Wilhelm Dilthey1 1 Dilthey philosophische Konzeption in der Situation seiner Zeit Wilhelm Dilthey wird in einer Situation nach Berlin berufen, in der die Auseinandersetzung der Philosophie mit den Wissenschaften ein zentrales Thema innerhalb der Philosophie geworden ist. Wo lassen sich grundlegende Unterschiede zwischen den Geisteswissenschaften auf der einen und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite feststellen, und wie ist insbesondere das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie? Dies sind zwei Grundfragen, die auch bei der Besetzung von Professuren und Einrichtung von Instituten eine entscheidende Rolle spielten. Gegenüber der klassischen deutschen Philosophie, wie sie durch Schelling, Fichte und – vor allem – durch Hegel vertreten worden war, bedeutet diese Themenwahl geradezu eine Umkehrung: sagt doch nicht mehr der spekulative Gedanke eines sich selbst aus seiner Begrifflichkeit entwickelnden Systems, was die Wirklichkeit ist oder zu sein hat, sondern der Blick auf die über unsere Erfahrung zu erschließende Wirklichkeit. Und diese Wende hat auch die Philosophie mit zu vollziehen. Auch sie muss sich durch Erfahrung legitimieren. Unser Denken – und also auch unser philosophisches Begreifen und Verstehen, Darstellen und Vorschlagen – besteht aus psychischen Prozessen, die zu untersuchen sind. So wird sogar die Logik als die Kunst des richtigen Denkens ein Thema der Psychologie und Philosophie in die Nachbarschaft der Psychologie versetzt und in manchen Fällen sogar durch Psychologie ersetzt. Diese „Empirisierung“ von Logik und Philosophie hat auch in Berlin ihre Vertreter gefunden und im übrigen unter Berufung auf – einen umgedeuteten – Kant dazu geführt, dass innerhalb der Philosophie Psychologie getrieben und gelehrt und schließlich ein – durchaus renommiertes – Institut für Psychologie unter der Leitung von Carl Stumpf eingerichtet wurde. 1 Viele Hinweise verdanke ich einem unpublizierten Manuskript von Willfried Geßner. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 2 Dilthey stand der Psychologie durchaus aufgeschlossen gegenüber – wenn sie denn nicht einen psychophysischen Parallelismus behauptete, für den die psychischen Prozesse nur die andere Seite bzw. eine andere „Erscheinungsweise“ der physischen Hirnprozesse waren, die im Grunde auch als solche physischen bzw. physiologischen Prozesse vollständig beschrieben werden konnten. Gegen einen solchen monistischen Parallelismus, wie er in Berlin von Hermann Ebbinghaus im Sinne der „Psychophysik“ Gustav Fechners vertreten wurde, besteht Dilthey auf der selbständigen Eigenstruktur des Seelischen und verwahrt sich gegen die „Materialisierung“ des menschlichen Geistes. Will man das gedankliche Spannungsfeld umreißen, in dem Dilthey seine philosophische Konzeption entwickelte, so wird man ihn in dem geistigen Klima verorten können, in dem der Wissenschaftsbezug der Philosophie in deren Aufgabenbereich aufgenommen wurde und zugleich deren Erfahrungsbezug anzuerkennen war. Das Besondere der Diltheyschen Position in diesem Spannungsfeld bestand einmal aber darin, die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften zu erfassen und im Unterschied zu den Naturwissenschaften zu charakterisieren. Und zum anderen bestand für Dilthey diese Wissenschaftlichkeit nicht in einem empiristisch verstandenen, an Experiment und Messung orientierten Erfahrungsbezug, sondern in einem viel weiter gefassten Bezug zu der umfassenden Konkretheit menschlicher Erfahrungen. Das Lebensganze – sei es in der Entwicklung des einzelnen Menschen, sei es in der Geschichte einer Menschheitsepoche – umschreibt das Feld, in dem die menschlichen Erfahrungen zu sichten und zu verstehen sind. Paradigmatisch für diese Erweiterung der Erfahrung ist die vielzitierte Bemerkung Diltheys: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern nur der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich aber führte historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 3 Ursache) zugrunde zu legen, ob die Erkenntnis gleich diese ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zu weben scheint."2 Grundlegend charakterisiert er unsere Welt- und Selbsterfahrung über das Verhältnis von Selbst und Welt: „Der ganze Sinn der Worte Selbst und Anderes, Ich und Welt, Unterscheidung des Selbst von der Außenwelt liegt in den Erfahrungen unseres Willens und der mit ihm verbundenen Gefühle. Alle Empfindungen und Denkprozesse umkleiden gleichsam nur diese Erfahrungen.“3 Dieses „Leben unseres Willens“4 und nicht mehr ein bloß anschauender und vorstellender Weltbezug, die handelnde Welterschließung und fühlende Welterfassung, also nicht mehr nur ein theoretisches, sondern ein auch praktisches und emotionales Weltverhältnis spannen das Feld der Erfahrung aus, in dem wir die Lebenswirklichkeit des Menschen in ihrer wirkenden und erwirkten Vielfalt und Verschränkung gewahr werden und zu verstehen versuchen können. Dieses praktische und emotionale Weltverhältnis, das – wie Dilthey auch sagt – „Leben selber“ ist nicht nur das Andere unseres theoretischen Weltverhältnisses, sondern auch der Grund, auf dem sich dieses theoretische Weltverhältnis überhaupt entwickeln kann: „Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt. Nur weil im Leben und im Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit."5 2 3 4 5 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Band I: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band. Leipzig und Berlin 1922 (im folgenden zituiert als GS Band I), S. XVIII. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Band V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Gurnlegunge der Geisteswissenschaften. Leipzig und Berlin 1924 (im folgenden zitiert als GS Band V), S. 130. GS Band I, S. XIX GS Band V, S. 83. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey 2 Seite 4 Die psychologische Analyse des Individuums Dabei ist zu sehen, dass Diltheys Konzeption seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ – deren erster Band 1883, d. i. im Jahr seiner Berufung nach Berlin, und deren zweiter Band nie erschien – einer Entwicklung unterlegen ist, die man grob als Weg des wissenschaftlichen Verstehens menschlicher Belange und Verhältnisse von der psychologischen Einfühlung zur historischen Sichtung und Erfassung der Gesamtzusammenhänge, vom „Studium des Individuums“ zum Studium der Geschichte, beschreiben kann. Überaschenderweise ist es für Dilthey das Individuum, also der Mensch in seiner unverwechselbaren und kontingenten Individualität, an dessen Erforschung die Geisteswissenschaften „die Gesetze, welche die gesellschaftlichen, intellektuellen, moralischen Erscheinungen beherrschen, zu erkennen" haben.6 So formuliert er in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“: „Das Studium des Individuums als der Lebenseinheit in der Zusammensetzung der Gesellschaft ist die Bedingung für die Erforschung der Tatbestände, die aus der Wechselwirkung dieser Lebenseinheiten in der Gesellschaft durch Abstraktion ausgelöst werden können; nur auf dieser Grundlage der Ergebnisse der Anthropologie, vermittels der theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft in ihren drei Hauptklassen, der Ethnologie, der Wissenschaft von den Systemen der Kultur sowie derer von der äußeren Organisation der Gesellschaft kann das Problem des Zusammenhangs unter den aufeinander folgendenZuständen der Gesellschaft allmählich einer Lösung nähergeführt werden".7 Interessant ist hier auch die Systematik der Geisteswissenschaften, bzw. wie Dilthey an dieser Stelle formuliert, der „theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft“, die diese in drei „Hauptklassen“ einteilt. Dabei ist zu sehen, dass die „Ethnologie“ als allgemeine Bezeichnung für psychologische, anthropologische und biographische Forschungen der Individuen zu verstehen ist. Dass auch die „Systeme der Kultur“ und die Formen „der äußeren Organisation“, also der gesellschaftlichen Institutionen, als Gegenstände der 6 7 GS Band V, S. 27. GS Band I, S. 110f. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 5 Geisteswissenschaften genannt werden, scheint die Fokussierung auf das Individuum wieder aufzuheben. Wird in diesen Perspektiven das Individuum doch als geprägt durch überindividuelle kulturelle und soziale Verhältnisse gesehen und erscheint demgemäß nicht als gründende Gegebenheit für die wissenschaftliche Untersuchung, sondern als in den kulturellen und sozialen Verhältnissen gegründetes Ergebnis der Geschichte. Tatsächlich sieht Dilthey in seiner „psychologischen Phase“ hier keinen Widerspruch. Kulturelle und soziale Zusammenhänge müssen für ihn in ihrer wirklichen Existenz gesehen werden, um sie erfassen zu können. Dies heißt für Dilthey dann aber: Sie dürfen nicht als abstrakte Systeme, also als Ergebnisse von theoriegeleiteten Abstraktionen, betrachtet werden, sondern sie sind in ihrer Konkretion, in ihrer Präsenz und Wirksamkeit in den Individuen, in denen alleine sie ihre wirkliche Existenz gewinnen, zu erfassen – wenn sie denn überhaupt als relevante Faktoren der menschlichen Existenz in den Blick genommen werden sollen. Und nicht nur dies: Erst im Bewusstsein, in dem in ihm individuell sich gestaltenden „psychischen Zusammenhang“, gewinnen die äußeren Faktoren der kulturellen und sozialen Verhältnisse erst ihren identifizierbaren Zusammenhang, ihre Formation zu einem erfassbaren und wirksamen System: „Ohne die Beziehungen auf den psychischen Zusammenhang, in welchem ihre Verhältnisse gegründet sind, sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein Bündel, aber kein System."8. Es ist die „innere Erfahrung“ – die Dilthey als „Tatsachen des Bewusstseins“ sieht –, in der „alle Erfahrung […] ihren ursprünglichen Zusammenhang“ gewinnt und besitzt.9 So sind denn auch „die Systeme der Kultur“ und die sozialen Organisationen „aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen“ und bilden in ihrem „wichtigsten Bestandteil“ „psychische Tatsachen“. Daher können sie denn auch „ohne psychische Analyse dunkle und tote Vorstellungen“,10 die nicht eingesehen werden können. Die Frage, die sich aus diesem Postulat einer psychologisch auf das Individuum bezogenen Analyse ergibt, ist die nach der Verlässlichkeit einer 8 9 10 GS Band V, S. 148. GS Band I, S. XVII. GS Band V, S. 147. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 6 solchen Analyse: Wie können wir sicherstellen, dass die „psychische Analyse“ tatsächlich „psychische Tatsachen“ zutage fördert und diese wiederum die kulturellen und sozialen bzw. die historischen Zusammenhänge repräsentieren? Die Antwort Diltheys erscheint uns heute – und erschien wohl auch Dilthey später – wenig überzeugend. Wiederholt sie doch im wesentlichen nur die Zusammenhänge, die in Frage stehen. So findet sich z. B. die Behauptung: „Die Tatbestände der Gesellschaft sind uns von innen verständlich, wir können sie uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden."11 Ähnlich lässt sich der Verweis auf die „Tiefe des menschlichen Selbstbewusstseins“ verstehen, in dem der Mensch „eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit der eignen Person zu widerstehen, [findet], durch welche er sich von der ganzen Natur als imperium in imperio" absondert.12 Stärker noch klingt die Behauptung der strukturellen Identität bzw., wie Dilthey formuliert, der „Selbigkeit des Geistes“ im Bewusstsein der individuellem Subjekte, „im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte". Und er fügt hinzu: „Das Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstande, und dieser ist auf allen Stufen seiner Objektivationen derselbe."13 3 Das elementare Verstehen Dilthey selbst hat offensichtlich die nicht einzulösende Begründungsüberlast seines psychologischen Welt- und Selbsterschließungskonzeptes erkannt und – mit seiner erst im Nachlass veröffentlichten Schrift „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ von 1910 – einen neuen Ansatz vorgestellt, eine historische Hermeneutik, eine Verstehenslehre 11 12 13 GS Band I, S. 36. GS Band I, S 6. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Band VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Leipzig und Berlin 1926 (Im folgenden zitiert als GS Band VII), S. 191. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 7 historisch vermittelter Sinngehalte. So schreibt er, es sei „ein gewöhnlicher Irrtum, für unser Wissen von der inneren Seite [die aus dem Äußeren erschlossen werden soll] den psychischen Lebensverlauf, die Psychologie einzusetzen."14 Statt dessen sieht er nun in dem „Geist“ oder dem „Geistigen“ eine eigene und eigenständige Sphäre von symbolischen Sinngebilden – wie z. B. der künstlerischen Werke oder der politischen Ideen – die aus sich selbst heraus ihre Form gewinnen und ihre Wirkmacht entfalten. Und in direktem Bezug zu seinem Konzept der psychologischen Analyse schreibt er: „Das Verstehen dieses Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit."15 Nicht, was der Autor eines Werkes von welcher Art auch immer gewollt oder gefühlt hat oder – nach der Annahme einer psychologischen Analyse – gefühlt haben mag, macht den Sinn seines Werkes aus, sondern alleine der im Werk ausgedrückte Sinnzusammenhang, sei er nun sprachlicher, klanglicher, bildlicher oder einer noch anderen symbolischen Art. 3.1 Die Sinnfundierung im Sinnlichen: Dilthey und Cassirer Gegründet wird das Erfassen dieses Geistigen in einem elementaren Verstehen, dem Verstehen von elementaren, insbesondere unabsichtlich und unwillkürlichen, Ausdruckshandlungen. Wie später bei Ernst Cassirer stellt diese Verknüpfung von Ausdruck und Verstehen für Dilthey die grundlegende Beziehung der zwischenmenschlichen Verständigung dar: die einzige „Unmittelbarkeit“ unseres geistigen Lebens: „Das elementare Verstehen ist kein Schluß von einer Wirkung auf die Ursache. Ja, wir dürfen es auch nicht mit vorsichtiger Wendung als ein Verfahren fassen, das von der gegebenen Wirkung zu irgendeinem Stück Lebenszusammenhang zurückgeht, welches die Wirkung möglich macht . […] Das so aufeinander bezogene ist auf eine eigene Art miteinander verbunden."16 14 15 16 GS Band VII, S. 84. GS Band VII, S. 85. GS Band Bd VII, S. 207f. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 8 Zugleich mit dieser Hervorebung des unmittelbaren elementaren Verstehens nimmt Dilthey h „Lebensäußerungen“: „In der Sinnenwelt auftretend, sind sie der Ausdruck eines Geistigen; so ermöglichen sie uns, dieses zu erkennen. Ich verstehe hier unter Lebensäußerung nicht nur die Ausdrücke, die etwas meinen oder bedeuten (wollen), sondern ebenso diejenigen, die ohne solche Absicht als Ausdruck eines Geistigen ein solches für uns verständlich machen.“17 Cassirer schreibt im gleichen Sinne, wenn auch sicher deutlicher: „Unter ,symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“18 Und er erläutert diese sinnliche Sinnstiftung als ein in der sinnlichen Wahrnehmung sich bildendes geistiges Formverhältnis: Es ist „die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ,Artikulation‘ gewinnt - die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ,im‘ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ,Prägnanz‘ bezeichnen.“19 Parallel hierzu charakterisiert Dilthey das Verhältnis zwischen leiblichen Lebensäußerungen, etwa dem Ausdruck der Gebärde und dem erlebten Schrecken. Der „Zug zum Geistigen“ besteht bereits in der leiblich geformten Gebärde. Gleichwohl geht die sinnliche Äußerung nicht im Geistigen unter, sondern behält ihr Eigensein. Diese gespannte Einheit von sinnlicher Äußerung und geistiger Erfassung, die man auch als eine Art „Umschlagen“ der sinnlichen Formung in die geistige Sinngestalt verstehen kann, ist für Dilthey das „Grundverhältnis des Ausdrucks zum Geistigen“: „In elementarer Form macht 17 18 19 GS Band VII, S. 205: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Von Birgit Recki. Band 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002, S. 231. Ebd. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 9 sich hier das Verhältnis zwischen Lebensäußerungen und dem Geistigen, das in allem Verstehen herrscht, geltend, nach welchem der Zug desselben zum ausgedrückten Geistigen in dieses das Ziel verlegt und doch die in den Sinnen gegebenen Äußerungen nicht untergehen im Geistigen. Wie beides, etwa die Gebärde und der Schrecken, nicht ein Nebeneinander, sondern eine Einheit sind, ist in diesem Grundverhältnis gegründet."20 3.2 Die praktische und expressive Gründung des Verstehens Die erstaunliche Parallelität der Sinnfundierung des Geistigen im Sinnlichen bei Dilthey und Cassirer und damit die Hervorhebung der geistigen Elemente bereits im Sinnlichen der Wahrnehmung lassen sich, allgemein und rein formal betrachtet, zwar schon auf Kant, nämlich die „synthesis speciosa“ bzw. die sich selbst gliedernden Anschauungsformen, zurückführen. Knüpfen doch beide Autoren an Kant an – diesen allerdings eher als Ausgangspunkt für das eigene Weiterdenken nutzend als ihn auslegend. In der näheren Sicht zeigt sich allerdings wiederum der entscheidende Unterschied zu Kant darin, dass beide Autoren das theoretische Weltverhältnis in den Anschauungen und Begriffen in einem praktischen und expressivem Verhältnis fundieren, in dem unsere handelnde Welterschließung und unser in diesem Handeln sich gliederndes Ausdrucksverhalten bereits vor aller theoretischen Darstellung Sinnverhältnisse schaffen. „Das Verstehen erwächst zuerst in den Interessen des praktischen Lebens. Hier sind die Personen auf den Verkehr miteinander angewiesen. Sie müssen sich gegenseitig verständlich machen. Einer muß wissen, was der andere will. So entstehen zunächst die elementaren Formen des Verstehens."21 Diese Einbettung des Verstehens in ein praktisches und expressives „Medium der Gemeinsamkeiten“, in das schon das Kind „eingetaucht“ ist, „ehe es zu sprechen lernt“,22 hat eine – im elementaren Verstehen sich wieder und wieder befestigende – gemeinsame „verstandene Welt“ geschaffen. In ihr bewegen wir uns und sind wir zur geistigen Artikulation – zur geistigen Arbeit, auch an der Schaffung von Werken – ausgerüstet. Diese in vielen 20 21 22 GS Band VII, S. 208. GS Band VII, S. 207. GS Band VII, S. 208. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 10 gemeinsamen Handlungs- und Verständigungszusammenhängen entstandene Welt von Handlungsweisen, Werken und Verstandenem gilt es in ihrem Wirkund Sinnzusammenhang zu erfassen. Das ist die Aufgabe des „höheren Verstehens“. Dieses besteht darin, dass es „aus dem induktiven Zusammennehmen des in einem Werk oder Leben zusammen Gegebenen auf den Zusammenhang in einem Werk oder einer Person, einem Lebensverhältnis" schließt.23 4 Das höhere Verstehen 4.1 Der „Aufgang zur Individuation“ Gelingt dies, so könnte sich der Zusammenhang zeigen zwischen den Einflüssen des gemeinsamen Gegebenen auf das individuell Erfasste und den Beiträgen des individuell Erzeugten zu dem Gegebenen. Und so können wir weiter gehen und die verschiedenen und in diesem Sinne individuellen Epochen und Regionen des jeweils Gegebenen in ihrem Zusammenhang mit größeren Geschichtseinheiten zu verstehen suchen, um schließlich über die Ausweitung des Geschichtlichen über immer weitere Epochen und Regionen hinaus das „Allgemeinmenschliche“ erreichen: „Wir verstehen aber die Individuen vermöge ihrer Verwandtschaft untereinander, der Gemeinsamkeiten unter ihnen. Dieser Vorgang setzt den Zusammenhang des Allgemeinmenschlichen mit der Individuation, die auf seiner Grundlage sich in den Mannigfaltigkeiten geistiger Existenzen ausbreitet, voraus, und in ihm lösen wir beständig praktisch die Aufgabe, innerlich gleichsam diesen Aufgang zur Individuation zu durchleben." Die Ausweitung des höheren Verstehens bis zum Allgemeinmenschlichen hin hat also letztlich, so die womöglich unerwartete Wendung, das Verstehen des Individuationsprozesses zum Ziel. Tatsächlich ergibt sich diese Wendung aus dem Gesamtkonzept des Diltheyschen Denkens: Immer – und dies also auch schon in seiner psychologischen Phase – ging es Dilthey darum, in der jeweils verstehend zu erreichenden Einheit – wie gesagt: einer gespannten 23 GS Band VII, S. 212. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 11 Einheit – die letztlich unausschöpfbare Vielfalt des Wirklichen und damit des konkreten Individuellen nicht verschwinden zu lassen. In seiner psychologischen Phase nahm er diese Vielfalt gleichsam unmittelbar an: das Individuum ist die Existenz dieser Vielfalt in einer Einheit und kann aufgrund seiner eigenen Vielfalt in der Einheit auch die auf es einwirkende Vielfalt von Impulsen zu einer solchen Einheit zusammenfügen. In seiner hermeneutischen Phase, in der das elementare mit dem höheren Verstehen zusammengebunden wird, wird das Individuum nicht mehr in seinem unmittelbaren Sein, sondern in seinem historisch vielfach vermittelten Werden, seinem Werden zu einem Individuum, in den Blick genommen. Dieses Werden zum Individuum ergibt sich nicht schon im elementaren Verstehen – jedenfalls nicht, wenn man die Individualität einer Person, wie Dilthey das tut, erst in seiner geistigen Entwicklung erreicht sieht. Diese aber vermittelt sich durch die Offenheit für vielfältige geistige Einflüsse aus dem historisch Gegebenen. Durch die selbständige Aufnahme solcher Einflüsse wird das Individuum dann, wie dargestellt, selbst zu einem Beiträger des objektiven Geistes. Da nun eben durch eine solche individualisierte Beiträgerschaft der objektive Geist überhaupt existiert und ein lebendiges Wirkfeld werden und bleiben kann, ist der geistige Individuationsprozess der zentrale Ort, an dem Geist erfasst, vollzogen bzw. durchlebt und bewirkt wird. So kann Dilthey dann auch sagen, dass „der Einzelne in der geistigen Welt ein Selbstwert ist, ja der einzige Selbstwert, den wir zweifellos feststellen können."24 Und es ist auch verständlich, dass er feststellt: „Das Geheimnis der Person reizt um seiner selbst willen zu immer neuen und tieferen Versuchen des Verstehens."25 So gesehen, ist das höhere Verstehen in seinem praktischen, die Prozessualität des Verstandenen nachvollziehenden, Sinn in seinem Kern der Nachvollzug bzw. das Durchleben des „Aufgangs zur Individuation“. Man kann nun diesen „Aufgang zur Individuation“ in einem doppelten Sinne bzw. in zwei gegenläufigen Richtungen, die doch zu einem Kreislauf verbunden sind, lesen. Und nur weil diese beiden Richtungen miteinander verbunden und 24 25 GS Band VII, S. 212. Ebd. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 12 aufeinander angewiesen sind, lässt sich der Doppelsinn als Lesart des einen Ausdrucks begründen: Auch der Beitrag des Individuums ist ja eine Individuationsleistung, die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit, nämlich der des Werkes nicht nur in seinem individuellen Hervorgebrachtsein, sondern auch in seinem nur ihm eigenen Formverhältnis, seiner – um noch einmal Cassirer zu zitieren – „immanenten Gliederung“. Diese Individualität des Werkes ist es, in der die Individualität des objektiven Geistes sich manifestiert – und zwar nur in dieser Individualität des Werkes. Denn nur im Werk, in seinem Festgestelltsein, und nicht im Geist des Schöpfers dieses Werkes, in dem Gedanken und Gefühle, Absichten und Vorstellungen auftauchen und verschwinden, ist dieser Geist auf eine kontrollierbare Weise fassbar: „Auch angestrengteste Aufmerksamkeit kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, in welchem ein kontrollierbarer Grad von Objektivität erreicht wird, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir so immer wieder zu ihr zurückkehren können."26 Damit ist die „Auslegung oder Interpretation“ als „das kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen" zur Aufgabe der Geisteswissenschaften erklärt.27 4.2 Das „kunstmäßige Verstehen“ Was aber haben wir unter einem „kunstmäßigen Verstehen“ zu verstehen? Gibt es eine Methode der Interpretation? Die Antwort darauf bleibt für ein methodenkritisches Bewusstsein, das sich an einem Schritt für Schritt nach bestimmten Regeln fortschreitendem Verfahren orientiert, aus. Ist doch bei Dilthey immer wieder nur die Rede von einem „Sichhineinversetzen", einem „Nachbilden" oder „Nacherleben"28 Dies scheint aber gerade nicht methodisch, sondern individualistisch und von regelüberschreitender Kreativität geprägt zu sein. Und tatsächlich betont Dilthey diese Seite der individuellen Kreativität, die sich über alle Regeln stellt, noch eigens, indem er eine „besondere persönliche Genialität“ für das Verstehen einfordert: „Wie deutlich zeigt sich im Nachbilden und Nacherleben 26 27 28 GS Band V, S. 319, 328. GS Band VII, S. 309; vgl. auch S. 217 und Band V, S. 319: GS Band VII, S. 214ff. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 13 des Fremden und Vergangenen, daß das Verstehen auf einer besonderen persönlichen Genialität beruht!“29 Bereits im folgenden Satz scheint sich jedoch diese Genialität für Dilthey in ein durchaus geregeltes Verfahren, nämlich in eine Technik, zu verfestigen: „Da es aber eine bedeutsame und dauernde Aufgabe ist als Grundlage der geschichtlichen Wissenschaft, so wird die persönliche Genialität zu einer Technik, und diese Technik entwickelt sich mit der Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins. Sie ist daran gebunden, daß dauernde fixierte Lebensäußerungen dem Verständnis vorliegen, so daß dieses immer wieder zu ihnen zurückkehren kann.“30 Der strenge Methodenkritiker wird hier nicht folgen können. Gleichwohl ist Diltheys Auskunft nicht einfach beiseite zu schieben. Denn wie arbeiten wir gewöhnlich, wenn es um Werke, um kulturelle Produkte und Zeugnisse geht? Wir verschaffen uns ein Wissen – zunächst über viele Einzelheiten: denn wer sich nur handbuchartige Überblicke verschafft, kann dann (manchmal) darüber reden, aber wirklichen Nachfragen nicht standhalten. Unser Wissen erweitern wir mit einem Wissen über andere Einzelheiten. Und schließlich – hier wird Diltheys Bemerkung relevant – erkennen wir Zusammenhänge und schließen Teile unseres Wissens von diesen Einzelheiten zusammen. Und so geht es weiter. Wissen will durch solche Erweiterungen erworben werden. Dies ist die „Technik“, die man auch als immer neues Forschen, Lesen oder allgemein als immer neuen Wissenserwerb beschreiben kann. Aber diese „Technik“ ist nicht alles. Wo der Zusammenhang sich nicht einstellt, gibt es noch keine Interpretation. Und dieser Zusammenhang erschließt sich nicht alleine schon durch den weiteren Wissenserwerb im beschriebenen Sinne. Hier bedarf es der produktiven Synthesen, der Querverweise und der neuen Perspektiven, über die und in denen übersehene Zusammenhänge sichtbar werden. Die Rede von der „persönlichen Genialität“ ist hier, wenn sie auch etwas emphatisch ausgefallen ist, durchaus nicht fehl am Platz. Aber auch hier ist wieder einzuschränken: Es ist eine „Genialität“, die durch intensive Forschungsarbeit 29 30 GS Band VII, S. 216. Ebd. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 14 erworben werden muss. Und sie muss sich fachlich rückbinden und legitimieren: Die neu erscheinenden Zusammenhänge müssen an den historischen Daten, an den Werken und Zeugnissen detailliert überprüft werden. Dilthey sagt eben dies dadurch, dass das erreichte Verständnis immer wieder zu den „dauerhaft fixierten Lebensäußerungen“, also den Daten, Werken und Zeugnissen, zurückehren kann – und natürlich soll. Es scheint eben diese „Technik“, die Dilthey vor Augen hat und die sich mit der Arbeit der Interpretation und dem dabei sich entwickelnden „geschichtlichen Bewusstsein“ herausbildet. Diese „Methode“ bzw. „Technik“ lässt sich nicht abgelöst von ihrer Befolgung in materialreichen Untersuchungen darstellen. Und daraus ergibt sich für Dilthey ein Problem. Eine allgemeine Methodenlehre der historischen Hermeneutik lässt sich nicht schreiben. Was man leisten kann, um diese Methodenlehre deutlich zu machen, sind eben die hermeneutischen Untersuchungen zur Geistesgeschichte, die Dilthey denn auch selbst angestellt hat. Als durchgearbeitete Beispiele sind sie zugleich thematisch definierte Untersuchungen und Bestandteile einer Methodenlehre. Man darf annehmen, dass Dilthey dies selbst so gesehen hat. 4.3 Hermeneutik und Sprache Da auch die jeweiligen Untersuchungsgebiete und -gegenstände in einem Zusammenhang stehen oder gebracht werden können sollten, wenn man denn einen Fortschritt des historischen Wissens erreichen will, ist es ein Weg, die angezielte Forderung der Wissenserweiterung an einem Paradigma einzulösen. Dilthey hat die Sprache als dieses Paradigma ausgewählt, weil nämlich „das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet“. Und daher, so sieht er es, „vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenden Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philologie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik."31 31 GS Band VII, S. 217. Oswald Schwemmer, Wilhelm Dilthey Seite 15 Auf diesem Wege geht die Auslegung für ihn „jetzt nicht mehr nur auf eine Individualität, auf die Besonderheit eines Schriftwerks oder eines Menschen, sondern in ihnen auf die Natur des menschlichen Lebens schlechthin.“32 Diese „Natur des Menschen schlechthin“ zeigt sich in der Geschichte und nur in ihr. Begriffliche Definitionen und selbst „anthropologische Konstanten“ wären vorlaute Wortmeldungen zu dieser „Natur des Menschen schlechthin“, die gewöhnlich von der Geschichte dementiert werden. So ist denn die Rede von der „Natur des Menschen schlechthin“ nicht im Sinne eines einheitlichen menschlichen „Typus“ zu verstehen, der durch gleiche geistige oder kulturelle Eigenschaften zu charakterisieren wäre. Vielmehr zeigt sich diese „Natur des Menschen schlechthin“ in seiner historischen Variabilität, also gerade in der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten und der durch sie beschrittenen Wege in der Geschichte. In eben dieser Vielfalt erkennt sich der Mensch selbst. Denn er ist selbst „ein historisches Wesen“. Und weil er dies ist, kann er auch die anderen Wege der historischen Entwicklungen – im Prinzip – erkennen. Was historisch geworden ist – so könnte man sagen –, ist von Menschen gemacht. Und was von Menschen gemacht ist, kann auch von Menschen – und im Prinzip von allen Menschen – verstanden werden. In dieser Sicht kann man Dilthey zustimmen, wenn er sagt: „Alle Fragen nach dem Werte der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt."33 Und die korrespondierende Aussage formuliert sozusagen die andere Seite dieser Bemerkung: „Die Totalität der Menschennatur ist nur in der Geschichte".34 Damit ist die Menschennatur gleichsam historisiert. In dieser Perspektive auf den Menschen und seine „Natur“ kann die Fixierung einer festen Menschennatur mit der Überzeugung, dass „der Mensch, als ein fester Typus, in welchem eine bestimmte Inhaltlichkeit sich verwirklicht“, nicht gelingen. Vielmehr wird man mit Dilthey zugeben müssen: „Der Typus Mensch zerschmilzt in dem Prozeß der Geschichte."35 32 33 34 35 GS Band VII, S. 265. GS Band VII, S. 250. GS Band VIII, S. 204. GS Band VIII, S. 4, 6.