, was soviel bedeutet wie Anschauen, die Gesamtschau, das Über- bzw. Durchschauen einer Sache, ohne Berücksichtigung des Nutzwertes. Schultheorien sind das Ergebnis von Reflexionen über Schule, angestellt auf der Grundlage von Forschungsergebnissen geistes – und sozialwissenschaftlicher Art und unter Verwendung von anerkannten quantitativen und qualitativen Methoden. Theorien sind nicht zeitlos gültig, sie führen zu Modifikationen und Verwerfungen. Es kann auch verschiedene Theorien zu einem Phänomen geben (zB Theorien zu Gewalt). Zielsetzungen der Schultheorie: - soll LehrerInnen kritisch, selbstkritisch und selbstsicher machen. - begründet das Berufsethos der LehrerInnen - schaffen eine kritische Funktion gegenüber Schulpraxis und Bildungspolitik - schaffen Ordnungszusammenhänge für alles, was mit Schule zu tun hat - klären und strukturieren die Bedingungen des Handelns in der Schule gegenüber den Schulpartnern, der Schulaufsicht, den Behörden - Sind die Grundlage für quantitative und qualitative Forschung in der Schule16 3.2 ZUR BEGRIFFSBESTIMMUNG VON SCHULE Es gibt nicht „die“ Schule, sondern die konkreten Rahmenbedingungen und die Interaktionspraktiken vor Ort. Nachfolgend die 3 Bestimmungsstücke von Schule: 3.2.1 Die Schule ist ein Subsystem der Gesellschaft Schule ist ein Subsystem im Sozialsystem der Gesellschaft, das mit anderen Subsystemen in Beziehung steht. Eng sind die Beziehungen mit dem Rechtssystem, dem Politischen System, sowie mehr und mehr mit dem Wirtschafts- bzw. Beschäftigungssystem. Die Subsysteme tragen eng zur Identität und Typik des Subsystems Schule bei. Im Auftrag der Gesellschaft nimmt die Schule Einfluss auf die Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz derjenigen, die mit dem Subsystem Schule interagieren (müssen). Schule ist zweifach verpflichtet: - Der individuellen Förderung der Lernenden und der - Den Inhalten der Kultur Daher müssen die Erwartungen von anderen Subsystemen an Schule „gefiltert“ werden und damit wird auch eine „relative“ Autonomie von Schule begründet. 16 Vergl. Apel, H.J; Sacher, W. (2005): Studienbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn. S. 33 22 Jede Schule agiert als System mit Selbstorganisation und Eigenlogik. Sie wird von allen Beteiligten mitgestaltet und an Veränderungen angepasst. Schule weist eine gewisse Beharrungstendenz auf Schule ist ein offenes System, ein statisches System, ein reproduktives System (den gesellschaftlichen Bedürfnissen nachkommend) und ein soziales System, das Miteinander konstituiert (LehrerInnen, SchülerInnen) 3.2.2. Die Aufgaben der Schule sind historisch gesellschaftlich bedingt Im Laufe der Zeit verändern sich die Aufgaben der Schule: Im Kaiserreich war es Aufgabe der Schule, die Untertanen für Gott, den Kaiser und das Vaterland zu erziehen. Der Nationalsozialismus unterstellt die Schule der Blut- und Bodenideologie und verkürzt die Dauer der Schule. Die Nachkriegsdemokratie reorganisiert die Schule und führt große Bildungsreformen durch: Motto sind: Demokratie, Chancengleichheit, Integration… 3.2.3 Die Schule ist ein Lern- und Lebensraum für junge Gesellschaftsmitglieder Die meisten Schulen sind für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene da. Als Lernort wirft die Schule die Frage auf, was, wie und wozu gelernt wird und welches Menschenbild den Zielen zugrunde liegt. Schule ist aber auch Lebensraum: Damit stellt sich die Frage, welche Lebenserfahrungen die Lernenden dort machen, wie diese Lernerfahrungen die Anforderungen des Lebens außerhalb der Schule ergänzen. Schule ist auch Arbeitsplatz für LehrerInnen, DirektorInnen und Schulaufsicht17. 3.2.4 Schultheorien im Vergleich: Funktionen von Schule Theorie der Schule nach H.J. APEL - Unterricht mit den Aufgaben der Wissensvermittlung und Erziehung mit den Zielen in den Bereichen: Lern-, Leistungs- und Sozialverhalten - Entwicklung des Denkens und der Förderung von Fähigkeiten, sozialen Erfahrungen, - Vergabe von Berechtigungen Selektion durch Leistungsprinzip - Ausgleich von Benachteiligungen und ungleich verteilten Chancen Prioritäten Funktionen sind aus Sicht der Lernenden entwickelt Schule = Bildungs- und Reperaturbetrieb 17 17 Theorie der Schule nach W. WIATER - Qualifikation der jungen Gesellschaftsmitglieder - Personalisation der jungen Gesellschaftsmitglieder - Sozialisation der Gesellschaftmitglieder - Enkulturation der Gesellschaftsmitglieder - Selektion, durch die nach optimaler Förderung deren Allokation und Platzierung im Gesellschaftssystem vorbereitet wird. - Funktionen sind aus Gesellschaftsperspektive entworfen Schule ist eine selektive und qualitfizierende Organisation. Vergl. Apel, H.J; Sacher, W. (2005): Studienbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn. S. 37 23 3.2.5 Anforderungen an Schultheorien: - Schultheorie soll systemorientiert sein: Komplexität der Schule erfassen, pädagogischen Auftrag berücksichtigen. Schultheorie soll problem- und praxisorientiert sein: Probleme der jeweiligen Schulrealität erfassen/ erforschen; Orientierungshilfe für die Schulpraxis anbieten. Schultheorie soll entscheidungsorientiert sein: Argumente bereit stellen, Revision und Innovation voranbringen. 4. ZIELE IN DER ERZIEHUNG 4.1 DAS ERZIEHUNGSZIEL ALS WESENTLICHES MERKMAL JEDER ERZIEHUNG ERZIEHUNG STREBT EIN ZIEL AN… Wer erzieht, will Unzulänglichkeiten überwinden bzw. Erwünschtes erreichen. ErzieherInnen hegen bestimmte Erwartungen: sie finden Zu-Erziehende in einem gewissen "Ist-Zustand" vor und wollen sie in einen "Soll-Zustand", den sie vor Augen haben, überführen. Das setzt in jedem Falle eine Vorstellung vom Erstrebenswerten, ein Erziehungsziel, voraus. Sobald ErzieherInnen auf Zu-Erziehende einwirken, wollen sie etwas erreichen. Zwischen den Verhaltensweisen eines Erziehers und den Zielen und Ergebnissen seiner Erziehung besteht ein grundlegender Zusammenhang. Soll die Erziehung beispielsweise demokratisches Verhalten erreichen, dann kann nicht mit dem autoritären Erziehungsstil gearbeitet werden. 4.2 ERZIEHUNGSZIELE ALS ORIENTIERUNGSHILFE ERZIEHUNGSZIELE Wenn Eltern und Erzieher gefragt werden, worauf es ihnen bei der Erziehung ankommt, so können GEBEN ERZIEHERN EINE ZWEIFACHE ORIENTIERUNG FÜR IHR ERZIEHERISCHES HANDELN sie daraufhin in zweierlei Hinsicht antworten: "Mir kommt es, darauf an, dass meine Kinder selbständig und entscheidungsfreudig werden und im späteren Leben gut mit sich selbst zurechtkommen." In diesem Beispiel werden Vorstellungen angesprochen, wie sich der Zu-Erziehende gegenwärtig und zukünftig verhalten soll. Das Ziel ist eine Orientierungshilfe hinsichtlich des Soll-Zustandes des Zu-Erziehenden. „Wenn ich will, dass meine Kinder im späteren Leben gut mit sich zurechtkommen, so muss ich darauf achten, dass ich meinen Kindern viel Zuwendung gebe und ihnen einen Freiraum lasse, in welchem sie selbständige Erfahrungen sammeln können.“ AUSSAGE ZUM ERGEBNIS VON ERZIEHUNG Im zweiten Beispiel wird erwähnt, wie sich ErzieherInnen in der Erziehung verhalten sollen. Das Ziel enthält hier eine Vorschrift für ErzieherInne und stellt eine Orientierungshilfe hinsichtlich des erzieherischen Verhaltens dar. Zugleich stellt jedes Ziel in der Erziehung eine Aussage über das Ergebnis der Erziehung dar. 24 4.3 ERZIEHUNGSZIELE ALS SOZIALE WERT- UND NORMVORSTELLUNGEN WERTE18 UND NORMEN19 Bei Erziehungszielen handelt es sich immer um soziale Wert- und Normvorstellungen die in einer Gesellschaft bzw. in einer ihrer Gruppen aktuell sind. Eltern und andere ErzieherInnen halten bestimmte Werte und Normen für sehr wichtig und versuchen sie deshalb in der Erziehung zu verwirklichen. Selbständigkeit, Entscheidungsfreudigkeit sind Wert- und Normvorstellungen, die in unserer Gesellschaft als wichtig erachtet und deshalb in der Erziehung ausdrücklich und bewusst gesetzt werden. So stellen Verfassungen eine Bündelung der sozialen, ethischen und rechtlichen Wertvorstellungen und Normen einer Gesellschaft dar. In der Erziehungspraxis unterscheiden wir bei den sozialen Wert- und Normvorstellungen, solche, die in der Erziehung wirksam werden, und solche, die nicht in die Erziehung einfließen. WIRKSAM WERDENDE NORMEN IN DER ERZIEHUNG MITWIRKENDE NORMEN So zum Beispiel ist es sehr wahrscheinlich, dass Zu-Erziehende mit der Norm "beim Essen rülpst man nicht" in der Erziehung konfrontiert werden, während sie mit dem Brauch des Fahnenschwingens in einem bestimmten Verein eher nicht in Berührung kommen. Zum anderen unterscheiden wir bei den Normen, die in der Erziehung wirksam werden, solche, die unreflektiert, oft gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess einfließen – wir nennen sie "in der Erziehung mitwirkende Normen" - und solche, die ausdrücklich und bewusst in der Erziehung gesetzt werden. So kann beispielsweise eine Frau ihrem Mann eine dominierende Stellung zuspielen und seinen Entscheidungen ein größeres Gewicht beimessen als ihren eigenen. Diese Norm "Anerkennung der Dominanz des Mannes gegenüber der Frau" kann gleichsam unbemerkt, vielleicht gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess mit einfließen, während die Norm „beim Essen rülpst man nicht“ bewusst und ausdrücklich in der Erziehung gesetzt wird. Solche in der Erziehung ausdrücklich und bewusst gesetzten Werte und Normen bezeichnet Wolfgang KLAFKI (198620) als Erziehungsziele. Erziehungsziele sind bewusst gesetzte Wert- und Normvorstellungen über das Ergebnis der Erziehung die Auskunft darüber geben, wie sich der Zu-Erziehende gegenwärtig und zukünftig verhalten soll und wie Eltern und andere Erzieher in der Erziehung handeln sollen. WERTE sind Lebensinhalte, Handlungsziele, Sinndeutungen, die Individuen, eine Gruppe, eine Schicht, oder die ganze Gesellschaft für erstrebenswert halten. 18 NORMEN sind: Regeln, Maßstäbe, die von einer Institution oder Gruppe zur Verhaltenssteuerung an ihre Mitglieder herangetragen werden. Die Einhaltung der Normen ist verbindlich , wird sanktioniert oder belohnt. Normen wollen Hilfen für verantwortliches Handeln bieten und die Gewissensentscheidung des Einzelnen erleichtern. Normen ermöglichen erst ein geordnetes Zusammenleben der Menschen. 20 KLAFKI, W.; WOLF, W.; RÜCKRIEM G. M. (1986): Funk – Colleg Erziehungswissenschaft. Fischer Taschenbuch. S. 224 19 25 4.4 FAKTOREN UND WANDEL VON ERZIEHUNGSZIELEN FAMILIALE ERZIEHUNG – ORGANISIERTE Wer setzt die Erziehungsziele fest? Man könnte annehmen, dass sie in erster Linie von den Theoretikern oder Praktikern der Erziehung formuliert und in der Erziehungspraxis durchgesetzt werden. Das ist nur zum Teil und unter bestimmten Bedingungen möglich. ERZIEHUNG Entscheidend ist, ob es sich um familiäre Erziehung oder um eine organisierte Erziehungsinstitution handelt, in der BerufserzieherInnen tätig sind, wie zum Beispiel den Kindergarten oder die Schule. MITEINTSCHEIDEN EINFLUSSNAHME AUF DIE ERZIEHUNG RECHTE… LEHRPLÄNE… ORIENTIERUNGSHILFEN… In der Familie legen die Eltern ihre Zielvorstellungen mehr oder weniger bewusst selber fest. BerufserzieherInnen und vor allem ErziehungswissenschaftlerInnen entwickeln zwar Leitvor-stellungen der Erziehung, doch ihre Einflussmöglichkeit auf die Festlegung und Durchsetzung von Erziehungszielen hängt davon ab, ob wieweit sie selbst bloß ausführende Organe ihrer Institution bzw. deren Träger sind oder ob sie mehr oder weniger Mitentscheidungsmöglichkeiten haben und diese auch nutzen. Es liegt letztlich an den Machtverhältnissen und an den Einflussmöglichkeiten einzelner Gruppen in einem Staate, ob und in welchem Maße TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Erziehung bei der Setzung von Erziehungszielen - zum Beispiel bei Richtlinien oder Lehrplänen für die Schulen, bei der Berufsausbildung oder im Jugendrecht Mitsprachemöglichkeit haben. 4.4.1 Instanzen, die Erziehungsziele festsetzen Die Zielsetzungen für die Erziehung und die Durchsetzung von Erziehungszielen erfolgen durch die Personen bzw. Personengruppen, die in einem Staat bzw. einer Gesellschaft den größten Einfluss auf die Erziehung und Erziehungsinstitutionen haben. Wolfgang KLAFKI (1986) führt dazu einige Beispiele aus: Wirtschaftsinstanzen: Ziele der beruflichen Ausbildung werden in der Bundesrepublik Deutschland vor allem durch die Interessenverbände und Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirtschaft wie die Industrie- und Handelskammern oder den Gewerkschaften formuliert und durchgesetzt. Politische Machthaber bzw. Regierungen eines Staates legen Erziehungsziele fest. So entwickeln Herrscher und Diktatoren ihre eigenen Zielvorstellungen, und zwar solche, die ihren persönlichen, politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Absichten entsprechen. In der 26 Bundesrepublik Deutschland werden beispielsweise durch einzelne Gesetze und Verordnungen die Erziehungs- und Bildungsziele bestimmt. Politische Parteien nehmen in ihre Parteiprogramme bestimmte Vorstellungen von den Zielen in der Erziehung auf. Kirchen und Verbände wie zum Beispiel Elternvereinigungen oder Träger von Erziehungsinstitutionen versuchen, ihre Vorstellungen von Erziehung durchzusetzen. 4.4.2 Faktoren, die Erziehungsziele beeinflussen Eltern und ErzieherInnen - soweit sie diesbezüglich einen Freiraum haben – werden bei der Setzung ihrer pädagogischen Ziele von bestimmten Umweltbedingungen und vor allem von ihren eigenen Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst: Soziokulturelle Faktoren: - Eltern und ErzieherInnen orientieren sich bei ihrer Setzung von Erziehungszielen grundsätzlich an den Wert- und Normvorstellungen der betreffenden Gesellschaft bzw. einer ihrer Gruppen. - Das Staatssystem ist sehr entscheidend: - Trends, wie zum Beispiel die antiautoritäre Erziehung in den 70er Jahren - Medien (Fernseher, Zeitschriften, Literatur usw.). Ökonomische Faktoren: - Die Wirtschaftsordnung einer Gesellschaft nimmt Einfluss auf die Setzung von Zielen in der Erziehung. - Auch wirtschaftliche Verhältnisse Individuelle Faktoren: - Die familiäre Situation: - Bezugsgruppen besitzen oft eine große Macht hinsichtlich der Orientierung bei der Verfolgung von bestimmten Erziehungszielen. - Persönlichkeitsmerkmale der ErzieherInnen Arbeitsaufgabe: Die Liste der Faktoren ist nicht vollständig; es lassen sich noch weitere Bedingungen finden, die Eltern und andere ErzieherInnen bei ihren Vorstellungen über das "Wohin" der Erziehung beeinflussen. Decken Sie diese auf. 4.4.3 Der Wandel von Erziehungszielen Wie die Geschichte der Pädagogik zeigt, wurden nach- und nebeneinander recht unterschiedliche Erziehungsziele vertreten. Je nach dem jeweiligen Menschenbild und der Weltanschauung, je nach den politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten und Interessen einer Gesellschaft, je nach ihren aktuellen Wert- und Normvorstellungen wurden und werden im Laufe der Zeit unterschiedliche Erziehungsziele formuliert. „Während bis in die 60er Jahre hinein Vorstellungen wie Disziplin, Pflichterfüllung, Gehorsam, Leistung, Ordnung usw. im Mittelpunkt standen, hat sich in den letzten Jahren so etwas wie ein Wertewandel und damit eine Veränderung der Erziehungsziele ergeben: Sogenannte 'Selbsterfahrungswerte' wie 27 Emanzipation, Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung, Kritikfähigkeit etc. werden betont.“ (Herbert GUDJONS, 199421) Erziehungsziele können nur aus der jeweiligen historischen Struktur einer Gesellschaft und Kultur verstanden werden. Unterschiedliche Erziehungsziele zu ein und demselben Zeitpunkt ergeben sich aus den verschiedenen Denk- und Einstellungsrichtungen innerhalb einer Gesellschaft. Dies ist vor allem in demokratischen Systemen der Fall, die unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche Wert- und Normvorstellungen zulassen. Deshalb kann es in einer demokratiefreundlichen Gesellschaft niemals nur das Ziel der Erziehung geben, es herrscht immer eine Vielfalt von Erziehungszielen vor. Der Wandel von Erziehungszielen ist bedingt durch: politische Interessen und Gegebenheiten, Weltanschauung und Menschenbild, kulturelle und soziale Gegebenheiten, ökonomische Gegebenheiten und Interessen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Persönlichkeitsmerkmale des Erziehers, insbesondere seine Einstellungen und Haltungen. 4.5 FUNKTIONEN, PROBLEME UND BEGRÜNDUNG VON ERZIEHUNGSZIELEN Oft wird ErzieherInnen vorgeworfen, dass sie in ihrer Erziehung ungerechtfertigt manipulieren würden. Aus diesem Grund muss sich die Erziehungswissenschaft mit Erziehungszielen auseinandersetzen, ihre Funktionen und die Probleme, die sich bei der Setzung von Erziehungszielen ergeben können, aufzeigen und eine Begründung von Zielen in der Erziehung anstreben. 4.5.1 Funktionen von Erziehungszielen Erziehungsziele dienen der Verwirklichung von Wert- und Normvorstellungen, gesellschaftlichen Interessen. aber auch von So sollen Zu-Erziehende zum Beispiel in ihrem Leben die Wertvorstellungen Leistung, Verantwortlichkeit oder Anständigkeit realisieren, was zugleich als Ziel der Erziehung angestrebt wird. ZIELE ZUR Erst wenn das „Wohin“ der Erziehung bekannt ist, wird es möglich sein, ORGANISATION VON geeignete und angemessene Mittel und Verfahrensweisen des Erziehens ERZIEHUNG anzuwenden. Bei einer reflektierten Erziehung werden immer die Erziehungsziele das weitere Erziehungsgeschehen bestimmen. Nur durch die Setzung von Zielen in der Erziehung wird eine Reflexion des erzieherischen Verhaltens möglich. Vom Ziel her kann erzieherisches Handeln auf seine Effektivität hin überprüft werden; praktisches Erziehungsgeschehen wird so kontrollierbar. Erziehungsziele dienen somit auch der Verbesserung der 21 GUDJONS, Herbert. (1994). Handlungsorientiert lehren und lernen. 4. Bad Heilbrunn: Julius. Klinkhardt. S. 64. 28 ERZIEHUNG ALS MOTIVATION ZUM DIALOG Erziehungspraxis: Aufgrund der Reflexion ist es möglich, angemessene Konsequenzen für das weitere erzieherische Vorgehen zu ziehen und angewandte Mittel und Verfahrensweisen zu korrigieren. ERZIEHUNG ALS ANSTOß ZU REFORMEN Erziehungsziele dienen der Verständigung und Kooperation zwischen ErzieherInnen, und nicht zuletzt geben sie Anstoß für eine reflektierte und verantwortungsbewusste Diskussion in der Öffentlichkeit über Erziehung. Ziele in der Erziehung ermöglichen somit auch eine Planung sinnvoller Reformen. 4.6 PROBLEME PÄDAGOGISCHER ZIELSETZUNG Obwohl Erziehungsziele wichtige Funktionen erfüllen, bringt die pädagogische Zielsetzung bestimmte Probleme und Gefahren mit sich. Ein Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft ist der Wert- und Normenpluralismus: Zu ein und demselben Sachverhalt gibt es verschiedene, gelegentlich auch widersprüchliche Wert- und Normvorstellungen, Meinungen und Ansichten, gleichberechtigt nebeneinander. Eltern und Erzieher wissen deshalb oft nicht, was „richtig“ und „falsch“ ist, welche Erziehungsziele sie nun aus der Vielfalt für sich verbindlich machen sollen. Oft kommt es bei der Anstrebung von bestimmten Erziehungszielen zu einem Normenkonflikt: Zwei oder mehrere bewusst gesetzte Erziehungsziele stehen in Widerspruch zueinander. So zum Beispiel lassen sich Ziele wie Durchsetzungsvermögen, die Verwirklichung persönlicher Interessen oder das Streben nach Individualität schwer mit Vorstellungen wie Hilfsbereitschaf oder Achtung vor Bedürfnissen anderer vereinbaren. Zu einem Normenkonflikt kann es auch kommen, wenn sich bewusst angestrebte Erziehungsziele mit den in der Erziehung unreflektiert mitwirkenden Normen widersprechen. Ein Elternpaar lässt sich zum Beispiel stark beeinflussen von dem, was momentan "in" ist. Diese Norm fließt gleichsam unbemerkt, vielleicht gar nicht bewusst in den Erziehungsprozess mit ein und steht im Widerspruch zu dem Erziehungsziel "Kritikfähigkeit", das die Eltern bewusst verfolgen wollen. „Es ist wichtig festzuhalten, dass in allen diesen Fällen zunächst völlig offen ist, ob die unbewusst mitwirkenden Normen oder die speziellen Erziehungsziele in der Praxis auf Kinder und junge Menschen die größere und dauerhaftere Wirkung ... haben." (Wolfgang KLAFKI u.a., 1986) . Erziehungsziele können völlig unrealistisch und an unerreichbaren Idealen ausgerichtet sein. Das Streben nach Perfektion des Menschen beispielsweise kann zu einer fortwährenden Überforderung und einem chronisch schlechten Gewissen führen und verhängnisvolle Schuldgefühle und Neurosen des Zu-Erziehenden bewirken 29 Die Setzung von Zielen in der Erziehung kann die Zukunftsoffenheit verbauen: Kinder und Jugendliche werden für morgen erzogen; in der Erziehung können aber meist nur Ziele verfolgt werden, die für heute wichtig sind, weil die Zukunft nicht weggenommen werden kann. Die Offenheit für neue Situationen und Herausforderungen wird vor allem dort behindert, wo Erziehungsziele ausschließlich traditionell orientiert und auf Anpassung ausgerichtet sind oder starr festgelegt werden, wie dies häufig bei organisierten Erziehungsinstitutionen, wie der Schule, der Fall ist. Dadurch kann es zur Verfestigung des Herkömmlichen und zur Beeinträchtigung der Umstellungsfähigkeit und -bereitschaft kommen (vgl. Erich Weber, 1987). Ziele der Erziehung sind oft Leitbilder weltanschaulicher Manipulation: Eltern und ErzieherInnen missverstehen Erziehung oft als Menschenformung nach einem festgesetzten Menschenbild. Hier gelten Erziehungsziele als Zweck, zu deren Erfüllung die nachwachsende Generation nur Mittel ist. Dadurch werden aber Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit be-, wenn nicht gar verhindert. "Der Mensch soll nicht zu etwas gemacht werden, was der Erzieher sich vorstellt, sondern er soll die Aufgaben und Realitäten der Welt der Instanz des mündigen Bewusstseins vorführen; damit geht der Erzieher jederzeit das Risiko ein, dass das von ihm Vorgetragene von dieser Instanz abgelehnt wird." (Hermann Giesecke, 1991) Politik zum Beispiel hat Partei ergriffen, und bestimmte Gruppen versuchen, ihre eigenen Vorstellungen über das, was politisch als "richtig" zu gelten hat, durchzusetzen, für die auch die nachwachsende Generation gewonnen werden soll. Junge Menschen werden aber damit zum Mittel, die dem Zweck der Realisierung eines bestimmten politischen Programms zu dienen haben. Erziehung muss zwar zu einer selbst bestimmten und verantwortlichen Wahrnehmung von politischen Pflichten und Rechten befähigen; es darf aber nicht ihre Aufgabe sein, spezifische politische Programme einzelner Parteien oder Gruppen durchzusetzen, für die die nachwachsende Generation lediglich Mittel zum Zweck ist (vgl. Erich Weber, 1987). Die Gesellschaft oder bestimmte Menschengruppen können ihre eigenen Interessen mehr oder weniger bewusst hinter Erziehungszielen, die sie zu formulieren und durchzusetzen versuchen, verbergen, um bei anderen Menschen - auch beim Erzieher oder bei dem Zu-Erziehenden selbst - ein falsches Bewusstsein zu erzeugen. Im Extremfall können pädagogische Zielsetzungen zur ganz bewussten Verschleierung eigener Machtansprüche benutzt werden. So zum Beispiel kann in dem proklamierten Ziel "Erziehung zur Friedfertigkeit" das Interesse einer bestimmten Gruppe versteckt sein, sich eine bestimmte Verteilung von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht zu sichern, in den ZuErziehenden eine Abwehrhaltung gegen Aufmucken und Widerstand aufzubauen und aus Friedfertigkeit heraus alles hinnehmen und schlucken zu lernen. Eine weitere Möglichkeit zur Verschleierung und Durchsetzung von bestimmten Interessen ist die Umdefinierung von bereits bekannten Erziehungszielen. So wurde der Begriff "Emanzipation" beispielsweise von neomarxistischen Sozialtheoretikern und Pädagogen der sogenannten "Neuen Linken" mit einem anderen Inhalt belegt als dieser ursprünglich zum Ausdruck bringen wollte, um damit eine leichtere Manipulation zu ermöglichen. 30 Erziehungsziele Funktionen Problemfelder Verwirklichung von Wert- und Normvorstellungen Verwirklichung von gesellschaftlichen Interessen Organisation der Erziehung Reflexion des erzieherischen Verhaltens Planung von notwendigen Reformen Unsicherheit durch Werte- und Normenpluralismus Normenkonflikt unrealistische und unerreichbare Ideale Verbauung der Zukunftsoffenheit Leitbilder weltanschaulicher Manipulation Erzeugung falschen Bewusstseins, Verschleierung von Macht- und Interessenansprüchen 4.7 BEGRÜNDUNG VON ERZIEHUNGSZIELEN Die Erziehungswissenschaft muss sich mit pädagogischen Zielen auseinandersetzen. Da es sich bei Erziehungszielen um normative Verhaltenserwartungen handelt, ist das „Beweisen“ der "Richtigkeit" bzw. "Falschheit" von pädagogischen Zielen nicht möglich. Die Erziehungswissenschaft strebt deshalb eine "Rechtfertigung" im Sinne einer Begründung von Erziehungszielen an. Diese kann aus verschiedener Sicht erfolgen: 4.7.1 Anthropologische Begründung Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen bilden die Aussagen über das Wesen des Menschen, wie sie in Kapitel 2 dargestellt sind. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt gelten, wenn sie dem Wesen und der Würde des Menschen entsprechen. Erziehungsziele müssen sich am Wesen des Menschen orientieren! 4.7.2 Normative Begründung Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen sind die für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendigen Werte und Normen. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt gelten, wenn sie ein geregeltes Zusammenleben ermöglichen. Erziehungsziele müssen sich an den für das Zusammenleben notwendigen Werten und Normen orientieren! 4.7.3 Pragmatische22 Begründung Die Grundlage für die Begründung von Erziehungszielen sind gegenwärtige und zukünftige Aufgaben und Probleme, die zu bewältigen sind. Erziehungsziele können dann als gerechtfertigt gelten, wenn durch sie wichtige Kompetenzen erworben werden, die zur Lösung von Aufgaben und Problemen unserer Gesellschaft bzw. Kultur notwendig sind. . Erziehungsziele müssen sich an den anstehenden Aufgaben und Problemen der Zeit orientieren! 22 Pragmatisch heißt „auf das Handeln bezogen“, „der Praxis dienen“ 31 4.8 DIE PÄDAGOGISCHE MÜNDIGKEIT ALS LEITVORSTELLUNG IN DER PÄDAGOGIK Die wissenschaftliche Pädagogik kann keine allgemeingültigen, konkreten Aussagen tätigen, was und wie der Mensch werden soll; sie kann lediglich übergreifende Erziehungsziele im Sinne eines Leitzieles formulieren, das jedoch mit konkreten Inhalten ergänzt werden muss. Ein solches übergreifendes Leitziel ist die pädagogische Mündigkeit. 4.8.1 Der Begriff „Pädagogische Mündigkeit“ Mündigkeit ist ursprünglich ein Rechtsbegriff und meint (im rechtlichen Sinne) die Berechtigung, seine eigenen Interessen selbst wahrnehmen, verbindliche Rechtsgeschäfte abschließen und politische Bürgerrechte entsprechend der jeweiligen Rechtsordnung ausüben zu können (vgl. Erich Weber, 1987). Der pädagogische Begriff der Mündigkeit bedeutet nach Heinrich Roth "Kompetenz23 im dreifachen Sinn": Sozial-Kompetenz ist "... die Fähigkeit zur partnerschaftlichen Begegnung mit anderen Menschen, zur produktiven Teilnahme an Gruppenprozessen und zur aktiven Auseinandersetzung mit den Hintergründen und aktuellen Prozessen der gesellschaftlichen Entwicklungen." Selbst-Kompetenz ist "... die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zu erfahren, über sich selbst zu bestimmen und sein Leben auf der Basis allgemein-menschlicher ... Verbindlichkeiten selbst zu gestalten." Sach-Kompetenz ist die Fähigkeit, "... in Ausbildung, Beruf, öffentlichem und privatem Bereich die Sachgüterwelt kooperativ und verantwortlich so zu gebrauchen oder zu verändern, dass sie der gesamten Menschheit nutzbar gemacht und dennoch ihrer eigenen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten nicht beraubt wird." (Paul Hastenteufel, 198024) Mündigkeit als pädagogische Zielvorstellung bedeutet die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, das soziale Leben zu bewältigen, sein eigenes Leben autonom zu gestalten und für sich selbst verantwortlich zu sein sowie mit der Sachwelt zurechtzukommen und in dieser angemessenen zu urteilen und zu handeln. 23 24 Kompetenz bedeutet soviel wie Zuständigkeit, Befugnis HASTENTEUFEL, Paul (1980): Lernen, Lehren, Leben. Baltmannsweiler. S. 67-82 32