Hermeneutik als Methode der Textinterpretation

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begründen, verstehen, beurteilen – Argumentation, Hermeneutik und Kritik als
Methoden wissenschaftlichen Arbeitens
190170 VO, UE - Grundlagen: philosophische Methoden, 2.2.3 [21b2] laut Studienplan
Pädagogik 2002 (2 Std.)
Lehrveranstaltungsleiter: Mag. Dr. Martin Steger /TutorInnen: Emanuel Frass, Claudia Gusenbauer,
Angela Janssen, Markus Mandl, Marlis Stöckl
Donnerstag, 8.00 - 10.00, HS C1 Campus
8. Termin 14.12.06: Formalia, Verstehen
Formalia:

Eine Erinnerung: Suchen Sie sich bis Samstag einen der drei Interpretationstexte aus,
die im letzten Skript verlinkt sind. Am Sonntag werde ich den Gruppen, die mir kein Mail mit
Wunschtext gesendet haben, einen Text zuteilen. Da es immer vernünftiger ist, eigene
Entscheidungen umzusetzen und da ich mit meinen Zuteilungen Ungleichgewichte zwischen
den Texten ausgleichen werde (d.h. den 'unbeliebtesten' Text, der am wenigsten gewählt
wurde, am häufigsten zuteile), empfehle ich, die Wahl der Qual wahrzunehmen, und den
Text selbst auszusuchen, den Sie zu interpretieren haben.(siehe Skript vorige Lv)

Eine zweite Erinnerung: Die beiden nächsten Termine 11.1. und 18.1. sind die Termine,
die als integrierte Lv (aus Übung und Vorlesung) deklariert sind – in ihnen geht es um
Konkretisierung der Lv-Inhalte an den Texten. Da sollte von jeder Gruppe zumindest ein
Mitglied jeder Gruppe anwesend sein und bereits etwas über die Texte sagen können (siehe
Skript 1.Termin). Das erwarte ich mir schon im Eigeninteresse der Gruppen: Sie können sich
in den Terminen bereits ein gutes Grundgerüst holen, wenn Sie die Texte bereits soweit
kennen, dass Sie die Textbesprechungen mit tragen und Unklarheiten nachfragen können.
Am
11.1.
werden
Verstehensmodelle
wir
der
den
wissenschaftstheoretischen
Positionen
vergleichen.
Es
wäre
Kontext,
sicher
am
nützlich,
18.1.
die
wenn
Sie
vorbereitend den letzten Teil dieses Skriptes durchlesen (v.a. über Hermeneutik als
Paradigma), den wir in der Lv nicht mehr besprechen konnten.

Um die nachfolgenden Inhalte nicht zu brechen wünsche ich Ihnen bereits hier Frohe
Weihnachten und ein herrliches Neues Jahr.
1
Inhalt:
Verstehen
Wir haben das letzte Mal begonnen, den hermeneutischen Begriff von 'Verstehen' zu
entwickeln – anhand einer Definition von Wilhelm Dilthey
Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig
des Erfassens seiner Bedeutung.
Wir
haben
dabei
das
Spannungsfeld
von
Verstehen
zwischen
Subjektivität
und
Verbindlichkeit thematisiert:
Verstehen ist als Umgang mit Bedeutung notwendigerweise subjektiv: der Verstehende ist
mit einbezogen, es verweist auf ein Inneres - nämlich auf eine orientierende Vorstellung von
Welt - und knüpft an Erlebtes an: Wir sprechen in der Hermeneutik von einem
Verstehenshorizont, innerhalb dessen wir in der Lage sind, an bereits Verstandenes
anzuknüpfen. Verstehen schreibt sich selbst fort - in einer zirkulären Bewegung: dem
hermeneutischen Zirkel

das heißt: Im Verstehen verknüpfe ich ein Objekt mit dem Kontext des bereits von mir
Verstandenen – dadurch ändert sich natürlich der Gesamtkontext – auch 'rückwärts': ich
verstehe bereits Verstandenes wieder anders – damit sehe ich die Welt wieder anders etc.
Diesem zirkulären Modus des Umgangs mit der Welt steht ein linearer gegenüber: das
Erklären. Dabei bleibe ich auf der Gegenstandsebene und erkläre kausal ein Phänomen aus
einem anderen: ich stelle Ursachen-Wirkungsgefüge her. Diese beziehen mich nicht als
Teilnehmer mit ein – ich bin in diesem Modus unbeteiligter Beobachter, vom beobachteten
Phänomen unabhängig und als solcher beeinflusse ich das Phänomen auch nicht und bin
insofern austauschbar: das ist die negative Vorstellung von Objektivität in den traditionellen
Naturwissenschaften, wie wir sie schon als Wahrheitskriterium kennen gelernt haben.
2
 
Exkurs zur Wissenschaftstheorie: Eine analoge Denkfigur ist in der Unterscheidung Geltung
(Was
ist/bedeutet
etwas?)

Genese
(Wie
entsteht
/welche
Folgen
hat
etwas?)
angesprochen. Die Überlappungen sind groß, ohne dass man dieses Bild aber mit verstehen
 erklären gleichsetzen kann – ein in der Philosophie häufiger Vorgang: Phänomene werden
über analoge Bilder beschrieben, sind aber zugleich in unterschiedliche Theoriekontexte
eingebunden. Man kann sie daher nicht einfach gleichsetzen.
zB.: Auch die Systemtheorie arbeitet (im Interpretationstext von Luhmann) mit der Figur
der Zirkularität. Oft lese ich deswegen in Gruppenarbeiten vom hermeneutischen Zirkel bei
Luhmann. Der Unterschied ist aber enorm (obwohl von analogen Phänomenen die Rede
ist): Der hermeneutische Zirkel bezieht sich auf die Reflexivität, das selbst-bewusste
Denken
des
Selbstreferenz
Subjekts,
(-bezug)
Gesellschaftsfunktionen.
die
Zirkularität
von
Ein
der
Kommunikation
Subjekt,
also
Systemtheorie
auf
in
–
ein
Systemen
intentional
Rückwirkung
zB
und
Organisationen,
agierendes
Individuum
thematisiert die Systemtheorie gar nicht. (näheres nächste Lv).
Im Verstehen ist der Verstehende miteinbezogen. Er interpretiert die Bedeutung von
etwas, das er als eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Handlungsprodukt erkennt.
In der Erklärung hingegen wird ein gesetzmäßig, unabhängig vom Erklärenden ablaufender
kausaler Zusammenhang festgestellt, d.h. ein untersuchtes Phänomen wird als Wirkung
einer bestimmten Ursache identifiziert.
Einen Sinnbezug herstellen ist somit als ein Akt der Orientierung in der Welt verstehbar –
und er ist damit notwendigerweise

subjektiv: es ist eine Leistung des Handelnden, Sinn 'zuzuweisen' – der Gegenstand 'an
sich' hat keinen Sinn, ohne denjenigen, der den Sinn herstellt, ist somit schlicht kein Sinn da
– es ist daher nicht, wie bei empirischen Methoden, möglich, unter 'Absehung der eigenen
Person' zu verstehen
z.B.: Ein disziplinloser Schüler wird sanktioniert, bis er 'verstanden' hat, wie er sich zu
benehmen
hat:
Auch
hier
mag
der
Schüler
erkennen,
welche
Wirkung
seine
Disziplinlosigkeit hat und sich danach verhalten. Dass er im Sinne des Sanktionierenden
'verstanden' hat, ist damit nicht gesagt. Es ist anzunehmen, dass er der Handlung als einer
menschlichen einen Sinn zuschreibt, aber das kann genausogut der sein, dass er brav sein
soll, dass er gequält werden soll, dass eine Hierarchie aufrecht erhalten werden soll, etc..
3

lebensorientiert: Kontexte herstellen, Sinn zuweisen heisst immer, etwas auf bereits
'Vorhandenes', nämlich Erlebtes, beziehen. D.h.
-
Es kann nur das verstanden werden, was an das eigene Erleben anknüpft,
d.h. was in Zusammenhang mit den vorhandenen Bedeutungsstrukturen gebracht
werden kann. Diese bilden einen Verstehenshorizont, in dem etwas als etwas
erkannt und in Folge verstanden werden kann.
z.B.: Ein Priester flechtet in seine Predigten immer gerne alltägliche Anekdoten aus dem
heutigen Leben ein – damit ihn die Leute besser verstehen.
z.B.: Der Xaver Hintermoser ist wegen Körperverletzung angeklagt. Vor Gericht schildert er
den Tathergang: "Also, zuerst hat er mich getreten. Dann hat er mich einen Pardon
geschimpft, da habe ich ihm eine geschmiert." (aus Lamnek 1995, S. 81.)
Damit haben wir aber unsere Definition noch nicht ausgeschöpft: Verstehen ist nicht
Bedeutungsgebung sondern Erfassen bereits gegebener Bedeutung. Das haben wir in einem
Experiment verdeutlicht: Sinnzuweisung an zwei Gegenstände: ein Ast einer Korkweide
und ein Laib Brot. Obwohl das Brot uns näher – 'bedeutungsvoller' – ist, lässt sich zum Ast
eine weit größere Bedeutungsbreite assoziieren.
Warum?
Weil der Ast ein natürlicher Gegenstand ist, das Brot ein von Menschen absichtsvoll –
bedeutungsvoll – gemachtes Produkt. Es hat bereits Bedeutung, ist nicht mehr beliebig für
jede Sinnzuschreibung 'zu haben'.
Verstanden kann nur etwas werden, dem eine Bedeutung verliehen ist, d.h.
menschliche Handlungen und Handlungsprodukte. Hier liegt auch eine grundlegende
Unterscheidung der geisteswissenschaftlichen zur theologischen Hermeneutik, in der
potentiell
alles
Werk
eines
'Sinnzuschreibers'
–
nämlich
Gottes
–
ist.
In
der
wissenschaftlichen Hermeneutik sind 'höhere' (Götter) und 'niedere' (Tiere) Wesen als der
Mensch nicht als Sinnzuweiser thematisiert.
Wir sprechen von etwas Menschlichem (eine menschliche Handlung oder ihr Produkt)
 wir haben das Monopol auf Sinnzuweisung oder sind zumindest die einzigen, bei denen
wir das ganz genau wissen (nicht Tiere , nicht Gott).
Damit sind wir aber in der Gratwanderung

subjektiv – objektiv: Verstehen ist nicht beliebig  es ist schon Sinn zugewiesen:
Brot ist nicht in erster Linie da, um Goldringe zu verstecken, wie es in manchen Sagen zu
lesen ist
4

erlebt – erlebbar: Es kann nur das verstanden werden, was erlebbar ist. Eine
Emotion, ein Gedanke hat bereits Bedeutung. Verstehbar ist er aber erst, wenn er geäußert
wird.

Inneres
–
Zeichen:
ein
Äusseres
–
ein
Ausdruck,
eine
Darstellung,
eine
Sinnesobjektivation
Etwas als etwas erkennen erhält dabei eine weitere Bedeutung – ein Gegenstand mit
Bedeutung steht für ein weiteres, hat Symbolcharakter, ist ein Zeichen.
"Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich
gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen." (nach Danner 19984, S. 39.)
Ein Zeichen kann im Prinzip alles sein, mit dem ein Mensch einen Sinn ausdrückt,
d.h. jegliche Lebensäußerung, die auf ein Inneres, nicht unmittelbar Wahrnehmbares
verweist.
Hermeneutik
versucht
demnach,
Zeichen
–
als
ihre
eigentlichen
'Untersuchungsgegenstände' - als solche zu erkennen und in ihrem Sinn, in ihrer Bedeutung
zu erfassen. Dilthey verlangt jedoch von Zeichen als Gegenständen einer methodischen
Auseinandersetzung, dass sie möglichst unverändert und dauernd zugänglich sein sollen, um
ein verbindliches Verständnis zu ermöglichen. (grundlegender Unterschied zu erklären 
Sinn als nicht materiell existent, als (Lebens-)Zusammenhang, Bedeutungsträger nicht
Gegenstand)
Derartig dauerhafte, sinnvolle Zeichen findet man prototypisch in der Schrift als zentralem
Gegenstandsbereich der Hermeneutik.
Damit hätten wir im Grunde die Definition geklärt
Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig
das Erfassen seiner Bedeutung.
meint also einen bewussten Akt, in dem etwas als sinnvoll (und damit menschlich) erkannt
wird – und dieser Sinn erfasst wird. Dieser Akt ist subjektiv, weil nur durch Bezug auf die
eigene Person Sinn erlebbar ist, aber nicht beliebig, weil Sinn bereits vorgegeben ist.
Der Objektivitätsanspruch im hermeneutisch-verstehenden Umgang mit Welt ist natürlich
vor allem in der wissenschaftlichen Hermeneutik ein zentraler Problembereich. Er ergibt sich
daraus, dass wir ja nicht lediglich Bedeutung schaffen, sondern dass Verstehen den Umgang
mit bereits vorgegebener Bedeutung meint, die Verbindlichkeit beansprucht. Insofern ist
Verstehen
an
bedeutungsvolle
Äußerungen
–
d.h.
menschliche
Handlungen
und
Handlungsergebnisse – gebunden, die erlebbar sind und nicht mehr lediglich im Belieben des
Interpreten stehen.
5
Dieses Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität ist jedem Verstehensakt
notwendigerweise immanent, in der Hermeneutik als Verstehenslehre gewinnt diese
Spannung noch einmal an Schärfe – vor allem dort, wo sie Gültigkeit als wissenschaftliche
Methode beansprucht, d.h. unter Wahrheitsbedingung agiert. Dementsprechend wird ihre
Wissenschaftlichkeit auch immer wieder in Frage gestellt.
Diesem Objektivitätsproblem möchte ich mich in zwei Schritten nähern.
Der erste ist die Frage:
Wie kann Sinn eines anderen überhaupt verstanden werden – wenn man eben
dessen subjektive Sinnkontexte nicht erlebt hat?
Durch zweierlei:
1. auf der 'individuellen' Ebene durch Kommunikation (Begegnung, Ansprechen,...) – um
aber kommunizieren zu können und um auch dort verstehen zu können, wo ich nicht mit
dem 'Schöpfer' einer Bedeutung kommunizieren kann, muss ich
2. auf eine gemeinsame Basis zurückgreifen, in der Erleben eben nicht bloß individuell,
sondern gemeinsam ist bzw. durch den selben Faktor geformt ist. Eine derartige 'allgemeine'
Ebene findet sich in jedem hermeneutischen Modell (siehe später), am bekanntesten ist die
Vorstellung des 'objektiven Geistes' bei Dilthey (nach Hegel):
Die Hermeneutik erklärt das über Hegels Begriff des 'objektiven Geistes'. Darunter ist
nichts Mystisches zu verstehen, sondern eine 'Sphäre der Gemeinsamkeit', die für jeden
verbindlich ist, weil sie vorgegeben ist, weil jeder an ihr Anteil hat, ohne über sie verfügen
zu können. Jeder Gedanke wird in einer bestimmten Sprache gedacht, jede Handlung ist in
gemeinsame Konventionen eingebunden, jede Beziehung stützt sich auf eine gemeinsame
Weltsicht und einen Komplex gemeinsamer Selbstverständlichkeiten. Diese gemeinsame
Sphäre, die das Verstehen sichert, die ein verbindendes, unhintergehbares Drittes zwischen
zwei Subjekten ist, wird als 'objektiver Geist' bezeichnet.
Der 'objektive Geist' zeichnet sich durch zwei Merkmale aus:
-
Er ist das die Kultur Bestimmende und Ausdruck dieser Kultur. Die Kultur
erschöpft sich nicht in Kunstwerken oder in einer gemeinsamen Sprache, sie ist die
Gesamtheit der gemeinsamen Sinnbedeutungen.
z.B. Brot ist in Frankreich etwas Anderes als in Deutschland: Es ist Weißbrot, es wird
gebrochen, nicht belegt, sondern selbst als Beilage zu Mahlzeiten verwendet. Eine
Übersetzung des Wortes 'Brot' kann derart noch nicht das gemeinsame Verständnis sichern,
weil es in zwei Kulturräumen faktisch Verschiedenes bedeutet. (nach Danner 1995, S. 49.)
6
-
Er ist historisch (als Aspekt der Kultur, der aber wichtig genug ist, eigens
hervorgehoben zu werden). Wie Kultur als etwas Gewordenes, sich Veränderndes zu
verstehen ist, wie jeder Mensch selbst geschichtlich geworden ist, ist auch der 'objektive
Geist' als eine geschichtliche Größe zu verstehen. Zum einen wird in ihm als Ausdruck der
Kultur Geschichte gegenwärtig und zugänglich, zum anderen bedeutet diese Zugänglichkeit
nicht, dass Vergangenes jetzt noch genauso ist, wie es war. Der Sinn verschiebt sich mit der
Zeit, wie zwischen Sprachen und Kulturen muss auch zwischen Zeiten übersetzt werden.
Exkurs zur Wissenschaftstheorie: Schon an diesem Bild können wir Hegel ganz grob in
unserem erkenntnistheoretischen Modell verorten: Eine Generation nach Kant unternimmt er
erste Schritte in Richtung Beschäftigung mit dem konkreten, historischen und sozialen
Menschen:
Der
Begriff
des
'objektiven
Geists'
steht
bei
ihm
für
ein
Modell
der
Intersubjektivität, die bei ihm das leistet, was die reine Vernunft bei Kant leistet: Dort ist die
bei allen gleiche Vernunft Voraussetzung für gemeinsame Wahrheitsvorstellungen, für
Kommunikation etc. – hier ist es die gemeinsame intersubjektive Kultur.
Hegel
Diese Notwendigkeiten, zwischen Formen des objektiven Geistes zu übersetzen, ist aber
nicht der einzige Grund, dass keine Allgemeingültigkeit der Verbindlichkeit des Verstehens
behauptet werden kann. Ein zweiter ist, dass die Sinnzuschreibungen und Sinndeutungen
jedes Menschen zwar in den objektiven Geist hineinreichen, aber sich nicht darin erschöpfen.
Es bleibt immer eine Individualität des Verständnisses, die dafür verantwortlich
7
ist, dass eine bedeutungsvolle Äußerung nie ganz und nie genau gleich verstanden
werden kann. Dieser unterschiedliche Anteil im Verstehen wird als hermeneutische
Differenz bezeichnet.
objektiver Geist
Verstehen
Interpret
Text
Die hermeneutische Differenz ist nie zur Gänze überwindbar, zugleich ist es Anspruch der
Hermeneutik,
sie
durch
Bezug
auf
einen
übergeordneten,
gemeinsamen
Sinneszusammenhang möglichst aufzuheben – hin bis zur Vorstellung, dass der Interpret
den Text besser versteht als der Autor. Das ist eines der Grundbilder der Hermeneutik, das
wir mit verschiedenen Bezeichnungen in unterschiedlichen Modellen des Verstehens
vorfinden.
In dieses Bild ist auch noch einmal der hermeneutische Zirkel mitgedacht: In seiner zweiten
Form als Methode des wechselseitigen Bezugs von Allgemeinem (Kultur/objektiver Geist)
und Besonderem (individuelle Kommunikation) aufeinander: Ohne Kommunikation ist keine
Kultur, ohne Kultur keine Kommunikation vermittelbar. Im wechselseitigen Bezug entwickelt
sich Verstehen. Alle Verstehensmodelle haben in irgendeiner Form einen derartigen Zirkel
zwischen individueller und allgemeiner Verstehensebene mitgedacht. Was dabei als
Allgemeines und was als Besonderes dient, lässt Rückschlüsse über die Schwerpunkte des
jeweiligen Modells zu.
Das hermeneutische Vorgehen, der Ablauf des Verstehens, wird also in zweierlei Hinsicht als
– hermeneutischer - Zirkel bezeichnet. Bezogen auf Textinterpretation (d.h. auf Ihre
Aufgabe in der Gruppe) stellt er sich wie folgt dar:
-
Man geht immer mit einem gewissen Vorverständnis an einen Text heran (in der
Sprache, in der Gedankenwelt, in der Thematik,...); voraussetzungslos, d.h. ohne dass man
bereits etwas verstanden hat, ist kein Verstehen möglich. Über den Text erweitert sich das
Verständnis und ermöglicht so wiederum eine erneute, ertragreichere Annäherung an den
Text, usw.. Diese zirkelförmige, genauer spiralförmige Bewegung zwischen Text und
Verständnis ermöglicht ein zunehmendes Eindringen in den Sinn, in die Bedeutung des Text,
d.h. eine Verringerung der hermeneutischen Differenz.
V2
V1
V
T
T1
T2
8
-
Analog dazu bezeichnet der hermeneutische Zirkel II (der methodische Zirkel) die kreis-
(spiral-)förmige Arbeitsbewegung zwischen Textteilen und dem Bezug auf den
Gesamttext im Prozess des Sinnverstehens: Aus konkreten Aussagen lässt sich auf die
Bedeutung des Textes schließen; aus diesem heraus lassen sich unklare Textpassagen
deuten,
Begriffsfelder
bestimmen,
was
wiederum
zu
einem
nuancierteren
Gesamtverständnis führt, usw..
Der
hermeneutische
Zirkel
beschreibt
die
hermeneutische
Vorgehensweise
als
eine
sukzessive Annäherung an den Sinn eines Textes, in der jeder Verstehensakt weiteres und
tieferes
Verständnis
ermöglicht.
Dieser
spiralförmige
Prozess
ist
prinzipiell
nicht
abschließbar, Verständnis ist kein diskretes Kriterium, das man hat oder nicht. Es ist immer
noch ein tieferes Verständnis, eine weitere Verringerung der hermeneutischen Differenz
denkbar, wieder bis hin zur Zielvorstellung, den Text 'besser (reflektierter) zu verstehen als
der Autor selbst' (nach Danner 1998, S. 64).
Im gemeinsamen Verstehensbereich stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der
Verbindlichkeit des Verstehens.
die Verbindlichkeit des Verstehens
Hermeneutik beansprucht also Verbindlichkeit ihrer Interpretation. Das heißt nicht,
-
dass komplexe Texte nur eine – die wahre – Bedeutung haben; Interpretation ist die
Auslegung
einer
unter
vielen
möglichen,
vielfach
ineinander
verflochtenen
Bedeutungsstrukturen.
-
dass Hermeneutik Verbindlichkeit im Sinne der Allgemeingültigkeit eines Gesetzes
verlangt, d.h. Unabhängigkeit von dem verstehenden Menschen. Eine Interpretation kann
nicht für jeden Menschen – egal, wie sein Verständnishorizont und seine Interessenslage
beschaffen ist - gleichermaßen verbindlich sein. Die Tatsache, dass Hermeneutik immer
und
prinzipiell
auf
einer
subjektiven
Sinnauslegung
beruht,
ist
ihr
großes
methodisches Problem - und ihre Stärke.
Hermeneutik ist allerdings nicht subjektiv in dem Sinne, dass jeder beliebig meinen kann,
was er will. Sie ist subjektiv im Sinne eine persönlichen Auseinandersetzung, eines
Bemühens, der Sache gerecht zu werden. Anstelle einer Allgemeingültigkeit fordert sie
'positive' Objektivität ein, d.h. hier

"Wahrheit
im
Sinne
der
Angemessenheit
einer
Erkenntnis
an
ihren
Gegenstand". (Bollnow 1966 nach Danner 19953, S. 53.) – d.h. im Sinne der
Korrespondenztheorie.
9

und der Nachvollziehbarkeit des Kontextes, in den sie gestellt wird – bis hin zur
Übereinstimmung, also zum Konsens (dem 'gemeinsamen Sinn') als Wahrheitsindiz.
Die Konsenstheorie der Wahrheit ist damit für Bedeutungen und Sinngehalte
prototypisch- d.h. die 'wahre Bedeutung' kann man nicht entdecken, auf die kann
man sich bestenfalls einigen – und das wird nur passieren, wenn es der Wirklichkeit
angemessen ist (siehe oben).
Es bleibt jedoch auch unter diesem zurückgenommenen Anspruch die Frage, wie
Objektivität möglich sein kann, wie Menschen dasselbe verstehen, eine Interpretation als
angemessen beurteilen können.
Diese
Wahrheit
ist
allgemeingültig
im
Sinne
einer
Nachvollziehbarkeit
und
einer
Argumentation mit Gründen, die sich auf eine allgemeinen Sinnkontext beziehen – das ist
Ihr Job bei der Arbeit. Natürlich gibt es Verstehensaspekte, die nicht begründbar sind –
psychologisches Verstehen heißt das bei Dilthey (nur das ist bitte nicht Methode der
Wissenschaft – und daher auch nicht ihrer Arbeit).
Resümee: Hermeneutik ist sich des problematischen Status der Wahrheit/Objektivität von
Interpretation bewusst, verweist aber darauf, dass das in der Empirie – im 'erklärenden'
Modus - ebenso ist, wie wir spätestens seit der 'Wahrheitsdiskussion' wissen und auch in
diesem Semester noch einmal ansprechen werden. Hermeneutik ist somit als ergänzend zu
empirischen Theorien / Methoden beschreibbar:
Wo beim 'Erklären' Objektivität als Intersubjektivität – faktisch als möglichst weitgehende
Abwesenheit von Subjektivität – Wahrheit sichern soll, sichert Hermeneutik 'Wahrheit' durch
'gemeinsame' (begründete) (Inter)Subjektivität und Objektivität als Angemessenheit am
Objekt. Das kann die Empirie überall dort nicht leisten, wo es um den Menschen geht, der
sich in seiner Reflexionsfähigkeit und lernenden Selbstbezüglichkeit einer 'linear-kausalen'
Beobachtung entzieht (siehe die 'gestellten' und verdeckten Experimente etwa in der
Lernpsychologie, die laut der Hermeneutik der tatsächlichen Lebenswelt nicht angemessen
sind, für sie keinen Erklärungsgehalt besitzen): 'Die Natur erklären wir, den Menschen
verstehen wir', sagt Dilthey – das bezieht sich auch auf unterschiedliche Formen von
Wahrheitsansprüchen.
Vergleich des erarbeiteten Alltagsverständnisses mit dem nun aus der Definition
gewonnenen hermeneutischen Verständnis von Verstehen
10
akustisches /
sinnliches V ??
 betrifft eigentlich  ebenso Vorwissen
Voraussetzungen
sachliches V
interpretierendes V
zwischenmenschliches V
objektiv / logisch
mitfühlend
beurteilbar /
hineinversetzend
begründbar
subjektiv
zb Mathematik
z.B Text

auch hineinversetzend
auch subjektiv

Mensch
objektivierbar durch:
Begründungen+ Einigung
mehrere Sichtweisen
Welche Aspekte des Alltagsverständnisses sind auch im hermeneutischen Sinn
Verstehen?
sachliches Verstehen: Im Sinne der Eingangsarbeit nein – das 'Verstehen' einer Gleichung
meint nur, sie nachvollziehen können, nicht sie mit Bedeutung zu versehen. In unserer
Unterscheidung gehört das zum Blickwinkel des 'Erklären' – also des kausalen Umgangs mit
der gegenständlichen Welt.
Die oft gehörte Forderung, dass Schüler Formeln verstehen sollen, ist davon unberührt – sie
meint, dass den Schülern der Kontext klar sein soll, in dem die Formel steht: ihre
Anwendbarkeit, ihre Bedeutung in ihrer Lebenswelt,.... Sie soll also Betroffenheit - und
damit Bereitschaft zu Auseinandersetzung - und Problembewusstsein und damit Wissen um
den Umgang damit – herstellen. Sinn hat die Formel selbst keinen, sie hat Erklärungsgehalt.
interpretierendes Verstehen: beschreibt den Kernbereich hermeneutischen Verstehens –
intuitiv im Spannungsfeld Subjektivität-Objektivität.
zwischenmenschliches Verstehen: subjektiv – anknüpfend an Diltheys 'psychologischem
Verstehen'
(siehe
wissenschaftlichen
unten:
Verstehensmodell
Verstehens.
Im
Sinne
Diltheys)
unseres
eher
Voraussetzung
Verstehensbildes,
dass
als
es
Teil
einer
individuellen und einer allgemeinen Verstehensebene bedarf, spricht das die individuelle
Ebene an, je 'mehr' es allgemeine Bezugsebenen mit einschließt, um so eher kann man im
hermeneutischen Sinn von Verstehen sprechen.
akustisches/sinnliches Verstehen: Lediglich als Voraussetzung, wenn man als Grenze
vom
akustischen
zum
Sinnverstehen
die
annimmt,
wo
verstehen
über
bloßes
'Geräuschhören' hinausgeht – die Grenze zwischen 'Ich höre nichts' und 'Ich verstehe
11
nichts': Also etwa das Hintergrundgemurmel eines eingeschaltenen Radios, das man hört,
ohne Bedeutungsvolles – nämlich Worte, Sätze, Meinungen - 'verstehen' zu können.
Hermeneutik als Methode der Textinterpretation
im historischen Kontext:
Hermeneutik hat als Methode der Textinterpretation, oder genauer der Auslegung
verbindlicher, vor allem religiöser Texte lange Bedeutung (hermeneuein bedeutet im
Griechischen auslegen, erklären, deuten, dolmetschen, übersetzen – lateinisch:
interpretari): Religion war als zentraler Kulturträger vor der Ausdifferenzierung kultureller
Leistungen Träger von Gesetzesvorschriften, Bewahrer historischer Identität,
Projektionsfläche der Kunst, etc.. Es bedurfte daher der Auslegung der Texte auf ihren
jeweiligen 'Anwendungskontext' – die Aufgabe der Priester (und oft als Auslegungsmonopol
Machtbasis). Von daher hat die Hermeneutik vor allem zwei Wurzeln – entsprechend den
zwei zentralen Wurzeln der europäischen Kultur:
-
die griechische Tradition, in der Texte als mündliche Erzählungen über Götter
allegorisch
(sinnbildlich,
'Orakel'
)
ausgelegt
wurden,
(griffig,
merkfähig

für
Analphabeten), schriftlich dementsprechend beginnend mit Dichtung (Illias)
-
und die jüdische mit einer wörtlichen Auslegung der heiligen Schrift als Dokument einer
monotheistischen Offenbarungsreligion, in der nicht nur über, sondern auch von Gott
gesprochen wird (10 Gebote).
Beide Traditionen wurden vom frühen Christentum - als ursprünglich jüdischer Sekte,
die sich im griechisch-römischen Kulturkreis zur Weltreligion entwickelte - übernommen.
(Origenes, Augustinus). Für die Kirche - als nicht ursprünglich in die jeweilige Kultur
integriert - wurde das Monopol der Auslegung der Bibel ein wichtiger Machtfaktor, wie etwa
der Konflikt mit Luther um die deutsche, vom Volk lesbare Übersetzung der Bibel zeigt. Der
Reformationsstreit war in Folge (auf kirchlicher Ebene) nicht zuletzt auch ein Streit um die
korrekte Auslegung der Heiligen Schrift (und um die Frage, wer dazu berechtigt ist).
Im Mittelalter etablieren sich neben der theologischen weitere fachspezifische Strömungen
der Sinnauslegung, v.a. juridisch, philologisch-historisch – in fließendem Übergang von
'Kunstlehre' zu Wissenschaft.
Im philosophischen Kontext finden wir den Begriff erstmals bei Platon und vor allem bei
Aristoteles: 'peri hermeneias' – über die Aussage. Im modernen – methodischen - Gebrauch
12
etwa seit dem 17. Jahrhundert (Dannhauser 1629), auch schon als universale Hermeneutik
gedacht.
-
1.
Modell:
Friedrich
Schleiermacher
(1768-1834),
Theologie-
und
Philosophieprofessor, etablierte im 19. Jahrhundert die Hermeneutik als wissenschaftliche
Methode – als Kunstlehre des Verstehens - und gilt als Begründer einer allgemeinen
Hermeneutik, die hinter die speziellen Hermeneutiken zurückgeht. Dabei thematisiert er
Hermeneutik als Textinterpretation. Voraussetzung des Verstehens ist aus dieser Perspektive
eine Sprachgemeinschaft
Dabei kann 'verstehen' sich

auf den Text selbst richten - 'grammatisches Verstehen': Was wird darin
ausgedrückt? Welche Bedeutung haben die Worte,.. ?

auf
den
Autor
Lebenszusammenhang
des
Textes
der
Sinn
beziehen,
des
Textes
als
das
Subjekt,
erwächst
-
aus
dessen
'psychologisches
Verstehen': Worauf will der Autor hinaus, was bezweckt er? Warum veröffentlicht er
den Text zu diesem Zeitpunkt, in diesem Medium?
Dies kann komparativ (vergleichend) auf das Allgemeine hin oder divinatorisch
(vorausahnend) auf das Besondere hin erfolgen, indem sich der Interpret möglichst in
den Autor des Textes hineinversetzt, in die Haut des Anderen schlüpft. Dies ist für
Schleiermacher die wesentliche Methode. Er steht damit noch sehr in der Tradition
der Unbestreitbarkeit der Vorlage (Bibel, Recht - Machtaspekte).
Für Schleiermacher stellt 'Verstehen' somit einen Reproduktionsakt dar, ein
Wiederherstellen eines einmal erzeugten Sinns.
Verstehen ereignet sich im Zusammenspiel von grammatischem und psychologischem
Verstehen im hermeneutischen Zirkel vom Besonderen zum Allgemeinen und vom
Allgemeinen zum Besonderen.
"Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muss bestimmt werden nach
seinem Zusammensein mit denen, die es umgeben."
2.
Modell:
Wilhelm
Dilthey
(1833-1911),
der
Ende
des
19.
Jahrhunderts
die
Hermeneutik zur Leitmethode der Geisteswissenschaften aufwertete:
Dilthey fasst – entsprechend seinem erweiterten Interesse an
einer gemeinsamen
geisteswissenschaftlichen Methode zur Erfassung kultureller Phänomene - verstehen weiter
als Schleiermacher. Dementsprechend betont er zunächst den Aspekt des Verstehens als
bewussten Akt (was bei Textinterpretation implizit ist):
13
Er unterscheidet zunächst elementares und höheres Verstehen: Zunächst erfolgt 'verstehen'
auf einer elementaren Ebene: Eine hingehaltene Hand wird als Begrüßung verstanden, ein
Lächeln als Freundlichkeit. Erst wenn dieses elementare 'Verstehen' gestört wird, wird man
sich
bewusst
um
'verstehen'
bemühen.
Das
erfolgt,
indem
man
versucht,
das
Unverstandene in einen übergeordneten Sinnzusammenhang zu stellen (das Lächeln
in einem Streit irritiert, es kann Hohn bedeuten, Versöhnung, etc., es ist nicht
'selbstverständlich'). Wilhelm Dilthey spricht von zwei Ebenen des Verstehens und nennt
dieses Herstellen umfassender Sinnzusammenhänge 'höheres Verstehen':
Da
er
nicht
ausschließlich
von
Textinterpretation
(obwohl
er
sich
faktisch
darauf
konzentriert), sondern von Sinnobjektivationen im allgemeinen spricht, greift er als
Voraussetzung des Verstehens auf eine allgemeinere Basis als Schleiermacher zurück: den
'objektiven Geist' Hegels.
In Diltheys Auffassung von 'Verstehen' verschieben sich die Begriffe und ihre Bedeutung.
Sowohl das elementare wie das höhere Verstehen kann in zwei Richtungen hin
erfolgen: als psychologisches Verstehen und als Sinnverstehen.
Psychologisches Verstehen beruht auf einem Sich-Einfühlen, Mitfühlen und schliesst
derart am Begriff der 'Empathie' in der Psychologie an. Es ist emotional und subjektiv
gefärbt. Auf der elementaren Ebene betrifft es etwa das Erkennen einer Emotion in seinem
Kontext und seiner Bedeutung, auf höherer Ebene das Verstehen von Motiven einer
Handlung, subjektiven Zwecken eines Produkts.
Das Sinnverstehen beinhaltet hingegen eine sachliche Perspektive auf das zu Verstehende,
es
zielt
nicht
auf
einen
individuellen,
sondern
auf
einen
allgemeinmenschlichen
Sinnzusammenhang hin.
z.B.: Ein langsames Musikstück kann 'psychologisch' als traurig, melancholisch, romantisch
etc. empfunden werden und das je nach Person anders und je nach Lebenszusammenhang
wechselnd. Die harmonischen Strukturen, die Tempi, Betonungen, Paraphrasierungen, etc.
sind jedoch nicht subjektiv und sie ergeben sich auch nicht aus der bloßen Tonabfolge,
sondern stellen einen Sinnzusammenhang dar, der Verbindlichkeit beansprucht.
z.B.: Ein Artikel, in dem ein Beitritt zur NATO und die Umstellung auf ein Berufsheer für
Österreich gefordert wird, kann auf Ebene des psychologischen Verstehens unterschiedlich
interpretiert werden: Als militaristisch, als Mut zur Wahrheit, als Versuch des Machterhaltes,
als Sorge um die Zukunft. Die sachliche Bedeutung des Artikels, der Standpunkt des Autors
und seine Begründung des Standpunktes, ist jedoch für jedermann nachvollziehbar, in
dessen Verständnishorizont er liegt (elementar: der etwa Deutsch kann, lesen kann, höher:
die Grundbegriffe und Grundgedanken der Diskussion kennt).
14
Das Sinnverstehen eines Textes, also das Erkennen seiner Aussage als Aussage in
ihrer verbindlichen, sachlichen Bedeutung, ist die Aufgabe der Hermeneutik als
Methode der Textinterpretation, das psychologische Verstehen interessiert in erster Linie
als Unterstützung beim Auffinden dieses Sinnes.
Ähnlich wie Schleiermacher in seinem divinatorischen Verstehen spricht Dilthey von
'Kongenialität' des Interpreten: Verstehen ist möglich als 'ein Wiederfinden des Ich im
Du' (Dilthey 1961 nach Danner 1995, S. 68.), indem (und weil) man sein Leben in jede Art
des Ausdrucks des eigenen Lebens und des Lebens Anderer hineinträgt (und derart
Gemeinsames, Allgemeines auffindet). Damit ist für Dilthey jedoch 'verstehen' nicht mehr
bloß Reproduktion, sondern Nachbilden, kreativer Akt: Es wird mehr und anderes
verstanden, als im Bewusstsein des Autors liegt und zugleich überschreitet der Autor auch
seinen eigenen Verstehenshorizont in dem des Anderen: Er lernt.
Im hermeneutischen Gegenspiel von Allgemeinem und Besonderem betont Dilthey stärker
als Schleiermacher das Allgemeine – wiederum aus seinem methodischen Interesse heraus
verständlich (wissenschaftlicher Anspruch ist stärker auf Allgemeines fokussiert, als die
Schleiermachersche Balance einer 'allgemeinen' Lehre zum Verständnis je individueller
Texte).
3. Modell: Hans Georg Gadamer (1900 – 2002) als Vertreter einer philosophischen
Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, der Hermeneutik im Anschluss an Martin Heidegger neu
fundiert:
Bei Gadamer erhält die Person des Verstehenden eine weitere Stärkung. Er denkt die
Grundidee Heideggers weiter, dass 'Verstehen' ein Modus der Daseins-Bewältigung, des
Lebensvollzugs ist: Dasein ist das sich selbst bewusste Sein des Menschen – es ist
verstehende Selbstauslegung der eigenen Existenz. Verstehen eines vorgegebenen Sinns ist
ihm somit Begegnung mit einem Gegenüber, dass einem in seinem Handeln anspricht.
Aus dieser grundlegend anderen – subjektivierten und nicht methodisch orientierten Herangehensweise an Verstehen bricht er mit den Vorstellungen Schleiermachers und
Diltheys (und mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit). Verstehen wird bei ihm nicht
dadurch ermöglicht, dass der Interpret sich in welcher Form auch immer in den Autor
hineinversetzt, sondern durch die hermeneutische Situation, in der er steht und in der er
dem Gegenüber 'begegnet'. Die hermeneutische Situation ist durch zwei Merkmale
gekennzeichnet:
-
das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein (als individuelle Form der gemeinsamen
kulturellen Sphäre): Das, was verstanden wird, ist nichts gänzlich Fremdes, es ist über seine
15
Wirkungsgeschichte
in
das
eigene
Vorverständnis
eingegangen,
ist
Teil
des
Verstehenshorizontes. Dieses Fortwirken der historischen Fakten ist dem Verstehenden
bewusst und ermöglicht es, den Zeitabstand zwischen Verstehendem und Verstandenem zu
überbrücken.
-
die Applikation (Anwendung): Die Überbrückung erfolgt in der Anwendung. Da sich
jeder Text an jemand richtet, hat sein Sinn Aufforderungsgehalt, der jeden Leser auch über
die Zeit hinweg anspricht (Betonung des Besonderen im Spannungsfeld von Besonderem
und Allgemeinen). Die Leistung des Verstehenden ist, diesen so auf sich zu beziehen als sei
er – in seiner jetztigen Situation - der ursprünglich Gemeinte.
Seine Interpretation ist nicht beliebig, weil ihm im Aufforderungsgehalt des Textes
sein Standpunkt bereits vorgegeben ist. Verstehen ist damit keine Rekonstruktion der
Perspektive des Autors mehr (Schleiermacher), kein 'Wiederfinden' seiner selbst im Anderen
(Dilthey), sondern eine Vermittlung - eine Art 'Übersetzungsakt' - des vorgegebenen
Sinngehaltes aus der konkreten Situation der Sinnzuschreibung in die Gegenwart des
eigenen Lebens.
In diesen Modellen finden wir somit auch eine zunehmende Stärkung der Leistung
des Interpreten im Verstehensakt.
Schleiermacher
Dilthey
Gadamer
allg. Methode der
Textinterpretation
allgemeine Methode der
Geisteswissenschaften
Daseins-auslegung /
Zurückdrängung des TechnischMethodischen
Voraussetzung Sprachgemeinschaft
objektiver Geist
wirkungsgeschichtliches
Bewusstein
Gegenstand
Text
Sinnobjektivationen/
Kulturphänomene
Dasein / Sinnobjektivationen
Formen
grammatisches V
psychologisches V
elementares V
höheres V
nicht wiss.-methodisch orientiert
Perspektive
des psychologischen V.:
komparativ (aufs Allgemeine)
Sinn-v. (aufs Allgemeine)
nicht wiss.-methodisch orientiert
Applikation(Anwendung) des
Besonderen auf Vergleichbares
Interesse
psychologisch (aufs Besondere)
divinatorisch (aufs Besondere)
Betonung
Balance im Zirkel Allgemeines- des Allgemeinen im Zirkel
Besonderes
Allgemeines-Besonderes
des Besonderen im Zirkel
Allgemeines-Besonderes
Modell
V als Reproduktion
V als Wiederfinden
V als Begegnung
Sinngehalt
SinnAutor
SinnAutor
SinnInterpret
SinnInterpret
SinnAutor
SinnInterpret
16
Wie geschieht Verstehen?
Zusammenfassend: Es existieren verschiedene Vorstellungen, auf welche Weise Verstehen
möglich ist:


auf allgemeiner Ebene
o
durch Vergleichen (Schleiermacher)
o
allgemeiner gefasst durch Erfassen übergeordneter Sinnkontexte (Dilthey)
o
subjektiver durch wirkungsgeschichtliche Einordnung
auf 'besonderer' Ebene
o
dadurch,
dass
die
Perspektive
des
Anderen
eingenommen
wird
(Schleiermacher)
o
dadurch, dass das eigene Erleben im Anderen wiedergefunden wird (Dilthey)
o
dadurch, dass man sich vom Anderen (und vom Sinngehalt seiner Handlung)
ansprechen
lässt
und
dieses
Ansprechen
soweit
notwendig
'übersetzt'
(Gadamer)
Bei unseren drei Autoren der Interpretationstexte finden wir noch weitere Bilder – ich
empfehle, dass sie versuchen, diesen Raster auch auf Ihre Autoren anwenden. Beachten Sie
besonders den Zusammenhang des Modells mit dem Erkenntnisinteresse ( die Unterschiede
unserer drei historischen Modelle lassen sich auch davon ableiten, dass Schleiermacher
Verstehen als Textinterpretation thematisiert, Dilthey als allgemeine wissenschaftliche
Methode, Gadamer als subjektiv-existenzielle Auseinandersetzung mit der Welt.
Ergänzung zur Lv: Ein 'Kochbuch' – dh. ein festes Regelwerk zum Vorgehen beim 'Verstehen'
- existiert nicht. Was ich Ihnen – wie in der Lv angesprochen - anbieten kann, sind
'hermeneutische Fragen' - Perpektiven auf und Fragestellungen an den Text, die den Prozess
des Verstehens unterstützen können. Einige wesentliche – aus unserer Diskussion ableitbare
Fragestellungen (angelehnt an Danner 1998, S. 62f.) – habe ich in einem Arbeitsblatt
aufgelistet, das Sie auf meiner Homepage finden. Dieses Fragestellungen sind NICHT in
Ihrer Arbeit Punkt für Punkt abzuarbeiten, sie sollen eher als eine Art 'Controlling-checklist'
Ihre Überlegungen begleiten und vielleicht neue Fragestellungen an den Text inspirieren.
17
Ergänzung zur Lv:
Hermeneutik als Paradigma
Wiederholung zum Begriff Paradigma:
Als
Paradigmen
werden
Komplexe
aus
Wissenschaftsverständnis,
dazu
passenden
Theorien, Methoden, Forschungsinteressen, usw., bezeichnet. Thomas S. Kuhn, der diesen
Begriff geprägt hat, versteht unter Paradigma eine wissenschaftliche Leistung, mit der ein
Problem auf eine neuartige Art und Weise gelöst wurde und die seitdem als Vorbild und
Grundlage für weitere wissenschaftliche Arbeiten anerkannt wurde und so routinierte Sichtund Vorgehensweisen etabliert. (vgl. dazu Kuhn 1997).
Derartige Paradigmen dominieren oft das Erscheinungsbild ganzer Wissenschaftsbereiche
(wie etwa Newtons Paradigma wesentlich für die Entwicklung und Ausrichtung der
Naturwissenschaften war) und/oder formen wissenschaftliche 'Schulen'. Beispielhaft sollen
im Folgenden zwei derartige Theorie-Methoden-Komplexe mit paradigmatischem Status
vorgestellt werden, die auch im methodischen Bereich das wissenschaftliche Arbeiten der
Gegenwart prägen: der kritische Rationalismus und die Hermeneutik.
Die Hermeneutik (Auslegekunst) hat als Methode der Interpretation von Texten lange
Tradition. Ihre größte Bedeutung erlangte sie Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch
Wilhelm Dilthey, der sie als zentrale Methode der Geisteswissenschaften etablierte
(was sie inzwischen so nicht mehr ist). Er schuf damit ein Gegengewicht zu den
Naturwissenschaften,
die
aufgrund
ihrer
überlegenen
empirischen
Methoden
das
Wissenschaftsverständnis der damaligen Zeit insgesamt dominierten.
Die Ausgangslage: Physik ist als Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts mit der Methode des
naiven Induktionismus (Gesetzesentdeckung) im Gefolge und gemäß dem Paradigma
Newtons überaus erfolgreich – 2. industrielle Revolution – und glaubt, alle wesentlichen
Gesetze entdeckt zu haben, die es zu entdecken gibt und nur mehr ausdifferenzieren zu
müssen. Um 1900 wird dieses Selbstverständnis allerdings – vor allem – durch zwei
Einwände erschüttert:

Wilhelm Dilthey - und andere – weisen darauf hin, dass ein wesentlicher Bereich der
Welt, so wie sie uns begegnet, empirisch prinzipiell nicht erfasst werden kann: der der
bedeutungsvollen Phänomene.
18

Albert Einstein - und andere – zeigen, dass das Weltbild im Newtonschen Paradigma
auch auf naturwissenschaftlicher Ebene zumindest unvollständig ist (siehe kritischer
Rationalismus). Einstein sagt, das stimmt so nicht.
Die Hermeneutik ist nicht bloß eine Methode: Es gibt in der Zwischenzeit eine Vielzahl
hermeneutischer oder hermeneutisch beeinflusster Methoden, die vor allem grundlegende
Perspektiven im Weltbild und im Wissenschaftsverständnis gemeinsam haben, die auf
Diltheys hermeneutisches Paradigma rückführbar sind:
-
Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist der Mensch in seinem Erleben – die
Hermeneutik ist subjektivierend, d.h. sie geht vom Subjekt, von der Person aus, die sie nicht
analytisch, sondern ganzheitlich und umfassend in ihrer Lebenswelt verstehen will.
-
Das Menschenbild der Hermeneutik sieht diesen in seinem Lebensvollzug, als
historisches Wesen mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das seine Handlungen mit
Bedeutung, mit Sinn ausstattet. Damit sind der Hermeneutik jedoch in ihrem kritischen
Potential Grenzen gesetzt: Es fehlt ihr an einem un-bedingten oder auch nur externen
Bezugspunkt,
um
diese
Sinngebungen
einer
prinzipiellen
Kritik
zu
unterziehen.
(Diskreditierung im 3. Reich)
Als grundlegende methodische Unterscheidung zum Empirismus der Naturwissenschaften
formulierte Dilthey: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." (nach
Bortz 1995, S. 278) (Reichweitenbeschränkung der Nawi)
erklären und verstehen
"Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig
das Erfassen seiner Bedeutung: Irgendwelche Laute erkenne ich als Worte und
erfasse deren Bedeutung.
Erklären dagegen ist das Herleiten von Tat-sachen aus Ur-sachen, das Ableiten
einer Gegebenheit von einem Prinzip. Die Fallgesetze erklären das Fallen des
Steines."(Danner 1998, S. 36)
Im Verstehen ist der Verstehende miteinbezogen. Er interpretiert die Bedeutung von
etwas, das er als eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Handlungsprodukt erkennt.
In der Erklärung hingegen wird ein gesetzmäßig, unabhängig vom Erklärenden ablaufender
kausaler Zusammenhang festgestellt, d.h. ein untersuchtes Phänomen wird als Wirkung
einer bestimmten Ursache identifiziert.
z.B. Untersuchungsgegenstand: Zugangsbeschränkungen an Universitäten (vor dem
Hintergrund grundsätzlicher bildungspolitischer Ausrichtung)?
19
Möglichkeit des verstehenden Vorgehens: Warum taucht dieses Problem auf? Welche
Alternativen werden gesehen (in Literatur [Textinterpretation], von Experten [Interview],
von
Beteiligten
[offener Fragebogen],
etc.)
und
welche
Gründe
werden
genannt?
Alternativen mit Begründungen werden gesammelt, interpretiert, gewichtet und bewertet.
Der Untersucher ist als Interpretierender beteiligt, nicht die Quantität, sondern die Qualität
der Daten ist wesentlich, das Vorgehen ist induktiv, Verbindlichkeit ergibt sich aus der
Nachvollziehbarkeit der Interpretation.
Möglichkeit des erklärenden Vorgehens: Es werden gegebene Alternativen (auf Grund
vorhandener
Literatur,
öffentlicher
Diskussion,
politischen
Willenserklärungen
etc.)
vorgestellt, die jeweiligen Aufgaben der Universtität abgeleitet und daraus jeweils
quantifizierbare Konsequenzen (Entlastungs- und Lenkungseffekte, Umstellungs-, und
Erhaltungsaufwand, Ressourcenbedarf, dienstrechtliche Konsequenzen, etc.). Derart werden
quantifizierbare
Modelle
gegenüberstellen
entwickelt,
und
Prognosebedingungen:
die
beurteilen
Wenn
man
man
kann.
jene
auf
Basis
hoher
Datenmengen
(Ursachen-Wirkungsmodell
Wirkung
will,
muss
man
diese
unter
Ursache
herbeiführen. Vorgehen: deduktiv, operationalisiert, objektiv (unabhängig von Untersucher,
intersubjektiv), nachvollziehbar (wiederholbar) in den Operationen).
Beide Vorgehensweisen haben ihre Stärken und Schwächen, beide bieten sich vom
Untersuchungsbereich her zur gegenseitigen Ergänzung (Hypothesenbildung und –prüfung),
an, jedoch ergeben sich Schwierigkeiten vom Wissenschaftsverständnis her. In komplexen
Fragestellungen werden dennoch oft beide Vorgehensweisen gemeinsam verwendet.
Auch für die erklärende Vorgehensweise ist eine Methode, eingebunden in einen Komplex
von
passendem
Wissenschaftsverständnis,
Theoriegebilden,
Erkenntnisinteressen
etc.,
paradigmatisch: der kritische Rationalismus.
Kritischer Rationalismus
Der
kritische
Rationalismus
Karl
Poppers
ist
wohl
nach
wie
vor
als
das
einflussreichste Paradigma der Wissenschaft anzusehen. Er wurde in der ersten Hälfte
des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt als Antwort des 'naturwissenschaftlich' geprägten
Denkens auf die Kritik der Geisteswissenschaft und als Versuch eines Weges aus der Krise
der
Naturwissenschaften
entwickelt
und
stellt
einen
Wendepunkt
in
deren
wissenschaftstheoretischer Geschichte dar. (auch methodisch vom induktiven Entdecken
zum deduktiven Ableiten)
Vor allem die Physik als Leitwissenschaft der Jahrhundertwende (naiver Induktionismus)
hatte durch die Arbeit Einsteins und anderer zur Kenntnis nehmen müssen,
20
-
dass keineswegs, wie angenommen, die wesentlichen (physikalischen) Gesetze der Natur
bereits alle entdeckt seien,
-
dass sich die bisherigen Paradigmen (etwa die Newtonschen Gesetze) als unzulänglich
erwiesen hatten, obwohl sie experimentell vielfach bestätigt waren und
-
dass daher auch die bisher dominierende Methode unzureichend war: der 'naive'
Induktivismus. Dieser war davon ausgegangen, dass man durch Beobachtung (Messung)
objektiv wahre Daten erhalte, aus denen man induktiv auf Gesetzmäßigkeiten der Natur
schließen könne. Diese könnten dann durch Tests bestätigt (verifiziert) werden und
ermöglichen deduktive Erklärungen und Vorhersagen.
Diese induktiv gewonnenen und empirisch gut bestätigten Theorien wurden aber nun durch
übergreifendere theoretische Überlegungen – neuen Paradigmen folgend - erfolgreich in
Frage gestellt.
Der kritische Rationalismus Karl Poppers geht daher davon aus,
-
dass bereits Daten und Beobachtungsaussagen theorie- (und methoden-)
abhängig seien und daher keinen sicheren Ausgangspunkt liefern
-
und dass zudem eine Theorie durch induktive Bestätigung nie bewiesen, sehr wohl aber
deduktiv widerlegt (falsifiziert) werden kann. Dies entspricht auch den Regeln der
Argumentationslogik.
Hypothesen sind demnach deduktiv aus allgemeinen, spekulativ behaupteten
Gesetzen abzuleiten und daraufhin zu prüfen, ob sie widerlegt werden können.
Gelingt das nicht, gelten sie (und die zugrundeliegenden Theorien) als bewährt
und
vorläufig
gültig.
Wissenschaftsverständnis
Diese
der
Umkehrung
der
Naturwissenschaften,
Methode
als
es
berührte
die
insofern
Möglichkeit,
das
durch
Beobachtung (Sinneserfahrung) objektive Wahrheiten zu erhalten, endgültig verwarf.
Zentrale Grundannahmen wurden jedoch fortgeschrieben:
-
Gegenstandsbereich ist weiter die Welt, wie sie gesetzmäßig erkannt werden
kann. Diese Gesetze werden angenommen auf Basis eines realistischen Weltbildes (der
Annahme einer gegebenen Wirklichkeit - Korrespondenztheorie), sie werden empirisch (über
die Sinneserfahrung) und quantifizierend überprüft und durch Objektivierung, d.h. durch
Minimierung
aller
subjektiven,
nicht
verallgemeinerbaren
Faktoren,
legitimiert
(gerechtfertigt).
21
-
das Menschenbild ist ein kausales, d.h. es erfasst den Menschen, soweit er in
seinem Verhalten und in seinen Widerfahrnissen Gesetzmäßigkeiten unterworfen
ist. Das Freiheits- und das Sinngebungsmoment des Menschen kann derart nicht
thematisiert werden.
Klar ist, dass Poppers Rationalismus – faktisch als nächste Phase der Entwicklung – auf den
Induktionismus
aufsetzt:
Schon
seine
deduktive
Vorgehensweise
wäre
in
den
Naturwissenschaften ohne das zuvor induktiv gewonnene 'Set' an Naturgesetzen nicht
denkbar. Die paradigmatischen Merkmale dieses Wissenschaftsverständnisses werden im
folgenden Abschnitt noch einmal, detaillierter, angesprochen.
quantitative und qualitative empirische Methoden
Die
beiden
vorgestellten
methodischen
Paradigmen
wurden
als
wesentlich
für
die
Entwicklung der zwei traditionellen Wissenschaftsbereiche Geistes- und Naturwissenschaften
beschrieben. Nun haben in den letzten Jahrzehnten jene Wissenschaften eine rasante
Entwicklung erfahren, die den Menschen als 'Bürger beider Welten' (Kant) ansprechen: die
Sozialwissenschaften.
Dieser Bereich ist – wie letztlich auch die Geistes- und Naturwissenschaften, nicht präzise
eingrenzbar. Näherungsweise meint er hier Wissenschaften, die den Menschen auch in
seinem sozialen Kontext ansprechen und für die daher das hier vorzustellende methodische
Repertoire relevant ist, etwa Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaften, Pädagogik.
In
den
Sozialwissenschaften
erscheint
sowohl
das
Verstehen
menschlicher
Handlungen und Handlungsprodukte als auch das Erklären emprisch-experimentell
fassbarer
Phänomene
relevant.
Empirische
Phänomene
in
diesem
Bereich
sind
menschliche Handlungen und Handlungsprodukte und als solche bedeutungsvoll und
verstehbar und zudem in hohem Ausmaß über verbale Daten, also Sprache, erfassbar. Es
lag daher nahe, Methoden zu entwickeln, die vor allem über das Instrument der Sprache
beide Ansätze zu vereinen suchen. Das tun die qualitativen empirischen Methoden:
Phänomene der sozialen Realität sollen (empirisch) erfasst und verstanden
werden. Vereinfacht gesagt, werden somit geisteswissenschaftliche Methoden – neben der
Hermeneutik vor allem noch die Phänomenologie - auf einen bislang naturwissenschaftlich
definierten Gegenstandsbereich angewendet und dessen Grundgegebenheiten angepasst.
Qualitative Forschung hat inzwischen schon längst ein ganzes Repertoire anerkannter
Methoden entwickelt (verschiedene Interview- und Befragungsformen, Inhaltsanalyse,
Einzelfallstudie, teilnehmende Beobachtung, etc.) und beansprucht für sich, bei aller
Heterogenität bereits eigenen Paradigmen zu folgen (etwa die exemplarische Studie von
22
Lazersfeld/Jahoda: die Arbeitslosen von Marienthal), die vor allem durch Abgrenzung von
quantitativen empirischen Methoden beschrieben werden. Diese Abgrenzung soll im
Folgenden an Hand einiger wichtiger Eigenschaftspaare dargestellt werden, die teilweise
noch einmal die Unterscheidung zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Paradigma
aufgreifen, teilweise auf den Gegenstandsbereich Bezug nehmen. Die Eigenschaftspaare
beschreiben insgesamt zwei Paradigmen: das bedeutet, dass sie nicht für sich jeweils
trennscharfe Unterscheidungskriterien angeben, sondern erst in der Zusammenschau eine
klare Grenzziehung möglich ist. (Die folgende Unterscheidung über Eigenschaftspaare folgt
im Wesentlichen aus qualitativer Perspektive Lamnek 1995, aus quantitativer Bortz/Döring
1995).
quantitativ - qualitativ
Diese Unterscheidung bezieht sich auf das zugrunde liegende Datenmaterial. Für
naturwissenschaftliche
Empirie
sind
quantitative,
für
geisteswissenschaftlich
orientierte qualitative Daten relevant.
Quantitative Daten sind solche, die in Zahlen abbildbar sind. Das ermöglicht relativ
aufwandslose Vergleiche in unterschiedlichsten Datenverknüpfungen und mit eindeutigen
Ergebnissen. Statistische Auswertungsverfahren, die in der quantitativen Empirie zentral
sind, erlauben sehr differenzierte Aussagen, EDV-Unterstützung die Bearbeitung großer
Datenmengen.
Qualitative Daten sind in der Regel verbal, können jedoch prinzipiell jede sinnvolle,
systematisch beobachtbare Handlung bzw. deren Produkt darstellen. Sie stellen,
jedes für sich, eigene Qualitäten dar, sind daher nicht direkt miteinander vergleichbar,
können aber den inhaltlichen Reichtum individueller Äußerungen berücksichtigen. Qualitative
Daten sind in quantitative überführbar (mit entsprechendem Informationsverlust etwa durch
Zählung der Häufigkeit von Antworten nach Kategorien), jedoch nicht umgekehrt.
erklären-verstehen
Die Unterscheidung erklärender-verstehender Modus gilt zwar als prototypisch für die beiden
Methoden, gerade sie kann aber nicht absolut gesetzt werden. Ebenso wie bei qualitativen
Methoden die Formulierung allgemeiner Sätze mit Erklärungsgehalt eine wesentliche Rolle
spielt, arbeiten auch quantitative Methoden verstehend im Sinne einer Rekonstruktion
subjektiver Sichtweisen oder einer Berücksichtigung des Kontextes. Insgesamt kann aber
gesagt
werden,
dass
die
quantitativen
Methoden
grundsätzlich
ätiologisch
(ursachenbezogen) und nomothetisch (Gesetze aufstellend), die qualitativen interpretativ
(sinnauslegend) und idiographisch (das Individuelle darstellend) orientiert sind.
23
deduktiv-induktiv
Auch hier formuliert die Unterscheidung eine grundsätzliche Ausrichtung und keine strenge
methodische Abgrenzung. So sind in der quantitativen Empirie, die seit Popper deduktiv
vorgeht, induktive Schlüsse etwa bei statistischen Verfahren der Generalisierung von
Stichproben auf die Gesamtpopulation wesentlich. Dennoch wird oft der qualitativen
Empirie wegen ihres induktiven, verstehenden Vorgehens vor allem Kompetenz im
Bereich der Hypothesenbildung zugesprochen, der quantitativen, falsifikatorisch
orientierten, im Bereich der Hypothesenprüfung. Tatsächlich werden bei komplexen
Fragestellungen beide Methoden oft in diesem Sinn arbeitsteilig eingesetzt. Vor dem
Hintergrund eines grundsätzlich unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisses lassen sie
sich jedoch kaum auf diese ihre Stärken reduzieren.
Labor - Feld
Damit ist weniger der Untersuchungsort als vielmehr das Ausmaß der Kontrolle bei den
Untersuchungsbedingungen gemeint. Quantitative Methoden üben hohe Kontrolle
aus, um ein hohes Messniveau und damit falsifizierbare Ergebnisse zu erzielen, sie arbeiten
in der Regel
mit geschlossenen, standardisierten, operationalisierbaren Fragen, der
Untersucher nimmt eine distanzierte Haltung ein. Dagegen halten qualitative Methoden
die Kontrolle gering und nehmen oft eine teilnehmende Haltung ein, um 'Laboreffekte' zu
vermeiden und eine möglichst lebensnahe Situation zu erhalten.
objektiv - subjektiv
Die quantitative Empirie folgt dem Leitbild einer 'objektiven Wissenschaft', das nicht
zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre Ergebnisse nachvollziehbar, d.h. hier unter
gleichen Bedingungen wiederholbar sind. Das setzt voraus, dass ein Einfluss – und damit
eine Beteiligung - des Untersuchers möglichst minimiert und das zu untersuchende
Phänomen möglichst isoliert wird.
Auch qualitative Methoden streben Objektivität im Sinne einer Nachvollziehbarkeit
an. Das bedeutet hier aber, dass die Interpretation - die immer aus dem Verständnis des
Untersuchers heraus, also unter Einschluss und Beteiligung seiner Person, d.h.
subjektiv, erfolgt – von jedermann geistig nachvollzogen, also verstanden und geteilt
werden kann und sich um Gründe für ihre Verbindlichkeit bemüht. Gegenüber dem
untersuchten Phänomen bedeutet der Objektivitätsanspruch der qualitativen Empirie, dass
dieses möglichst in seiner 'objektiven Realität', also in seiner tatsächlichen Situation
beachtet wird unter Einschluss seiner Bedeutung, ganzheitlich und in seiner historischen
Dimension, d.h. als Subjekt oder Produkt eines Subjekts. Qualitative Methoden sind somit
24
subjektiv auf eine Weise, dass sie gerade aus diesem Umstand heraus Verbindlichkeit, d.h.
über das Beliebige hinausgehende Gültigkeit der Interpretation behaupten.
25
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