Anterograde Amnesie Neurobiologische Grundlagen, Auswirkungen auf den Alltag und Rehabilitation Einleitung Unser Gehirn stellt eine Schnittstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. Die Erinnerung an unsere Vergangenheit stellt eine Basis für die Gegenwart dar und bildet einen Bestandteil unseres „Selbstbewusstseins“. Das Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befähigt den Menschen zur Antizipation möglicher Ereignisse und Zustände und ermöglicht so zielgerichtete Handlungen. Das menschliche Gehirn muss jeden Tag neue Informationen aufnehmen, abspeichern und zum richtigen Zeitpunkt wieder zum Abruf bereitstellen. Durch verschiedene Gehirnläsionen oder entzündliche Erkrankungen des Gehirns können eine oder mehrerer dieser Funktionen gestört werden. Wenn der Abruf von vergangenen Ereignissen nicht mehr möglich ist, spricht man von „retrograder Amnesie“. Wenn die Aufnahme und Speicherung neuer Ereignisse und Informationen ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr möglich ist, wird dies als „anterograde Amnesie“ bezeichnet. Amnesieformen aller Art stellen für die kognitive Neurowissenschaft eine große Herausforderung dar. Einerseits müssen die für die jeweilige Gedächtnisstörung relevanten Gehirnareale identifiziert werden und andererseits müssen entsprechende Rehabilitationsverfahren entwickelt werden, um den Patienten eine Wiedereingliederung in ihr alltägliches Umfeld zu ermöglichen oder zu erleichtern. Da meines Erachtens nach gerade anterograde Gedächtnisstörungen mehr oder weniger schwerwiegende und einschneidende Folgen für die Zukunft der Betroffenen darstellen, konzentriert sich die vorliegende Arbeit hauptsächlich auf diese Thematik Im ersten Teil dieser Arbeit soll ein allgemeiner Überblick über die neurobiologischen Grundlagen verschiedener anterograder Amnesieformen gegeben werden. Da in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten über Amnesie viel zu wenig auf die Alltagsrelevanz einer derartigen Störung eingegangen wird, möchte ich auch diese Aspekte besonders hervorheben. Den Abschluss dieser Arbeit bildet eine Übersicht über die derzeit gängigen Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Anterograde Amnesieformen Die anterograde Amnesie gilt als Leitsymptom des amnestischen Syndroms. Patienten vergessen innerhalb von Minuten, was sie gesehen, gehört oder getan haben und verfügen über keine „Chronik der laufenden Ereignisse“ zur Einordnung des aktuellen Erlebens. Zusätzlich zur anterograden Amnesie treten beim amnestischen Syndrom meist auch Störungen der zentralen Kontrolle und retrograde Gedächtnisstörungen auf. Die Patienten verlieren die zeitliche Orientierung von Tag zu Tag und innerhalb des Tages. Bei zusätzlicher Störung der Kontrollfunktionen weisen die Patienten weit abweichende Schätzungen der aktuellen Tageszeit auf und es entfällt eine mögliche Plausibilitätskontrolle durch Sonnenstand, Hungergefühl oder andere Hinweisreize (Goldenberg, 2002). Dem amnestischen Syndrom können verschiedene Ursachen unterliegen. Kopelman (2002) nennt neben Kopfverletzungen auch vaskuläre Läsionen, Hypoxie, Tumore im tieferen Mittelbereich, Läsionen des basalen Vorderhirns und entzündliche Krankheiten wie Herpes Encephalitis. Im Zusammenhang mit dem amnestischen Syndrom wird häufig das Korsakoff Syndrom angeführt, welches laut Andrew und Young (1991) weitaus häufiger vorkommt als Verletzungen oder Krankheiten. Diesem Syndrom unterliegt zumeist ein schwerer Thiaminmangel (ein Vitamin-B-Komplex), welcher neben anderen Ursachen jedoch hauptsächlich durch langjährigen exzessiven Alkoholmissbrauch hervorgerufen wird. Das Korsakoff Syndrom ähnelt in den Symptomen dem amnestischen Syndrom, zusätzlich wurden von Korsakoff (1889) aber auch Symptome wie massive retrograde Erinnerungseinbußen, Desorientierung in der Zeit und große Probleme bei der Erinnerung an zeitliche Abfolgen von Ereignissen berichtet. Tatsächlich erlebte Ereignisse werden zwar abgerufen, jedoch losgelöst von jeglichem zeitlichen Kontext und durcheinandergemischt. Die daraus resultierenden Gedächtnislücken münden in Konfabulationen. Neben den bisher genannten organischen Ursachen einer anterograden Amnesie tritt sie auch bei der sogenannten „Transienten Globalen Amnesie“ (TGA) als Hauptmerkmal auf. Bei dieser Form von Amnesie besteht eine kurzfristige Unfähigkeit zur Neugedächtnisbildung, die in den meisten Fällen nicht länger als 12 Stunden anhält (Caplan, 1990; Hodges and Ward, 1989). Der Beginn einer TGA kann zumeist gut abgegrenzt werden, da die Patienten plötzlich desorientiert wirken und wiederholt die selben Fragen stellen, jedoch unter Beibehaltung der persönlichen Identität. Im Unterschied zu organisch bedingten Amnesien liegen bei der TGA keine eindeutigen neurobiologischen Auffälligkeiten vor, während die Patienten für den Zeitraum von wenigen Stunden eine schwere anterograde und variable retrograde Amnesie aufweisen. Laut Kopelman (2002) könnte es sich bei der TGA um eine kurzfristige Dysfunktion in limbisch-hippocampalen Schaltkreisen handeln, welche wichtig sind für die Gedächtnisbildung. Das Durchschnittsalter der Patienten einer TGA beträgt lt. einer Studie von Caplan (1990) 60,7 Jahre und ist in etwa gleichverteilt auf die Geschlechter. Die Faktoren die eine TGA auslösen können, wurden bisher noch nicht eindeutig identifiziert bzw. wurden von verschiedenen Autoren mehrere Risikofaktoren geschildert wie zB. Bluthochdruck, Krankheiten der Herzkranzgefäße (Markowitsch, 1992), Diabetes oder periphere vaskuläre Erkrankungen (Caplan, 1990). Kopelman (2002) berichtet vorausgehende Faktoren wie Kopfschmerzen, stressiges Erlebnis, medizinischer Eingriff, intensive Emotionen oder exzessives Training. Auffällig oft wurde über eine Anfälligkeit für Migräne berichtet, allerdings nicht als Auslösefaktor. (Hodges und Warlows, 1989, 1990a, 1990b; Frank, 1981). Neuroanatomie anterograder Gedächtnisstörungen Durch die Amnesieforschung wurde es möglich, bessere Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses zu erhalten. Von zunehmendem Interesse war die Frage, welche Gehirnstrukturen ausschlaggebend sind für die Entstehung einer Amnesie. Ein Meilenstein in der Geschichte der Amnesieforschung stellte in diesem Zusammenhang der legendäre Patient H.M. dar, bei welchem aufgrund einer starken Epilepsie beide Temporallappen inklusive Hippocampus und Amygdala entfernt wurden. Da er als auch andere Patienten nach einer derartigen Operation ein schweres amnestisches Syndrom aufwiesen, wurde davon ausgegangen, dass der mediale Temporallappenbereich, insbesondere die Hippocampi ausschlaggebend seien für die Bildung eines Langzeitgedächtnisses (Scoville & Milner, 1957; Milner, 1966). Durch die Amnesieforschung konnte die Unterteilung in Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis gestützt werden, da bei der anterograden Amnesie lediglich das Langzeitgedächtnis beeinträchtigt ist (Bodenburg, 2001). Die bereits angenommene Dissoziation zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis konnte ebenfalls gestützt werden. Sämtliche Befunde von Amnesiepatienten wiesen Beeinträchtigungen der expliziten Gedächtnisinhalte auf, während die impliziten Inhalte wie prozedurales Lernen (Milner, 1965; Starr & Philipps, 1970), Priming (Cermak, Talbot, Chandler & Wolbarst, 1985) sowie klassische und operante Konditionierung (Weiskrantz & Warrington, 1979) erhalten waren. Ausgehend von den untersuchten Fällen mit Läsionen des medialen Temporallappens, vor allem des Hippocampus, wurden in der Folge auch andere Schädigungen mit resultierender Amnesie berichtet, wie zB. Läsionen des Fornix (zB. Moudgil et.al., 2000), der Mamillarkörper (zB. Mair et. al., 1979), anteriorer Thalamus (zB. Cramon, Hebel & Schuri, 1985) und des basalen Vorderhirns (zB. Abe et. al, 1998). Diese Tatsache führte zu dem Schluss, dass diese verschiedenen Strukturen Teil des limbischen Systems und Teil einer „Gedächtnisschleife“ sind und dass Unterbrechungen an einer beliebigen Stelle zum gleichen Ergebnis führen. Während es früher Zweifel daran gab, ob auch Läsionen des Fornix zu Amnesie führen, konnte dies mittlerweile bestätigt werden. (Gaffan and Gaffan, 1991; Hodges and Carpenter, 1991). Der Fornix ist der primäre afferente Pfad vom Hippocampus zu den Mamillarkörpern und dessen Schädigung führt daher zum gleichen Ausmaß zu Amnesie wie Schäden am Hippocampus oder den Mamillarkörpern. Bei Versuchen mit nicht-menschlichen Primaten wurden von Mishkin (1982) zwei verschiedene Pfade des limbischen Systems gefunden. Der „hippocampale Pfad“, welcher über den Fornix vom Hippocampus zu den Mamillarkörpern verläuft, von dort weiter zum anterioren Thalamus bis zum Gyrus cinguli und wieder zurück zum Hippocampus. Der „amygdalare Pfad“ projiziert über den dorso-medialen Thalamus zum orbito-frontalen Cortex und zurück zur Amygdala. Laut Mishkin kann nur dann eine Amnesie entstehen, wenn BEIDE Pfade von Läsionen betroffen sind, während bei Schädigung von nur einem Pfad mildere Beeinträchtigungen vorhanden sind. Der Fall H.M. konnte diese Theorie bestätigen und auch Victor et. al. (1989) konnten derartige Befunde nachweisen. Es gab aber auch einige Befunde, die diese Theorie nicht bestätigten (zB. Rolls, 1988; Parkin and Leng, 1993). Eine interessante Theorie zum Auftreten von Amnesie findet sich auch bei Goldenberg (2002). Er geht davon aus, dass die Aufnahme neuer Informationen in das explizite Gedächtnis auf Wechselwirkungen zwischen neokortikalen Rindenfeldern und dem limbischen System beruht. Über verschiedene Schaltstellen sind die limbischen Schleifen mit drei Arten von Informationen verbunden: - über den Hippokampus mit den Ergebnissen der Bearbeitung von sensorischen Eindrücken und von Sprache - über das basale Vorderhirn mit emotionalen und vegetativen Reaktionen - über den Thalamus mit der zentralen Kontrolle (sehr stark abhängig von frontalen Rindenfeldern) Laut Goldenberg „sind die Speicher der Gedächtnisinhalte auf verschiedene Rindenfelder verteilt und sind durch die limbischen Schleifen miteinander verbunden. Solange neue Inhalte noch nicht konsolidiert sind, ist die Vermittlung der limbischen Schleifen nötig, um aus ihren verstreuten Teilen zusammenhängende Erinnerungen und Wissen zu rekonstruieren. Im Laufe der Konsolidierung bilden sich direkte Verbindungen zwischen den verteilten Bruchstücken der Informationen, die schließlich einen bewussten und flexiblen Abruf auch ohne limbisches Gedächtnis erlauben“. Gemäß dieser Theorie verursacht jede Läsion, die zu einer vollständigen Unterbrechung der limbischen Schleifen führt, ein amnestisches Syndrom mit milder oder gar keiner retrograden Amnesie. Die häufigsten Läsionen befinden sich laut Goldenberg nahe oder direkt an/in Zentren der Schleifen, also Hippokampus, Thalamus, basales Vorderhirn. Allerdings wurde auch dieses Modell geschwächt, da bei einigen Fällen isolierte Hippokampus-Läsionen einen weit zurückreichenden Verlust von episodischen Erinnerungen verursachten. Dies wiederum würde dafür sprechen, dass der Hippokampus und vielleicht auch die limbischen Schleifen sowohl für Konsolidierungs- als auch für Abrufvorgänge nötig sind. Von wesentlicher Bedeutung ist auch, dass nur bilaterale Schädigungen ein amnestisches Syndrom hervorrufen. Bei unilateralen Läsionen entstehen materialspezifische Gedächtnisstörungen. Linksseitige Läsionen beeinträchtigen das Gedächtnis für sprachliche Information, während rechtsseitig die visuospatiale Information betroffen ist (Goldenberg, 2002). Insgesamt kann gesagt werden, dass auch heute noch keine einheitliche Theorie über die komplexe Funktionsweise des episodischen und semantischen Gedächtnisses vorliegt. Anterograde Amnesie und Alltagsbewältigung In den wenigsten wissenschaftlichen Arbeiten wird erwähnt, wie weit die anterograde Amnesie das Alltagsleben der Patienten beeinträchtigt. Während die retrograde Amnesie sich in vielen Fällen entweder auflöst oder durch „Faktenwissen“ aufgefüllt werden kann, bleibt die anterograde Amnesie irreversibel. Für eine möglichst optimale Rehabilitation und Wiedereingliederung in das Alltagsleben ist jedoch auch von großer Bedeutung, mit welchen Schwierigkeiten sich die Patienten in ihrem alltäglichen Umfeld auseinandersetzen müssen. Eine Gedächtnisstörung in diesem Ausmaß erlaubt in vielen Fällen keine Rückkehr an den früheren Arbeitsplatz und stellt nicht nur für den Betroffenen sondern auch für sein Umfeld eine große Belastung dar. Patienten mit anterograder Amnesie verfügen zwar über ihr gesamtes Wissen, welches sie vor Einsetzen der Amnesie erworben haben, können jedoch ab Beginn der Amnesie kein semantisches und episodisches Wissen mehr aufbauen. Die Patienten verfügen über keine Erinnerung der Ereignisse des laufenden Tages oder von am gleichen Tag erhaltenen Informationen. Da amnestische Patienten über ein intaktes Kurzzeitgedächtnis verfügen, ist es ihnen möglich, sich für kurze Zeit auf eine bestimmte Tätigkeit oder auf ein laufendes Gespräch zu konzentrieren. Nach einigen Minuten Unterbrechung besteht jedoch keine Erinnerung mehr an die vorherige Tätigkeit oder Unterhaltung oder an die Person, mit der die Unterhaltung geführt wurde, wenn es sich beim Gesprächspartner um eine neue Bekanntschaft handelte. Literatur: Abe, K., Inokawa, M., Kashiwagi, A., Yanagihara, T. (1998). Amnesia after a discrete basal forebrain lesion. Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry, 65, 126 – 130. Andrew, E., Young, A. W. (1991). Einführung in die kognitive Neuropsychologie (1. Auflage). Bern: Hans Huber. Bodenburg, S. (2001). Einführung in die klinische Neuropsychologie. Bern: Hans Huber. Caplan, L. R. (1990). Transient global amnesia: Characteristic features and overview. In H. J. Markowitsch, (Hrsg.), Transient global amnesia and related disorders. 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