begründen, verstehen, beurteilen – Argumentation, Hermeneutik und Kritik als Methoden wissenschaftlichen Arbeitens 190170 VO, UE - Grundlagen: philosophische Methoden, 2.2.3 [21b2] laut Studienplan Pädagogik 2002 (2 Std.) Lehrveranstaltungsleiter: Mag. Dr. Martin Steger /TutorInnen: Emanuel Frass, Claudia Gusenbauer, Angela Janssen, Markus Mandl, Marlis Stöckl Donnerstag, 8.00 - 10.00, HS C1 Campus 8. Termin 14.12.06: Formalia, Verstehen Formalia: Eine Erinnerung: Suchen Sie sich bis Samstag einen der drei Interpretationstexte aus, die im letzten Skript verlinkt sind. Am Sonntag werde ich den Gruppen, die mir kein Mail mit Wunschtext gesendet haben, einen Text zuteilen. Da es immer vernünftiger ist, eigene Entscheidungen umzusetzen und da ich mit meinen Zuteilungen Ungleichgewichte zwischen den Texten ausgleichen werde (d.h. den 'unbeliebtesten' Text, der am wenigsten gewählt wurde, am häufigsten zuteile), empfehle ich, die Wahl der Qual wahrzunehmen, und den Text selbst auszusuchen, den Sie zu interpretieren haben.(siehe Skript vorige Lv) Eine zweite Erinnerung: Die beiden nächsten Termine 11.1. und 18.1. sind die Termine, die als integrierte Lv (aus Übung und Vorlesung) deklariert sind – in ihnen geht es um Konkretisierung der Lv-Inhalte an den Texten. Da sollte von jeder Gruppe zumindest ein Mitglied jeder Gruppe anwesend sein und bereits etwas über die Texte sagen können (siehe Skript 1.Termin). Das erwarte ich mir schon im Eigeninteresse der Gruppen: Sie können sich in den Terminen bereits ein gutes Grundgerüst holen, wenn Sie die Texte bereits soweit kennen, dass Sie die Textbesprechungen mit tragen und Unklarheiten nachfragen können. Am 11.1. werden Verstehensmodelle wir der den wissenschaftstheoretischen Positionen vergleichen. Es wäre Kontext, sicher am nützlich, 18.1. die wenn Sie vorbereitend den letzten Teil dieses Skriptes durchlesen (v.a. über Hermeneutik als Paradigma), den wir in der Lv nicht mehr besprechen konnten. Um die nachfolgenden Inhalte nicht zu brechen wünsche ich Ihnen bereits hier Frohe Weihnachten und ein herrliches Neues Jahr. 1 Inhalt: Verstehen Wir haben das letzte Mal begonnen, den hermeneutischen Begriff von 'Verstehen' zu entwickeln – anhand einer Definition von Wilhelm Dilthey Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig des Erfassens seiner Bedeutung. Wir haben dabei das Spannungsfeld von Verstehen zwischen Subjektivität und Verbindlichkeit thematisiert: Verstehen ist als Umgang mit Bedeutung notwendigerweise subjektiv: der Verstehende ist mit einbezogen, es verweist auf ein Inneres - nämlich auf eine orientierende Vorstellung von Welt - und knüpft an Erlebtes an: Wir sprechen in der Hermeneutik von einem Verstehenshorizont, innerhalb dessen wir in der Lage sind, an bereits Verstandenes anzuknüpfen. Verstehen schreibt sich selbst fort - in einer zirkulären Bewegung: dem hermeneutischen Zirkel das heißt: Im Verstehen verknüpfe ich ein Objekt mit dem Kontext des bereits von mir Verstandenen – dadurch ändert sich natürlich der Gesamtkontext – auch 'rückwärts': ich verstehe bereits Verstandenes wieder anders – damit sehe ich die Welt wieder anders etc. Diesem zirkulären Modus des Umgangs mit der Welt steht ein linearer gegenüber: das Erklären. Dabei bleibe ich auf der Gegenstandsebene und erkläre kausal ein Phänomen aus einem anderen: ich stelle Ursachen-Wirkungsgefüge her. Diese beziehen mich nicht als Teilnehmer mit ein – ich bin in diesem Modus unbeteiligter Beobachter, vom beobachteten Phänomen unabhängig und als solcher beeinflusse ich das Phänomen auch nicht und bin insofern austauschbar: das ist die negative Vorstellung von Objektivität in den traditionellen Naturwissenschaften, wie wir sie schon als Wahrheitskriterium kennen gelernt haben. 2 Exkurs zur Wissenschaftstheorie: Eine analoge Denkfigur ist in der Unterscheidung Geltung (Was ist/bedeutet etwas?) Genese (Wie entsteht /welche Folgen hat etwas?) angesprochen. Die Überlappungen sind groß, ohne dass man dieses Bild aber mit verstehen erklären gleichsetzen kann – ein in der Philosophie häufiger Vorgang: Phänomene werden über analoge Bilder beschrieben, sind aber zugleich in unterschiedliche Theoriekontexte eingebunden. Man kann sie daher nicht einfach gleichsetzen. zB.: Auch die Systemtheorie arbeitet (im Interpretationstext von Luhmann) mit der Figur der Zirkularität. Oft lese ich deswegen in Gruppenarbeiten vom hermeneutischen Zirkel bei Luhmann. Der Unterschied ist aber enorm (obwohl von analogen Phänomenen die Rede ist): Der hermeneutische Zirkel bezieht sich auf die Reflexivität, das selbst-bewusste Denken des Selbstreferenz Subjekts, (-bezug) Gesellschaftsfunktionen. die Zirkularität von Ein der Kommunikation Subjekt, also Systemtheorie auf in – ein Systemen intentional Rückwirkung zB und Organisationen, agierendes Individuum thematisiert die Systemtheorie gar nicht. (näheres nächste Lv). Im Verstehen ist der Verstehende miteinbezogen. Er interpretiert die Bedeutung von etwas, das er als eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Handlungsprodukt erkennt. In der Erklärung hingegen wird ein gesetzmäßig, unabhängig vom Erklärenden ablaufender kausaler Zusammenhang festgestellt, d.h. ein untersuchtes Phänomen wird als Wirkung einer bestimmten Ursache identifiziert. Einen Sinnbezug herstellen ist somit als ein Akt der Orientierung in der Welt verstehbar – und er ist damit notwendigerweise subjektiv: es ist eine Leistung des Handelnden, Sinn 'zuzuweisen' – der Gegenstand 'an sich' hat keinen Sinn, ohne denjenigen, der den Sinn herstellt, ist somit schlicht kein Sinn da – es ist daher nicht, wie bei empirischen Methoden, möglich, unter 'Absehung der eigenen Person' zu verstehen z.B.: Ein disziplinloser Schüler wird sanktioniert, bis er 'verstanden' hat, wie er sich zu benehmen hat: Auch hier mag der Schüler erkennen, welche Wirkung seine Disziplinlosigkeit hat und sich danach verhalten. Dass er im Sinne des Sanktionierenden 'verstanden' hat, ist damit nicht gesagt. Es ist anzunehmen, dass er der Handlung als einer menschlichen einen Sinn zuschreibt, aber das kann genausogut der sein, dass er brav sein soll, dass er gequält werden soll, dass eine Hierarchie aufrecht erhalten werden soll, etc.. 3 lebensorientiert: Kontexte herstellen, Sinn zuweisen heisst immer, etwas auf bereits 'Vorhandenes', nämlich Erlebtes, beziehen. D.h. - Es kann nur das verstanden werden, was an das eigene Erleben anknüpft, d.h. was in Zusammenhang mit den vorhandenen Bedeutungsstrukturen gebracht werden kann. Diese bilden einen Verstehenshorizont, in dem etwas als etwas erkannt und in Folge verstanden werden kann. z.B.: Ein Priester flechtet in seine Predigten immer gerne alltägliche Anekdoten aus dem heutigen Leben ein – damit ihn die Leute besser verstehen. z.B.: Der Xaver Hintermoser ist wegen Körperverletzung angeklagt. Vor Gericht schildert er den Tathergang: "Also, zuerst hat er mich getreten. Dann hat er mich einen Pardon geschimpft, da habe ich ihm eine geschmiert." (aus Lamnek 1995, S. 81.) Damit haben wir aber unsere Definition noch nicht ausgeschöpft: Verstehen ist nicht Bedeutungsgebung sondern Erfassen bereits gegebener Bedeutung. Das haben wir in einem Experiment verdeutlicht: Sinnzuweisung an zwei Gegenstände: ein Ast einer Korkweide und ein Laib Brot. Obwohl das Brot uns näher – 'bedeutungsvoller' – ist, lässt sich zum Ast eine weit größere Bedeutungsbreite assoziieren. Warum? Weil der Ast ein natürlicher Gegenstand ist, das Brot ein von Menschen absichtsvoll – bedeutungsvoll – gemachtes Produkt. Es hat bereits Bedeutung, ist nicht mehr beliebig für jede Sinnzuschreibung 'zu haben'. Verstanden kann nur etwas werden, dem eine Bedeutung verliehen ist, d.h. menschliche Handlungen und Handlungsprodukte. Hier liegt auch eine grundlegende Unterscheidung der geisteswissenschaftlichen zur theologischen Hermeneutik, in der potentiell alles Werk eines 'Sinnzuschreibers' – nämlich Gottes – ist. In der wissenschaftlichen Hermeneutik sind 'höhere' (Götter) und 'niedere' (Tiere) Wesen als der Mensch nicht als Sinnzuweiser thematisiert. Wir sprechen von etwas Menschlichem (eine menschliche Handlung oder ihr Produkt) wir haben das Monopol auf Sinnzuweisung oder sind zumindest die einzigen, bei denen wir das ganz genau wissen (nicht Tiere , nicht Gott). Damit sind wir aber in der Gratwanderung subjektiv – objektiv: Verstehen ist nicht beliebig es ist schon Sinn zugewiesen: Brot ist nicht in erster Linie da, um Goldringe zu verstecken, wie es in manchen Sagen zu lesen ist 4 erlebt – erlebbar: Es kann nur das verstanden werden, was erlebbar ist. Eine Emotion, ein Gedanke hat bereits Bedeutung. Verstehbar ist er aber erst, wenn er geäußert wird. Inneres – Zeichen: ein Äusseres – ein Ausdruck, eine Darstellung, eine Sinnesobjektivation Etwas als etwas erkennen erhält dabei eine weitere Bedeutung – ein Gegenstand mit Bedeutung steht für ein weiteres, hat Symbolcharakter, ist ein Zeichen. "Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen." (nach Danner 19984, S. 39.) Ein Zeichen kann im Prinzip alles sein, mit dem ein Mensch einen Sinn ausdrückt, d.h. jegliche Lebensäußerung, die auf ein Inneres, nicht unmittelbar Wahrnehmbares verweist. Hermeneutik versucht demnach, Zeichen – als ihre eigentlichen 'Untersuchungsgegenstände' - als solche zu erkennen und in ihrem Sinn, in ihrer Bedeutung zu erfassen. Dilthey verlangt jedoch von Zeichen als Gegenständen einer methodischen Auseinandersetzung, dass sie möglichst unverändert und dauernd zugänglich sein sollen, um ein verbindliches Verständnis zu ermöglichen. (grundlegender Unterschied zu erklären Sinn als nicht materiell existent, als (Lebens-)Zusammenhang, Bedeutungsträger nicht Gegenstand) Derartig dauerhafte, sinnvolle Zeichen findet man prototypisch in der Schrift als zentralem Gegenstandsbereich der Hermeneutik. Damit hätten wir im Grunde die Definition geklärt Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig das Erfassen seiner Bedeutung. meint also einen bewussten Akt, in dem etwas als sinnvoll (und damit menschlich) erkannt wird – und dieser Sinn erfasst wird. Dieser Akt ist subjektiv, weil nur durch Bezug auf die eigene Person Sinn erlebbar ist, aber nicht beliebig, weil Sinn bereits vorgegeben ist. Der Objektivitätsanspruch im hermeneutisch-verstehenden Umgang mit Welt ist natürlich vor allem in der wissenschaftlichen Hermeneutik ein zentraler Problembereich. Er ergibt sich daraus, dass wir ja nicht lediglich Bedeutung schaffen, sondern dass Verstehen den Umgang mit bereits vorgegebener Bedeutung meint, die Verbindlichkeit beansprucht. Insofern ist Verstehen an bedeutungsvolle Äußerungen – d.h. menschliche Handlungen und Handlungsergebnisse – gebunden, die erlebbar sind und nicht mehr lediglich im Belieben des Interpreten stehen. 5 Dieses Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität ist jedem Verstehensakt notwendigerweise immanent, in der Hermeneutik als Verstehenslehre gewinnt diese Spannung noch einmal an Schärfe – vor allem dort, wo sie Gültigkeit als wissenschaftliche Methode beansprucht, d.h. unter Wahrheitsbedingung agiert. Dementsprechend wird ihre Wissenschaftlichkeit auch immer wieder in Frage gestellt. Diesem Objektivitätsproblem möchte ich mich in zwei Schritten nähern. Der erste ist die Frage: Wie kann Sinn eines anderen überhaupt verstanden werden – wenn man eben dessen subjektive Sinnkontexte nicht erlebt hat? Durch zweierlei: 1. auf der 'individuellen' Ebene durch Kommunikation (Begegnung, Ansprechen,...) – um aber kommunizieren zu können und um auch dort verstehen zu können, wo ich nicht mit dem 'Schöpfer' einer Bedeutung kommunizieren kann, muss ich 2. auf eine gemeinsame Basis zurückgreifen, in der Erleben eben nicht bloß individuell, sondern gemeinsam ist bzw. durch den selben Faktor geformt ist. Eine derartige 'allgemeine' Ebene findet sich in jedem hermeneutischen Modell (siehe später), am bekanntesten ist die Vorstellung des 'objektiven Geistes' bei Dilthey (nach Hegel): Die Hermeneutik erklärt das über Hegels Begriff des 'objektiven Geistes'. Darunter ist nichts Mystisches zu verstehen, sondern eine 'Sphäre der Gemeinsamkeit', die für jeden verbindlich ist, weil sie vorgegeben ist, weil jeder an ihr Anteil hat, ohne über sie verfügen zu können. Jeder Gedanke wird in einer bestimmten Sprache gedacht, jede Handlung ist in gemeinsame Konventionen eingebunden, jede Beziehung stützt sich auf eine gemeinsame Weltsicht und einen Komplex gemeinsamer Selbstverständlichkeiten. Diese gemeinsame Sphäre, die das Verstehen sichert, die ein verbindendes, unhintergehbares Drittes zwischen zwei Subjekten ist, wird als 'objektiver Geist' bezeichnet. Der 'objektive Geist' zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: - Er ist das die Kultur Bestimmende und Ausdruck dieser Kultur. Die Kultur erschöpft sich nicht in Kunstwerken oder in einer gemeinsamen Sprache, sie ist die Gesamtheit der gemeinsamen Sinnbedeutungen. z.B. Brot ist in Frankreich etwas Anderes als in Deutschland: Es ist Weißbrot, es wird gebrochen, nicht belegt, sondern selbst als Beilage zu Mahlzeiten verwendet. Eine Übersetzung des Wortes 'Brot' kann derart noch nicht das gemeinsame Verständnis sichern, weil es in zwei Kulturräumen faktisch Verschiedenes bedeutet. (nach Danner 1995, S. 49.) 6 - Er ist historisch (als Aspekt der Kultur, der aber wichtig genug ist, eigens hervorgehoben zu werden). Wie Kultur als etwas Gewordenes, sich Veränderndes zu verstehen ist, wie jeder Mensch selbst geschichtlich geworden ist, ist auch der 'objektive Geist' als eine geschichtliche Größe zu verstehen. Zum einen wird in ihm als Ausdruck der Kultur Geschichte gegenwärtig und zugänglich, zum anderen bedeutet diese Zugänglichkeit nicht, dass Vergangenes jetzt noch genauso ist, wie es war. Der Sinn verschiebt sich mit der Zeit, wie zwischen Sprachen und Kulturen muss auch zwischen Zeiten übersetzt werden. Exkurs zur Wissenschaftstheorie: Schon an diesem Bild können wir Hegel ganz grob in unserem erkenntnistheoretischen Modell verorten: Eine Generation nach Kant unternimmt er erste Schritte in Richtung Beschäftigung mit dem konkreten, historischen und sozialen Menschen: Der Begriff des 'objektiven Geists' steht bei ihm für ein Modell der Intersubjektivität, die bei ihm das leistet, was die reine Vernunft bei Kant leistet: Dort ist die bei allen gleiche Vernunft Voraussetzung für gemeinsame Wahrheitsvorstellungen, für Kommunikation etc. – hier ist es die gemeinsame intersubjektive Kultur. Hegel Diese Notwendigkeiten, zwischen Formen des objektiven Geistes zu übersetzen, ist aber nicht der einzige Grund, dass keine Allgemeingültigkeit der Verbindlichkeit des Verstehens behauptet werden kann. Ein zweiter ist, dass die Sinnzuschreibungen und Sinndeutungen jedes Menschen zwar in den objektiven Geist hineinreichen, aber sich nicht darin erschöpfen. Es bleibt immer eine Individualität des Verständnisses, die dafür verantwortlich 7 ist, dass eine bedeutungsvolle Äußerung nie ganz und nie genau gleich verstanden werden kann. Dieser unterschiedliche Anteil im Verstehen wird als hermeneutische Differenz bezeichnet. objektiver Geist Verstehen Interpret Text Die hermeneutische Differenz ist nie zur Gänze überwindbar, zugleich ist es Anspruch der Hermeneutik, sie durch Bezug auf einen übergeordneten, gemeinsamen Sinneszusammenhang möglichst aufzuheben – hin bis zur Vorstellung, dass der Interpret den Text besser versteht als der Autor. Das ist eines der Grundbilder der Hermeneutik, das wir mit verschiedenen Bezeichnungen in unterschiedlichen Modellen des Verstehens vorfinden. In dieses Bild ist auch noch einmal der hermeneutische Zirkel mitgedacht: In seiner zweiten Form als Methode des wechselseitigen Bezugs von Allgemeinem (Kultur/objektiver Geist) und Besonderem (individuelle Kommunikation) aufeinander: Ohne Kommunikation ist keine Kultur, ohne Kultur keine Kommunikation vermittelbar. Im wechselseitigen Bezug entwickelt sich Verstehen. Alle Verstehensmodelle haben in irgendeiner Form einen derartigen Zirkel zwischen individueller und allgemeiner Verstehensebene mitgedacht. Was dabei als Allgemeines und was als Besonderes dient, lässt Rückschlüsse über die Schwerpunkte des jeweiligen Modells zu. Das hermeneutische Vorgehen, der Ablauf des Verstehens, wird also in zweierlei Hinsicht als – hermeneutischer - Zirkel bezeichnet. Bezogen auf Textinterpretation (d.h. auf Ihre Aufgabe in der Gruppe) stellt er sich wie folgt dar: - Man geht immer mit einem gewissen Vorverständnis an einen Text heran (in der Sprache, in der Gedankenwelt, in der Thematik,...); voraussetzungslos, d.h. ohne dass man bereits etwas verstanden hat, ist kein Verstehen möglich. Über den Text erweitert sich das Verständnis und ermöglicht so wiederum eine erneute, ertragreichere Annäherung an den Text, usw.. Diese zirkelförmige, genauer spiralförmige Bewegung zwischen Text und Verständnis ermöglicht ein zunehmendes Eindringen in den Sinn, in die Bedeutung des Text, d.h. eine Verringerung der hermeneutischen Differenz. V2 V1 V T T1 T2 8 - Analog dazu bezeichnet der hermeneutische Zirkel II (der methodische Zirkel) die kreis- (spiral-)förmige Arbeitsbewegung zwischen Textteilen und dem Bezug auf den Gesamttext im Prozess des Sinnverstehens: Aus konkreten Aussagen lässt sich auf die Bedeutung des Textes schließen; aus diesem heraus lassen sich unklare Textpassagen deuten, Begriffsfelder bestimmen, was wiederum zu einem nuancierteren Gesamtverständnis führt, usw.. Der hermeneutische Zirkel beschreibt die hermeneutische Vorgehensweise als eine sukzessive Annäherung an den Sinn eines Textes, in der jeder Verstehensakt weiteres und tieferes Verständnis ermöglicht. Dieser spiralförmige Prozess ist prinzipiell nicht abschließbar, Verständnis ist kein diskretes Kriterium, das man hat oder nicht. Es ist immer noch ein tieferes Verständnis, eine weitere Verringerung der hermeneutischen Differenz denkbar, wieder bis hin zur Zielvorstellung, den Text 'besser (reflektierter) zu verstehen als der Autor selbst' (nach Danner 1998, S. 64). Im gemeinsamen Verstehensbereich stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der Verbindlichkeit des Verstehens. die Verbindlichkeit des Verstehens Hermeneutik beansprucht also Verbindlichkeit ihrer Interpretation. Das heißt nicht, - dass komplexe Texte nur eine – die wahre – Bedeutung haben; Interpretation ist die Auslegung einer unter vielen möglichen, vielfach ineinander verflochtenen Bedeutungsstrukturen. - dass Hermeneutik Verbindlichkeit im Sinne der Allgemeingültigkeit eines Gesetzes verlangt, d.h. Unabhängigkeit von dem verstehenden Menschen. Eine Interpretation kann nicht für jeden Menschen – egal, wie sein Verständnishorizont und seine Interessenslage beschaffen ist - gleichermaßen verbindlich sein. Die Tatsache, dass Hermeneutik immer und prinzipiell auf einer subjektiven Sinnauslegung beruht, ist ihr großes methodisches Problem - und ihre Stärke. Hermeneutik ist allerdings nicht subjektiv in dem Sinne, dass jeder beliebig meinen kann, was er will. Sie ist subjektiv im Sinne eine persönlichen Auseinandersetzung, eines Bemühens, der Sache gerecht zu werden. Anstelle einer Allgemeingültigkeit fordert sie 'positive' Objektivität ein, d.h. hier "Wahrheit im Sinne der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand". (Bollnow 1966 nach Danner 19953, S. 53.) – d.h. im Sinne der Korrespondenztheorie. 9 und der Nachvollziehbarkeit des Kontextes, in den sie gestellt wird – bis hin zur Übereinstimmung, also zum Konsens (dem 'gemeinsamen Sinn') als Wahrheitsindiz. Die Konsenstheorie der Wahrheit ist damit für Bedeutungen und Sinngehalte prototypisch- d.h. die 'wahre Bedeutung' kann man nicht entdecken, auf die kann man sich bestenfalls einigen – und das wird nur passieren, wenn es der Wirklichkeit angemessen ist (siehe oben). Es bleibt jedoch auch unter diesem zurückgenommenen Anspruch die Frage, wie Objektivität möglich sein kann, wie Menschen dasselbe verstehen, eine Interpretation als angemessen beurteilen können. Diese Wahrheit ist allgemeingültig im Sinne einer Nachvollziehbarkeit und einer Argumentation mit Gründen, die sich auf eine allgemeinen Sinnkontext beziehen – das ist Ihr Job bei der Arbeit. Natürlich gibt es Verstehensaspekte, die nicht begründbar sind – psychologisches Verstehen heißt das bei Dilthey (nur das ist bitte nicht Methode der Wissenschaft – und daher auch nicht ihrer Arbeit). Resümee: Hermeneutik ist sich des problematischen Status der Wahrheit/Objektivität von Interpretation bewusst, verweist aber darauf, dass das in der Empirie – im 'erklärenden' Modus - ebenso ist, wie wir spätestens seit der 'Wahrheitsdiskussion' wissen und auch in diesem Semester noch einmal ansprechen werden. Hermeneutik ist somit als ergänzend zu empirischen Theorien / Methoden beschreibbar: Wo beim 'Erklären' Objektivität als Intersubjektivität – faktisch als möglichst weitgehende Abwesenheit von Subjektivität – Wahrheit sichern soll, sichert Hermeneutik 'Wahrheit' durch 'gemeinsame' (begründete) (Inter)Subjektivität und Objektivität als Angemessenheit am Objekt. Das kann die Empirie überall dort nicht leisten, wo es um den Menschen geht, der sich in seiner Reflexionsfähigkeit und lernenden Selbstbezüglichkeit einer 'linear-kausalen' Beobachtung entzieht (siehe die 'gestellten' und verdeckten Experimente etwa in der Lernpsychologie, die laut der Hermeneutik der tatsächlichen Lebenswelt nicht angemessen sind, für sie keinen Erklärungsgehalt besitzen): 'Die Natur erklären wir, den Menschen verstehen wir', sagt Dilthey – das bezieht sich auch auf unterschiedliche Formen von Wahrheitsansprüchen. Vergleich des erarbeiteten Alltagsverständnisses mit dem nun aus der Definition gewonnenen hermeneutischen Verständnis von Verstehen 10 akustisches / sinnliches V ?? betrifft eigentlich ebenso Vorwissen Voraussetzungen sachliches V interpretierendes V zwischenmenschliches V objektiv / logisch mitfühlend beurteilbar / hineinversetzend begründbar subjektiv zb Mathematik z.B Text auch hineinversetzend auch subjektiv Mensch objektivierbar durch: Begründungen+ Einigung mehrere Sichtweisen Welche Aspekte des Alltagsverständnisses sind auch im hermeneutischen Sinn Verstehen? sachliches Verstehen: Im Sinne der Eingangsarbeit nein – das 'Verstehen' einer Gleichung meint nur, sie nachvollziehen können, nicht sie mit Bedeutung zu versehen. In unserer Unterscheidung gehört das zum Blickwinkel des 'Erklären' – also des kausalen Umgangs mit der gegenständlichen Welt. Die oft gehörte Forderung, dass Schüler Formeln verstehen sollen, ist davon unberührt – sie meint, dass den Schülern der Kontext klar sein soll, in dem die Formel steht: ihre Anwendbarkeit, ihre Bedeutung in ihrer Lebenswelt,.... Sie soll also Betroffenheit - und damit Bereitschaft zu Auseinandersetzung - und Problembewusstsein und damit Wissen um den Umgang damit – herstellen. Sinn hat die Formel selbst keinen, sie hat Erklärungsgehalt. interpretierendes Verstehen: beschreibt den Kernbereich hermeneutischen Verstehens – intuitiv im Spannungsfeld Subjektivität-Objektivität. zwischenmenschliches Verstehen: subjektiv – anknüpfend an Diltheys 'psychologischem Verstehen' (siehe wissenschaftlichen unten: Verstehensmodell Verstehens. Im Sinne Diltheys) unseres eher Voraussetzung Verstehensbildes, dass als es Teil einer individuellen und einer allgemeinen Verstehensebene bedarf, spricht das die individuelle Ebene an, je 'mehr' es allgemeine Bezugsebenen mit einschließt, um so eher kann man im hermeneutischen Sinn von Verstehen sprechen. akustisches/sinnliches Verstehen: Lediglich als Voraussetzung, wenn man als Grenze vom akustischen zum Sinnverstehen die annimmt, wo verstehen über bloßes 'Geräuschhören' hinausgeht – die Grenze zwischen 'Ich höre nichts' und 'Ich verstehe 11 nichts': Also etwa das Hintergrundgemurmel eines eingeschaltenen Radios, das man hört, ohne Bedeutungsvolles – nämlich Worte, Sätze, Meinungen - 'verstehen' zu können. Hermeneutik als Methode der Textinterpretation im historischen Kontext: Hermeneutik hat als Methode der Textinterpretation, oder genauer der Auslegung verbindlicher, vor allem religiöser Texte lange Bedeutung (hermeneuein bedeutet im Griechischen auslegen, erklären, deuten, dolmetschen, übersetzen – lateinisch: interpretari): Religion war als zentraler Kulturträger vor der Ausdifferenzierung kultureller Leistungen Träger von Gesetzesvorschriften, Bewahrer historischer Identität, Projektionsfläche der Kunst, etc.. Es bedurfte daher der Auslegung der Texte auf ihren jeweiligen 'Anwendungskontext' – die Aufgabe der Priester (und oft als Auslegungsmonopol Machtbasis). Von daher hat die Hermeneutik vor allem zwei Wurzeln – entsprechend den zwei zentralen Wurzeln der europäischen Kultur: - die griechische Tradition, in der Texte als mündliche Erzählungen über Götter allegorisch (sinnbildlich, 'Orakel' ) ausgelegt wurden, (griffig, merkfähig für Analphabeten), schriftlich dementsprechend beginnend mit Dichtung (Illias) - und die jüdische mit einer wörtlichen Auslegung der heiligen Schrift als Dokument einer monotheistischen Offenbarungsreligion, in der nicht nur über, sondern auch von Gott gesprochen wird (10 Gebote). Beide Traditionen wurden vom frühen Christentum - als ursprünglich jüdischer Sekte, die sich im griechisch-römischen Kulturkreis zur Weltreligion entwickelte - übernommen. (Origenes, Augustinus). Für die Kirche - als nicht ursprünglich in die jeweilige Kultur integriert - wurde das Monopol der Auslegung der Bibel ein wichtiger Machtfaktor, wie etwa der Konflikt mit Luther um die deutsche, vom Volk lesbare Übersetzung der Bibel zeigt. Der Reformationsstreit war in Folge (auf kirchlicher Ebene) nicht zuletzt auch ein Streit um die korrekte Auslegung der Heiligen Schrift (und um die Frage, wer dazu berechtigt ist). Im Mittelalter etablieren sich neben der theologischen weitere fachspezifische Strömungen der Sinnauslegung, v.a. juridisch, philologisch-historisch – in fließendem Übergang von 'Kunstlehre' zu Wissenschaft. Im philosophischen Kontext finden wir den Begriff erstmals bei Platon und vor allem bei Aristoteles: 'peri hermeneias' – über die Aussage. Im modernen – methodischen - Gebrauch 12 etwa seit dem 17. Jahrhundert (Dannhauser 1629), auch schon als universale Hermeneutik gedacht. - 1. Modell: Friedrich Schleiermacher (1768-1834), Theologie- und Philosophieprofessor, etablierte im 19. Jahrhundert die Hermeneutik als wissenschaftliche Methode – als Kunstlehre des Verstehens - und gilt als Begründer einer allgemeinen Hermeneutik, die hinter die speziellen Hermeneutiken zurückgeht. Dabei thematisiert er Hermeneutik als Textinterpretation. Voraussetzung des Verstehens ist aus dieser Perspektive eine Sprachgemeinschaft Dabei kann 'verstehen' sich auf den Text selbst richten - 'grammatisches Verstehen': Was wird darin ausgedrückt? Welche Bedeutung haben die Worte,.. ? auf den Autor Lebenszusammenhang des Textes der Sinn beziehen, des Textes als das Subjekt, erwächst - aus dessen 'psychologisches Verstehen': Worauf will der Autor hinaus, was bezweckt er? Warum veröffentlicht er den Text zu diesem Zeitpunkt, in diesem Medium? Dies kann komparativ (vergleichend) auf das Allgemeine hin oder divinatorisch (vorausahnend) auf das Besondere hin erfolgen, indem sich der Interpret möglichst in den Autor des Textes hineinversetzt, in die Haut des Anderen schlüpft. Dies ist für Schleiermacher die wesentliche Methode. Er steht damit noch sehr in der Tradition der Unbestreitbarkeit der Vorlage (Bibel, Recht - Machtaspekte). Für Schleiermacher stellt 'Verstehen' somit einen Reproduktionsakt dar, ein Wiederherstellen eines einmal erzeugten Sinns. Verstehen ereignet sich im Zusammenspiel von grammatischem und psychologischem Verstehen im hermeneutischen Zirkel vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen zum Besonderen. "Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muss bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen, die es umgeben." 2. Modell: Wilhelm Dilthey (1833-1911), der Ende des 19. Jahrhunderts die Hermeneutik zur Leitmethode der Geisteswissenschaften aufwertete: Dilthey fasst – entsprechend seinem erweiterten Interesse an einer gemeinsamen geisteswissenschaftlichen Methode zur Erfassung kultureller Phänomene - verstehen weiter als Schleiermacher. Dementsprechend betont er zunächst den Aspekt des Verstehens als bewussten Akt (was bei Textinterpretation implizit ist): 13 Er unterscheidet zunächst elementares und höheres Verstehen: Zunächst erfolgt 'verstehen' auf einer elementaren Ebene: Eine hingehaltene Hand wird als Begrüßung verstanden, ein Lächeln als Freundlichkeit. Erst wenn dieses elementare 'Verstehen' gestört wird, wird man sich bewusst um 'verstehen' bemühen. Das erfolgt, indem man versucht, das Unverstandene in einen übergeordneten Sinnzusammenhang zu stellen (das Lächeln in einem Streit irritiert, es kann Hohn bedeuten, Versöhnung, etc., es ist nicht 'selbstverständlich'). Wilhelm Dilthey spricht von zwei Ebenen des Verstehens und nennt dieses Herstellen umfassender Sinnzusammenhänge 'höheres Verstehen': Da er nicht ausschließlich von Textinterpretation (obwohl er sich faktisch darauf konzentriert), sondern von Sinnobjektivationen im allgemeinen spricht, greift er als Voraussetzung des Verstehens auf eine allgemeinere Basis als Schleiermacher zurück: den 'objektiven Geist' Hegels. In Diltheys Auffassung von 'Verstehen' verschieben sich die Begriffe und ihre Bedeutung. Sowohl das elementare wie das höhere Verstehen kann in zwei Richtungen hin erfolgen: als psychologisches Verstehen und als Sinnverstehen. Psychologisches Verstehen beruht auf einem Sich-Einfühlen, Mitfühlen und schliesst derart am Begriff der 'Empathie' in der Psychologie an. Es ist emotional und subjektiv gefärbt. Auf der elementaren Ebene betrifft es etwa das Erkennen einer Emotion in seinem Kontext und seiner Bedeutung, auf höherer Ebene das Verstehen von Motiven einer Handlung, subjektiven Zwecken eines Produkts. Das Sinnverstehen beinhaltet hingegen eine sachliche Perspektive auf das zu Verstehende, es zielt nicht auf einen individuellen, sondern auf einen allgemeinmenschlichen Sinnzusammenhang hin. z.B.: Ein langsames Musikstück kann 'psychologisch' als traurig, melancholisch, romantisch etc. empfunden werden und das je nach Person anders und je nach Lebenszusammenhang wechselnd. Die harmonischen Strukturen, die Tempi, Betonungen, Paraphrasierungen, etc. sind jedoch nicht subjektiv und sie ergeben sich auch nicht aus der bloßen Tonabfolge, sondern stellen einen Sinnzusammenhang dar, der Verbindlichkeit beansprucht. z.B.: Ein Artikel, in dem ein Beitritt zur NATO und die Umstellung auf ein Berufsheer für Österreich gefordert wird, kann auf Ebene des psychologischen Verstehens unterschiedlich interpretiert werden: Als militaristisch, als Mut zur Wahrheit, als Versuch des Machterhaltes, als Sorge um die Zukunft. Die sachliche Bedeutung des Artikels, der Standpunkt des Autors und seine Begründung des Standpunktes, ist jedoch für jedermann nachvollziehbar, in dessen Verständnishorizont er liegt (elementar: der etwa Deutsch kann, lesen kann, höher: die Grundbegriffe und Grundgedanken der Diskussion kennt). 14 Das Sinnverstehen eines Textes, also das Erkennen seiner Aussage als Aussage in ihrer verbindlichen, sachlichen Bedeutung, ist die Aufgabe der Hermeneutik als Methode der Textinterpretation, das psychologische Verstehen interessiert in erster Linie als Unterstützung beim Auffinden dieses Sinnes. Ähnlich wie Schleiermacher in seinem divinatorischen Verstehen spricht Dilthey von 'Kongenialität' des Interpreten: Verstehen ist möglich als 'ein Wiederfinden des Ich im Du' (Dilthey 1961 nach Danner 1995, S. 68.), indem (und weil) man sein Leben in jede Art des Ausdrucks des eigenen Lebens und des Lebens Anderer hineinträgt (und derart Gemeinsames, Allgemeines auffindet). Damit ist für Dilthey jedoch 'verstehen' nicht mehr bloß Reproduktion, sondern Nachbilden, kreativer Akt: Es wird mehr und anderes verstanden, als im Bewusstsein des Autors liegt und zugleich überschreitet der Autor auch seinen eigenen Verstehenshorizont in dem des Anderen: Er lernt. Im hermeneutischen Gegenspiel von Allgemeinem und Besonderem betont Dilthey stärker als Schleiermacher das Allgemeine – wiederum aus seinem methodischen Interesse heraus verständlich (wissenschaftlicher Anspruch ist stärker auf Allgemeines fokussiert, als die Schleiermachersche Balance einer 'allgemeinen' Lehre zum Verständnis je individueller Texte). 3. Modell: Hans Georg Gadamer (1900 – 2002) als Vertreter einer philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, der Hermeneutik im Anschluss an Martin Heidegger neu fundiert: Bei Gadamer erhält die Person des Verstehenden eine weitere Stärkung. Er denkt die Grundidee Heideggers weiter, dass 'Verstehen' ein Modus der Daseins-Bewältigung, des Lebensvollzugs ist: Dasein ist das sich selbst bewusste Sein des Menschen – es ist verstehende Selbstauslegung der eigenen Existenz. Verstehen eines vorgegebenen Sinns ist ihm somit Begegnung mit einem Gegenüber, dass einem in seinem Handeln anspricht. Aus dieser grundlegend anderen – subjektivierten und nicht methodisch orientierten Herangehensweise an Verstehen bricht er mit den Vorstellungen Schleiermachers und Diltheys (und mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit). Verstehen wird bei ihm nicht dadurch ermöglicht, dass der Interpret sich in welcher Form auch immer in den Autor hineinversetzt, sondern durch die hermeneutische Situation, in der er steht und in der er dem Gegenüber 'begegnet'. Die hermeneutische Situation ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: - das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein (als individuelle Form der gemeinsamen kulturellen Sphäre): Das, was verstanden wird, ist nichts gänzlich Fremdes, es ist über seine 15 Wirkungsgeschichte in das eigene Vorverständnis eingegangen, ist Teil des Verstehenshorizontes. Dieses Fortwirken der historischen Fakten ist dem Verstehenden bewusst und ermöglicht es, den Zeitabstand zwischen Verstehendem und Verstandenem zu überbrücken. - die Applikation (Anwendung): Die Überbrückung erfolgt in der Anwendung. Da sich jeder Text an jemand richtet, hat sein Sinn Aufforderungsgehalt, der jeden Leser auch über die Zeit hinweg anspricht (Betonung des Besonderen im Spannungsfeld von Besonderem und Allgemeinen). Die Leistung des Verstehenden ist, diesen so auf sich zu beziehen als sei er – in seiner jetztigen Situation - der ursprünglich Gemeinte. Seine Interpretation ist nicht beliebig, weil ihm im Aufforderungsgehalt des Textes sein Standpunkt bereits vorgegeben ist. Verstehen ist damit keine Rekonstruktion der Perspektive des Autors mehr (Schleiermacher), kein 'Wiederfinden' seiner selbst im Anderen (Dilthey), sondern eine Vermittlung - eine Art 'Übersetzungsakt' - des vorgegebenen Sinngehaltes aus der konkreten Situation der Sinnzuschreibung in die Gegenwart des eigenen Lebens. In diesen Modellen finden wir somit auch eine zunehmende Stärkung der Leistung des Interpreten im Verstehensakt. Schleiermacher Dilthey Gadamer allg. Methode der Textinterpretation allgemeine Methode der Geisteswissenschaften Daseins-auslegung / Zurückdrängung des TechnischMethodischen Voraussetzung Sprachgemeinschaft objektiver Geist wirkungsgeschichtliches Bewusstein Gegenstand Text Sinnobjektivationen/ Kulturphänomene Dasein / Sinnobjektivationen Formen grammatisches V psychologisches V elementares V höheres V nicht wiss.-methodisch orientiert Perspektive des psychologischen V.: komparativ (aufs Allgemeine) Sinn-v. (aufs Allgemeine) nicht wiss.-methodisch orientiert Applikation(Anwendung) des Besonderen auf Vergleichbares Interesse psychologisch (aufs Besondere) divinatorisch (aufs Besondere) Betonung Balance im Zirkel Allgemeines- des Allgemeinen im Zirkel Besonderes Allgemeines-Besonderes des Besonderen im Zirkel Allgemeines-Besonderes Modell V als Reproduktion V als Wiederfinden V als Begegnung Sinngehalt SinnAutor SinnAutor SinnInterpret SinnInterpret SinnAutor SinnInterpret 16 Wie geschieht Verstehen? Zusammenfassend: Es existieren verschiedene Vorstellungen, auf welche Weise Verstehen möglich ist: auf allgemeiner Ebene o durch Vergleichen (Schleiermacher) o allgemeiner gefasst durch Erfassen übergeordneter Sinnkontexte (Dilthey) o subjektiver durch wirkungsgeschichtliche Einordnung auf 'besonderer' Ebene o dadurch, dass die Perspektive des Anderen eingenommen wird (Schleiermacher) o dadurch, dass das eigene Erleben im Anderen wiedergefunden wird (Dilthey) o dadurch, dass man sich vom Anderen (und vom Sinngehalt seiner Handlung) ansprechen lässt und dieses Ansprechen soweit notwendig 'übersetzt' (Gadamer) Bei unseren drei Autoren der Interpretationstexte finden wir noch weitere Bilder – ich empfehle, dass sie versuchen, diesen Raster auch auf Ihre Autoren anwenden. Beachten Sie besonders den Zusammenhang des Modells mit dem Erkenntnisinteresse ( die Unterschiede unserer drei historischen Modelle lassen sich auch davon ableiten, dass Schleiermacher Verstehen als Textinterpretation thematisiert, Dilthey als allgemeine wissenschaftliche Methode, Gadamer als subjektiv-existenzielle Auseinandersetzung mit der Welt. Ergänzung zur Lv: Ein 'Kochbuch' – dh. ein festes Regelwerk zum Vorgehen beim 'Verstehen' - existiert nicht. Was ich Ihnen – wie in der Lv angesprochen - anbieten kann, sind 'hermeneutische Fragen' - Perpektiven auf und Fragestellungen an den Text, die den Prozess des Verstehens unterstützen können. Einige wesentliche – aus unserer Diskussion ableitbare Fragestellungen (angelehnt an Danner 1998, S. 62f.) – habe ich in einem Arbeitsblatt aufgelistet, das Sie auf meiner Homepage finden. Dieses Fragestellungen sind NICHT in Ihrer Arbeit Punkt für Punkt abzuarbeiten, sie sollen eher als eine Art 'Controlling-checklist' Ihre Überlegungen begleiten und vielleicht neue Fragestellungen an den Text inspirieren. 17 Ergänzung zur Lv: Hermeneutik als Paradigma Wiederholung zum Begriff Paradigma: Als Paradigmen werden Komplexe aus Wissenschaftsverständnis, dazu passenden Theorien, Methoden, Forschungsinteressen, usw., bezeichnet. Thomas S. Kuhn, der diesen Begriff geprägt hat, versteht unter Paradigma eine wissenschaftliche Leistung, mit der ein Problem auf eine neuartige Art und Weise gelöst wurde und die seitdem als Vorbild und Grundlage für weitere wissenschaftliche Arbeiten anerkannt wurde und so routinierte Sichtund Vorgehensweisen etabliert. (vgl. dazu Kuhn 1997). Derartige Paradigmen dominieren oft das Erscheinungsbild ganzer Wissenschaftsbereiche (wie etwa Newtons Paradigma wesentlich für die Entwicklung und Ausrichtung der Naturwissenschaften war) und/oder formen wissenschaftliche 'Schulen'. Beispielhaft sollen im Folgenden zwei derartige Theorie-Methoden-Komplexe mit paradigmatischem Status vorgestellt werden, die auch im methodischen Bereich das wissenschaftliche Arbeiten der Gegenwart prägen: der kritische Rationalismus und die Hermeneutik. Die Hermeneutik (Auslegekunst) hat als Methode der Interpretation von Texten lange Tradition. Ihre größte Bedeutung erlangte sie Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch Wilhelm Dilthey, der sie als zentrale Methode der Geisteswissenschaften etablierte (was sie inzwischen so nicht mehr ist). Er schuf damit ein Gegengewicht zu den Naturwissenschaften, die aufgrund ihrer überlegenen empirischen Methoden das Wissenschaftsverständnis der damaligen Zeit insgesamt dominierten. Die Ausgangslage: Physik ist als Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts mit der Methode des naiven Induktionismus (Gesetzesentdeckung) im Gefolge und gemäß dem Paradigma Newtons überaus erfolgreich – 2. industrielle Revolution – und glaubt, alle wesentlichen Gesetze entdeckt zu haben, die es zu entdecken gibt und nur mehr ausdifferenzieren zu müssen. Um 1900 wird dieses Selbstverständnis allerdings – vor allem – durch zwei Einwände erschüttert: Wilhelm Dilthey - und andere – weisen darauf hin, dass ein wesentlicher Bereich der Welt, so wie sie uns begegnet, empirisch prinzipiell nicht erfasst werden kann: der der bedeutungsvollen Phänomene. 18 Albert Einstein - und andere – zeigen, dass das Weltbild im Newtonschen Paradigma auch auf naturwissenschaftlicher Ebene zumindest unvollständig ist (siehe kritischer Rationalismus). Einstein sagt, das stimmt so nicht. Die Hermeneutik ist nicht bloß eine Methode: Es gibt in der Zwischenzeit eine Vielzahl hermeneutischer oder hermeneutisch beeinflusster Methoden, die vor allem grundlegende Perspektiven im Weltbild und im Wissenschaftsverständnis gemeinsam haben, die auf Diltheys hermeneutisches Paradigma rückführbar sind: - Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist der Mensch in seinem Erleben – die Hermeneutik ist subjektivierend, d.h. sie geht vom Subjekt, von der Person aus, die sie nicht analytisch, sondern ganzheitlich und umfassend in ihrer Lebenswelt verstehen will. - Das Menschenbild der Hermeneutik sieht diesen in seinem Lebensvollzug, als historisches Wesen mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das seine Handlungen mit Bedeutung, mit Sinn ausstattet. Damit sind der Hermeneutik jedoch in ihrem kritischen Potential Grenzen gesetzt: Es fehlt ihr an einem un-bedingten oder auch nur externen Bezugspunkt, um diese Sinngebungen einer prinzipiellen Kritik zu unterziehen. (Diskreditierung im 3. Reich) Als grundlegende methodische Unterscheidung zum Empirismus der Naturwissenschaften formulierte Dilthey: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." (nach Bortz 1995, S. 278) (Reichweitenbeschränkung der Nawi) erklären und verstehen "Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig das Erfassen seiner Bedeutung: Irgendwelche Laute erkenne ich als Worte und erfasse deren Bedeutung. Erklären dagegen ist das Herleiten von Tat-sachen aus Ur-sachen, das Ableiten einer Gegebenheit von einem Prinzip. Die Fallgesetze erklären das Fallen des Steines."(Danner 1998, S. 36) Im Verstehen ist der Verstehende miteinbezogen. Er interpretiert die Bedeutung von etwas, das er als eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Handlungsprodukt erkennt. In der Erklärung hingegen wird ein gesetzmäßig, unabhängig vom Erklärenden ablaufender kausaler Zusammenhang festgestellt, d.h. ein untersuchtes Phänomen wird als Wirkung einer bestimmten Ursache identifiziert. z.B. Untersuchungsgegenstand: Zugangsbeschränkungen an Universitäten (vor dem Hintergrund grundsätzlicher bildungspolitischer Ausrichtung)? 19 Möglichkeit des verstehenden Vorgehens: Warum taucht dieses Problem auf? Welche Alternativen werden gesehen (in Literatur [Textinterpretation], von Experten [Interview], von Beteiligten [offener Fragebogen], etc.) und welche Gründe werden genannt? Alternativen mit Begründungen werden gesammelt, interpretiert, gewichtet und bewertet. Der Untersucher ist als Interpretierender beteiligt, nicht die Quantität, sondern die Qualität der Daten ist wesentlich, das Vorgehen ist induktiv, Verbindlichkeit ergibt sich aus der Nachvollziehbarkeit der Interpretation. Möglichkeit des erklärenden Vorgehens: Es werden gegebene Alternativen (auf Grund vorhandener Literatur, öffentlicher Diskussion, politischen Willenserklärungen etc.) vorgestellt, die jeweiligen Aufgaben der Universtität abgeleitet und daraus jeweils quantifizierbare Konsequenzen (Entlastungs- und Lenkungseffekte, Umstellungs-, und Erhaltungsaufwand, Ressourcenbedarf, dienstrechtliche Konsequenzen, etc.). Derart werden quantifizierbare Modelle gegenüberstellen entwickelt, und Prognosebedingungen: die beurteilen Wenn man man kann. jene auf Basis hoher Datenmengen (Ursachen-Wirkungsmodell Wirkung will, muss man diese unter Ursache herbeiführen. Vorgehen: deduktiv, operationalisiert, objektiv (unabhängig von Untersucher, intersubjektiv), nachvollziehbar (wiederholbar) in den Operationen). Beide Vorgehensweisen haben ihre Stärken und Schwächen, beide bieten sich vom Untersuchungsbereich her zur gegenseitigen Ergänzung (Hypothesenbildung und –prüfung), an, jedoch ergeben sich Schwierigkeiten vom Wissenschaftsverständnis her. In komplexen Fragestellungen werden dennoch oft beide Vorgehensweisen gemeinsam verwendet. Auch für die erklärende Vorgehensweise ist eine Methode, eingebunden in einen Komplex von passendem Wissenschaftsverständnis, Theoriegebilden, Erkenntnisinteressen etc., paradigmatisch: der kritische Rationalismus. Kritischer Rationalismus Der kritische Rationalismus Karl Poppers ist wohl nach wie vor als das einflussreichste Paradigma der Wissenschaft anzusehen. Er wurde in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt als Antwort des 'naturwissenschaftlich' geprägten Denkens auf die Kritik der Geisteswissenschaft und als Versuch eines Weges aus der Krise der Naturwissenschaften entwickelt und stellt einen Wendepunkt in deren wissenschaftstheoretischer Geschichte dar. (auch methodisch vom induktiven Entdecken zum deduktiven Ableiten) Vor allem die Physik als Leitwissenschaft der Jahrhundertwende (naiver Induktionismus) hatte durch die Arbeit Einsteins und anderer zur Kenntnis nehmen müssen, 20 - dass keineswegs, wie angenommen, die wesentlichen (physikalischen) Gesetze der Natur bereits alle entdeckt seien, - dass sich die bisherigen Paradigmen (etwa die Newtonschen Gesetze) als unzulänglich erwiesen hatten, obwohl sie experimentell vielfach bestätigt waren und - dass daher auch die bisher dominierende Methode unzureichend war: der 'naive' Induktivismus. Dieser war davon ausgegangen, dass man durch Beobachtung (Messung) objektiv wahre Daten erhalte, aus denen man induktiv auf Gesetzmäßigkeiten der Natur schließen könne. Diese könnten dann durch Tests bestätigt (verifiziert) werden und ermöglichen deduktive Erklärungen und Vorhersagen. Diese induktiv gewonnenen und empirisch gut bestätigten Theorien wurden aber nun durch übergreifendere theoretische Überlegungen – neuen Paradigmen folgend - erfolgreich in Frage gestellt. Der kritische Rationalismus Karl Poppers geht daher davon aus, - dass bereits Daten und Beobachtungsaussagen theorie- (und methoden-) abhängig seien und daher keinen sicheren Ausgangspunkt liefern - und dass zudem eine Theorie durch induktive Bestätigung nie bewiesen, sehr wohl aber deduktiv widerlegt (falsifiziert) werden kann. Dies entspricht auch den Regeln der Argumentationslogik. Hypothesen sind demnach deduktiv aus allgemeinen, spekulativ behaupteten Gesetzen abzuleiten und daraufhin zu prüfen, ob sie widerlegt werden können. Gelingt das nicht, gelten sie (und die zugrundeliegenden Theorien) als bewährt und vorläufig gültig. Wissenschaftsverständnis Diese der Umkehrung der Naturwissenschaften, Methode als es berührte die insofern Möglichkeit, das durch Beobachtung (Sinneserfahrung) objektive Wahrheiten zu erhalten, endgültig verwarf. Zentrale Grundannahmen wurden jedoch fortgeschrieben: - Gegenstandsbereich ist weiter die Welt, wie sie gesetzmäßig erkannt werden kann. Diese Gesetze werden angenommen auf Basis eines realistischen Weltbildes (der Annahme einer gegebenen Wirklichkeit - Korrespondenztheorie), sie werden empirisch (über die Sinneserfahrung) und quantifizierend überprüft und durch Objektivierung, d.h. durch Minimierung aller subjektiven, nicht verallgemeinerbaren Faktoren, legitimiert (gerechtfertigt). 21 - das Menschenbild ist ein kausales, d.h. es erfasst den Menschen, soweit er in seinem Verhalten und in seinen Widerfahrnissen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Das Freiheits- und das Sinngebungsmoment des Menschen kann derart nicht thematisiert werden. Klar ist, dass Poppers Rationalismus – faktisch als nächste Phase der Entwicklung – auf den Induktionismus aufsetzt: Schon seine deduktive Vorgehensweise wäre in den Naturwissenschaften ohne das zuvor induktiv gewonnene 'Set' an Naturgesetzen nicht denkbar. Die paradigmatischen Merkmale dieses Wissenschaftsverständnisses werden im folgenden Abschnitt noch einmal, detaillierter, angesprochen. quantitative und qualitative empirische Methoden Die beiden vorgestellten methodischen Paradigmen wurden als wesentlich für die Entwicklung der zwei traditionellen Wissenschaftsbereiche Geistes- und Naturwissenschaften beschrieben. Nun haben in den letzten Jahrzehnten jene Wissenschaften eine rasante Entwicklung erfahren, die den Menschen als 'Bürger beider Welten' (Kant) ansprechen: die Sozialwissenschaften. Dieser Bereich ist – wie letztlich auch die Geistes- und Naturwissenschaften, nicht präzise eingrenzbar. Näherungsweise meint er hier Wissenschaften, die den Menschen auch in seinem sozialen Kontext ansprechen und für die daher das hier vorzustellende methodische Repertoire relevant ist, etwa Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaften, Pädagogik. In den Sozialwissenschaften erscheint sowohl das Verstehen menschlicher Handlungen und Handlungsprodukte als auch das Erklären emprisch-experimentell fassbarer Phänomene relevant. Empirische Phänomene in diesem Bereich sind menschliche Handlungen und Handlungsprodukte und als solche bedeutungsvoll und verstehbar und zudem in hohem Ausmaß über verbale Daten, also Sprache, erfassbar. Es lag daher nahe, Methoden zu entwickeln, die vor allem über das Instrument der Sprache beide Ansätze zu vereinen suchen. Das tun die qualitativen empirischen Methoden: Phänomene der sozialen Realität sollen (empirisch) erfasst und verstanden werden. Vereinfacht gesagt, werden somit geisteswissenschaftliche Methoden – neben der Hermeneutik vor allem noch die Phänomenologie - auf einen bislang naturwissenschaftlich definierten Gegenstandsbereich angewendet und dessen Grundgegebenheiten angepasst. Qualitative Forschung hat inzwischen schon längst ein ganzes Repertoire anerkannter Methoden entwickelt (verschiedene Interview- und Befragungsformen, Inhaltsanalyse, Einzelfallstudie, teilnehmende Beobachtung, etc.) und beansprucht für sich, bei aller Heterogenität bereits eigenen Paradigmen zu folgen (etwa die exemplarische Studie von 22 Lazersfeld/Jahoda: die Arbeitslosen von Marienthal), die vor allem durch Abgrenzung von quantitativen empirischen Methoden beschrieben werden. Diese Abgrenzung soll im Folgenden an Hand einiger wichtiger Eigenschaftspaare dargestellt werden, die teilweise noch einmal die Unterscheidung zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Paradigma aufgreifen, teilweise auf den Gegenstandsbereich Bezug nehmen. Die Eigenschaftspaare beschreiben insgesamt zwei Paradigmen: das bedeutet, dass sie nicht für sich jeweils trennscharfe Unterscheidungskriterien angeben, sondern erst in der Zusammenschau eine klare Grenzziehung möglich ist. (Die folgende Unterscheidung über Eigenschaftspaare folgt im Wesentlichen aus qualitativer Perspektive Lamnek 1995, aus quantitativer Bortz/Döring 1995). quantitativ - qualitativ Diese Unterscheidung bezieht sich auf das zugrunde liegende Datenmaterial. Für naturwissenschaftliche Empirie sind quantitative, für geisteswissenschaftlich orientierte qualitative Daten relevant. Quantitative Daten sind solche, die in Zahlen abbildbar sind. Das ermöglicht relativ aufwandslose Vergleiche in unterschiedlichsten Datenverknüpfungen und mit eindeutigen Ergebnissen. Statistische Auswertungsverfahren, die in der quantitativen Empirie zentral sind, erlauben sehr differenzierte Aussagen, EDV-Unterstützung die Bearbeitung großer Datenmengen. Qualitative Daten sind in der Regel verbal, können jedoch prinzipiell jede sinnvolle, systematisch beobachtbare Handlung bzw. deren Produkt darstellen. Sie stellen, jedes für sich, eigene Qualitäten dar, sind daher nicht direkt miteinander vergleichbar, können aber den inhaltlichen Reichtum individueller Äußerungen berücksichtigen. Qualitative Daten sind in quantitative überführbar (mit entsprechendem Informationsverlust etwa durch Zählung der Häufigkeit von Antworten nach Kategorien), jedoch nicht umgekehrt. erklären-verstehen Die Unterscheidung erklärender-verstehender Modus gilt zwar als prototypisch für die beiden Methoden, gerade sie kann aber nicht absolut gesetzt werden. Ebenso wie bei qualitativen Methoden die Formulierung allgemeiner Sätze mit Erklärungsgehalt eine wesentliche Rolle spielt, arbeiten auch quantitative Methoden verstehend im Sinne einer Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen oder einer Berücksichtigung des Kontextes. Insgesamt kann aber gesagt werden, dass die quantitativen Methoden grundsätzlich ätiologisch (ursachenbezogen) und nomothetisch (Gesetze aufstellend), die qualitativen interpretativ (sinnauslegend) und idiographisch (das Individuelle darstellend) orientiert sind. 23 deduktiv-induktiv Auch hier formuliert die Unterscheidung eine grundsätzliche Ausrichtung und keine strenge methodische Abgrenzung. So sind in der quantitativen Empirie, die seit Popper deduktiv vorgeht, induktive Schlüsse etwa bei statistischen Verfahren der Generalisierung von Stichproben auf die Gesamtpopulation wesentlich. Dennoch wird oft der qualitativen Empirie wegen ihres induktiven, verstehenden Vorgehens vor allem Kompetenz im Bereich der Hypothesenbildung zugesprochen, der quantitativen, falsifikatorisch orientierten, im Bereich der Hypothesenprüfung. Tatsächlich werden bei komplexen Fragestellungen beide Methoden oft in diesem Sinn arbeitsteilig eingesetzt. Vor dem Hintergrund eines grundsätzlich unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisses lassen sie sich jedoch kaum auf diese ihre Stärken reduzieren. Labor - Feld Damit ist weniger der Untersuchungsort als vielmehr das Ausmaß der Kontrolle bei den Untersuchungsbedingungen gemeint. Quantitative Methoden üben hohe Kontrolle aus, um ein hohes Messniveau und damit falsifizierbare Ergebnisse zu erzielen, sie arbeiten in der Regel mit geschlossenen, standardisierten, operationalisierbaren Fragen, der Untersucher nimmt eine distanzierte Haltung ein. Dagegen halten qualitative Methoden die Kontrolle gering und nehmen oft eine teilnehmende Haltung ein, um 'Laboreffekte' zu vermeiden und eine möglichst lebensnahe Situation zu erhalten. objektiv - subjektiv Die quantitative Empirie folgt dem Leitbild einer 'objektiven Wissenschaft', das nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre Ergebnisse nachvollziehbar, d.h. hier unter gleichen Bedingungen wiederholbar sind. Das setzt voraus, dass ein Einfluss – und damit eine Beteiligung - des Untersuchers möglichst minimiert und das zu untersuchende Phänomen möglichst isoliert wird. Auch qualitative Methoden streben Objektivität im Sinne einer Nachvollziehbarkeit an. Das bedeutet hier aber, dass die Interpretation - die immer aus dem Verständnis des Untersuchers heraus, also unter Einschluss und Beteiligung seiner Person, d.h. subjektiv, erfolgt – von jedermann geistig nachvollzogen, also verstanden und geteilt werden kann und sich um Gründe für ihre Verbindlichkeit bemüht. Gegenüber dem untersuchten Phänomen bedeutet der Objektivitätsanspruch der qualitativen Empirie, dass dieses möglichst in seiner 'objektiven Realität', also in seiner tatsächlichen Situation beachtet wird unter Einschluss seiner Bedeutung, ganzheitlich und in seiner historischen Dimension, d.h. als Subjekt oder Produkt eines Subjekts. Qualitative Methoden sind somit 24 subjektiv auf eine Weise, dass sie gerade aus diesem Umstand heraus Verbindlichkeit, d.h. über das Beliebige hinausgehende Gültigkeit der Interpretation behaupten. 25