Die Lebenslage eines alten Menschen Um ein umfassenderes Bild über soziale Ausgrenzung und Benachteiligung zu erhalten, eignet sich das Lebenslagenkonzept, welches die Lebenslage aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Die nachfolgenden Dimensionen der Lebenslage eines alten Menschen wurden der ökosozialen Theorie von Rainer Wendt, dem mehrdimensionalen Konzept der sozialen Lage von Hradil und einzelner Aspekte von Pierre Bourdieu zum ökonomischen- , sozialen- und kulturellen Kapital entnommen. Die Lebenslage eines alten Menschen ist abhängig von 1. seinem Gesundheitszustand 2. der materiellen Versorgung 3. der Einbindung in soziale Netzwerke und der Möglichkeit seine Kompetenzen einzubringen 4. der bisherigen Lebensgeschichte und den Zukunftserwartungen sowie seiner Selbsteinschätzung 5. den Wohnbedingungen und dem Wohnumfeld 6. der Möglichkeit zu Selbst- und Mitbestimmung 7. der Möglichkeit Neues zu lernen, neue Erfahrungen zu sammeln und neue Ziele anzugehen 8. dem erlernten Bewältigungsstil in Krisen 9. seiner eigenen Sinnhaftigkeit Beispielhafte Erläuterungen: Bereits bei näherer Betrachtung der ersten Dimension wird deutlich, dass sich Armut an Gesundheit auch sehr stark auf andere Dimensionen auswirkt. „Ohne Gesundheit ist alles nichts!“? Eine Armut an materieller Ausstattung wirkt sich in der Regel direkt auf seine Wohnbedingungen sowie sein Wohnumfeld aus. Gesellschaftliche Teilhabe ist nur sehr eingeschränkt möglich. Studien belegen: arme Menschen sind kränker und haben auch eine viel geringere Lebenserwartung als wohlhabende Menschen. Die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung sind eingeschränkter und die Erwartungen an die Zukunft weniger rosig, im Vergleich mit reicheren Mitbürgern. Auch ein alter Mensch ohne soziale Netzwerke kann ein ganz „armer Tropf“ sein, wenn er sehr reich ist. Die Lebensgeschichte prägt einen Menschen in seinem Handeln und Denken. Überwiegen hier negative Erfahrungen sehr stark, wird der Blick auf sich selbst und in die Zukunft eher düster sein. Ohne bzw. mit negativen Erwartungen an die Zukunft wird das weitere Leben sehr schwierig. Ein immobiler älterer Mensch hat große Probleme, wenn seine Wohnung nicht barrierefrei ist. Viele Betroffenen verlassen ihre Wohnung nur noch zum Gang ins Krankenhaus oder Pflegeheim. Das „Eingeschlossensein“ in einer Wohnung reduziert die Teilhabemöglichkeit auf ein Minimum. Ein Mensch, der nicht mehr gefordert wird, dem alles abgenommen wird, kann seine Kompetenzen nicht einbringen – er verlernt sie und er verkümmert. Im Alter treten Lebenskrisen gehäuft auf, z.B. Tod des Ehepartners oder Krankheiten. Jede Krise gilt es zu bewältigen. Allerdings gibt es positive und negative Bewältigungsstrategien. Z.B. können pflegende Angehörige eines Menschen mit Demenz die Belastungen durch die Krankheit mit der Strategie des Verdrängens und des Rückzugs bewältigen, die oftmals in eine Depression mündet. Dies ist eine Armut an erlernten Bewältigungsstrategien, die sich elementar auf das gesamte Leben auswirkt. Ist das Leben arm an Sinnhaftigkeit, ist es „sinnlos“. Die Armut in dieser Dimension führt viele Betroffene in den Suizid. Das Leben im Alter mit „neuem Sinn“ zu füllen, ist eine ausgezeichnete Möglichkeit der Kirchen, die viel zu wenig wahrgenommen wird. Wie arm oder reich ein älterer Mensch ist, zeigt sich erst in der Gesamtbetrachtung der Dimensionen. Ein materiell armer Menschen, der jedoch über ein gutes soziales Netz verfügt und der seine Kompetenzen einbringen kann, wird „reicher“ sein, als ein kranker vereinsamter reicher Mensch. Die Vielfältigkeit des Alters und dessen Ausgestaltung kommt hier zum Tragen und es wird offensichtlich, dass kein Mensch nur reich oder nur arm ist. Spezifische Personengruppen können besser in den Blick genommen werden. Der besondere Vorteil des Lagekonzepts ist, dass über die klassischen schichtspezifischen Zuordnungen hinaus auch die Lebenslagen spezifischer Personengruppen erfasst werden können, weil neben dem Einkommen auch andere Dimensionen berücksichtigt werden, wie z.B. Freizeitbedingungen, soziale Beziehungen, Diskriminierung, Stigmatisierung usw. Spezifische Personengruppen sind z.B. Alleinerziehende, Rentner, Erwerbsunfähige, Hausfrauen, Menschen mit Behinderung usw. Zu einer Sozialen Lage werden Lebensbedingungen zusammengefasst, die durch ihr Zusammenwirken zu bestimmten Vor- und Nachteilen in unterschiedlichen Dimensionen des Lebens beitragen. Es werden also alle Bedingungen, in denen wir leben miteinbezogen, um spezifische Kombinationen jeweils vorteilhafter und nachteiliger Lebensbedingungen herauszuarbeiten. Insofern gelingt es, über die klassischen schichtspezifischen Zuordnungen hinaus, Lebenslagen spezifischer Personengruppen wie z.B. die Lage von älteren Menschen in den Blick zu bekommen. Darstellungsschema der Lebenslage von Wolf Rainer Wendt Zur Lebenslage hat Wendt ein Schema entwickelt mit den vier Dimensionen: Lebensgeschichte, Perspektiven, Umwelt und Innenwelt. Die Lebensgeschichte entspricht der bisherigen Biografie und körperlichen Verfassung, die Perspektiven den Zukunftserwartungen. Die Innenwelt wird als eigene Wahrnehmung und Selbstdeutung, die Umwelt als relevante äußere Bedingungen beschrieben. Das Subjekt befindet sich zwischen den Polen Lebensgeschichte und Perspektiven sowie quer zu dieser zeitlichen Achse zwischen den Polen Innenwelt und Außenwelt. Jede Handlung oder Veränderung hat Auswirkungen und Rückwirkungen auf die Gesamtlage, deshalb spricht Wendt von einem zirkulären Prozess. Determinanten in der Person-Umwelt-Beziehung sind: Einkommen, berufliche und soziale Positionen, der Wohnstandard, die Zahl und das Niveau der Kontakte. Ein Individuum befindet sich also innerhalb vieler Beziehungsgeflechte. Die subjektive und objektive Beschreibung der momentanen Lebenslage ist dabei meist nicht deckungsgleich, da Subjekte in ihrer Selbsteinschätzung beeinflusst werden von ihrem jeweiligen Lebensstil, von ihren Erfahrungen, also geprägt werden durch ihr soziales Umfeld, unter Mitwirkung der kulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen Das Salutogenesemodell nach Antonovsky Salutogenese ist der Gegenbegriff zur Pathogenese. Die Salutogenese fragt, warum wird/bleibt ein Mensch trotz extremer Umstände gesund? Es handelt sich um ein erweitertes Stressmodell, welches nach den Schutzfaktoren fragt. Beim Gesundheits-Krankheits-Kontinuum handelt es sich um die Einschätzung der Gesundheit. Wobei die Selbsteinschätzung stark von der Experteneinschätzung abweichen kann. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem Zustand der Spannung. Dabei kann der Spannungszustand pathologische (Disstress), neutrale (keine) oder gesundheitsförderliche (Eustress) Auswirkungen haben. Generalisierte Widerstandsquellen, die eine erfolgreiche Spannungsbewältigung ermöglichen - Konstitution (Bärennatur) Anpassungsleistung, zu denen der Körper in der Lage ist - Materielle Ausstattung, Wohnumfeld, Arbeitsplatzgestaltung... - Kognitive und emotionale Widerstandsquellen (Ich-Identität), Wissen, Bildung – Intelligenz nicht gut messbar - Individuelle Bewältigungsmuster im Umgang mit Stressoren, die durch bewusstes Handeln, Flexibilität und Weitsicht geprägt sind - Soziale Unterstützungssysteme - Kulturelle und gesellschaftliche Bezüge eines Menschen (gesellschaftliche Normen, Religionszugehörigkeit) Diese Widerstandsquellen können direkt durch die zentrale Schaltstelle des Kohärenzsinns aktiviert werden. Kohärenz bezeichnet ein Gefühl, bei dem ich mit mir selber im Einklang bin (Urvertrauen, das Leben ist in Ordnung, hat Sinn, das Leben ist schön – Gegenteil: völlige Demoralisierung – das Leben ist sinnlos) Komponenten des Kohärenzsinns - Verstehbarkeit Man überblickt und ordnet Probleme ein, egal wie belastet man ist, man versteht die Welt, kann Probleme rational zuordnen - Handhabbarkeit Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann - Bedeutsamkeit (Sinnhaftigkeit) Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es lohnt sich zu leben. Es gibt Ziele und Projekte für die es lohnt, sich zu engagieren. Pierre Bourdieu Pierre Bourdieu hat ein Konzept entwickelt, welches soziale Klassen wie auch Milieus, bzw. Lebensstile integriert. Er erweitert den Kapitalbegriff von Marx und geht von drei verschiedenen Kapitalformen aus. Ausgangspunkt ist der soziale Raum, in den ein Mensch hineingeboren wird. Entsprechend diesem Herkunftsmilieus, in dem man aufwächst, verfügen Menschen über verschiedentlich ausgestattetes Kapital. Dieses Kapital, in allen seinen Erscheinungsformen unterteilt er in Ökonomisches Kapital: Materielles Kapital im Sinne von Geld und Vermögen - objektiviert: Löhne, Gehälter, Vermögen, Immobilien..., - institutionalisiert: gesellschaftlich legitimiertes Eigentums- und Erbschaftsrecht Soziales Kapital: Ressourcen aufgrund von Gruppenzugehörigkeit, Netzwerke, Beziehungen - berufliche Netzwerke: Berufsverbände, Fachvereinigungen - außerberufliche Netzwerke: Vereine, Parteien, Initiativen, Freunde, Nachbarn - verwandtschaftliche Netzwerke: Familie, Herkunftsmilieu Kulturelles Kapital: bildungsrelevante Güter und kulturrelevantes Wissen - inkorporiert: eigenes Wissen, Interesse an Bildung, Erziehung - institutionalisiert: Zertifikate, Titel, Zeugnisse - objektiviert: das Vorhandensein von Büchern, Software, Instrumente... Alle drei Kapitalformen bedingen die Lebenschancen, weil sie den Zugang zu bestimmten sozialen Kreisen erleichtern oder erschweren können. Außerdem beeinflussen sich die verschiedenen Kapitalformen auch gegenseitig. Das kulturelle Kapital Bildung kann z.B. in andere Kapitalformen transformiert werden, indem man durch ein Studium und ständige Weiterbildung letztendlich einen gut dotierten Arbeitsplatz erhält, steigert sich auch das ökonomische Kapital – die Netzwerke werden sich auch dementsprechend ändern, also verändert sich auch das soziale Kapital. soziales kulturelles Geld Netzwerke Wissen Vermögen Beziehungen Interesse an Bildung Gesundheitszustand Rente Vereine Erziehung Psyche Pensionen Verbände Zertifikate Genetische Immobilien Parteien Zeugnisse Disposition Einkommen Freunde Glaube* ökonomisches körperliches* Titel Nachbarn Bücher Familie Computer Herkunfts milieu Instrumente *dem Konzept hinzugefügt Zusätzlich wurde diesem Konzept noch ein viertes Kapital hinzugefügt: - körperliches Kapital Oftmals wundern sich Leute oder Mediziner über Erkrankte, deren körperliches Kapital ziemlich am Boden ist und trotzdem geht es ihnen relativ gut. Kennen Sie solche Menschen? Wissen Sie, wie die anderen Kapitalsäulen dieser Menschen bestückt sind? (In der Regel sehr gut – hier spielen v.a. gut funktionierende und tragende soziale Netzwerke eine große Rolle) Außerdem sind wir geprägt durch unseren Glauben, das ist unsere heimliche Kapitalsäule, die uns zusätzlich stützt (die Säule des Glaubens wurde auch hinzugefügt). Wenn ein Mensch in einem Kapitalstock schwächelt, in anderen jedoch gut ausgestattet ist, kann sehr viel auch ausgeglichen/ausbalanciert werden.