Sprache, Verhalten, Lernen Die Bedeutung der Basisfunktionen Bewegen und Wahrnehmen Mittlerweile ist es wohl unbestritten, dass eine intakte Wahrnehmung und Motorik die Grundlage für Sprache, Lernen und Verhalten ist. Die Basisfunktionen „Bewegen und Wahrnehmen“ werden aber in der Diagnose von Lernstörungen weitgehend ausgeklammert, obwohl der internationale Diagnoseschlüssel ICD-10 (F8 und F9) in seiner Beschreibung sehr genau auf die Differentialdiagnose hinweist. Die Störungen der Sprache, besonders expressive Sprachstörungen, treten immer zusammen mit sensorischen Integrationsstörungen auf, die Feinund Grobmotorik dieser Kinder ist immer auffällig. 40 % der Kindergartenkinder in NRW (Deutschland) sind bei einer Überprüfung der Sprache im Alter von 4 Jahren als sprachentwicklungsverzögert aufgefallen. Die Konzentration, die Dauer der Aufmerksamkeit, ist ebenfalls eine Leistung, die auf einer ungestörten Entwicklung der Basisfunktionen in Wechselwirkung mit dem möglichst fördernden Umfeld steht und muss erlernt werden. Die sekundären Störungen zeigen sich als Lese-Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Hyperaktivitätssyndrom und werden als Teilleistungsstörung bezeichnet. Wer lange genug mit Kindern arbeitet, kennt noch die früher üblichen Bezeichnungen wie: MCD, POS, HKS, ZKTS, die ähnliche Bedeutung hatten wie die heutige Bezeichnung AD(H)S. Die unterschiedlichen Etiketten für dasselbe Phänomen zeigen, wie schwierig es ist, diese Kinder in einer homogenen Gruppe zu fassen. Bemerkenswert ist, wie die Anzahl der Kinder mit dieser Diagnose schwankt, abhängig von den Untersuchungsmethoden und den Untersuchern. Das so genannte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, auch verbunden mit motorischer Unruhe, ist eine zwanghafte Reaktion, die das Kind auch bei interessanten oder selbst gewählten Tätigkeiten weder abschalten noch in geordnete Bahnen lenken kann. Seit vielen Jahren gibt es die Annahme der Störung der zentral-nervösen Informationsverarbeitung unklarer Ätiologie. Die Forschungen der letzten Jahre beweisen, das so genannte ADS/ADHS-Syndrom ist das Ergebnis multifaktoreller Störungen aus den Bereichen organischer, genetischer, ernährungs- und erziehungsbedingter sowie sensorischer Störungen. Erst eine detaillierte Analyse dieser Bereiche gibt einen umfassenden Einblick in diese komplexe Erkrankung, so dass eine optimale Therapie möglich wird. Allen Bemühungen zum Trotz steigt die Anzahl der Kinder mit Verhaltens- und Lernproblemen. Pädagogische Konzepte, psychologische Beratung und medizinische Methoden sind nicht allein ausreichend. In zwei Kindergärten in Österreich wurden Kinder von Mototherapeuten nach denselben Untersuchungsbögen untersucht. Ein Kindergarten befindet sich im ländlichen Raum in einem Dorf mit viel Natur und ausreichend Platz zum Spielen. Der zweite Kindergarten befindet sich in einer mittelgroßen Stadt. Der „Dorfkindergarten“ hatte zu unserer Überraschung deutlich schlechtere Ergebnisse als der „Stadtkindergarten“. Eine Erklärung für diese Tatsache ist für uns, dass der „Dorfkindergarten“ zwar viel Platz zum Spielen hatte, sich die Erzieher aber offensichtlich darauf verlassen hatten, dass die Natur schon allein für die gute Entwicklung der Kinder ausreiche, während der „Stadtkindergarten“ verschiedene Gruppen zur Förderung (Bewegen, Tanzen, Theaterspielen, Kochen) angeboten hat, die auch gut angenommen wurden. Ein weiterer Hinweis für die Veränderung der sensomotorischen Leistungen bei Kindern ist die Normierung der Förderdiagnostik zum Schulanfang von 1991. Für die „Förderdiagnostik zum Schulanfang“ (FDS) haben wir die motorischen Leistungen der 70er Jahre zugrunde gelegt. Nach der ersten Testphase mussten wir die Normen in den motorischen Kriterien halbieren, um eine Normalgruppe zu erhalten. Der Einbeinstand mit geschlossenen Augen wurde vor 30 Jahren im Durchschnitt für 10 Sekunden gehalten. In der jetzigen Untersuchung zeigte sich, dass Kinder, die über 5 Sekunden auf einem Bein stehen, bereits als überdurchschnittlich einzuordnen sind. In der Untersuchung ergab sich, dass die gleichaltrigen Mädchen, außer in der Mengenerfassung, den Jungen in der Entwicklung deutlich voraus sind. Die graphomotorischen Leistungen der Mädchen liegen etwa ein bis 1 ½ Jahre in der Entwicklung vor den Jungen. Die Aufgabe „Sprechzeichnen“ konnten 45% der Jungen nicht lösen, bei den Mädchen dagegen sind nur 30% gescheitert. Die Aufgabe überprüft eine wichtige Lernvoraussetzung, nämlich die Fähigkeit gleichzeitig zu schreiben, zu sprechen und zu denken. Die Konsequenz ist, dass Jungen in der Eingangsstufe mehr Übung für die Graphomotorik und die kombinierten Leistungen benötigen. Bevor Schreiben geübt wird, sollten Schreibspiele oder Sprechzeichnen durchgeführt werden. In der Verhaltensbeobachtung zeigte sich, dass Jungen mehr Schwierigkeiten mit dem Stillsitzen und der Ausdauer haben. Die Jungen dürfen in der Mehrzahl in den Eingangsklassen in der Graphomotorik, in der Ausdauer und beim Stillsitzen nicht mit den gleichaltrigen Mädchen verglichen werden. Vielleicht erklären die Entwicklungsunterschiede von Jungen und Mädchen in der ersten Klasse, weshalb fünfmal mehr Jungen als Mädchen die Schule für Lernbehinderte besuchen. Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass Kinder nicht frühzeitig eingeschult werden sollten. Bei Jungen bedarf die Einschulung auf Antrag besonders gründlicher Überlegungen. Zu früh eingeschulte Kinder wiederholen dreimal häufiger eine Klasse als Kinder, die normal eingeschult wurden. Es ist zu bedenken, dass soziales Lernen nicht übersprungen werden kann und Lebenserfahrung auch von hochbegabten Kindern erlebt werden muss. Die Zahl der Schulkinder mit Lern- und Verhaltensstörungen wird von unterschiedlichen Fachleuten auf 15 – 20% geschätzt. Lese-Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, Konzentrations- störungen, Hyperaktivität, Verweigerung, Aggressivität nehmen zu. Psychosomatische Störungen häufen sich, wie Kopf- und Bauchschmerzen oder Essstörungen. Eine Untersuchung der Schüler/innen einer Grundschule im Januar 2002 ergab eine alarmierende Zahl von auffälligen Kindern. Von 323 untersuchten Kindern im Alter von 6 – 11 Jahren fanden wir bis zu 50% Kinder in einer Klasse mit Restsymptomatik frühkindlicher Bewegungsmuster. Durch Eltern- und Lehrerfragebögen fanden wir in den Klassen zwischen 15 – 40% der Schüler/innen, die von Eltern und Lehrern als auffällig bezeichnet wurden. Besonderes Merkmal ist, dass diese Kinder immer eine Häufung von Auffälligkeiten in unserer Untersuchung hatten. Von den wenigen „unauffälligen“ 21 Kindern in der Studie wurde kein Kind von Eltern oder Lehrern als schwierig bezeichnet. Eine Überraschung war die Tatsache, dass es kaum Unterschiede in der Häufung der Auffälligkeiten bei Jungen und Mädchen gab. In die Therapie kommen aber etwa viermal bis fünfmal mehr Jungen als Mädchen. Bewegung ist das tragende Element eines Systems, in dem Gehirn und Körper mit dem Ziel zusammenarbeiten, die Effizienz zwischen beiden zu verbessern. Die Botschaften müssen dafür mit gleicher Qualität vom Gehirn zum Körper und umgekehrt übermittelt werden. Die sieben Sinne versorgen das Gehirn mit Informationen über die Umwelt und bereichern es mit Erfahrungen durch die Sensomotorik. Eine ungestörte Reifung hilft, dass die einzelnen Sinne Genauigkeit und Effektivität in ihrem jeweiligen Gebiet entwickelt. So entsteht im Gehirn ein immer vollständigeres Bild der Umwelt. Das Gehirn ist formbar, es wird durch Gebrauch immer weiter differenziert. Die ungestörte Entwicklung der Basisfunktionen Sensorik, Motorik und zentrale Verarbeitung sind die Grundlage für erfolgreiches Lernen. Lernen ist im Gegensatz zur Entwicklung individuell und erfahrungsbedingt und auf ein gutes sensomotorisches Fundament angewiesen. Lerninhalte stehen dann zuverlässig zur Verfügung, wenn sie durch die ungestörten Sinne ins Gehirn kommen und da adäquat verarbeitet werden. Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen und angemessenes Verhalten sind nicht angeboren, sondern müssen gelernt werden. Die umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen werden häufig als „soft signs“ bezeichnet, als unscharfe neurologische Symptome, deren Bedeutung für Sprechen/Sprache, Lesen und Schreiben, Rechnen und Verhalten unterschiedlich bewertet werden. Störungen der Sensomotorik und die damit verbundenen negativen Erfahrungen sowie emotionale Belastungen hinterlassen im Gehirn eine Spur, eine Art biochemischer Narbe, die sich in Stresssituationen bemerkbar machen kann durch eine deutlich verminderte Belastbarkeit und Lernstörungen. Häufig anamnestisch sind anzutreffen: sehr frühes Laufen (vor 12 Monaten) oder sehr spätes Laufen (nach 18 Monaten), die Bausteine der kindlichen Entwicklung wurden ausgelassen (krabbeln) oder nur sehr kurz gezeigt. Das Spielverhalten war auffällig, nur kurze Beschäftigung mit den Spielsachen, verzögerte Sprachentwicklung, wenig Rollenspiele. Viel zu selten werden die Kinder sensomotorisch untersucht. Durch die Ausklammerung der Basisfunktionen wird in der Diagnose und in den Förderprogrammen gleich auf der kognitiven Ebene angesetzt und somit die „Teilleistungsstörungen“ erst recht zementiert, da weiterhin die sensomotorische Basis fehlt. Die Bezeichnung LRS oder Dyskalkulie wird als Diagnose benutzt, es wird zur Teilleistungsstörung erklärt und auf kognitive Ursachen beschränkt. Es wird damit ein Symptom „das Kind kann nicht altersentsprechend lesen und schreiben“ mit zur Ursache erklärt. Die Begriffe LRS und Dyskalkulie beschreiben eine Störung, es sind keine Ursachen. Die LRS und Dyskalkulie haben nicht zur Ursache die Schwierigkeit lesen, rechnen und schreiben zu lernen, es sind Entwicklungsstörungen. Es sind keine genau eingegrenzten Störungen, sondern multifaktorelle und individuelle Störungen der Basisfunktionen. Welche Symptome ein Kind entwickelt, hängt vom Grad der Störung, dem Umfeld, seinem Intellekt, seiner Psyche, den individuellen Erfahrungen und dem aktuellen Zustand des zentralen Nervensystems ab. Es ist ein Fehler, die Förderung auf der kognitiven Ebene anzusetzen und mit den Kindern Leistungen zu üben, die sie aufgrund ihrer SIStörung nur unzureichend beherrschen. Es ändert sich nichts an der Grundstörung, im Gegenteil, es werden Frustration und Verzweiflung des Kindes gesteigert, was häufig zusätzlich zu Verhaltensstörungen führt. ADS-Kinder machen sich und den Mitschülern nicht aus Bosheit das Leben schwer. Es ist das Resultat innerer Unruhe, besonderer Belastung und Anstrengung. Vorrangige Aufgabe von Eltern und Lehrern besteht darin, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe die Auswirkungen auf ein erträgliches Maß gemildert werden können. Je ausgeprägter Lernschwächen sind, umso mehr sollten motorische Konzepte in die Förderung integriert werden. Sie ersetzen kein sorgfältig strukturiertes pädagogisches Programm, aber die Basisfunktionen sind das Fundament zum Lernen. Bitte denken Sie daran, Sprechen, Verhalten, Lesen, Schreiben und Rechnen beginnen am Körper und sind von dessen Funktionen abhängig.