07.05.2006: Prof. Dr. Hans Lippert - Evangelischer Hochschulbeirat

Werbung
1
Akademischer Gottesdienst
am Sonntag, 7. Mai 2006 in der Wallonerkirche zu Magdeburg
Predigt von Prof. Dr. Hans Lippert,
Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums,
Direktor der Klinik für allgemeine Chirurgie
über 2. Kor. 4, 16-18
„Darum werden wir nicht müde, sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere
von Tag zu Tag erneuert. Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle
Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“
Dieser Text, wenn er ohne Bezug aus dem Zusammenhang gesagt wird, provoziert verschiedene
Interpretationen.
Bedenkt man die entehrenden und lebensgefährlichen Bestrafungen, die Schiffsunglücke auf den
Missionsreisen, das Frühjahrshochwasser und die Wetterunbilden auf den Wanderungen, die
Paulus erlebte, oder die eigene Begrenzung durch Krankheit oder Leiden, so ist der Bezug zum
Unsichtbaren wohl auf die Welt Gottes zu verstehen.
Dennoch, wer von Gott redet ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln, redet nicht mehr
von ihm oder jedenfalls an ihm vorbei. Deshalb lassen Sie mich mit einer eigenen Darstellung auf
den Text zurückkommen. Er sagt: „unsere Trübsal ist zeitlich und leicht. Denn was sichtbar ist,
das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“
Zunächst kann man den Text als Zumutung empfinden. Wir werden nicht müde, uns um den
äußeren Menschen zu kümmern, damit er nicht verfällt, jedenfalls nicht zur Unzeit. Wenn ich mir
meine Patienten vor Augen führe, die täglich zu uns kommen, dann kann ich nicht erkennen,
dass ihre Trübsal leicht ist. Sie kommen oft ziemlich verzweifelt und verängstigt. Das Sichtbare
ist für mich der Mensch, der sich mit seiner Krankheit quält, der Hilfe erwartet. Kann man dann
einfach sagen, das Sichtbare ist nicht so wichtig? Es ist ja nur zeitlich!
Was Paulus hier mit seiner eigenen Erfahrung im Brief an die Korinther schreibt, erscheint aus
meiner Sicht etwas einfach. Das kann man so nicht hinnehmen.
Andererseits steckt in dem Text ein Gegensatzpaar, das ich durchaus aus meiner langjährigen
Erfahrung kenne. Der äußere Mensch und der innere, das Sichtbare und das Unsichtbare, wir
würden heute auch sagen: Leib und Seele oder Körper und Geist!
Das sind zwei Seiten des Menschen, die in engem Zusammenhang stehen. Gerade bei kranken
wird das besonders deutlich.
Wenn die Seele nicht stark ist, wenn der Wille, gesund zu werden, nicht da ist, dann helfen oft
auch die heute möglichen Reparaturen am Körper nicht wirklich weiter. Diese innere Einstellung
ist wirklich wichtig. Wir fragen uns selber oft, ob wir uns im heutigen Gesundheitsbetrieb genug
Zeit dafür nehmen, diese so wichtige Einstellung zu stärken. Die heute so technisch cool
vermittelte und juristisch abgesicherte Aufklärung ist oft unverständliche Rede, das enge
Zeitfenster der vorgegebenen Behandlungsminuten lässt das individuelle unsichtbare Gefühl des
kranken Menschen meist unberücksichtigt. Nicht jeder hat die Kraft oder den Glauben an die
Welt Gottes. Wem der natürliche Tod oder eine schwere Krankheit nur als ein Fallen in ein tiefes
schwarzes Loch erscheint, oder das Verlöschen jedes noch so geringen Genusses, der urteilt
anders über das was lebenswert ist, als jener der jenseits des Todes ein Licht am Ende eines
langes Weges sieht. Wir sollten allen, den kranken und ihren Angehörigen, die Zeit für die
Gefühle einräumen.
In den Kostenpauschalen der Krankenkassen sind diese Zeiten nicht eingeplant. Der
Wettbewerb und die in Gang gesetzten Reformen zielen auf das Abrechenbare. Dies ist für viele
2
das Sichtbare. Mir wäre es schon ganz recht, die Tendenz dieses Textes, das Unsichtbare, den
inneren Menschen etwas ernster zu nehmen und nicht alles auf die Kostensenkung zu reduzieren.
Da müssten wir allerdings auch mal in der Gesellschaft darüber diskutieren, wie viel uns das wert
ist und nicht einfach nur die Kostenreduzierung zum obersten Prinzip machen. Wir hören, es
muss gespart werden, um das Wachstum anzukurbeln, also durch Kürzung. Wir sollen den
Standort sichern, etwa durch Entlassung und Vertreibung derer, die am Standort leben und
arbeiten??
Die Frage nach dem Wert des Lebens, der Lebenszeit und der Lebensqualität richtet sich primär
an die Gesellschaft und dann erst an den kleineren Teil dieser Gesellschaft, die Medizin. Wenn
ich begrifflich das Unsichtbare auch in einen zeitlichen Bezug bringe, so muss die Hoffnung
immer größer sein, als die Verzweiflung.
Angesichts der wachsenden medizinischen Möglichkeiten steht wir immer wieder vor der Frage,
was sollen wir zur Bekämpfung von Symptomen einer Krankheit noch tun, wenn diese als ganze
nicht mehr heilbar ist. Wenn eine Chance auf Heilung besteht, ist dies kaum eine Frage. Aber
wenn das nicht der Fall ist, dann muss entschieden werden, was tut man, was lässt man. Man
wird den Patienten und die Angehörigen in diese Entscheidung einbeziehen. Diese sind aber
immer auf den Rat der Ärzte angewiesen. Was wir sagen und raten und wie wir es sagen,
beeinflusst die Entscheidung wesentlich mit. Wie gehen wir mit der Macht um? Welche Kriterien
haben wir?
Wenn wir unseren chirurgischen Auftrag so verstehen, das Gott nicht zu den Menschen kommt,
um das Leid abzuschaffen, sondern durch die Vermittlung des Menschen wirkt, so sollte unsere
Bitte sein, Gott möge uns befähigen, das Leid anderer zu lindern. Dann muss das auch heißen,
dass wir selbst das Verlangen und die Bereitschaft haben, dafür zu arbeiten. Also für das
Sichtbare, Zeitliche etwas zu tun.
So kann mein Kriterium nur sein, alles zu tun was die Lebensqualität des Betroffenen in der
voraussichtlich noch zur Verfügung stehenden Lebenszeit tatsächlich verbessert.
Im Sinne des Paulustextes könnte man auch sagen: Der äußere Mensch ist das Gefäß, in dem der
innere Mensch sich entfalten kann. Hier ist die Unterscheidung wirklich eine Hilfe.
Hier gäbe es viele Beispiele des täglichen Erlebens. Krankheiten und Leiden verändern die
Menschen, aber es ist oft keine Verarmung sondern eine Erfahrung. Dies trifft alle. Das Gefühl
des Unsichtbaren, Zufriedenheit, Wunsch nach Ruhe und des erfüllten Lebens wird einen älteren
Kranken anders mit seinem Leiden und den Angeboten des Medizin umgehen lassen als einen
jungen Menschen, der eigentlich erst das Leben als Aufgabe meistern möchte.
Vor einigen Jahren gab mit die Mutter ihrer kurz vorher verstorbenen 23-jährigen Tochter deren
Tagebuch der letzten drei Jahre. Die junge Frau wurde mit 19 Jahren zu uns geschickt mit einem
sehr bösartigen, nicht heilbaren Tumorleiden. Sie wusste um die Prognose und einer im Internet
nachlesbaren Überlebenszeit von maximal 10 Monaten.
Sie war nicht christlich erzogen. Die Gespräche mit ihr waren meist knapp und wenn Zeit war
vielleicht mal eine halbe Stunde. Sie schrieb über diese ersten Gespräche mit mir: „Warum hat er
so wenig Zeit für mich? Ich habe doch Angst. Ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt.
Kinder kann ich auch nicht mehr bekommen. Was passiert mit mir? Ich habe so viele Fragen.“
An einem Tag schrieb sie: „Heute hat er mit mir etwas länger gesprochen. Ich habe wieder
Hoffnung. Wenn ich die Operation überstehe und dann noch die Chemotherapie, dann kann ich
noch eine Lehre machen. Er sagt, es wird mir immer mal wieder schlecht gehen und wenn ich
Angst habe, dann werden sie mir helfen. Ich habe ihn gefragt, muss ich in wenigen Monaten
sterben? Er sagt, wir werden jeden Tag um dich kämpfen, damit es nicht so kommt.“
3
Wir haben uns um eine Lehre für sie bemüht. Sie hat ihre Lehre mit Auszeichnung
abgeschlossen. Immer zwischen Chemotherapien, erneuten Operationen und Bestrahlungen. Sie
lebte länger mit dem Gefühl eines Ziels, als es das Internet prophezeite.
Sie ist gestorben und einige Wochen vorher wusste sie, jetzt geht es wohl nicht mehr weiter. In
ihrem Tagebuch steht: „Ich habe jetzt ein Abschlusszeugnis, meine Mutti kann stolz auf mich
sein. Sie wird es in das Wohnzimmer hängen und es kann jeder sehen.“
Und nun kommt der überraschende Satz „Lieber Gott, ich weiß nicht, ob es Dich gibt, aber ich
danke Dir.“ Das sichtbare Zeugnis, erworben in der Zeit des größten Leidens, hängt mit
schönem Rahmen im Wohnzimmer der Mutter, deren einziges Kind sie war.
Das über 100 Seiten fassende Tagebuch ist für mich eine Aufforderung, das zeitlich Sichtbare
und zeitlich Unsichtbare doch enger zu verknüpfen. Auch wenn etwas zeitlich nicht ewig ist, so
sollte die Trübsal und Verzweiflung unserer Mitmenschen ein Auftrag zur christlichen Hilfe sein.
Womit wollen wir einen kranken Menschen oder auch einen sterbenden Menschen in der Tiefe
der Verzweiflung aushalten, wenn wir nicht mit den Augen des Glaubens auf das kleine, nicht für
jeden sichtbare Licht auf dem dunklen Horizont blicken? Wie soll unser ärztliches Handeln noch
sinnvoll sein, trotz aller Enttäuschungen, trotz allen Einsatzes, trotz aller bedingten, wohlgemerkt
auf Zeit sich einstellenden klinischen Erfolge? Sie ändern nichts an dem Grundphänomen des
Geborenwerdens und Sterbens.
Wir können mit unserer Medizin Kraft schöpfen von der Hoffnung des Glaubens, auch auf den
Anspruch eines sichtbaren Tages im Leben. Ich kann nur so die Tränen eines Menschen ertragen,
weil ich glaube, dass Gott sich seiner Tränen annehmen wird. Und noch mal: Hoffnung muss im
Leben sichtbarer als Verzweiflung bleiben.
Wir sehen oft, dass Trübsal ertragen eine harte Arbeit ist. Sie mag zwar zeitlich sein, Gott sei
dank! Aber leicht ist sie in der Regel nicht. Die Bedingungen muss man erst mal schaffen, wie sie
Paulus schreibt, dass der äußere Mensch zwar verfällt, doch der innere von Tag zu Tag erneuert
wird. Es wäre schön, wenn die Christen da nicht müde werden, solche Bedingungen zu schaffen.
Dazu müssen Menschen ertüchtigt werden. Da gibt es noch viel zu tun und das kann man auch
nicht einfach den Ärzten und Krankenhäusern überlassen.
Über das ewige Leben, diese über alle Maße gewichtete Herrlichkeit, will ich nichts sagen. Das
will ich gerne Berufenen überlassen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen heute noch mit welchem
Hintergrund an das ewige Leben glauben. Man kann in diesem Zusammenhang viele provokante
Fragen aufwerfen, so z.B. wenn das Erreichen dieser Herrlichkeit das große Ziel ist und
qualvolles Sterben eben keine leichte Trübsal, wie Paulus es behauptet, was ist dann ethisch noch
vertretbar?
Bleibt mir am Schluss die Erkenntnis, mit meiner Interpretation unterstelle ich möglicherweise zu
unrecht Paulus, dass er es sich ein bisschen leicht gemacht hat. Aber er provoziert die richtigen
Fragen. Erwarten Sie die Antworten nicht allein oder vor allem von Ärzten. So wie es um den
ganzen Menschen geht, so können die Antworten auch nur von allen gefunden werden. Wir
müssen darüber reden.
Das war für mich schließlich auch der Grund, angesichts dieses schwierigen, vielseitig
interpretierbaren Textes nicht das Weite zu suchen.
Die sichtbare Welt täglich ein bisschen besser zu machen, auch wenn es zeitlich begrenzt sein
kann, sollte Aufgabe aller Christen sein. Wo, wenn nicht in der Kirche, kann man darüber reden.
Herunterladen