Neue Gentests weisen Krebserkrankungen e[...]

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Rettende
Zeichen
Neue Gentests
weisen Krebserkrankungen extrem
früh imBlut nach. Das erhöht die
Heilungschancen drastisch
VON ULRICHBAHNSEN
Die Frau war krank, aber sie ahnte nichts davon.
Sorge bereitete der werdenden Mutter nur ihr
ungeborenes Kind. Es schien todgeweiht. Der Test
ließ kaum Zweifel zu: Im Blut der Schwangeren
hatten dieMediziner mithilfe einerneuartigen
genetischen Untersuchung einen schlimmen Fund
gemacht. Der Fötus, so dachten sie, trug gleich zwei
ü̈berzählige Chromosomen im
Erbgut: Trisomie 13 und18, eine tödliche
Kombination. Seltsam nur, dass im Ultraschallbild
ein ganznormal entwickeltes Kind zu sehen war.
Monate später brachte die Frau tatsächlich
einen gesunden Jungen zur Welt. Erst zwei Wochen
nach der Geburt wurde den Medizinern
klar, woher das alarmierende Ergebnis des Bluttests
rührte. Da klagte die junge Mutter über Schmerzen
im Unterleib. Die Diagnose: Krebs, der bereits
Metastasen gebildet hatte. Nichtüberzählige
Erbmoleküle des Fötuswaren im Blut der
Schwangeren gefunden worden, sondern abnorme
Gene eines Tumors hatten den Alarm ausgelöst.
Aus dem Fall, über den der Genetiker Christopher
Osborne Ende März bei der Jahrestagung des
American College of Medical Genetics and
Genomics berichtete, lassen sich zwei
Lehrenziehen. Erstens: Tumorerkrankungen der
Mutter können die
neuen Bluttestsverfälschen, mit denen
sich Chromosomenstörungen des werdenden
Kindes
im Mutterleib diagnostizieren lassen, etwa das
Downsyndrom. Zweitens: Weil nicht nur Föten im
Mutterleibsondern auch
Krebsherde ihre Erbmoleküle in den Kreislauf
streuen, und zwar schon sehr früh, eröffnen sich
revolutionäre
Möglichkeiten für die Früherkennung von Krebs.
Das Verfahren nennt sich Liquid Biopsy, »flüssige
Biopsie«.Blut-statt Gewebeproben sollen
den Krebs verraten und dabei gleichzeitig helfen,
seine Schwachstellen zu entdecken und
Behandlungsstrategien zu finden. Womöglich kann
bald sogar eineinziger universeller Test für die mehr
als200 Tumorartenentwickelt werden, die heute
allein in Deutschland alle zweieinhalb Minuten ein
Menschenleben fordern. Je früher ein Tumorerkannt
wird, desto größer sind die Heilungschancen. Aber
derzeit sind nur für wenige Krebsarten
Reihenuntersuchungen verfügbar: die Mammografie
bei Brustkrebs, der Stuhlbluttest bei Darmkrebs, der
PSATest bei Prostatakarzinomen. Die Tests sind
schwachsichtig, unter Experten ist umstritten, ob ihr
Einsatz mehr Schaden oder Nutzen bringt.
Gleichwohl kostet allein das deutsche
Mammografieprogramm für Frauen zwischen 50und
69 Jahren bis zu 400Millionen Euro im Jahr. Künftig,
das ist die Vision, soll eine Blutprobe genügen. Die
Strategie ist im Grundsatz simpel: Auch
im Plasma von Gesunden schwimmen
immer Erbmoleküle aus abgestorbenen Zellen.
Lesemaschinen dechiffrieren die Erbinformation der
Blut-DNA im Massenverfahren (deepsequencing).
Finden Analyseprogramme dabei verräterische
Defekte, die man von Krebsgenen kennt, dann
könnte die Diagnose so früh gestellt werden, dass
die Heilung von weit mehr Krebserkrankungen
möglich wird. Der
Onkologie stünde eine Zeitenwende bevor. Die
Aussicht auf einen solchen Durchbruch ist vor allem
einem eher klein geratenen, scheuen Mann mit
weißem Fusselbart und skurrilem Humor zu
danken, der sein Forschungsinstitut nur in Notfällen
verlässt – etwa wenn seine Frau Geburtstag hat. Ob
Bert Vogelstein zum Schlafen nach Hause geht, ist
unter seinen Mitarbeitern umstritten. Und doch
wurde beobachtet, wie der Tumorgenetiker bei
einem seiner seltenen Kongressauftritte 12 000 in
dunkelblaue Anzüge gewandete US Onkologen
zu Lachsalven nötigte – mit einem Vortrag über
Darmkrebs. Sein japanischer Doktorand, der
kiloweise Stuhlproben von Darmkrebskranken
untersuchen musste, habe bei der
Vertragsunterzeichnung noch kein Wort Englisch
lesen können. »Ich schwöre, das wusste ich
nicht.« Vogelstein und seine Mitarbeiter haben die
Fundamente gelegt, auf denen die neuen
Hoffnungen der Krebsmedizin ruhen. Das Team
vom Kimmel Cancer Center an der Johns Hopkins
University in Baltimore hat bereits 2006 damit
begonnen, die Erbinformationen der Krebsherde
einzelner Patienten zu entschlüsseln, um
festzustellen, welche Defekte in welchen Erbanlagen
für die Entstehung, das Wachstum und die
Verbreitung von Krebs verantwortlich sind. Damit
gaben die
Wissenschaftler aus Baltimore den Anstoß für einen
gigantischen internationalen
Forschungsfeldzug: The Cancer Genome Atlas
(TCGA) wurde begonnen, um alle
Genveränderungen zu katalogisieren, die Krebs
jeglicher Art antreiben. Dafür wollen Fachleute bei
jeder Krebsform das Erbgut der Tumorproben von
500 Patienten dechiffrieren. Die erforderliche
Logistik, die Sequenzer- und Rechnerkapazitäten
werden von Forschungsinstituten
rund um den Globus gestellt. Neben den Vereinigten
Staaten und Großbritannien sind auch Deutschland,
Frankreich, Indien, China und Japan beteiligt.
Vogelstein selbst hat bei TCGA nicht
mitgemacht; die mit solchen Megaprojekten
verbundene Bürokratie ist ihm ein Graus. Doch er
und seine Mitarbeiter waren es, die vor drei Wochen
in Science eine erste Bilanz des Projekts zogen. Ihre
Bestandsaufnahme geriet zum Manifest. Es sei nun
an der Zeit zu handeln: »Unser Wissen über die
Genetik der Krebsleiden ist jetzt hinreichend, um
das Leiden und das Sterben effektiv zu
vermindern.«
Die molekulare Früherkennung per Blutprobe ist
tatsächlich keine Utopie mehr, das TCGA-Projekt
hat
bereits heute die Erkenntnisse geliefert, um
Krebsherde gleichsam im Moment ihrer Entstehung
aufzuspüren. Dabei hat das Konsortium erst weniger
als die Hälfte der Arbeit erledigt. Das Erbgut von
Krebszellen, wurde dabei offenbar, ist geradezu
bizarr
deformiert. In Tausenden Tumorproben von
Patienten verzeichneten die TCGA Wissenschaftler
bislang mehr als 400 000 genetische Defekte, rund
90 Prozent der menschlichen Gene waren betroffen.
Auf den ersten Blick eine deprimierende Bilanz.
Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die
überwältigende Mehrzahl der Genpannen lediglich
aus Kollateralschäden (passenger mutations)
besteht . Diese entstehen, weil die genetischen
Reparatursysteme der Tumorzellen versagen und
sich aufgrund der rasanten Teilungsgeschwindigkeit
Kopierfehler im Erbgut häufen. Die Zahl der
eigentlichen Übeltäter (driver mutations), die für das
aggressive Wachstum der Krebse verantwortlich
sind, ist dagegen durchaus überschaubar.
Offenbar, so schreiben die Tumorforscher aus
Baltimore, haben die Genomentzifferer schon fast
alle wichtigen Krebsgene gefunden. Mittlerweile
stoßen sie bei der Dekodierung
weiterer Krebsarten immer wieder auf dieselben
Tumorgene. Das lässt hoffen: – Das gesamte
Krebsgeschehen im Menschen wird demnach von
kaum mehr als 140 Erbanlagen (driver genes)
dominiert, in denen allerdings eine Vielzahl
unterschiedlicher Defekte auftreten. – Nur drei bis
acht solcher Krebsgene treiben im Regelfall den
Krebsherd eines einzelnen Patienten bei der
Wucherung an. Die Funktionszusammenhänge
zwischen diesen Tumorgenen gelte es jetzt zu
erkunden, schreibt das Vogelstein-Team.
Die Strategie für die neue Form der Früherkennung
ist nun vorgezeichnet: Sobald Tumore ihre
Erbmoleküle in den Kreislauf verlieren, können diese
aus einer Blutprobe isoliert werden. Extrem genaue
Entschlüsselung der DNA im Blut kann die Defekte
enttarnen. Ein Mutationsprofil entsteht, das den
Medizinern dann möglicherweise zugleich verrät, in
welchem Organ der entstehende Krebs zu suchen
ist.
Vogelsteins Team ist bereits dabei, die Leckagen zu
erkunden, die verschiedene Tumoren im Blut
hinterlassen. Noch sind die Befunde nicht
veröffentlicht, doch alles deutet darauf hin, dass
praktisch alle Krebsarten ihre Erbmoleküle ins Blut
der Kranken streuen. Und das Menetekel erscheint
früh. »Wir sind überzeugt, dass wir Krebs bereits im
Blut messen können, wenn der Tumor erst aus 50
Millionen Zellen besteht«, versichert Vogelstein. 50
Millionen Zellen – das ist ein Gewebekügelchen von
gerade mal einem zwanzigstel Gramm.
Kein herkömmliches Untersuchungsverfahren
kann einen solchen Winzling aufspüren.
Medizinforscher haben bereits mit der
Entwicklung onkologischer Bluttests
begonnen, die wie die vorgeburtlichen Gentests des
mütterlichen Bluts funktionieren. Die EU fördert im
Rahmen des EpiFemCare-Programms die
Entwicklung eines Bluttests für Brustkrebs und
Eierstockkarzinome. Beteiligt an dem internationalen
Vorhaben ist auch die deutsche
Sequenzierfirma GATC in Konstanz, deren Tochter
LifeCodexx den vorgeburtlichen Bluttest für das
Downsyndrom auf den Markt gebracht hat (ZEIT Nr.
6/13).
Wie gut die neuen Tests in der Praxis funktionieren,
beschrieben die Johns- Hopkins-Forscher Ende
vergangenen Jahres im Fachblatt Science
Translational Medicine:
Sie hatten Erbmoleküle im Blutplasma von zehn
Gesunden und zehn Patienten mit fortgeschrittenem
Darm- und Brustkrebs dekodiert. In den Gendaten
suchten sie dann nach verräterischen Defekten
– und der Test identifizierte alle Krebskranken
korrekt. Zudem lieferte er noch wertvolle
Informationen über die Art der Tumoren bei den
einzelnen Patienten. Solche Untersuchungen helfen
Krebsmedizinern schon jetzt bei der Behandlung
von
Patienten mit fortgeschrittenem Krebs. In deren Blut
lässt sich nun früher als bisher feststellen, ob ein
zunächst erfolgreich behandeltes Krebsleiden
zurückkehrt. Oder ob der Krebs gegen die
eingesetzten Medikamente resistent wird. Auch
Metastasen verraten sich, lange bevor sie sichtbar
gemacht werden könnten.
Im Büro seiner Hamburger Niederlassung brütet
Frank Diehl, wissenschaftlicher Leiter der jungen
Diagnostikfirma Inostics, über der Weiterentwicklung
derartiger Liquid-Biopsy-Tests. Das
Geschäftsmodell seines Unternehmens sei einfach:
»Wir machen immer genau das, was Bert sagt.«
Das ist nicht nur scherzhaft gemeint, denn Diehl war
bis vor wenigen Jahren Forscher in Bert Vogelsteins
Team, und auch jetzt
noch ist der amerikanische Onkologe sein Boss – er
gehört zu den Gründern des Unternehmens mit Sitz
in Hamburg und Baltimore. Inostics war an ersten
Pilotstudien beteiligt, in denen australische, britische
und USamerikanische Wissenschaftler den Bluttest
bei Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs und
bei
gastrointestinalen Tumoren eingesetzt haben. Sie
konnten zeigen, dass sich auf diese Weise die
Therapie besser steuern ließ. Auch in Deutschland,
beim Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen
(NCT) in Heidelberg, wurde unter der Leitung
von Christof von Kalle mit der Erkundung von
Tumorgenen im Blut begonnen. Ihre wahre Stärke
wird die Diagnose per Blutprobe aber bei der
zuverlässigen molekularen Früherkennung
demonstrieren. Vor allem bei den besonders
gefürchteten, fast immer tödlichen Karzinomen
könnte sie das Blatt wenden: Lungenkrebs etwa
verursacht den Betroffenen erst so spät
Beschwerden, dass die Erkrankung meist nichtfrüh
genug entdeckt
wird. Deshalb sterben bis zu 90 Prozent der
Kranken binnen fünf Jahren nach der Diagnose an
ihrem Leiden. Wird der Tumor dagegen durch Zufall
früh entdeckt, sind die Heilungschancen blendend.
Ähnlich
dramatisch sind die Unterschiede zwischen früher
und später Diagnose beim Pankreaskarzinom. Kein
Wunder, dass derzeit eine Welle von Studien zur
Diagnostik per Liquid Biopsy durch die Fachblätter
rollt. »Das Feld explodiert«, urteilt der Krebsforscher
Carlos Caldas vom Cancer Research UK Cambridge
Institute, der ebenfalls das Verfahren erkundet.
»Unerhört vielversprechend« sei die Idee der
molekularen Früherkennung, sagt auch der
Bostoner
Krebsforscher Daniel Haber vom Massachusetts
General Hospital, »sobald sie ökonomisch machbar
ist«. Diese Einschränkung ist wichtig. Von der
Massentauglichkeit sind die Bluttests aus einer
ganzen Reihe von Gründen noch entfernt:
Derzeit kostet eine Untersuchung mehrere Tausend
Euro pro Patient, die Sequenzierung und
Auswertung dauert einen Monat. Um als
Frühdiagnostik zu
dienen, müssen die Suchverfahren zudem
hochempfindlich reagieren: Im Blut von Patienten
mit
fortgeschrittener Erkrankung stammen zwei bis
fünfzig Prozent der Erbmoleküle vom
Tumor; im Anfangsstadium dagegen müssen die
Tests verdächtige Gene aufspüren, die weniger als
ein Promille der gesamten DNA im Blut ausmachen.
Aber die Tests werden immer billiger und schneller.
Daher ist die Anwendbarkeit nur noch eine Frage
der Zeit.
Wie bei allen Screeningmethoden ist die enorme
Scharfsicht des neuen Krebsradars zugleich seine
größte Schwäche. Womöglich wird der Test die
Mediziner zunächst hilflos mit einer Flut von
Krebsdiagnosen zurücklassen, deren Bedeutung sie
nicht abschätzen können. Ist ein winziger Krebsherd
von 0,05 Gramm immer behandlungsbedürftig?
Wie oft werden die Tests Alarm schlagen und die
Patienten einer aggressiven weiteren Diagnostik
aussetzen, obwohl diese in Wahrheit kerngesund
sind? Und selbst wenn Behandlung notwendig
erscheint: Wie findet der Operateur eigentlich
einen bösartigen Tumor, der so winzig ist, dass
ihn kein bildgebendes Verfahren sichtbar
machen kann? Ungeklärt ist, wem
künftige
Reihenuntersuchungen zugute kommen sollen.
Haben solche Massentests erst vom 50. Lebensjahr
an Sinn, wenn die Gefahr einer Krebserkrankung
zunimmt? Oder soll man junge Menschen
vorsorglich testen? Auch die Jüngeren, das zeigt der
traurige Fall der jungen Mutter in Arizona, sind nicht
immun gegen Krebs.
Weitere Informationen:
Der Krebsforscher Bert Vogelstein
ist Direktor am Kimmel Cancer Center der Johns
Hopkins University in Baltimore. Der Forscher
begann seine Karriere als Kinderarzt und ist heute
der weltweit führende Krebsgenetiker.
Zwischen 1994 und 2004 war der 63-jährige
Forscher der meistzitierte Mediziner.
Krebstheorie
Vogelstein wurde berühmt durch das Stufenmodell
der Tumorentstehung. Demnach bildet sich
Darmkrebs, indem in Zellen der Darmwand
nacheinander Veränderungen in drei
Schlüsselgenen
auftreten. Jede dieser Veränderungen ist mit einem
typischen und zunehmend pathologischen Bild der
Geschwulst verbunden.
Das Modell wurde später bewiesen und gilt in
analoger Form heute auch für andere
Krebsarten.
Flüssige Biopsie: Signal im Blut
Krebsherde geben schon früh Erbmoleküle ins
Blut ab. Wird die gesamte DNA eines Blutstropfens
entziffert, lassen sich darin typische Krebsgene mit
ihren Defekten erkennen. Wenn man die
Genprofile für bestimmte Krebsarten
kennt, wird eine weitaus bessere Früherkennung
von Krebs möglich.
Gerade einmal 140 Erbanlagen steuern das
Wachstum aller Tumoren. Ihre Aktivität verrät das
drohende Krebsrisiko
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