Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Praktikumsbericht: Auslandspraktikum im Projekt „Educando Para a Vida“ (Bildung fürs Leben) in Nordostbrasilien / Pernambuco März 2004 bis Mitte Juni 2004 Psychologiestudium Universität Klagenfurt Janosch Jasmine Matrikelnummer 9960508 - Seite 0 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung..................................................................................................Seite 2 2. Persönlicher Zugang: Motivation für die Wahl des Praktikums und Kontaktherstellung zur Institution............................Seite 2 3. Beschreibung der Institution (z.B.: Aufgaben der Institution)...................Seite 4 3.1. Strukturelle Rahmenbedingungen.......................................................Seite 6 3.2. Organisatorische, relative Eigenständigkeit und Autonomie der Institution.....................................................................Seite 6 4. Beschreibung der Tätigkeitsfelder, Aufgaben (wo eingesetzt?, was getan?) und der psychologischen Arbeitsmethoden.............................................Seite 7 4.1. Die lokalen und sozialen Lebensbedingungen der Mädchen...........Seite 10 4.2. Der psychologische Aufgabenbereich..............................................Seite 16 5. Reflexion................................................................................................Seite 24 6. Photos zur Arbeit....................................................................................Seite 27 - Seite 1 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine 1. Einleitung Hitze, Staub, Abgase – das war mein erster Atemzug in Südamerika, Nordostbrasilien, Pernambuco. Ein schwerer Rucksack, verschwitzte Kleidung, geschlossene Schuhe, die die Hitze stauen, verklebte Haarsträhnen im Gesicht – mein physisches Befinden während dieser Ankunftszeit. Rote Erde, viele Straßen, Busse und andere Verkehrsmittel, relativ helle bis ganz dunkle Hautfarben der Menschen, mit intensiven Farben bekleidet – die Frauen sehr körperbetont, alle neugierig schauend auf den großen Rucksack und mich, die ich als Europäerin in Brasilien sehr auffalle. Lautes Hupen, Gas geben, heftiges Bremsen beim Bus fahren, fremde Sprachfetzen, die von den Mitfahrenden zu mir herüber klingen, unbekannte Schriftzüge auf großen Plakaten, an jeder Haltestelle und all dies begleitend das heftige Schütteln des Busses, der auf der von Schlaglöchern gezeichneten Straße seiner Route folgt. Man kann sich jetzt vielleicht besser vorstellen, wie es mir in diesen ersten Stunden in Brasilien ergangen ist. Ein Überschuss an unbekannten Sinneseindrücken, Körpererfahrungen und emotionalen Anforderungen, denen ich zum ersten Mal ausgesetzt war. Ich fühlte mich hilflos wie ein kleines Kind, das sich nicht verständlich machen kann, nicht einmal um ein Glas Wasser zu bitten. Trotzdem habe ich diese Art von Praktikum gewählt, weil ich mich für die sozialen Gegebenheiten und unterschiedlichsten Lebensrealitäten der Menschen in den ärmeren Regionen unserer Erde interessiere. 2. Persönlicher Zugang: Motivation für die Wahl des Praktikums und Kontaktherstellung zur Institution Durch einen zweimonatigen Aufenthalt im Norden Indiens im Sommer 2003 lernte ich zum ersten Mal eine vollkommen andere Lebenswelt und -weise der Menschen in diesem Gebiet kennen. Die Erlebnisse und Erfahrungen in diesem Land beeinflussten meine Wahl des Praktikums maßgeblich. Ich wollte mehr erleben mit diesen Menschen, ich wollte ihre Lebenssituationen kennenlernen und nicht nur als Durchreisende gelten, die deren Alltag nicht nachvollziehen kann. - Seite 2 - Auslandspraktikum Brasilien Durch Internetrecherchen Janosch Jasmine versuchte ich Projekte mit Bezug auf die Strassenkinderproblematik in Südamerika und Brasilien aufzustöbern und es war nicht sehr einfach, etwas Passendes zu finden. Dass ich letztendlich doch noch einen Platz bekommen habe, verdanke ich einer Freundin, die selbst im Projekt „Educando Para a Vida“ (kurz EPV) als Praktikantin mitgearbeitet und mich darauf hingewiesen hat. Sie erwähnte die österreichische Solidaritätsgruppe „MissioAustria“, die von Graz aus geleitet wird und ein finanzieller Hauptträger des Projektes und dem dazugehörigen Frauenzentrum ist. Da ich mein Praktikum mit meinem Verlobten zusammen absolvierte, war es in vielen Fällen einfacher, Erfahrungen zu reflektieren und sich auszutauschen, aber anfangs fühlte ich mich in den meisten Situationen überfordert. Das war in besonders intensiver Weise der Fall an unserem Tag der Ankunft. Eine andere Praktikantin aus Österreich, die schon über einen Monat im Projekt mitarbeitete, holte uns vom Flughafen ab und „eskortierte“ uns sozusagen in die ca. zwei Stunden entfernte Stadt Vitória de Santo Antão, in der unsere Praktikumsstelle beheimatet ist. Vitória ist eine eher arme Provinzstadt im grünen Hügelland des Landesinneren von Pernambuco. Mit 121.000 1 registrierten Einwohnern ist sie eine relativ große Stadt, die in verschiedene Stadtteile unterteilt ist. Es gibt dort reiche Bewohner – Haus- und Gartenbesitzer, eine Mittelschicht, die in kleineren weniger komfortablen Häusern lebt, genauso wie ein großes Favelagebiet 2 am anderen Ende der Stadt. Es existiert beides auf erschreckend totalitäre Weise hier: Hunger und Fettsucht, Armut und Reichtum, übertriebenste Babypflege (es gibt unzählige Geschäfte nur mit Produkten für Baby- und Kleinstkindbedürfnisse und „Nicht-Bedürfnisse“) und einsame schmutzige Kinder am Straßenrand. Diese starke Diskrepanz und das damit verbundene Gefühl der Hilflosigkeit und des Nicht-Nachvollziehen Könnens meinerseits, zieht sich wie ein roter Faden durch die erlebte Zeit in Brasilien. Woher die Motivation entstammte gerade dieses Projekt, das ja eher in den Bereich des pädagogischen Interesses fällt, als Praktikum für mein Psychologiestudium zu wählen, liegt einerseits in der vom europäischen Stil total abweichenden Lebensumwelt der Betroffenen und der Realität, in der das gesamte Projekt 1 2 lt. IBGE, August 2003 nach Wahrig Fremdwörterlexikon: Favela – südamerikanisches Slumgebiet oder Elendsquartier - Seite 3 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine stattfindet. Was hier an psychologischen Besonderheiten im Lebensstil, der Umwelt und der zwischenmenschlichen Beziehungen auftritt, ist äußerst interessant zu beobachten, vor allem mit einem so differenzierten Erlebnishintergrund wie man es als Europäerin in Bezug auf Südamerika nun einmal hat! Andererseits konnte ich über die Härte und Schwere des in den meisten Fällen sehr sorgenreichen Lebens dieser Kinder und Jugendlichen, genauso wie über die große Lebensfreude und den Enthusiasmus mit denen sie leben, bei meiner Anmeldung für dieses Projekt nichts wissen, ich erahnte sie aber und damit ergab sich auch mein studium -relevantes Interesse für diese Einrichtung. 3. Beschreibung der Institution (z.B. Aufgaben der Institution) Das „Projeto Educando Para a Vida”, oder kurz EPV wurde im Dezember 1996 als Projekt des seit 1988 bestehenden „Centro das Mulheres da Vitória“ 3 gegründet. Die dort tätigen Mitarbeiter sind für die Belange der Frauen in der Stadt und Umgebung zuständig. Sie betreiben meist Aufklärungsarbeit zu den Themen Geschlechterrollen, Erziehung, öffentliches Recht,... Die Zielgruppe für das Mädchenprojekt sind Kinder und Jugendliche weiblichen Geschlechtes im Alter von ungefähr 10 -17 Jahren, die in der Marginalität, also den Randgebieten und/oder Favelas der Stadt wohnen, in sozialen Risikogebieten aufwachsen und sich beispielsweise prostituieren. Da die Schulen aufgrund der hohen Schülerzahlen in drei verschiedene Turnusse eingeteilt sind - nämlich vormittags, nachmittags und abends - bietet das Projekt von Dienstag bis Freitag einen Turnus am Vormittag von 7.30 – 11.00 und einen am Nachmittag von 13.30 – 17.00 an, damit der verpflichtende Schulbesuch weiterhin möglich bleibt. Innerhalb eines Turnus gibt es zwei Einheiten, die jeweils von 7.30 – 9.00, und von 9.30 – 11.00 Uhr, bzw. von 13.30 – 15.00 und von 15.30 – 17.00 abgehalten werden, in der halben Stunde dazwischen wird das Essen ausgeteilt. Anfangs mit 40 teilnehmenden Mädchen, befinden sich nun um die 150 Mädchen in dem pädagogisch - edukativen Projekt, da es erzieherischen und zugleich (aus)bildenden Charakter besitzt und versucht, die Mädchen aus ihrer belastenden 3 Frauenzentrum von Vitória - Seite 4 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Umwelt bewusst herauszuholen, um ihnen neue Perspektiven, Informationen und Erfahrungen in Bezug auf Körper und Geist anzubieten und zu eröffnen. Das institutionelle Angebot beinhaltet vor allem die Unterrichtseinheiten, die von der Auswahl natürlich auch budget- und/oder personalabhängig sind, dazu gehören Theater und traditioneller Tanz, bildnerische Erziehung, Literatur und Kulturbildung, Gitarren- und Gesangsunterricht, Englisch oder Spanisch (falls Praktikanten anwesend sind) und Friseurunterricht. Ergänzend dazu stehen die MitarbeiterInnen und Pädagoginnen für eventuelle Gespräche und Fragen immer zur Verfügung, Es gibt einen Psychologen, der aufgrund stark eingeschränkter finanzieller Mittel nur einmal pro Woche im Projekt anwesend sein kann und es deshalb sehr schwer hat, Zugang und Vertrauen zu den Mädchen zu bekommen. Es werden Ausflüge mit den Mädchen unternommen, Schwimmbad oder ans Meer. Andererseits wird beispielsweise in ein großer Wert auf Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von Teilnahme an Demonstrationen, öffentlichen Auftritten der Tanz- und/oder Theatergruppe und diversen Ausstellungen sowie dem Verkauf von Bildern und anderen selbst gefertigten Kunstgegenständen auf dem Feira Cultural 4 gelegt. Einmal im Monat werden Seminare für die Mädchen angeboten, und anstatt des normalen Unterrichts abgehalten. In diesem Rahmen werden Themen wie Sexualität, Geschlechterrollen oder Gewalt bearbeitet. Dieselben Seminare, mit ähnlichem Inhalt, werden monatlich auch für die erziehungsberechtigten Personen (meist Mütter oder Tanten) der Mädchen im Projektgebäude abgehalten, um erstens den Kontakt zwischen Institution und Familie aufrecht zu erhalten und auch bei den Eltern ein erhöhtes Problembewusstsein zu schaffen. Vorausgesetzt, dass die finanziellen Mittel vorhanden sind, werden im Zuge dieser Seminare auch die Cestas Basicas 5 an die Familien verteilt. Voraussetzung ist, dass die Mädchen die Auflagen von Anwesenheit und Partizipation im Projekt erfüllt haben. Ein weiterer Anreiz und vorerst wahrscheinlich primärer Grund für die Eltern ihre meninas6 in das Projekt zu geben ist zweifelsohne die Ausgabe einer warmen Mahlzeit pro Tag und Mädchen, wodurch die psychische 4 Kunsthandwerksmarkt Lebensmittelpakete 6 Mädchen 5 - Seite 5 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine und physische Belastung der Eltern für die Ernährung ihrer Kinder zu sorgen, etwas gelindert wird. Auch von Seiten der Mädchen kann man erkennen, dass manche das Projekt vorrangig wegen der warmen Mahlzeit, die oft die einzige für den Tag ist, besuchen. Dieses Verhalten ist den Verantwortlichen bewusst, da es sich dabei um die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses handelt. EPV sieht seine Aufgabe darin, durch ein breites auf sich aufbauendes Unterrichtsbzw. Workshopangebot, die Interessen der Mädchen zu wecken und zu erweitern, in Bezug auf das Neuerlernte Selbstvertrauen in die neu erworbenen Fähigkeiten und Selbstständigkeit bei den Mädchen zu entwickeln und ständig zu fördern. Schön ist es zu erleben, wie manchen dieser Mädchen der eigentliche Wert des Projektes mit der Zeit bewusst wird, die Möglichkeit sich zu bilden, die eigene Persönlichkeit entwickeln und entfalten zu können und dies alles in einem geschützten Rahmen geschieht. Bei manchen dauert dieser Erkenntnisprozess länger oder er tritt nie ein, wenn ein Mädchen – sei es begründet durch Schwangerschaft oder Heirat - das Projekt schon früher verlässt. 3.1. Strukturelle Rahmenbedingungen Das Projekt „Educando Para a Vida“ ist eine NGO7, die von Vereinen und Solidaritätsgruppen aus Europa (Österreich, Deutschland) finanziert wird und als Projekt von dem Centro das Mulheres gegründet worden ist. Man kann nicht sagen, dass diese Institution aufgrund einer politischen oder juristischen Entscheidung gegründet wurde, sondern durch das persönliche Engagement der Gründungsmitglieder. 3.2. Organisatorische, relative Eigenständigkeit und Autonomie der Institution Das Projekt ist organisatorisch eigentlich völlig autonom, da es zwar Gelder von den Vereinen und Solidaritätsgruppen MISSIO, MISEREOR und VIDA aus dem Ausland bezieht, jedoch selbstverwaltend fungiert. Diese Autonomie bezieht sich sicherlich - Seite 6 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine darauf, dass die Geldgeber sich in einer anderen Realität, nämlich der der „ersten Welt“ befinden und deshalb nicht den Anspruch von auferlegten Vorschriften stellen wollen bzw. können, wie die Arbeit im Projekt gemacht werden soll. Natürlich werden diverse Tätigkeitsberichte, Änderungen und Erfahrungen ausgetauscht und wenn von der Geberseite aus möglich, wird auch die Einrichtung besucht. Entscheidungen, welche die Arbeit im Projekt betreffen, werden prinzipiell im Team besprochen und abgewogen, somit kann jede/r MitarbeiterIn ihre/seine Meinung dazu abgeben um darüber zu diskutieren. 4. Beschreibung der Tätigkeitsfelder, Aufgaben (wo eingesetzt?, was getan?) und der psychologischen Arbeitsmethoden Meine Aufgaben ergaben sich offiziell im erzieherisch-pädagogischen Bereich, inoffiziell aber und zugleich von höherer Relevanz standen meine Beobachtungen, Interpretationen und Gespräche mit dem zuständigen Psychologen, der aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln nur ein Mal pro Woche anwesend sein konnte. Jetzt im Nachhinein kann ich sagen, dass mein Interesse in höchster Weise befriedigt wurde und ich viel mehr an psycho-sozialen Besonderheiten beobachten konnte, als ich es mir zuerst vorgestellt habe. Exemplarische Zeitdokumentation für eine Arbeitswoche: Montag: Teambesprechungen, Besuche der Familien, Vorbereitungen für die kommende Woche oder sonstige Besorgungen, Einkäufe usw. Dienstag: Unterricht „Culinária Austríaca“ jeweils von 07.30 – 9.00 Englisch und von 9.30 – 11.00 österreichische bzw. internationale Küche. Am Nachmittag dasselbe Thema und Gericht mit der zweiten Gruppe von 13.30 – 15.00 und von 15.30 – 17.00. Mittwoch: Englischunterricht im Projektgebäude mit den Mädchen von 11 bis 17 Jahren; Supervisionsgespräch mit dem Diplompsychologen Luis Martins Im Projekt sind die Zeiten gleich, allerdings hat man pro Turnus zwei Gruppen, d.h. viermal pro Tag das Gleiche unterrichten, das sehr anstrengend werden kann. 7 Non Governmental Organization - Seite 7 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Donnerstag: Englischunterricht im Projektgebäude, die Zeiten sind die gleichen. Freitag: Besuche der Familien in den Favelas, sonstige anfallende Arbeiten im Projekt und Vorbereitung der nächsten Woche. Spätestens Freitag musste der Plan für die benötigten Materialien für die kommende Woche abgegeben werden (Radio, Stifte, Lebensmittel, etc.) So sah unser Wochenablauf aus, dazu kamen Seminare mit den Mädchen bzw. den Eltern und weitere Termine wie Schulbesuch, Auftritte, Demonstrationen,... Die Sprache stellte anfangs ein großes Hindernis dar, mit den Leuten zu kommunizieren und die eigenen Bedürfnisse verständlich zu machen, genauso wie Interessensfragen zu stellen, geschweige denn eine Antwort zu verstehen. Ich hatte mich in weiser Voraussicht ein Semester vor dem Praktikum in einen PortugiesischKurs an der Uni eingeschrieben und fühlte mich mehr oder weniger gut vorbereitet. Ich kannte die wichtigsten Vokabeln und konnte, so glaubte ich, simple Dialoge führen. Als ich schließlich in Brasilien ankam, war alles anders! Ich verstand genau gesagt kein einziges Wort, und das hatte mir große Angst und Unsicherheit beschert. Hilflos stand ich Menschen gegenüber, die versuchten mir Fragen zu stellen oder mir etwas zu sagen, und ich musste sie stumm anstarren und konnte nichts erwidern. Die Aussprache des brasilianischen Portugiesischs war einfach unverständlich für mich, ich hatte zwar vorher gewusst, dass es im Grunde zwei verschiedene Arten von Portugiesisch gibt, das eine wird in Portugal gesprochen und das andere in Brasilien, und ich hatte meinen Wortschatz auch um ein paar brasilianisch-typische Vokabeln erweitert, aber aus diesem auf mich einströmenden Redefluss konnte ich so gut wie nichts ableiten, das ich vorher gelernt hatte. Das war eine Tatsache, die mich in der ersten Zeit sehr belastete. Ich erinnere mich an den ersten Abend, nach der anstrengenden Anreise und dem entmutigenden ersten Aufeinanderstoßen mit den Personen, die nun für über vier Monate meine Ansprechpartner sein sollten, und ich hatte Angst vor dieser vor mir liegenden Zeit, war verzweifelt und dies zeigte sich in den nicht enden wollenden Tränen, die in den ersten Tagen nach meiner Ankunft geflossen sind. Ein Umstand, der mich etwas beruhigte war, dass wir uns – mein Verlobter war ja auch anwesend, aber in dieser ersten Zeit auch kein entscheidender Trost, denn auch er war von den Sprachschwierigkeiten überrumpelt worden – vor unserem offiziellen Arbeitsbeginn von vornherein zehn Tage Zeitaufschub genommen hatten, um etwas mehr mit dem Land, den Leuten und der Sprache - Seite 8 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine vertraut zu werden, und für diesen glücklichen Einfall war und bin ich sehr dankbar! Wir zogen uns in eine Herberge an einem etwas entfernten Strand zurück und büffelten portugiesisch, überwanden uns nach und nach Menschen anzusprechen und wagten von Zeit zu Zeit kleine Dialoge. Unsere Erfahrungen waren teils ermutigend, teils ernüchternd, aber das positive Echo, mit dem wir von unserer Arbeitsstelle nach unserer Rückkehr empfangen wurden, gab mir die Motivation und in erster Linie das Bewusstsein, dass es möglich war, diese Zeit sinnvoll und interessant zu erleben, weil die sprachlichen Barrieren überwunden werden konnten - ein entscheidendes Erlebnis für die Entwicklung meines eigenen Selbstvertrauens und - ein kleiner Sieg war errungen! Als Nebenwirkungen zu den neuen absolut intensiven Lernerfahrungen in Bezug auf die Sprache, stellten sich starke Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände bei mir ein. Jeder Tag war so anstrengend, dass ich nach getaner Arbeit keine Kommunikation mehr ertragen konnte und spätestens um sieben Uhr abends fest eingeschlafen war! Die kleinen Erfolge hin zur Überwindung der sprachlichen Barrieren vermehrten sich zwar, aber die so andersartige Umwelt, die klimatischen Bedingungen, das Temperament der Menschen und die Arbeitsanforderungen standen vor mir wie unüberwindliche Hürden. Das resultierende Gefühl war starkes Heimweh! Ich wollte und (so glaubte ich) konnte auch nicht länger an diesem Ort bleiben und meinen Aufgaben nachkommen. Hier kommt der Anwesenheit meines Verlobten nun besondere Bedeutung zu, denn er war es, der mich ermutigte und motivierte, mich aber in erster Linie traurig und verzweifelt sein ließ, ohne mich auf Biegen und Brechen ändern zu wollen. Für seine Fürsorge und Geduld in dieser Zeit bin ich ihm sehr dankbar, wir teilen uns nun eine besondere Erfahrung, auf die wir zurückblicken und froh sind, dass wir sie gemeinsam erleben konnten. Meine offiziellen Aufgaben im Mädchenprojekt EPV waren nun mich mit den Mädchen vertraut zu machen und Kontakte zu knüpfen, und einige Zeit später den Unterricht im Fach „Englisch“ und „Österreichische Küche“ zu übernehmen. Eine sehr schwierige Perspektive, wenn ich an die sprachlichen Schwierigkeiten zurückdenke. Nichts desto trotz ergab ein Tag den nächsten und die Routine half mir über meine anfänglichen Ängste und Selbstzweifel, die ich sehr stark und bedrohlich erlebte, langsam aber stetig hinweg. In Bezug auf meine Selbstzweifel möchte ich erwähnen, dass ich sie nicht durch das Unterrichten und die Kontakte zu den anderen Erziehern überwinden konnte, sondern dass sie größtenteils erst - Seite 9 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine verschwanden, als sich mein persönlicher Kontakt zu den Mädchen verstärkte, ich sie und ihre Lebenswelt, wie auch ihre Persönlichkeiten besser kennen lernen konnte. Das war natürlich nur beschränkt möglich, wenn ich an die hohe Zahl der teilnehmenden Mädchen dachte. Insgesamt gab es jeweils vormittags und nachmittags 60 bis 80 Mädchen, welche die Einrichtung besuchten. Ein Problem ergab sich meinerseits darin, dass ich in größeren Gruppen eine zurückhaltende Rolle einnehme, vor allem zu Anfang und in einer fremden Umgebung. Dies bewirkte eine gewisse Hemmung mich zu der einen oder anderen hinzusetzen, sie von mir aus zu fragen, wie sie heißt, wie es ihr geht usw. Die Kontaktaufnahme wurde dadurch maßgeblich erschwert und erst langsam, sehr langsam, gelang es mir mich zu öffnen und aktiv auf andere zuzugehen. Das Temperament der Brasilianer hat es mir teilweise schwer gemacht, denn sie sind größtenteils laut in ihren Gesprächen, nehmen sich kein Blatt vor den Mund und zeigen sich sehr selbstbewusst im Umgang mit ihrem Körper – um sie flüchtig zu beschreiben. Andererseits sind sie sehr tolerant, äußerst geduldig und flexibel. Emotional sind die meisten Brasilianer sehr offen und zeigen ihre positiven Gefühlsregungen fast ungehemmt. Die vielen herzlichen Umarmungen, ermutigenden und liebevollen Worte und die tolerante Haltung haben es mir dann wieder leichter gemacht meine anfangs sehr starke innere Abwehr gegen die Situation langsam abzulegen. 4.1. Die lokalen und sozialen Lebensbedingungen der Mädchen Ein Auszug aus meinem Tagebuch vom 3.März 2004 - Der erste Favelabesuch: „Rot-braune Erde. Kleine bunte Häuserreihen, dazwischen immer wieder Grasflächen, Müll, Plastik, Steine und leere Flaschen. Neugierige Blicke und von Zeit zu Zeit laute Musik aus den Häusern. Kotgeruch, säuerlich-schimmliger Müllgestank, ein Haus grenzt ans andere. Kleine Kinder schauen aus den Fenstern, sitzen vor den Haustüren in Unterhosen mit schmutzigem Gesicht und rotziger Nase. Einige lutschen auf Mangokernen herum, sie starren mich an. Es ist heiß, die Sonne brennt auf meinen Kopf, es ist Mittagszeit, aus sehr wenigen Häusern kommt der Geruch von gekochtem Reis. Die Räume der Häuser sind armselig, dunkel, schmutzig. Die Couchen sind zerfetzt und riechen streng, Kinder krabbeln rauf und wieder runter, werfen mir neugierige Blicke zu. Männer starren mich skeptisch an, bekannte - Seite 10 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Gesichter lächeln mir entgegen. Eine ältere Frau drückt mir ihren zwei Monate alten Enkel in den Arm, voller Stolz. Das Baby fühlt sich weich an, sein Kopf ist schwer. Ich stütze ihn mit meinem Unterarm. Der kleine warme Körper liegt friedlich da und schläft. Die Fliegen, die auf seinem Gesicht landen, versuche ich durch Wegblasen zu verscheuchen. Das ganze Leben dieses Kindes ist noch offen und doch schon so vorherbestimmt. Ich gebe es wieder zurück mit einem dankbaren Blick, trete hinaus in die pralle Sonne, Gestank strömt mir wieder entgegen. Die Zeit scheint still zu stehen. Geier fliegen tief über den Häusern und ziehen ihre Kreise. Schmutzige Schweine und magere Ziegen gehen ihre Wege und sind freier als die Menschen – diese sind Gefangene ihres Elends.“ Das ist meine schriftliche Aufarbeitung bzw. Beschreibung meines ersten Favelabesuches. Die Not der Menschen hat mich berührt und verzagt gemacht. Und das Aufschreiben hat mich etwas von dieser Beklemmung befreit. Die Wohnhäuser der Mädchen sind meist sehr klein. Ein Raum, der durch einen Vorhang abgeteilt wird. Dort wohnen viel zu viele Menschen, sie teilen sich ein Bett, der Rest schläft auf dem Boden. Diese Nähe verstärkt die Wahrscheinlichkeit von sexuellen Übergriffen und Missbrauch innerhalb der Familie. Die allgemeine Toilette und Waschgelegenheit ist der Fluss, der durch das Gebiet fließt. Nur wenige Familien verfügen über einen Wassertank am Dach des Hauses. Trotzdem sieht man den Menschen die Armut nicht auf den ersten Blick an. Sie sehen sauber aus, sind gut angezogen und leisten sich billigen Schmuck und Kosmetika. Mein erster Eindruck der meninas war, dass sie gar nicht aussehen wie Kinder, die Hilfe benötigen, zumindest keine materielle Hilfe. Kleidung, Schmuck, Kosmetikartikel sind in Brasilien sehr billig zu bekommen. Die arme Bevölkerung muss sich nicht in Schulden stürzen, um sich äußerlich an die Mittelschicht anzupassen. Sie wollen nicht als Arme erkannt werden, wollen so wie alle anderen keine Probleme haben, beim Einkaufen im Geschäft oder auf dem Markt. Sie wollen nicht abgestempelt werden als arme Menschen, die man nicht gerne im Geschäft sieht, weil sie ja sowieso kein Geld haben oder etwas stehlen könnten. Das machen die Eltern so und die Kinder lernen und übernehmen dieses Verhalten. Schönheit und Styling ist wichtig in Brasilien unabhängig von der Herkunft. Wie stellt man sich als Ausländer eine brasilianische Frau vor? Die Vorstellungen sind sehr klischeehaft, aber sie treffen oft zu, denn viele Brasilianerinnen sind schöne - Seite 11 - Auslandspraktikum Brasilien kaffeebraune Frauen Janosch Jasmine mit langen dunklen Haaren, hübschen Gesichtern, körperbetonter knapper Kleidung, sie riechen gut und pflegen ihren Körper. Dieses Schönheitsideal ist bei ihnen auf extreme Art verbreitet und existiert in jeder Bevölkerungsschicht! Jede versucht mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln so gut es geht an dieses Ideal heranzukommen, das größtenteils durch die brasilianischen Medien vorgegeben wird, die sehr stolz sind auf die hübschen Frauen ihres Landes. Welcher psychische Druck dadurch aufrechterhalten wird, da ja die Mädchen von klein auf mitbekommen, dass es wichtig ist schön zu sein, sich herzurichten und wirklich sexy auszusehen, kann man sich vorstellen. Am gravierendsten konnte ich dies beim Fotografieren feststellen. Kaum wurde der Fotoapparat gesichtet kam Panik auf, denn vorher musste man unbedingt die Haare zurückstreichen, den Rock zurechtziehen und sich modellmäßig platzieren, damit man schön und sexy aussieht, wenn man schon die Gelegenheit hat auf ein Foto zu kommen. So dauerte es immer etwas länger, bis alle ihre Positionen eingenommen hatten, und wenn man vorher abdrückte, waren sie fast beleidigt. Diese Beschreibung trifft nicht nur auf die jungen Mädchen zu, nein, auch die Erzieherinnen im Projekt zeigten sich auf den Fotos regelmäßig von ihrer Schokoladenseite. Resultierend daraus ist eine weit verbreitete und sehr ausgeprägte Konkurrenz und Eifersucht zwischen den Frauen. Ich habe von den verschiedensten Leuten in Brasilien gehört, dass es dort um einen großen Teil weniger männliche als weibliche Einwohner gibt. Durch meine Internetrecherche konnte sich diese Behauptung aber nicht bestätigen, denn es handelt sich um einen sehr geringen Prozentsatz. Aber alleine, dass diese Auffassung unter der Bevölkerung so stark verbreitet ist, zeigt die innere Spannung innerhalb des Gesellschaftssystems. Da ich mit meinem Verlobten im Projekt in vielen Kursen zu zweit arbeitete, kamen immer wieder die Fragen der Mädchen bezüglich Eifersucht und Konkurrenz. Sie wollten wissen, ob es mir denn nichts ausmacht, wenn er andere Frauen umarmt beim Begrüßen oder sich mit ihnen unterhält. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ich ihm so vertrauen und in diesen Situationen gelassen bleiben kann. Die Mädchen selbst bekundeten lautstark, dass man den brasilianischen Männern nie so vertrauen könne, denn sie nähmen jede Gelegenheit war, etwas mit einer anderen Frau anzufangen, auch wenn sie eigentlich schon vergeben sind. Erleben können sie dies an dem Verhalten der Männer in ihrer Umgebung. Sie sehen ihre Väter, die neben ihrer Mutter noch andere Freundinnen haben oder durch ihre Brüder, die oft früh - Seite 12 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine heiraten und danach ihren Frauen schnell untreu werden. Sie bekommen mit, dass Freundinnen die liiert sind, betrogen werden und dass man interessierte Blicke auf sich ziehen kann, wenn man sich knapp genug anzieht und den dazu passenden Hüftschwung hat. Durch das Heranwachsen unter diesen sozialen Gegebenheiten war mir klar, woher ihr Misstrauen gegenüber dem männlichen Geschlecht stammt, was aber nicht zur Folge hat, dass sie sich von den Männern fernhalten, nein, es findet vielmehr ein Wettbewerb um diese statt. Das erzeugt starke Spannungen zwischen den Frauen, und ich konnte an verschiedenen Orten zu verschiedenen Gelegenheiten immer wieder Zeugin solcher Problemsituationen werden. Anders erlebte ich die Frauen im Frauenzentrum, die sich untereinander wirklich hundert - prozentig vertrauen. Ich interpretiere ihre Freundschaft zueinander so, dass sie sich zu etwas Höherem berufen fühlen, als in diesen unfairen Wettbewerb einzusteigen, was aber nicht zur Folge hat, dass sie ihr Äußeres vernachlässigen. Viele der Mitarbeiterinnen leben getrennt von ihren Männern. Sie wurden von ihnen mit jüngeren Frauen, Nachbarinnen oder Freundinnen betrogen und zogen daraus die Konsequenzen. Auch dieser Umstand schweißt sie zusammen und sie erleben eine neue Gemeinschaft durch das Projekt und das Frauenzentrum. Bei unseren Besuchen in den Favelas konnte ich herausfinden, dass auch viele der Mütter getrennt von ihrem Mann leben, weil sie aufgrund von Betrug und auch der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit der Männer lieber selbst für sich und ihre Kinder sorgen. Dies ist für die meisten eine sehr schwierige Aufgabe, denn viele Frauen sind finanziell abhängig von ihren Männern. Sie erlernen kaum Berufe, die ihnen nach einer Trennung eine Arbeitsmöglichkeit bieten könnten, sondern richten ihre gesamten Fähigkeiten darauf hin aus, sich einen Mann zu suchen, der sie heiratet und sie und ihre Familie gut versorgen kann, sodass sie sich ums Geld verdienen keine Gedanken mehr zu machen brauchen. Diese Verhaltensstruktur ist bei den Frauen Nord-Ost- Brasiliens stark verbreitet und sie bemerken erst Jahre später in welche Abhängigkeiten sie sich durch ihr vorschnelles Verhalten gebracht haben. An diesem Punkt setzen auch die Erzieher des Projekts an. Sie wollen den Mädchen vermitteln, wie wichtig es als Frau ist finanziell unabhängig zu bleiben und eine Berufsausbildung anzustreben, die das gesamte Leben verändern kann. Einige erschreckende Beispiele zum Thema Geschlecht – Geschlechterrollen konnten wir miterleben und einiges wurde uns auch erzählt. So kam es kurz vor - Seite 13 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine unserer Ankunft dazu, dass die Mitarbeiterin, die die finanziell-administrative Koordination überhatte, von ihrem Mann mit einem Mädchen, dass noch zwei Jahre zuvor am Projekt teilnahm und das sie gut kannte, betrogen wurde. Der tiefe Schmerz, der ihr damit zugefügt wurde und das Misstrauen, dass sich bei ihr in Folge dessen zeigte, waren schrecklich für sie und ihre KollegInnen. Sie wusste nicht mehr aus noch ein und erst langsam durch viele Gespräche mit ihren Freundinnen verbesserte sich ihr Zustand wieder. Genauso auch die pädagogische Leiterin des Projektes, die von ihrem Mann mit einer jüngeren ihr bekannten Frau betrogen wurde. Dieser Ehebruch blieb nicht ohne Folgen, denn bald erwartete diese Frau ein Kind und die Familie wurde auseinandergerissen. Heute lebt sie mit ihren zwei Kindern im Teenager-Alter alleine – sie hat durch ihre berufliche Ausbildung die Möglichkeit, sich und ihre Kinder alleine zu versorgen – aber sie erzählt, dass sie ihren Mann zeitweise sehr vermisst und es schwer ist ohne ihn auszukommen, aber mit ihm ist es noch weniger möglich. Sie erwähnte auch, dass ihre Schwiegermutter immer ein Problem damit gehabt hatte, dass sie und dadurch auch ihre Kinder zum schwarzen Teil der Bevölkerung zählen, und das neue Baby, das ihr Mann mit der anderen Frau bekommen hatte, war weißer und deshalb der Liebling der Großmutter. Die Rassismusproblematik ist sehr präsent in Brasilien, weil es die unterschiedlichsten Hautfarben gibt und die Weißen inoffiziell mehr Rechte haben als die Schwarzen und bevorzugt behandelt werden. So sind auch die Themen Geschlechterrollen, Frauenrechte und Beratung in praktischen Fällen eines der Hauptanliegen des Frauenzentrums und werden besonders intensiv den Mädchen im Projekt EPV vermittelt. Ein anderes Problem ist die große Gewaltbereitschaft, die in vielen Fällen auf den massiven Alkohol- und Drogenkonsum zurückzuführen ist. Die Hauptdroge ist in diesem Gebiet der Zuckerrohrschnaps „Cachaça“, der in der Stadt Vitória produziert wird. Ein Liter Schnaps kostet hier zwischen 35 und 70 Cent, deshalb ist der Alkoholkonsum massiv. Es gibt hier sogar Schnaps in der Dose zu kaufen! Die typischen Drogen finden ihren Hauptumschlagplatz in den Favelas. Sie werden vom Landesinneren dorthin gebracht und zwischengelagert, um danach weiter in die großen Städte geliefert zu werden. Die Mädchen wachsen in diesem Drogenumfeld auf, manche sehr intensiv, wenn Väter und Mütter als Dealer fungieren und den Stoff z.B.: in ihrem Haus zwischenlagern, andere etwas entfernter, die die Drogen nur vom - Seite 14 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Hörensagen kennen. Durch den anonymen schriftlichen Fragenbogen, den wir mit einem Großteil der Mädchen gemacht haben, konnten wir durch gezielte Fragegestellungen herausfinden, dass jedes Mädchen Drogen wie Crack, Kokain, Marihuana, Klebstoff oder Gas schnüffeln kennt, und dass es einige gibt, die einen Teil dieser Drogen ausprobiert haben. Obwohl der Fragebogen anonym durchgeführt wurde, waren – so vermute ich – trotzdem viele sehr gehemmt, ehrliche Antworten zu schreiben. Denn von den Erziehern, die die Lebenswelt der Mädchen um einiges besser kennen, erfuhren wir, dass ein Großteil schon mit Drogen in Berührung gekommen ist, und dass es in fast jeder Familie irgendjemanden gibt, der deshalb auch schon im Gefängnis war, meist männliche Familienmitglieder wie Brüder, Cousins, Onkeln oder Väter. Von einigen Mädchen wissen wir auch, dass sie regelmäßig Drogen konsumieren. Viele rauchen Zigaretten, das hat in Brasilien einen anderen Stellenwert als in Europa, denn Raucher sind dort verstärkt Außenseiter. Es gibt weniger Menschen die Tabak rauchen und es ist in fast allen öffentlichen Gebäuden nicht erlaubt. Abschreckung erfolgt durch sehr brutale Bilder, die auf die Zigarettenpackungen gedruckt werden z.B.: Darstellungen von Babys im Brutkasten, deren Mutter Kettenraucherin ist oder ein Foto einer Raucherlunge, usw. Andere Mädchen probieren hin und wieder Alkohol sprich den Zuckerrohrschnaps aus, und von einigen wissen wir, dass sie Marihuana oder Crack rauchen, dass sie Klebstoff schnüffeln oder Gas. Drogen sind in diesem Gebiet äußerst billig. In den Favelas existiert eine Drogenmafia, die nicht unterschätzt werden darf, so berichteten uns die Erzieher. Und als sie uns eines Tages mitteilten, dass der Drogenboss am Vortag erschossen worden sei, war dieser Vorfall den meisten Mädchen bekannt. Sie leben in diesem System der Gewalt und Sucht. Die Projektarbeit versucht ihnen zu vermitteln, dass sie der Drogenkonsum kaputtmacht und in noch größere Abhängigkeit führt. Viele verwenden die Drogen, um ihrer Realität zu entfliehen, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie wollen vergessen, dass sie arm sind, dass sie großen Aggressionen in ihrem Umfeld ausgesetzt sind. Sie erträumen sich ihre eigene Welt. Zugleich ist das Ausprobieren für sie etwas Spannendes, Verbotenes, etwas dass sie klug und selbstsicher erscheinen lässt. Letztere Motive spielen ja auch bei uns in Europa eine entscheidende Rolle beim Ausprobieren von Drogen. Ein Erlebnis hatte ich, nicht in Vitória sondern in Recife, der Hauptstadt von Pernambuco, in der es viele Straßenkinder gibt, die getrennt von ihren Eltern in - Seite 15 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine kleinen Gruppen und Verbänden leben und sich ihre Nahrung erbetteln, erstehlen oder kleine Arbeiten, die aber sehr schwer zu bekommen sind, übernehmen. Ich wartete auf den Bus und sah einen kleinen Jungen näherkommen. Er war sicher nicht älter als zehn, hatte schmutzige Kleider und einen glasigen Blick. Ich konnte erkennen, dass er vorne in seiner Hose eine Glasflasche stecken hatte und wusste von anderen Situationen schon, dass dort Schnüffelklebstoff drin war. Seine Motorik war sehr unkoordiniert. Er kam auf mich zu und fragte mich nach etwas Geld. Da ich es mir zu einem Grundsatz gemacht hatte, keinem Kind Geld zu geben, deshalb, weil sie entweder das Geld zu Hause abliefern müssen, oder sich damit nur mehr von dem Kleber kaufen, fragte ich ihn, ob er Hunger hätte und er bejahte natürlich. Ich sah mich um und entdeckte einen kleinen Kiosk, holte dort ein paar Äpfel und Kekse und gab sie ihm. Er nahm sie, drehte sich langsam um und ging davon. Nach einigen Minuten kam er aber wieder zurück, stand neben mir und versuchte ohne Erfolg die Kekspackung mit seinen zitternden Fingern aufzumachen. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt. Ein zehnjähriger, den der Klebstoff so kaputt gemacht hat, dass er es nicht schafft eine Verpackung zu öffnen, die Nahrungsmittel enthält, die seinen leeren verkrampften Magen füllen könnten. Er fragte mich, ob ich ihm helfen könne und ich nahm die Packung und öffnete sie für ihn. Er bedankte sich und ging davon. Über diese Situation musste ich lange nachdenken, über das Schicksal der Kinder, die einfach in einem anderen Erdteil zur Welt kommen und sich dort in einer Weise durchs Leben schlagen müssen, die mit der Kindheit, wie sie die meisten bei uns erleben, wenig zu tun hat. 4.2. Der psychologische Aufgabenbereich Die Hauptaufgabe des für das Projekt zuständigen Diplompsychologen Luis Martins ist die Beobachtung der Mädchen, um bei eventuellen Verhaltensauffälligkeiten intervenieren zu können. Jede Neueinsteigerin hat einen Gesprächstermin bei ihm und er legt eine Akte für sie an. In seinem Behandlungsraum werden die Mädchen erwartet, wenn sie von sich aus um Unterstützung bitten, oder wenn sie von den Projektkoordinatorinnen - Seite 16 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine hingeschickt werden. Auch wenn sich das Verhalten der Mädchen verändert, wenn sie unruhig oder aufgeregt sind, wenn sie durch ihr Verhalten immer wieder Aufmerksamkeit erregen wollen (durch lautes Sprechen, das bei Brasilianerinnen sehr laut werden kann, durch das Stören im Unterricht, usw.) Die Erzieher machen die Mädchen auf die Möglichkeit des therapeutischen Gesprächs mit dem Psychologen aufmerksam. In diesen Gesprächen soll ein mögliches Motiv für ihr Verhalten herausgefunden werden genauso wann ihr Verhalten auffällig ist und wann nicht. Am Anfang jeden Monats wird darüber gesprochen, welche Bitten von Seiten der Koordination und Planung kommen, womit gearbeitet werden soll und wie beabsichtigt wird zu arbeiten, um falls notwendig Material zu besorgen. Auch am Ende jeden Monats wird bei einem Treffen ein monatlicher Bericht abgegeben über die Fortschritte und Studien, sowie über die Planung und Einschätzung der Aktivitäten. Das Hauptaugenmerk der therapeutischen Arbeit liegt im Zuhören und durch das Anbieten von Hilfsmitteln (Spielzeug, Puppen, Stofftiere, Papier, Stifte) um das Erzählen über sich zu erleichtern und sie darin zu unterstützen. Viele bevorzugen nur zu sprechen, teils erfinden sie Geschichten über ihre Familien, ihre Freundschaften mit Jungen, Schwangerschaften, Aggressivität zu Hause, die schulische Situation. Der Psychologe konnte feststellen, dass sein Angebot insofern Wichtigkeit im Projekt hat, dass sich bei machen Mädchen ihre Verhaltensauffälligkeiten verringern, wenn sie die Möglichkeit haben, sich bei ihm auszureden und ihm zu erzählen. Die Eltern werden auch in das therapeutische Gespräch miteinbezogen, entweder auf selbstgeäußerten Wunsch oder sie werden von der Projektleitung gebeten, zu einem Gespräch zu erscheinen. Viele Eltern nehmen dies Möglichkeit nicht wahr, weil sie Angst haben, über ihre familiäre Situation zu sprechen. Sie fürchten sich entblößt oder durchschaut zu werden. Und oft muss der Psychologe auf die elterliche Mithilfe in seiner therapeutischen Arbeit verzichten, weil das Vertrauen zwischen Elternhaus und Projekt nicht gegeben ist, und er viele Eltern auch nicht persönlich kennt. Wenn die elterliche Mithilfe jedoch gegeben ist, wird durch ihre Erzählungen und den Äußerungen der Mädchen ein Bezug hergestellt, damit die Beziehung innerhalb des Familiensystems besser verstanden und dementsprechende Hilfe angeboten werden kann. Durch die Gespräche kann es in Krisensituationen wieder zu einer Annäherung zwischen Eltern und Mädchen kommen, wenn diese berichten - Seite 17 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine dass sich die Situation zu Hause aufgrund der psycho-therapeutischen Mithilfe gebessert hat. Die Gespräche, die die Mädchen untereinander über die psychologische Arbeitsmethode führen, zeigen aber auch die Angst, dass der Psychologe zu viele Fragen über ihr Privatleben stellen könnte. Hierin besteht die große Sorge der Mädchen, wenn sie das psycho-therapeutische Angebot noch nicht kennen. Es mangelt ihnen an einer alternativen Sichtweise, weil diese Gesprächsmöglichkeiten ihre Probleme und Ängste aufarbeiten und erleichtern können. Der Widerstand, den die Mädchen zeigen, könnte darin begründet sein, dass der Psychologe ein Mann ist und die Mehrheit von Grund auf ein problematisches Verhältnis zu Männern hat. Von den 160 Mädchen gibt es bis jetzt 3 oder 4, die noch nicht zu einem Gespräch mit Luis bereit waren. Die anderen konnten erkennen, dass sie in dieser Situation nicht gezwungen werden irgendetwas zu sagen. Und sie suchen das Gespräch von sich aus, weil sie sich danach erleichtert fühlen. Die Zeichnungen der Mädchen stellen meist Wunschvorstellungen dar. Ein großes Bedürfnis nach Harmonie ist darin erkennbar. Viele zeichnen Häuser – schöne große Häuser, wie sie sie selbst nicht besitzen. Sie zeichnen Herzen, die ihre Liebesbedürftigkeit ausdrücken, ihren Wunsch, dass man sie gernhat. Ein Mädchen zeichnete die Tätowierung ihres Vaters nach. Ein großes Herz und darüber ein Messer. Ich vermute das Mädchen zeichnete dieses Bild, weil es sich so seinem Vater näher fühlte oder sein Bedürfnis nach seiner Nähe ausdrücken wollte. Aber diese zwei Symbole sind eine gute Darstellung für die zwei Komponenten Liebe und Aggression bzw. Gewalt, die die Mädchen tagtäglich erfahren, der Wunsch nach Geliebt werden und das Erleben von körperlicher oder seelischer Gewalt. Dass sie oft Schreckliches sehen oder erfahren zeigen die Mädchen nicht nach außen. Sie treten von ihrer eigenen tristen Welt in die andere Welt „das Projekt“ und sind eine andere Person, sie lachen und strahlen, sie umarmen und wollen umarmt werden. Ihre Ängste, ihren Hunger, ihre Traurigkeit zeigen sie sehr selten. Sie wollen geliebt werden und wollen deshalb wie ein gesundes überaus glückliches Mädchen aussehen. Ich habe die Mädchen beobachtet, als sie es nicht merkten und sah in diesen Momenten ihr viel ehrlicheres Gesicht. Nachdenklich, traurig, versunken, und als sie bemerkten, dass ich sie ansah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck - Seite 18 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine schlagartig wieder in ein strahlendes Lächeln. Viel Traurigkeit und Verzweiflung, die sie niemandem zeigen wollen. Ein anderes Erlebnis mit den Eltern der Mädchen war, dass diese bei einem Seminar uns Praktikanten gefragt haben, was wir an ihren Töchtern mögen, und sie wiesen uns darauf hin, dass ihre Töchter sehr fröhliche junge Mädchen seien, und dass man sie deshalb gern haben müsse. Dieses Verstecken der wahren Emotionen wird von der Umwelt der Mädchen gefordert und gefördert. Sie haben sich daran angepasst, weil sie liebesbedürftige junge Frauen sind, die gerne in Harmonie miteinander leben, auch auf Kosten ihrer wahren Gefühle. Ihr Leben ist überladen mit schwer zu verkraftenden Tatsachen. Bei meinen Gesprächen mit ihnen hatte ich das Gefühl, dass sie mich davor schützen wollten, dass sie mir die Zeit in Brasilien so schön, so problemlos wie nur möglich machen wollten, dass ich sie immer gut gelaunt und froh in Erinnerung hätte und nicht mit einem traurigen Blick. Durch unseren Unterricht fanden wir zwischendurch Zeit über Gefühle und Ehrlichkeit zu sprechen. Das Echtsein und seine Legitimität vermittelten wir ihnen dadurch, dass wir Gespräche darüber führten, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat und dass man ehrlich dazu stehen darf, weil es einem viel besser damit geht, und auch den anderen, die genau merken, wenn man schlecht drauf ist und trotzdem so tut als sei alles in Ordnung. Es gelang uns dadurch ein wenig die alten Verhaltensmuster aufzuweichen, aber diese sind so tief in den Mädchen verankert, dass dies einen lebenslangen Lernprozess erfordert. Schwierig für mich ist nun zu akzeptieren, dass es vielleicht niemanden außer dem Psychologen gibt, der bewusst und verstärkt in diese Richtung arbeitet. Nach dem ersten offiziellen Gespräch kommen die Mädchen zu ihm, wenn sie das Bedürfnis haben mit ihm zu sprechen. Er erzählte mir, dass die Mädchen sehr selten etwas über ihr Leben sagen. Aus diesem Grund unterstützt er wie bereits erwähnt seine Arbeit mit Puppen, Stofftieren und Malstiften. Seine Mittel sind sehr begrenzt und er muss oft improvisieren. Er hat zwei gemütliche Stühle in seinem Zimmer, der Nachteil an diesem Raum ist, dass er oben offen hin zum Korridor ist - sehr schlechte Voraussetzungen für eine vertrauenserweckende Atmosphäre und ich kann verstehen, dass ihm viele Mädchen auch deshalb nicht ihr uneingeschränktes Vertrauen schenken wollen. Dass er trotz diesen Schwierigkeiten noch immer im Projekt arbeitet bewundere ich sehr. Seine Arbeit geht langsam voran und kann für ihn meiner Meinung nach nur schwer befriedigend sein. Aber er merkt, dass er doch - Seite 19 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine hin und wieder helfen kann, weil ihm das eine oder andere Mädchen trotz der schlechten Voraussetzungen Vertrauen entgegenbringt. Meine psychologischen Arbeitsmethoden ergaben sich vor allem durch das Beobachten der Mädchen. Ich achtete auf ihre Körpersprache vor allem am Morgen, wenn sie von zu Hause im Projekt eintrafen. Dabei konnte ich erkennen, dass viele sehr ruhig, nachdenklich oder besorgt im Projekt ankamen. Die Mädchen treffen sich unterwegs, gehen dann in kleinen Gruppen, den bis zu einer Stunde langen Weg von ihrem Wohnhaus zum Projektgebäude. Ich habe sie beobachtet, bevor sie das Gebäude betreten und die erste Stunde während der diversen Angebote. Der Großteil der jüngeren zehn- bis zwölfjährigen Mädchen verhält sich in dieser Zeit viel offener, sie wirken unbelasteter und kindlicher. Die Schritte der Älteren wirken mühevoll und kraftraubend, wenn man sie aus dem Favelagebiet herauskommen sieht. Sie lächeln oft nur träge, obwohl lächeln sonst eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen ist. Es ist wirklich sehr schwer, Zugang zu ihrer Welt zu bekommen. Schüchtern und verschlossen sind sie nur dann, wenn es um ihren persönlichen Lebenshintergrund geht. Und innerhalb dessen hauptsächlich in Bezug auf ihre negativen Erlebnissen. Ihr Bedürfnis der sozialen Erwünschtheit zu entsprechen ist sehr hoch. Im Rahmen der Supervisionsgespräche mit dem Psychologen versicherte auch er mir, dass die meisten großes Misstrauen in ihre Umwelt entwickelt haben, und sie ihre wahren Emotionen – bezogen auf Traurigkeit, Melancholie oder Depressivität – verbergen. Nur vereinzelt konnte ich Mädchen beobachten, die auch ihre trauerbesetzten Emotionen nicht verbargen. Hin und wieder konnte ich auch beobachten, dass die Mitarbeiter, die tagtäglich im Projekt anwesend sind, öfters von den Mädchen ins Vertrauen gezogen werden, als der Psychologe, der nur einmal pro Woche anwesend ist. Beispielsweise sah ich einmal ein Mädchen, dass in Tränen aufgelöst im Büro bei der Sekretärin saß und ihr erzählte, wie belastend ihre Familiensituation ist, da ihr Vater viel trinkt und die Mutter schlägt und sie dies alles hilflos beobachten muss. Es handelte sich dabei um ein fünfzehnjähriges Mädchen. Eine solche Art Offenheit ist bei den Mädchen nur selten gegeben, da sie sehr vorsichtig sind, beim Erzählen ihrer familiären Verhältnisse. Meine pädagogisch - edukative Aufgabe bestand darin, mit meinem Verlobten gemeinsam den Englisch –Unterricht durchzuführen. Keine Leichtigkeit, wenn man alles auf portugiesisch erklären muss. Die Mädchen, sehr scheu beim Benutzen der - Seite 20 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine fremden Sprache, taten sich schwer beim Erlernen, denn der schulische Englischunterricht läuft mehr oder weniger als eine Art Abschreibaufgabe ab, und die Hausübung besteht darin, Phrasen mit Hilfe des Wörterbuches zu übersetzen. Da keine Schulbücher vorhanden sind, ist diese Unterrichtsmethode ziemlich sinnlos, nicht zuletzt deshalb, weil bis zu sechzig Schüler eine Klasse besuchen. Unser vordergründiges Anliegen war, das Selbstvertrauen der Mädchen soweit zu stärken, dass sie es sich zumuten Worte zuerst sehr mühevoll und langsam auf Englisch nachzusprechen und sich nach einigen Unterrichtseinheiten immer wieder daran zu erinnern. Die Freude mancher, dass es ihnen möglich war bestimmte Vokabeln über eine Woche hinweg im Kopf zu behalten und sich wieder zu erinnern, war sehr groß. Dadurch wurde ihnen bewusst, dass es ihnen trotz ihres belastenden sozialen Umfeldes möglich war, eine neue Sprache Schritt für Schritt zu erlernen. Der Eifer, der sich daraufhin bei der einen und anderen entwickelte, war bemerkenswert. Ein besonderes Erlebnis hatten wir in einer Englischstunde, in der wir den Mädchen den einfachen Refrain des Liedes „Don’t worry, be happy“ beibringen wollten, aufgrund der wenigen und einfachen Vokabeln. Um uns die Wortabfolge leichter einzuprägen, unterstützten wir den Text pantomimisch. Das was dabei herauskam war, einerseits ein tolles Lied, dass von vielen mitgesungen wurde, und dass die Mädchen begeisterte. Andererseits sangen wir in diesem Moment genau den Text der so interpretiert werden kann, dass es nicht gut ist schlecht drauf oder traurig zu sein, dass heißt, dass es nicht erlaubt oder erwünscht ist, die wahren Emotionen zu zeigen, sondern dass man immer lächeln soll, egal wie es einem geht. Eigentlich waren wir uns darüber einig, genau dieses Lied zum Aufhänger für das schwierige Thema bezüglich Ehrlichkeit und Gefühle zu verwenden, in dem die meisten ein großes Defizit aufwiesen. So begannen wir eine Diskussion über den Text. Die Mädchen waren mit uns darüber einig, dass es nicht möglich ist, jeden Tag gut drauf zu sein. Und so ermutigten wir sie zur ehrlichen Demonstration ihrer Gefühle, in dem Sinn, dass ihre Mitmenschen sie besser verstehen können. Sie sahen ein, dass es nicht gut ist zu behaupten, es sei alles in Ordnung, wenn man sich traurig fühlt, weil man dabei nicht echt sein kann und sich und die anderen damit betrügt. Es war eine für die Mädchen überraschende Diskussion, die ehrlich interessiert von ihnen aufgenommen wurde, weil sie merkten, dass es uns wichtig war, ihre Stimmungen kennen zu lernen und zu akzeptieren. - Seite 21 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Das andere Unterrichtsfach war „Culinaria Austriaca“ - Kochkurs der österreichischen Küche. Anfangs fühlte ich mich mit dieser Anforderung überfordert, denn ich koche sehr gerne, aber bin kein Spezialist für traditionelle Küche. Die ersten Male waren deshalb etwas steif und schwierig meinerseits, bis ich merkte, dass es auch hier darum ging, den Horizont der Mädchen zu erweitern und nicht die perfekte Köchin zu sein, was nach kurzem Nachdenken in einer Provinzstadt im Nord-Osten Brasiliens kaum möglich ist, wenn man an die notwendigen Zutaten und Kochutensilien denkt. So improvisierten wir wo es nur ging und waren den Anforderungen entsprechend flexibel. Wir bemerkten immer wieder eine allgemeine Unruhe an diesem ersten Projekttag jeder Woche (Dienstag). Die Mädchen waren unruhiger, lauter, verhaltensauffälliger und nervöser als an den anderen Tagen. Eine Mitarbeiterin erklärte uns, dass dies auf die drei Tage, die sie nur zu Hause verbringen (Samstag, Sonntag, Montag) zurückzuführen sei. Die Mädchen erleben ihre familiäres und soziales Umfeld in dieser Zeit viel intensiver und erfahren das sonst tägliche Herausholen durch den Projektalltag nicht. Die Reaktionen nach dieser wöchentlichen dreitägigen Unterbrechung zeigen, wie wichtig die erlebte Kontinuität des Projektes für die Mädchen ist. So hatten wir oft damit zu kämpfen die Aufmerksamkeit und Konzentration der Mädchen aufrechtzuerhalten, mit verschiedenen Spielen im Englisch Unterricht, mit einem so interessant wie nur möglich gestalteten Kochunterricht usw. Beim Kochen ergaben sich in den Wartezeiten immer wieder sehr interessante und gute Gespräche mit den Mädchen. So konnten wir in einer Woche beobachten, dass ein Mädchen, dass auf mich immer sehr fest entschlossen und selbstsicher gewirkt hat, aufs WC stürmte und dort verschwand. Als wir nachfragten, ob sie Hilfe bräuchte, erzählte sie uns, dass sie seit kurzer Zeit schwanger war und sie dieser Umstand sehr belaste, denn sie ist mit einem älteren Mann verheiratet, den sie nicht mag, der sie manchmal schlägt und von dem sie alles andere als ein Kind möchte. Eine schwierige Situation für die Neunzehnjährige. Eine Woche später erschien sie wieder, diesmal etwas ruhiger und zugleich mit einem unsicher-lächelnden Gesichtsausdruck. Beim Kochen ergab sich wieder ein Gespräch und da nur Freundinnen von ihr in der Nähe standen, erzählte sie sehr offen - und sie wirkte dabei, als hätte sie einen Streich gespielt, dass sie letzte Woche abgetrieben hatte. Ihr Mann hatte nie etwas davon erfahren und sie sei nun sehr froh darüber, dass alles so gut geklappt hat, weil er sehr gerne Kinder möchte, sie aber mit Sicherheit keine von ihm will, um nicht in eine noch größere - Seite 22 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Abhängigkeit zu gelangen. Ich wollte wissen, wie sie die Abtreibung durchgeführt hatte und bekam eine genaue Aufklärung von einigen um mich stehenden Mädchen und der Betroffenen. Sie erzählten, dass dies ganz leicht sei. Die größte Schwierigkeit wäre, dass man genug Geld auftreibt, um sich die Pillen in der Apotheke kaufen zu können. Diese nimmt man täglich einige Zeit (ca. eine Woche) ein und dann verschwindet das Baby – so die Ausdrucksweise der Mädchen. Sie wirkten nicht schüchtern sondern erfahren in diesen Dingen und freuten sich, dass sie mir etwas beibringen konnten. Die Betroffene verzog ihr Gesicht von Zeit zu Zeit zu einem unsicheren Lächeln und blickte zu Boden. Ich konnte erkennen, dass sie trotz ihrer Entscheidung nicht hundertprozentig wusste, ob sie das Richtige getan hatte, und bemerkte die Unsicherheit, die sie aber keinem offen zeigen wollte. Auch auf die Frage ob das gefährlich sei, antwortete sie, die wahren Umstände verdrängend, dass das überhaupt nicht das Problem wäre, viel wichtiger sei, dass es niemand bemerkt, dass man gerade abtreibt, denn man hat ziemliche Schmerzen im Unterleib während dieser Zeit. Und manchmal geht es auch schief, das heißt Frauen sterben an den Folgen ihres Versuches, aber bei ihr sei ja alles gut gegangen und deshalb gäbe es auch kein Problem mehr. Sie stand vor mir und wirkte trotz ihrer so selbstbewussten Art wie ein Kind das einen Erwachsenen beschwichtigt, damit er mildernde Umstände gelten lässt. Sie wollte sich selbst von der Richtigkeit ihrer Tat überzeugen. Bei meinem Supervisionsgespräch mit dem Psychologen erklärte er mir, dass es bei den Mädchen immer wieder vorkomme, dass sie abtreiben, sehr oft auch jüngere Mädchen. Die emotionale Belastung in Folge dessen, ist sehr groß, denn sie wollen sich in keine Abhängigkeiten und Verpflichtungen in so jungem Alter begeben. Andererseits wird das Frau und Mutter sein besonders in Brasilien als eine Gottesgabe gesehen, die man auf gar keinen Fall zurückweisen darf. So befinden sich die Mädchen in einer großen emotionalen Diskrepanz. Es gibt immer wieder welche, die Kinder bekommen und danach getrennt vom Kindesvater leben, der für das Kind aufkommt. In solchen Fällen bietet der Psychologe den Mädchen Gespräche an, die einige auch gerne in Anspruch nehmen und sich ihm anvertrauen. Er versucht in solchen Fällen zwischen den Eltern bzw. Ehepartner und dem Mädchen zu vermitteln und eine Annäherung zwischen den Parteien zu erreichen. - Seite 23 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine 5. Reflexion Was mich im Rahmen dieses Praktikums bereichert hat, sind die zahlreichen Beobachtungen, die ich machen durfte. Dadurch bekam ich Einblicke in die Sozialstrukturen und Lebensrealitäten in diesem Land. Ich konnte die Mädchen im Projekt über einen relativ langen Zeitraum begleiten und ihnen durch die gemeinsamen Gespräche, die ihnen in vielen Fällen eine Bereicherung waren, ihre einseitige Sichtweise der Welt – beeinflusst durch die Medien - etwas relativieren. In umgekehrter Weise trug der Kontakt mit ihnen und mein ganzer Aufenthalt in Brasilien dazu bei, meine europäische und zugleich einseitige Sichtweise auf eine teilweise südamerikanische bzw. globalere zu erweitern. Die Freundschaften, die durch diese gemeinsame Zeit gewachsen sind und durch den gegenseitigen Austausch belebt wurden, sind sehr wertvoll für beide Seiten. Ein Sieg für mich persönlich war, dass ich die anfängliche Zeit überwinden konnte, dass ich die Sprachbarrieren auf ein Minimum verringern konnte und dass ich meinen am Anfang großen Unwillen, mich anzupassen und für die Leute und die Umstände dort offen zu sein, überwinden konnte. Mein Verlobter war mir in dieser Zeit eine große Hilfe, durch seine Ermutigungen wurde mir klar, dass ich diese Zeit als besondere Chance für meine Ausbildung nutzen kann, auch wenn es anfangs so trist aussah, dass ich mich nicht dazu im Stande fühlte. Wie schon erwähnt, viel es mir sehr schwer, die Situation anfangs anzunehmen. Ich wollte nach den ersten Stunden dort einfach wieder nach Hause. Ich glaubte, dass ich mich an dieses Leben voll großer neuer Anforderungen nicht gewachsen fühlte. Große Überforderung war mein Hauptempfinden in den ersten Wochen dort. Ich konnte mich nur schwer öffnen für die so temperamentvollen Brasilianer und fühlte mich unverstanden und alleine. Ich wollte mich bewusst abgrenzen von diesen fast immer lächelnden, fröhlichen, enthusiastischen Menschen, die noch dazu äußerst flexibel waren, in dem ich mich bewusst als eine kühle, in sich gekehrte, durch nichts so leicht zu beeindruckende Europäerin zeigte. Durch den zwangsläufigen dauerhaften Kontakt mit Menschen und Land und meiner Erkenntnis der sozialen Abhängigkeit von den Menschen meiner Umwelt, konnte ich mich mehr und mehr öffnen und meine Situation besser annehmen. Mit Hilfe der Unterstützung meines Verlobten gewöhnte ich mich an die Situation dort, lernte die Offenheit der Menschen zu schätzen und überwand meine anfangs sehr starke Tendenz, meine Abwehr durch die Übertragung meiner negativen - Seite 24 - Auslandspraktikum Brasilien Janosch Jasmine Emotionen auf meine Umwelt und die Lebensumstände, auszuleben. Dies äußerte sich oftmals durch die große Sehnsucht, dem allgemeinen Schmutz auf den Strassen und in den Gebäuden zu entfliehen. Ich sehnte mich nach europäischen Lebensverhältnissen, nach müllfreien Strassen und Trinkwasser aus der Leitung und konnte das Interesse und die ausgestrahlte Wärme der Menschen dort nicht wirklich wahrnehmen. Erst mit der Zeit war mir die Besonderheit meiner Situation bewusst geworden und ich freundete mich mit dem einen und anderen an. Das gab mir Selbstvertrauen, ich war in der Lage, mich so völlig auf eine andere Lebenswelt einzulassen und Menschen kennen zu lernen, die mein Leben heute bereichern, auch über die große Distanz hinweg. In der Beziehung zu den Mädchen ist es mir schwer gefallen, mich auch ihnen anfangs zu öffnen. Ich war irgendwie vor den Kopf gestoßen, weil es sich bei ihnen um sehr hübsche junge Brasilianerinnen handelt, die wie schon erwähnt auf den ersten Blick gar nicht so hilfsbedürftig wirken, und ich mich anfangs im Vergleich mit ihnen alles andere als hübsch und wohlgeformt fühlte. Das Kennenlernen ihrer wirklichen Lebenswelt und ihrer Lebensgeschichten machte mir neu bewusst, wie viel Hilfe sie brauchen - durch Zuhören und Ermutigen - wie viel Verständnis sie benötigen um Selbstvertrauen entwickeln zu können. Es tat ihnen gut über Beziehungsstrukturen zu sprechen – vor allem über die Beziehungen zu ihren Freunden, in denen Treue und Untreue eine sehr große Rolle spielen und deren negatives, beziehungfeindliches Verhalten die Mädchen nicht nachvollziehen können. So fern sie dafür offen waren konnten sie auch einfach nur miterleben, dass es mir selbst an manchen Tagen nicht gut ging und ich ihnen meine Gefühle und Stimmungen erklärte und nicht versuchte sie vor ihnen zu verbergen. Es fiel mir schwer, die wahren Emotionen der Mädchen zu erspüren, wenn sie diese nicht zeigen wollten. Dies gelang mir durch großen Zeitaufwand in zuerst sehr allgemeinen Gespräche mit ihnen, wodurch beiderseitiges Vertrauen aufgebaut werden konnte. Manchmal war ich sehr ungeduldig und habe nicht genug Einfühlungsvermögen gezeigt und ihnen zu wenig Zeit gelassen. Aber durch meinen täglichen Kontakt mit ihnen konnte ich solche Gesprächsmöglichkeiten öfter wahrnehmen und mit mehr Geduld. Durch meine Gespräche mit dem Psychologen konnte ich einen besseren Einblick in die Lebenswelt der Mädchen mit all ihren Facetten bekommen. Ohne seine Hilfe wäre ich hier mit meinem europäischen Erlebnishintergrund an Grenzen gestoßen, weil die Differenzen ohne entsprechende - Seite 25 - Auslandspraktikum Brasilien Erklärungen seinerseits Janosch Jasmine nicht zu überwinden gewesen wären. Viele Hintergrundinformationen bekam ich auch von der pädagogischen Leiterin des Projekts, die einen sehr starken Bezug zur Lebenswelt der Mädchen und deren Eltern hat, weil diese ihr in besonderer Weise vertrauen. Auch durch ihre Informationen wurden mir viele Lebensbedingungen und ihre psychosozialen Folgen bewusst. Für die zahlreichen Hilfestellungen bin ich diesen beiden Personen sehr dankbar. Die Arbeitsmethode der Beobachtung und der Gesprächsführung waren für mich die Hauptlernbereiche im Rahmen meines Praktikums. In diesen Bereichen konnte ich meine Fähigkeiten spezifizieren, vertiefen und täglich anwenden. Die Konflikte in meiner Beziehung zum Psychologen lagen darin verwurzelt, dass er aus finanziellen Gründen wie schon erwähnt nur jeweils einen Tag pro Woche an der Projektarbeit beteiligt war. Dies sorgte meinerseits für Konflikte, weil ich meine Erlebnisse, Eindrücke und Beobachtungen über eine Woche sammeln und erst dann durch die Gespräche mit ihm aufarbeiten konnte. In akuten Stresssituationen war es deshalb schwierig für mich entsprechende Gesprächsberatung und Erklärungen zu erhalten. Ich wandte mich in diesen Fällen oft an die pädagogische Leiterin um akute Dinge anzusprechen. Meine Beziehung zum Psychologen war dadurch belastet. Nur wenn er anwesend war, nutzte ich dies für zahlreiche Gespräche, Fragen und Supervision und konnte in diesen Situationen sehr gut mit ihm sprechen und mich ihm öffnen. Er ist ein sehr angenehmer, ausgeglichener Mensch und diese innere Ruhe übertrug er in den wöchentlichen, ausgiebigen Gesprächen auf mich. Für die Gelegenheit dieses Praktikum in dieser Weise und in diesem Umfeld erleben und absolvieren zu können, bin ich sehr dankbar. Es hat mir geholfen Vorurteile abzubauen, meine Fähigkeiten in den Beziehungen mit anderen Menschen zu vertiefen und mir persönlich ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln, das mich – so fern ich das heute beurteilen kann – mein gesamtes Leben lang trotz teils negativer Erfahrungen, positiv beeinflussen wird. - Seite 26 -