wissenschaftliche Begleitung

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Jörg Schlömerkemper
Die wissenschaftliche Begleitung der IGS Göttingen-Geismar1
Die Professoren des Göttinger Pädagogischen Seminars haben den ihnen erteilten gesellschaftlichen Auftrag immer in vergleichsweise enger Beziehung zur Praxis jenes Feldes verstanden, über das sie wissenschaftlich arbeiten sollten: Dies gilt für HERMAN NOHL, der vor
allem in der Sozialpädagogik engagiert war, für ERICH WENIGER, der Konzepte einer an demokratischen Normen orientierten Militärpädagogik entwickelt hat, für HEINRICH ROTH, der
mit seinen Überlegungen zu Konzepten der „Begabung“ und des „Begabens“ dazu beigetragen hat, dass sich die Schule aus überkommenen, an Selektivität orientierten Leitbildern löst
und dies in der Reform des Bildungswesens umsetzt (vgl. ROTH 1968; HOFFMANN 1988,
JUNGMANN/HUBER 2009), und für HARTMUT V. HENTIG, der die „Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft“ offengelegt hatte (VON HENTIG 1968/1974) und seine
konkreten Vorstellungen in den Bielefelder Schulprojekten (der „Laborschule“ und dem
„Oberstufenkolleg“) Wirklichkeit werden ließ.
1. Traditionen und politische Irritationen
In dieser Tradition wurden auch die Nachfolger dieser Pädagogen berufen. KARLHEINZ
FLECHSIG entwickelte am Beispiel der Lehre in den Hochschulen didaktische Konzepte, die in
konkreten Vorschlägen zur Methodik mündeten. GUNTER EIGLER entwarf Konzepte zur Evaluation von Schulreformen, die in der wissenschaftlichen Begleitung erprobt wurden. KLAUS
MOLLENHAUER war u.a. in der sozialpädagogischen Arbeit eines Kinderheimes als ein unverzichtbarer Mitträger und -gestalter wirksam. HANS TÜTKEN hat in der von HEINRICH ROTH
gegründeten Arbeitsgruppe für Unterrichtsforschung das naturwissenschaftliche Curriculum
der American Association for the Advancement of Science (kurz „AAAS“) für deutsche
Schülerinnen und Schüler adaptiert und im Unterricht erprobt.
In den 1960er und 1970er Jahren (den oft so genannten „68ern“) wurden solche Bezüge auf
„Praxis“ unter gesellschaftstheoretischen Perspektiven einer kritischen Analyse unterzogen.
Theoretische Konzepte sollten nicht länger der bestehenden Praxis ‚nur’ ein wissenschaftlich
legitimierendes Mäntelchen überwerfen, sondern kritisch aufgeklärt fragen, ob die „bestehenden Verhältnisse“ vor dem Anspruch „emanzipatorischer“ Zielsetzungen standhalten konnten.
„Ideen“ wurden unter „Ideologieverdacht“ gestellt und auf mögliche latente (NebenKathrin Rheinländer (Hg.): Göttinger Pädagogik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Verlag Dr. Kovač,
364 S., 29,00 €, S. 305-324
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)Wirkungen befragt. Für viele war in jener Zeit ein solcher Verdacht im Grunde keine offene
Frage – es galt nur „auf den Begriff zu bringen“ und „ins Bewusstsein zu heben“, was den
unkritisch dahinlebenden und wohlwollend pädagogisch Tätigen im Sinne „des Systems“
denken, argumentieren und handeln ließ.
Jene Jahre waren aber zugleich von einer zunächst gegenläufigen, dann aber auch in die kritische Intention einbezogenen Zuversicht geprägt: Gegenläufig war sie insofern, als es darum
ging, die bestehenden Verhältnisse (noch) effektiver zu gestalten, was umgehend als „technokratisch“ kritisiert wurde. Aber diese Zuversicht kann zugleich als eine Art Katalysator verstanden werden, der auch jene inspirierte, die auf grundlegende, systemische Veränderungen
aus waren. Wenn man genau wüsste, was getan werden müsste, und wenn man dies dann konsequent anginge, dann würde aus dem „Transmissionsriemen“ der überdauernden Verhältnisse deren „Transformation“ werden können.
Auf die Schule bezogen drückte sich die Ambivalenz darin aus, dass zum einen die bestehenden Strukturen von Schule und Unterricht „effektiver“ ausgefüllt werden sollten. Durch wissenschaftlich fundierte und empirisch erprobte Curricula und eine entsprechende Aus- und
Fortbildung der Lehrerschaft – so war die Hoffnung – könnten die Ergebnisse des Lernens
(wozu man heutzutage „output“ sagt) optimiert werden. Unterstützen müsse man dies durch
einen offeneren Zugang zu weiterführenden Schulen, durch bessere Ausstattung der Schulen,
durch Lernmittelfreiheit, Ganztagsschule, Bildungswerbung u.Ä. Zu einer solchen Steigerung
der Effektivität sollte eine in Deutschland bis dahin weitgehend ‚neue’ Schulform beitragen:
die Gesamtschule. Wenn man die Kinder nicht nach der 4. Klasse aufteilt, wenn man die Inhalte „entrümpelt“, Anforderungen individualisiert und Förderprogramme auflegt, dann würde der erwartete Bedarf an höher qualifizierten Arbeitskräften sicher gedeckt und die von
Georg Picht ausgerufene „Bildungskatastrophe“ gerade noch einmal vermieden werden können. Kritisch wurden diese Bemühungen von jenen begleitet, die darin lediglich kosmetische
Änderungen erblicken konnten bzw. – schlimmer noch – die bestehenden repressiven Strukturen noch besser als zuvor verschleiert sahen: Eine „integrierte und differenzierte“ Gesamtschule oder gar eine „demokratische Leistungsschule“ sei lediglich eine besser kaschierende
Variante der bestehenden Verhältnisse, Prozesse und Strukturen. Daraus wurde von manchen
der Schluss gezogen, dass diese Entwicklung schon im Ansatz falsch sei (etwa nach dem
Motto: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“ – ADORNO). Aber auf die Institution Schule wollten die Wenigsten verzichten, denn wie sollten stattdessen die jungen Leute zu den
‚neuen’ Ideen’ hingeführt werden. Die angedachten Konzepte wurden aber als unzureichend
eingeschätzt, man forderte konsequentere Änderungen. Aber wie sollten diese aussehen, wie
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sollte man sie umsetzen und wie sollte man prüfen, ob nicht ‚unter der Hand’ Nebenwirkungen eintreten, die man weder intendiert, noch antizipiert hatte?
In diese Konstellation war das Pädagogische Seminar als eine Institution hineingezogen, von
der durchaus unterschiedliche Hilfestellungen erwartet wurden: Auf der einen Seite wurde erhofft, dass wissenschaftlicher Sachverstand in Verbindung mit objektivistischer Neutralität
zur ‚rationalen’ Lösung offener Fragen und zur Klärung möglicher Kontroversen beitragen
könne. Andererseits wurde erwartet, dass eine institutionell distanzierte, nicht in konkrete
Planungen und Handlungszwänge eingebundene Begleitung die konzeptionellen Entwürfe
und die konkreten Planungen ‚kritisch’ in den Blick nehmen würde und aufzeigen könne, dass
bzw. wo die Praxis sich an überkommenen, aber nicht mehr akzeptablen Zielen orientiert
bzw. sie unbewussten, nicht hinreichend reflektierten Wirkungen freien Lauf lässt.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden über Aktivitäten berichtet werden, in die das Pädagogische Seminar von der Praxis her hineingezogen wurde, in die es sich andererseits bewusst eingebracht hat: in die wissenschaftliche Begleitung der Integrierten Gesamtschule in
Göttingen-Geismar. Diese Entwicklung fiel zusammen mit der Berufung von HANS-GEORG
HERRLITZ. Er hatte sich in Kiel bis dahin mit eher historisch orientierten Arbeiten (vor allem
über den gymnasialen Bildungskanon) profiliert. Berufen wurde er gleichwohl mit der Erwartung, sich auch auf aktuelle Fragen von Schule und Unterricht einzulassen und das Engagement fortzusetzen, mit dem er zuvor zur Gründung der Gesamtschule in Neumünster beigetragen hatte. In den damals heftigen Auseinandersetzungen mit gesellschaftskritischen Konzepten (im Sinne der „Kritischen Theorie“ der „Frankfurter Schule“ etc.) zeigte sich zudem,
dass ihm der kritische Blick auf das, was in der Schule geschieht bzw. nicht geschieht, keineswegs fremd war. Dabei ging es ihm nicht nur um theoretisch-kritische Analysen, sondern
immer auch um den Versuch, gestaltend in der bildungspolitischen Debatte und in der konkreten Formgebung von Schule und Unterricht mitzuwirken. Die damalige Aufbruchstimmung
bot vielfältige Herausforderungen und Möglichkeiten, solchen Intentionen zu folgen.
2. Wissenschaftliche Reflexion und praktische Konstruktion
Im Jahre 1971 entstand in Göttingen eine Initiative zur Gründung einer Gesamtschule.2 Diese
suchte von Anfang an Kontakt zum Pädagogischen Seminar in der Hoffnung, die Arbeit der
2
Als deren besonders engagierte Mitglieder seien genannt: PETER BRAMMER (der spätere langjährige Leiter der
Schule), HELLMUT ROEMER (der ebenfalls langjährige Leiter des Göttinger Hainberggymnasiums), HEINRICHOTTO VEHRENKAMP (der spätere Leiter des Göttinger Studienseminars), CLAUS MEIER (Studiendirektor und später Nachfolger von Hellmut Roemer).
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Planungsgruppe zu verstärken und eine mögliche wissenschaftlich Begleitung – wie sie damals im bildungspolitischen Reformprogramm vorgesehen war – zu gewinnen. Es zeigte sich
sehr bald, dass es nicht bei einer distanzierten Beobachtung bleiben konnte. Die beteiligten
Praktiker erwarteten mehr als distanziert-kritische Kommentare, die Wissenschaftler wollten
von der konkreten Planung nicht ausgeschlossen bleiben. Vor allem aber wurde deutlich, dass
nicht einfach fortgesetzt werden sollte, was in den damals bereits errichteten Gesamtschulen
bzw. Gesamtschulversuchen als gängige Praxis etabliert war. Zumindest sollte die Chance
genutzt werden, aus vorliegenden Erfahrungen klug zu werden, Fehler zu vermeiden und
mögliche Alternativen zu entwickeln. Erprobt werden sollte zugleich eine Form der wissenschaftlichen Begleitung, die konsequent auf eine gleichberechtigte Kooperation von Praxis
und Theorie zielte.
In diesem Sinne stellte HANS-GEORG HERRLITZ am 25.3.1972 in Verbindung mit dem Niedersächsischen Kultusministerium beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft
(BMBW) einen Antrag zur Finanzierung einer wissenschaftlichen Begleitung. Verwiesen
wurde darin zunächst auf die eher negativen Erfahrungen, die in anderen Bundesländern mit
einer nebenamtlichen Begleitung gemacht waren. Diese seien über „gelegentliche Referate,
wohlmeinende Ratschläge oder zufällige Datenerhebungen“ nicht hinausgekommen. Vor allem mangele es an Konzepten für eine auf die Arbeit in Gesamtschulen zielende Aus- und
Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Wie entsprechende „praxisorientierte Ausbildungsprogramme“ aussehen sollten, müsse systematisch entwickelt und erprobt werden. Dies
können nur in hauptamtlicher Tätigkeit bei entsprechender Ausstattung geschehen.
Der Antrag verwies dann auf die spezifischen Zielsetzungen der Göttinger Planungsgruppe,
die vor allem darin gesehen wurden, dass „flexible Formen der didaktischen Differenzierung,
kooperative Arbeitsformen für Lehrer und Schüler, diagnostische Formen der Lernerfolgskontrolle“ u.Ä. entwickelt und erprobt werden sollten. All dies erfordere im ersten Schritt eine
sorgfältige Aufarbeitung der verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisse und insbesondere der
Erfahrungen, die an anderen Gesamtschulen bereits gesammelt worden waren. Daraus solle
dann eine entsprechende Fortbildung der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer entwickelt werden.
Das BMBW stimmte dem Projekt bereits im Juli desselben Jahres zu und bewilligte die damals beachtliche Summe von 102.000,00 DM, zu denen das Niedersächsische Kultusministerium 22.690,00 DM (= 15 % der Gesamtkosten) hinzufügte. Das Projekt wurde zweimal verlängert.
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3. Die Projektgruppe „SIGS“
Im November 1972 begann die Projektarbeit mit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern (zunächst
GÜNTER SCHREINER und HORST BRANDT, später ECKART LIEBAU). Der erste Arbeitsschritt bestand darin, die im Antrag an das BMBW noch eher vage formulierten Zielsetzungen zu präzisieren. In der Gruppe, die sich um die Hauptamtlichen herum bildete3, kristallisierte sich
bald heraus, dass angesichts der diskutierten Unterscheidung zwischen fachlich-curricularer
und überfachlich-sozialer Orientierung eindeutig die soziale Kompetenz der Lernenden wie
der Lehrenden favorisiert wurde. Man gab sich dementsprechend den Namen „Projektgruppe
Soziale Interaktion in der Gesamtschule“ (kurz: SIGS). Dies fand in der Planungsgruppe keineswegs spontane oder breite Zustimmung. Die ersten Planungen für eine IGS hatten sich
nämlich deutlich an der fachlich-curricular geprägten Struktur der bereits etablierten Gesamtschulen orientiert. Durch fachbezogene, vor allem äußere Formen der Differenzierung sollten
– im Sinne einer Effektivierung (s.o.) – mehr Schülerinnen und Schüler als in den getrennten
Schulformen zu „höheren“ Abschlüssen geführt werden.
Eine solche Orientierung konnte jedoch den damals durchaus ‚mächtigen’ kritischen Rückfragen und Herausforderungen (s.o.) nicht standhalten. In den Seminaren des Pädagogischen
Seminars wurden die damaligen Reformkonzepte kritisch kommentiert und die ersten Befunde wissenschaftlicher Forschungen engagiert diskutiert.4 Um es nicht bei eher allgemeiner
Kritik auf konzeptioneller Ebene zu belassen, wurde der Entschluss gefasst, die damals bestehende Gesamtschulpraxis einer „exemplarischen Exploration“ zu unterziehen. Dabei sollten
die niedersächsischen Gesamtschulen und Konzepte der Lehrerbildung im Vordergrund stehen.5 Es wurde erwartet, dass die Planung für die Göttinger Gesamtschule dadurch auf eine
sorgfältig und umfassend fundierte Grundlage gestellt werden könnte. Aus der Perspektive
des Pädagogischen Seminar konnte dies nur eine konsequente „Pädagogisierung“ der Schulreform bedeuten.
Die Explorationen in der Praxis standen vor der Schwierigkeit, dass zwischen einer streng
methodologisch geleiteten ‚Inspektion’ und der von subjektivem Erleben geprägten Wahrnehmung und Interpretationen ein Mittelweg gesucht werden musste. Dieser wurde darin ge-
3
Das waren neben HANS GEORG HERRLITZ und den schon genannten Hauptamtlichen mit unterschiedlicher
Dauer: MICHAEL BEHRENS, GEORG WILHELM V. BRANDT, EICK DREHER, JUTTA GOLIBERZUCH, HEDWIG HÜBNER, ULRICH KOPMANN, SIBYLLE PAETOW, IRENE PÜTTER, GUDRUN QUAST, OLAF QUAST, JÖRG SCHLÖMERKEMPER, KATJA UBBELOHDE, KLAUS WINKEL, später auch WILHELM BEHRENDT, HORST SCHAUB, CARLA SCHNUIT und ELMAR SCHNUIT.
4
So wurden die im Interesse ihrer politischen Zielsetzungen eher ‚affirmativ’ interpretierenden Begleitstudien
scharf kritisiert (vgl. Schlömerkemper 1971).
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Es ging um die Integrierten Gesamtschulen in Fürstenau, Hannover-Linden, Hildesheim und NeumünsterBrackenfeld (Schleswig-Holstein).
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funden, dass so genannte „vorstrukturiert reversiblen Gespräche“ geführt wurden, in denen
die Gesprächspartner zu drei ausgewählten „Interaktionsbereichen“ – nämlichen „SchuleÖffentlichkeit“, „Lehrer-Lehrer“ und „Lehrer-Schüler“ – durch Impulse angeregt ihre eigene,
auf die jeweilige Schule bezogene Sicht der Dinge artikulieren sollten.
Das auf diese Weise gesammelte umfangreiche Material wurde einer differenzierten Analyse
unterzogen, bei der es sich als schwierig erwies, die unterschiedlichen Bedingungen, die vielfältigen Erfahrungen und die differenten Deutungen der Praxis systematisch auf den Begriff
zu bringen und daraus dann auch noch eindeutige und überzeugende Folgerungen abzuleiten
(vgl. die ausführliche Dokumentation in PROJEKTGRUPPE SIGS 1975). Als Ausweg bot sich
letztlich an, dass aus der Vielfalt der durchaus nicht einheitlichen Befunde jene Folgerungen
favorisiert wurden, die das Konzept der IGS Göttingen-Geismar im Sinne der „sozialen Interaktion“ schärfen und profilieren sollten. Damit wurde beansprucht, die zuvor an technologischer Effizienz orientierte Ausrichtung des Unterrichtens, Lernens und Prüfens durch ein
Konzept zu ersetzen, bei dem pädagogisch reflektierte und immer erneut zu reflektierende
Beziehungen zwischen allen Beteiligten an erster Stelle stehen. Ein eher ‚administratives’
Konzept von Schule sollte durch ein ‚kommunikatives’ ersetzt werden. Ziele der gemeinsamen Arbeit sollten nicht institutionell verordnet werden, sondern sich – zumindest in der situativen Konkretisierung – aus gemeinsamer Planung ergeben. Gleichwohl musste – sozusagen
paradoxerweise – für eben diese gemeinsame kommunikative Arbeit ein institutioneller Rahmen geschaffen werden, der dies nicht nur möglich, sondern erforderlich und unvermeidlich
machen würde.
Ein möglicher Rahmen wurde Ende 1973 mit noch vorsichtigen „Fragen, Thesen und praktischen Überlegungen zur ‚Differenzierung’ an der IGS Göttingen-Geismar“ (PROJEKTGRUPPE
SIGS 1975, S. 196-201) entworfen. Um diese Vorschläge wurde in den nachfolgenden Wochen heftig diskutiert. Einwände bezogen sich teilweise auf grundsätzliche konzeptionelle
Fragen, aber auch auf praktische Probleme der Konkretisierung. Es konnte aber schon im April 1974 in den von der Projektgruppe erarbeiteten „Vorschlägen zur sozialen Organisation
des Lernens an der IGS Göttingen-Geismar“ (ebd., S. 201-214) unterstellt werden, dass „der
Schwerpunkt des Schulversuchs im Bereich des sozialen und politischen Lernens liegen soll“.
Deshalb müssten entsprechende Formen des Lehrens und Lernens [...] erprobt werden.
Zur Begründung der alternativen Vorschläge zur Praxis der Lernorganisation wurde auf die
Erfahrungen an bestehenden Gesamtschulen verwiesen:
„Bei allen Fortschritten, die die laufenden Gesamtschulen gegenüber dem herkömmlichen Schulsystem gebracht haben, sind doch bestimmte Schwierigkeiten nicht zu übersehen. Insbesondere konnten Zielsetzungen im Bereich des sozialen Lernens noch nicht in befriedigender Weise erreicht werden. Einige Probleme sollen im Folgenden erläutert werden.
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Trotz ihres hohen Zeitaufwandes haben viele Lehrer das Gefühl, die dringendsten Aufgaben nur unzulänglich erledigen zu können. Curriculare und didaktische Kooperation zwischen Kollegen gibt es
nur in Ansätzen. Besonders im Unterricht bleiben viele Lehrer in der Isolation; die „Einzelkämpferpraxis“ des tradierten Schulsystems ist noch nicht weit genug überwunden. Hospitationen und kooperatives Lehren sind durch das Fachlehrerprinzip und durch organisatorische Vorgaben wie Stundenplan und Raumverteilung in Umfang und Intensität eingeschränkt. Der Wechsel der Lehrer und
damit der Lehrstile (lehrerzentrierter Unterricht, Kleingruppenarbeit, Laissez-faire-Stil usw.) ruft
bei den Schülern Orientierungslosigkeit hervor, was eine Ursache der häufig beklagten Disziplinschwierigkeiten sein dürfte. Über die curriculare Betreuung hinaus ist eine pädagogische Betreuung
der Schüler an den laufenden Gesamtschulen nur unzureichend möglich, da sich persönliche Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern kaum entwickeln können. Solange ein Lehrer 30 Schüler
gleichzeitig und allein zu betreuen hat, kann er auf spezielle Schwierigkeiten einzelner Schüler
nicht im wünschenswerten Maß eingehen.
Bisher werden neue Unterrichtsvorhaben weitgehend fachspezifisch geplant und durchgeführt.
Fachübergreifender Unterricht findet in den bestehenden Gesamtschulen nur selten statt. Dies ist
bedingt durch mangelnde Kommunikation, manchmal auch Rivalitäten zwischen den Fachbereichen
und durch eine Arbeitsweise, die von der Last des Tages geprägt ist und kreative Perspektiven kaum
zulässt. In den meisten Gesamtschulen ist die Fortbildung der Kollegen nicht organisiert und geschieht nicht im Rahmen einer Konzeption für die ganze Schule. Fortbildung gilt als individuelle
Aufgabe. Auch die Fachbereiche gehen die Fortbildungsaufgaben nicht systematisch an; selbst die
Einarbeitung in neue Unterrichtseinheiten ist häufig unzureichend.“ (ebd.)
4. Das Team-Kleingruppen-Modell (TKM)
Diese Erfahrungen wurden als unbefriedigend gedeutet und u.a. auf unzureichende bildungspolitische Zielsetzungen zurückgeführt. Demgegenüber sollten mit einem „TeamKleingruppen-Modell“ die folgenden bildungspolitischen Ziele verfolgt werden:6
„Die Gesamtschuldiskussion der letzten Jahre beschäftigt sich zunehmend mit Problemen des Sozialen Lernens. Das ist bedingt durch die Erfahrungen bisheriger Gesamtschulpraxis, die die sozialpsychologischen Folgen von Leistungsdifferenzierung und flexibler Differenzierung immer deutlicher werden lassen. Die starke Fluktuation der Lerngruppen bewirkt soziale Instabilität, Verunsicherung, Vereinzelung, Orientierungslosigkeit der einzelnen Schüler. In dieser Praxis wird die Ausbildung personaler und sozialer Identität vor allem bei den Kindern aus der Unterschicht behindert.
Konkurrenzorientierung und Wettbewerbsdenken werden durch häufige Tests und die mit ihnen
verbundenen sozialen Folgen immer neu aktualisiert; negative Selbst- und Fremdbilder werden verfestigt.
Die Leistungs- und Konkurrenzorientierung der herkömmlichen Differenzierungsmodelle beruht
auf einer Interpretation von Chancengleichheit, nach der der Zugang zu höheren sozialen Positionen
allein von der individuellen Leistung abhängig sein sollte (Emanzipation durch individuellen Aufstieg). Die soziale Schichtung der Gesellschaft wird dadurch nicht in Frage gestellt. Solidarität unter
den Schülern kann so nicht entstehen.
Wenn dagegen unter Chancengleichheit verstanden werden soll, dass möglichst allen Schülern ein
gleichwertiger und qualitativ hochwertiger Abschluss vermittelt werden soll, dann bedarf es neuer –
solidarischer – Formen des Lehrens und Lernens.
Die folgenden Überlegungen gehen von einer bildungspolitischen Entscheidung für diese Ziele aus
und versuchen, Bedingungen und Möglichkeiten einer entsprechenden Unterrichtsorganisation zu
bestimmen.
Die Schüler sollen ...
- zu Subjekten ihrer Lernprozesse werden,
- zu Selbst- und Mitbestimmung befähigt werden,
6
Ausführlich begründet und beschrieben ist das TKM u.a. in PROJEKTGRUPPE SIGS 1975, BRANDT/LIEBAU
1978, SCHLÖMERKEMPER/WINKEL 1987, vgl. auch BENNER/KEMPER 2007
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- ihre Interessen und Bedürfnisse in den Unterricht einbringen können,
- im Lernprozess emotionale Stützung erfahren können,
- stabile soziale Beziehungen untereinander aufbauen können.
Solches Lernen ist nur möglich in zeitlich konstanten Kleingruppen, mit großer Interaktionsdichte.
Für das Verhältnis Lehrer-Schüler gelten folgende Forderungen:
- Die Lehrer müssen die Möglichkeit haben, ihre Schüler in ihren spezifischen Fähigkeiten und
Schwierigkeiten besser kennenzulernen.
- Die Schüler müssen die Möglichkeit haben, ihre Lehrer in ihren persönlichen und methodischen
Eigenarten besser kennenzulernen.
- Die Schüler müssen zu den Lehrern stabile Beziehungen aufbauen, aber auch ihre Bezugspersonen
wählen und wechseln können.
- Die Lehrer müssen ihren pädagogischen Auftrag stärker darin sehen, die Lernprozesse bei den
Schülern ganzheitlich (nicht nur auf die kognitive Ebene und nicht nur auf einzelne Fächer bezogen) zu betrachten. Dazu müssen sie die Schüler in verschiedenen Lernbereichen kennenlernen.
- Die Schüler müssen die Kooperation der Lehrer als ein Modell für Kooperation in ihrem eigenen
Lernprozess erfahren.
- Die Lehrer sollen bei Kollegen methodische Alternativen beobachten können, gerade auch bei
Lehrern anderer Fächer.
- Die Lehrer sollen Schülerbeobachtungen und -beurteilungen in gegenseitiger Korrektur vornehmen.
- Solche Lehrer-Schüler-Beziehungen sind nur möglich, wenn ein fachübergreifend zusammengesetztes Team von Lehrern einer Schülergroßgruppe fest zugeordnet wird.
Die Forderung solidarischen Lernens schließt auch Veränderungen im Bereich der Lerninhalte, der
Lernverfahren und der Schulorganisation ein:
- Die Atomisierung des Lernens durch Fächertrennung und Aufteilung des Lernstoffes in isolierte
kleinste Lernziele muss aufgegeben werden zu Gunsten einer Organisation von Lernerfahrungen, in
der die Zusammenhänge verschiedener Lernbereiche und die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wichtiger sind als fachbezogene Orientierungen.
- Dazu ist eine Integration der Fächer anzustreben, die durch die Kooperation von Lehrern verschiedener Fachrichtungen vorbereitet werden muss und die in Projekten und themenorientiertem Unterricht erprobt werden kann.
Die Organisation des Unterrichts nach dem „Team-Kleingruppen-Modell“ bietet dazu die äußeren
Voraussetzungen.“ (ebd.)
Zur praktischen Umsetzung dieser Ziele wurde der Planungsgruppe folgendes Modell vorgeschlagen:
„Der Großgruppe von 90 Schülern wird eine fachübergreifend zusammengesetzte konstante Gruppe
von 6 bis 7 Lehrern ('Team') fest zugeordnet. Dieses Team plant und organisiert den Unterricht dieser 90 Schüler gemeinsam und führt ihn gemeinsam durch, wobei in der Regel jeweils 3 bis 4 Lehrer zur gleichen Zeit unterrichten.
Das Team soll möglichst so zusammengesetzt sein, dass alle zu unterrichtenden Fächer wenigstens
durch einen fachdidaktisch ausgebildeten Lehrer vertreten sind.
Bei fachübergreifenden Projekten bringen die Vertreter der beteiligten Fachbereiche ihre spezifischen Kompetenzen in das gemeinsame Projekt ein. Fachspezifische Kurse und Lehrgänge, die
nach Möglichkeit mit den Projekten in Zusammenhang stehen sollten, werden dagegen unter Verantwortung und Anleitung des (der) jeweiligen Fachlehrer(s) [...] durchgeführt. [...] Das Modell
ordnet die fachdidaktische Kompetenz (partiell) der für wichtiger erachteten pädagogischen Grundkonzeption und den ihr zugrundeliegenden bildungspolitischen Zielen unter. [...]
Die Organisation des Unterrichts nach dem Team-Modell erscheint nur dann sinnvoll, wenn das
Lernen und Lehren [...] in verschiedenen Sozialformen des Unterrichts stattfindet, die jeweils bestimmte Funktionen erfüllen und einander ablösen:
a) In der Großgruppe (=90 Schüler = 3 Kerngruppen = 6 Tutorengruppen = 15 bis 18 Kleingruppen):
- Einführung in eine neue Unterrichtseinheit [...],
- Berichte über die Arbeitsergebnisse der verschiedenen Gruppen [...],
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- Feste, Feiern, Freizeit
b) In der Kerngruppe (=30 Schüler = 5 Lerngruppen): 'Unterricht' in Kerngruppen soll den zeitlich
geringeren Teil des Unterrichts ausmachen.[...] Der Unterricht in der Kerngruppe beschränkt sich
auf Lernprozesse, die von der Aktion des Lehrers bzw. der Interaktion zwischen Lehrer und Schüler
abhängig sind:
- Absprachen über die Arbeitsteilung zwischen den Gruppen
- Unterrichtsgespräche
- Training von Fertigkeiten, die der Kontrolle des Lehrers bedürfen vor allem bei mündlichem
Sprach-Training
- Vergleich, Besprechung und Zusammenfassung von Arbeitsergebnissen
c) In der Tutorengruppe (15 bis 18 Schüler = 3 Kleingruppen):
- intensivere Formen des Unterrichtsgesprächs
- Besprechung von Problemen der Gruppenarbeit [...]
- Tutorenaufgaben
d) In der Kleingruppe (=5 bis 6 Schüler): Die Arbeit in diesen Kleingruppen soll den größten Teil
des Unterrichts ausfüllen:
- Arbeit an einer Aufgabe, die Kooperation und eventuell Arbeitsteilung erfordert. Es entsteht ein
gemeinsames Produkt.
- Arbeit an der gleichen Aufgabe, die von den Schülern individuell zu bearbeiten ist. Jeder Schüler
fertigt ein eigenes Produkt. Die Schüler besprechen aber ihre eigenen Lösungsideen miteinander
und vergleichen laufend ihre Resultate. Wenn dabei Unterschiede auftreten, werden diese zunächst
innerhalb der Gruppe zu klären versucht, erst wenn das nicht gelingt, bringt der Lehrer seine Kompetenz ein. Das hindert ihn nicht, die Arbeit in den Gruppen von Anfang an zu beobachten und sich
gegebenenfalls auch an ihr zu beteiligen.
e) Einzelarbeit der Schüler:
- Erledigung von Arbeitsaufträgen der Gruppen
- Beschäftigung mit persönlich interessierenden Themen
- Arbeit mit programmierten Medien
- Lektüre, Nachschlagen usw.
- Anfertigen von Texten.“ (ebd.)
Bereits im April 1974 hat die Planungsgruppe mit großer Mehrheit beschlossen, dieses Modell zur Grundlage der weiteren Planung zu machen.7
5. Zwischen Entwicklungsarbeit und interner Evaluation
Die Projektgruppe hat sich – wie deutlich geworden sein sollte – von vornherein nicht als eine
„externe“ Instanz verstanden, die kritisch prüft, ob „alles seine Ordnung hat“. Das hätte weder
ihrem bildungspolitischen Selbstverständnis entsprochen, noch wäre es angesichts der seinerzeit offensiv vertretenen Konzepte von „Aktionsforschung“ akzeptabel gewesen. Wissenschaft hat sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu stellen und zur konstruktiven Weiterent-
7
Dazu sei an dieser Stelle festgehalten und überliefert, dass der vermutlich entscheidende Impuls zu dieser Entscheidung von dem damals im Niedersächsischen Kultusministerium für Gesamtschulen zuständigen Referenten
HERBERT KASTNER ausging (vgl. KASTNER 1981). In einer jener oft heftigen Diskussionen in der Planungsgruppe hatte er die Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich und mit Engagement dazu aufgefordert, ihre Schule nach
den Vorschlägen zur „sozialen Interaktion“ und im Sinne des Team-Kleingruppen-Modells zu gestalten. Nach
dieser offiziellen Ermutigung waren offenbar die Bedenken und Vorbehalte einiger Planer behoben. Dies galt
nicht zuletzt auch für Mitglieder der Leitung, die zuvor befürchtet hatten, dass ‚ihre’ Gesamtschul-Initiative politisch scheitern könnte. Verwundert – aber dankbar – waren natürlich alle, die solche Zweifel durchaus auch gehegt hatten, aber eher davon ausgegangen waren, dass „die Administration“ (oder „die Herrschenden“) die vorgeschlagene Priorität des Sozialen gegenüber „Leistung“ unterbinden würde(n).
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wicklung bestehender Verhältnisse beizutragen – sei es, um sie in den gewohnten Bahnen zu
optimieren, sei es, um sie auf eine alternative Entwicklungsbahn zu setzen. Auch aus ganz
pragmatischen Gründen ist eine Distanz zur Praxis kontraproduktiv, denn wie sollen Strukturen und Prozesse angemessen („valide“) beschrieben und beurteilt werden, wenn man diese
nur vom Hörensagen kennt. Und schließlich werden Strukturen und Prozesse am besten
dadurch transparent, dass man sie zu verändern sucht.
In diesem Sinne haben sich die Mitarbeiter der Projektgruppe intensiv und einige ihrer Mitglieder nach ihren Möglichkeiten in die konkrete Arbeit eingebracht. U.a. ging es dabei um
die Konkretisierung der Lerndiagnosearbeit (der Lernentwicklungsberichte, der „Lebs“), um
individuelle Förderung, die Arbeit der Tischgruppen (wie es statt „Kleingruppe“ bald hieß),
die Entwicklung geeigneter Lernmaterialien etc. Im engeren Sinne der wissenschaftlichen Begleitung bestand eine wesentliche Aufgabe darin, die konkrete Arbeit möglichst genau zu dokumentieren und der Analyse verfügbar zu machen. Da der Kern der pädagogischen Arbeit in
der Lerndiagnose und der Lernförderung liegen sollte, konzentrierte sich die Arbeit der wissenschaftlichen Begleitung auf Fallstudien zu ca. 20 ausgewählten Schülerinnen und Schüler,
die in diese Schule mit unterschiedlichen Voraussetzungen eingetreten waren.8
Im Laufe der Zeit kristallisierten sich zwei Wege heraus, auf denen versucht wurde, die Wirkungen zu erfassen, die mit dem Konzept verbunden sind: Zum einen wurden die „Lerngeschichten“ von anfangs 20 Schülerinnen und Schülern biografisch aufgearbeitet, um möglichst detailliert und konkret nachvollziehen zu können, wie sich das Lernen unter den veränderten Bedingungen gestaltet. Zum anderen wurden alle Schülerinnen und Schüler der ersten
drei Jahrgänge mit einem umfangreichen Fragebogen schriftlich befragt. Dies sollte allen Gelegenheit geben, ihre Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen.
Die Daten der schriftlichen Befragung wurden nach dem Konzept der „Hermeneutischen Datenanalyse“ (vgl. Schlömerkemper 2009 b) ausgewertet. Damit können quantitative Informationen im Sinne des hermeneutischen „Verstehens“ so gedeutet werden, dass neben den
’durchschnittlichen’ Kennwerten (die für alle repräsentativ sein sollen, es aber nicht sein können) auch abweichende Werte und entsprechende Deutungen für Teilgruppen, Minderheiten
und Einzelfälle erarbeitet werden können.
Diese hermeneutisch orientierte Analyse der quantitativ-empirisch angelegten Befragung
kommt zu dem Ergebnis, dass die Schülerinnen und Schüler an dieser Schule vielfältige und
In diesem Zusammenhang sei auch an die hilfreiche und verlässliche Mitarbeit des Jugendpsychiaters FRIEDSPECHT erinnert, der über viele Jahre in jeder zweiten Woche zu intensiven Fallbesprechungen nach der
„Vier-Stufen-Methode“ in die Schule gekommen ist.
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RICH
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intensive soziale Erfahrungen machen und Lernmöglichkeiten haben, die ohne das Konzept
des TKM in dieser Form und in dieser Intensität nicht denkbar wären. Dies gilt allerdings
nicht für alle Betroffenen in gleicher Weise: Nicht alle SchülerInnen können offenbar die
Möglichkeiten so intensiv nutzen, wie es nach dem Konzept wünschenswert wäre. Zudem
scheint es deutliche Unterschiede in der pädagogischen Praxis zwischen den Teams bzw. den
Lehrenden zu geben. Um solche Unterschiede und offenbar letztlich individuell besondere
Konstellationen genauer aufklären zu können, wurden die schon erwähnten biografischen
Studien mit den Datenanalysen in Verbindung gebracht.
Die biografischen Analysen einer einzelnen Schülerin hat z. B. erkennbar gemacht, wie dramatisch es zwischen den in der Familie erworbenen Orientierungsmustern und den in der
Schule erwarteten Verhaltensweisen zum Konflikt kommen kann. Diese Schülerin erschien
auf den ersten Blick problemlos, weil sie mit den fachlichen Anforderungen mühelos zurechtkam. Erhebliche Probleme gab es allerdings in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung,
sodass es dieser Schülerin zunächst kaum möglich war, mit anderen zu kooperieren und
Freunde zu finden. Es ist aber für diese Schule bezeichnend, dass dies von den Lehrenden als
Problem erkannt und bearbeitet wurde. Sie halfen der Schülerin, sich in der Klasse zu integrieren, mit den anderen zu kooperieren und von diesen anerkannt zu werden.
In der weiteren Analyse wurden dann die beiden Ansätze der Untersuchung aufeinander bezogen. Die Fragebogendaten wurden mit den biografischen Materialien in Beziehung gebracht, um einschätzen zu können, welchen Stellenwert die individuellen Erfahrungen im
Vergleich zu anderen Schülern haben bzw. in welcher Weise die individuellen Erfahrungen
für die gesamte Schülerschaft bedeutsam und gültig sind. Mit der Erprobung dieser Verknüpfung wurde neben den praktisch-inhaltlichen Fragen ein methodisches Interesse verfolgt.
Es erschien allerdings nicht sinnvoll, die Befunde dieser Studien allein mit den Intentionen
des TKM zu vergleichen. Erforderlich war vielmehr ein theoretisches Konzept, das verständlich macht, wie es zu den unterschiedlichen Erfahrungen der Schüler kommt. Es wurde vermutet, dass die Wirkung des TKM nicht allein in seiner Organisationsform liegt, sondern dass
ganz entscheidend ist, mit welchen Intentionen die Beteiligten diese Möglichkeiten nutzen.
Vor allem dürfte es eine Rolle spielen, wie sie mit den unterschiedlichen Funktionen, Anforderungen und Erwartungen umgehen, denen Lernende, Eltern und Lehrende innerhalb und
vor allem außerhalb der Schule ausgesetzt sind. Es sollte geprüft werden, ob Prozesse des
Lehrens und Lernens besser verstanden werden können, wenn man sie als eine jeweils bestimmte Art des Umgangs mit widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen interpretiert. In diesem Sinne wurde auch ein theoretisches Interesse verfolgt.
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Schließlich hatte die wissenschaftliche Begleitung dieser Schule den Anspruch, über die Mitarbeit an der konkreten Entwicklung von Praxis an dieser Schule hinaus wirksam zu werden:
Es sollte erkennbar werden, ob bzw. unter welchen Bedingungen das Team-KleingruppenModell bzw. die Intention der „sozialen Interaktion“ auch an anderen Schulen verwirklicht
werden kann. Es wurde also zugleich ein bildungspolitisches Interesse verfolgt.
Die Ergebnisse dieser Analysen wurden zunächst in einzelnen Berichten dokumentiert9 und
später in einer Monografie (SCHLÖMERKEMPER/WINKEL 1987) ausführlich dargelegt. Die
Analysen zur Praxis der Schule haben gezeigt, dass im Rahmen der hier entwickelten Organisationsform individuelle und soziale Prozesse des Lernens intensiv begleitet und gefördert
werden können. Es hat sich in theoretischer Perspektive gezeigt, dass etliche Beobachtungen,
Situationen und Verhaltensweisen besser verständlich werden, wenn man sie mit einem „antinomischen Blick“ (vgl. SCHLÖMERKEMPER 2007) betrachtet. In methodologischer Hinsicht
wurde deutlich, dass qualitative und quantitative Methoden sinnvoll miteinander verbunden
werden können und dass sich aus der wechselseitigen Ergänzung Deutungen ergeben, die aus
der einen oder anderen Sicht allein nicht zugänglich sind (vgl. dazu SCHLÖMERKEMPER 2009
a). In bildungspolitischer – und ein Stück weit auch in gesellschaftspolitischer – Perspektive
haben die Praxis des TKM und deren Analyse gezeigt, dass es möglich ist, das Ziel der optimalen Förderung und das Ziel der sozialen Erfahrungen produktiv miteinander zu verbinden,
denn hier wird mit der trotz aller erfolgreichen Förderung verbleibenden Unterschiedlichkeit
auf eine Weise umgegangen, die als „konstruktiv und sozial“ bezeichnet werden kann.
6. Bilanz und Perspektiven
Im Rückblick kann die Planungsgruppe der IGS für sich in Anspruch nehmen, ein Konzept
zur Organisation des Lehrens und Lernens entwickelt zu haben, das inzwischen von etlichen
Schulen insgesamt oder in Elementen übernommen worden ist.10 Dieses Konzept ist einzureihen in eine historische Entwicklungslinie von Fortschritten, die „immer nur geringfügig (waren) und gegen Interessengruppen mühsam und zäh errungen werden (mussten)“ (HERRLITZ
2000, S. 276; vgl. auch HERRLITZ/HOPF/TITZE 2008, HERRLITZ/WEILAND/WINKEL 2003). Die
Projektgruppe SIGS des Pädagogischen Seminars hat ein Konzept für die wissenschaftliche
Begleitung von pädagogischen Innovationen entwickelt und praktiziert, das im Spektrum
Vgl. vor allem den sehr konkret informierenden Band über „Die Praxis der Lerndiagnose und Lernförderung im
Team-Kleingruppen-Modell“ (HERRLITZ 1979), der zwar nur als Umdruck verfügbar war, aber mehrfach nachgedruckt werden musste.
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möglicher und andernorts praktizierter Varianten eine Funktion ausfüllt, die mit dem Begriff
der Balance markiert werden kann: Es ging einerseits um die kritisch orientierte Analyse der
vorgefundenen und sich entwickelnden Praxis und zum anderen um einen darauf aufbauenden
Beitrag zur Entwicklung eben dieser Praxis. Bei aller kritischen Distanz und in institutioneller
Autonomie wurde die sich entwickelnde Praxis in einer Haltung begleitet, die – etwas modisch? – als „kritisch solidarisch“ beschrieben werden kann. Dies konnte und musste nicht
ohne Spannungen, Missverständnisse und Vorwürfe verlaufen, aber auf der Grundlage einer
gemeinsamen und doch funktional geteilten Verantwortlichkeit konnten solche Verwerfungen
immer konstruktiv bearbeitet und ‚gelöst’ werden. Dies war allerdings nur möglich, weil die
wissenschaftliche Begleitung dieses Schulversuchs nicht als eine Art Alibiveranstaltung der
Praxis nur angehängt wurde, sondern als ein essenzieller Teil der Versuchsarbeit etabliert
worden war. Erst unter diesen Bedingungen konnte jene Arbeit geleistet werden, aus der eine
Praxis des Lehrens und Lernens hervorgegangen ist, die weit über Göttingen hinaus anregend
und beispielgebend gewirkt hat. Weniger beispielgebend war die Projektarbeit allerdings in
Fragen der Lehreraus- und -weiterbildung. Dass Lehrerinnen und Lehrer auf die gesamtschulspezifische Tätigkeit gezielt vorbereitet werden müssen und dass dies sinnvollerweise am besten ‚vor Ort’ zu bewerkstelligen ist, ist offenbar noch immer nicht zur Selbstverständlichkeit
geworden.
Insgesamt wird man im Rückblick die damalige intensive Kooperation von Theorie und Praxis als einen ‚Glücksfall’ bewerten müssen, der unter der spezifischen Konstellation jener
Jahre möglich war. In der aktuellen Situation scheint es (wieder) mehr darum zu gehen, die
Praxis auf den Prüfstand zu stellen und ihre Effektivität (ihren „Output“) an externen Kriterien (wie z.B. den „Bildungsstandards“) zu messen. Politisch wird man es als einen wirksamen politischen Schachzug verstehen müssen, dass die KMK 1982 die IGS GöttingenGeismar auf eine „Ausnahmeliste“ gesetzt hat. Damit wurde signalisiert, dass dieses Modell
nicht als „Modell“ zur Nachahmung zu denken sei. Gleichwohl sind die Intentionen und viele
Elemente dieser Praxis in vielen Schulen aufgegriffen und wirksam geworden.
Quellen- und Literatur
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S. 352-367. Weinheim 2007.
10
Dabei sei ausdrücklich erwähnt, dass an der Gesamtschule Köln-Holweide parallel zu Göttingen-Geismar ein
im Wesentliches identisches Konzept entwickelt wurde, das ebenfalls als Team-Kleingruppen-Modell bezeichnet
worden ist (vgl. u.a RATZKI u.a. 1996).
14
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BRANDT, H. / SCHLÖMERKEMPER, J.: Kommunikative Lerndiagnose. Konzept und Wirklichkeit des
Lernentwicklungsberichts im Team-Kleingruppen-Modell. In: Zeitschrift für Pädagogik, 31
(1985), 2, S. 201-219.
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HERRLITZ, H.-G. / HOPF, W. / TITZE, H. / CLOER, E: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Weinheim 2008 (5. Aufl.).
HERRLITZ, H.-G. / WEILAND, D. / WINKEL, K. (Hrsg.): Die Gesamtschule. Geschichte, internationale
Vergleiche, pädagogische Konzepte und politische Perspektiven. Weinheim 2003.
HOFFMANN, D.: Heinrich Roth und die Gesamtschule. In: Die Deutsche Schule, 80 (1988), 1, S. 8694.
JUNGMANN, W. / HUBER, K. (Hrsg.): Heinrich Roth - "moderne" Pädagogik als Wissenschaft. Pädagogische Klassiker des 20. Jahrhunderts. Weinheim 2009.
KASTNER, H.: Zehn Jahre Gesamtschule in Niedersachsen. In: Die Deutsche Schule, 73 (1981), 10, S.
571-576.
PROJEKTGRUPPE SIGS: Soziale Interaktion in der Gesamtschule. Schulversuche und Schulreform,
Band 9. Hrsg. vom Niedersächsischen Kultusministerium. Hannover 1975.
RATZKI, A. / KEIM, W. / MÖNKEMEYER, M. / NEIßER, B. / SCHULZ-WENSKY, G. / WÜBBELS, H.
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1996.
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In: Die Deutsche Schule, 77 (1985), 4, S. 279-292.
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an der IGS Göttingen-Geismar. In: Die Deutsche Schule, 77 (1985) 4, S. 279-292
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Zur Person:
Jörg Schlömerkemper, Prof. i.R., Dr.phil.; geb. 1943, 1973 Promotion mit einer Arbeit über
„Lernen in wahldifferenziertem Unterricht“, bis 1995 Akademischer (Ober-)Rat am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen; seit 1995 Prof. für Erziehungswissenschaft mit
dem Schwerpunkt Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Schwerpunkte: Theorie der Schule, Bildungsreform, Forschungsmethoden (Hermeneutik und Empirie); zahlreiche Publikationen in der Zeitschrift
„Die Deutsche Schule“ (deren geschäftsführender Redakteur von 1989 bis 2007); seit 2007
monatlich „Empfehlungen“ in der Zeitschrift „PÄDAGOGIK“.
Anschrift: Ludwig-Beck-Str. 9, 37075 Göttingen,
Email: [email protected]
Homepage: www.jschloe.de
Umfang: ca. 41.200 Buchstaben
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