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INHALT
„Vorwörtliches“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen . . . . . . . . . . . . . . .
1. Sprachliche Vorverständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Zum Wortfeld um ρμηνεειν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Motive der allegorischen Mythendeutung . . . . . . . . . . .
4. Philo: Die Universalität des Allegorischen . . . . . . . . . . .
5. Origenes: Die Universalität des Typologischen . . . . . . .
6. Augustin: Die Universalität des inneren Logos . . . . . . .
7. Luther: sola scriptura? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8. Melanchthon: Die Universalität des Rhetorischen . . . . .
9. Flacius: Die Universalität des Grammatischen . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik . . . . . . . . .
1. Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit .
2. Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen . . . . .
3. Meier: Die Universalität des Zeichenhaften . . . . . . . . . .
4. Pietismus: Die Universalität des Affektiven . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher . . . . . .
1. Der nachkantische Übergang von der Aufklärung zur
Romantik: Ast und Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Schleiermachers Universalisierung des Mißverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik? . .
4. Der dialektische Boden der Hermeneutik . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Einstieg in die Probleme des Historismus . . . . . . . . . . . . . . 115
1. Boeckh und das Aufdämmern der geschichtlichen Bewußtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
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Inhalt
2. Droysens Universalhistorik: Verstehen als Erforschung
der sittlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
3. Diltheys Weg zur Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
V. Heidegger: Hermeneutik als Selbstaufklärung der Existenzialen Ausgelegtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Das sorgende Voraus des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Dessen Durchsichtigkeit in der Auslegung . . . . . . . . . . .
3. Die Idee einer philosophischen Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Abkünftiger Status der Aussage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Hermeneutik aus der Kehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Gadamers Universalhermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Zurück zu den Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . .
2. Hermeneutische Selbstaufhebung des Historismus . . . .
3. Wirkungsgeschichte als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Anwendendes weil fragendes Verstehen . . . . . . . . . . . . .
5. Sprache aus dem Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Die Universalität des hermeneutischen Universums . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Die Hermeneutik im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Bettis epistemologischer Rückgang zum inneren Geist
2. Habermas’ Kritik der Verständigung im Namen der
Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Postmoderne Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
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I. ZUR VORGESCHICHTE DES HERMENEUTISCHEN
1. Sprachliche Vorverständigung
Die Entwicklung einer ausgesprochen hermeneutischen Reflexion
trägt die Signatur der Moderne. Wie im vorigen mit Hilfe von Nietzsche und Habermas ausgeführt wurde, zeichnet sich das moderne
Weltbild durch sein perspektivistisches Selbstbewußtsein aus. Erst
wenn feststeht, daß Weltansichten keine schlechthinnigen Verdoppelungen der Realität, wie sie an sich ist, sondern pragmatische, d. h. in
unseren sprechenden Weltbezug einbegriffene Interpretationen darstellen, kann Hermeneutik entstehen. Das geschieht erst in der Moderne. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, wenn das Wort hermeneutica erst im 17. Jahrhundert auftaucht. Einsichten der Moderne lassen
sich aber in die Antike zurückverfolgen, deren Kosmos viel weniger
eintönig war, als es das übliche Klischee will, das nicht zuletzt von
den Liebhabern der „Alten“ konstruiert wurde. Neben den rationalistischen Eleaten und Platonikern gab es eine Reihe von relativistischen Sophisten, die bestens um die machtbedingte Perspektivität
menschlichen Ermessens Bescheid wußten. Es ist somit fraglich, wie
weit die Geschichte der Hermeneutik zurückreichen muß. Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter Hermeneutik verstehen will. Zur Eingrenzung unseres Themas sind also sprachliche
Wegmarken erforderlich.
Das Wort Hermeneutik ist im heutigen Sprachgebrauch von einer
enormen Verschwommenheit heimgesucht, die, wie es von fast allen
Philosophemen gilt, zu seiner Hochkonjunktur beigetragen haben
mag. Begriffe wie Hermeneutik, Deutung, Auslegung, Exegese, Interpretation werden oft als Synonyma verwendet. Eine Interpretation
von Hegel z. B. kann sich heute umstandslos für eine Hermeneutik
Hegels ausgeben.1 „Hermeneutische Vorüberlegungen“ sind gleichbedeutend mit Vorklärungen zum jeweiligen Interpretationshebel.
Der terminologischen Eingrenzung halber empfiehlt es sich, den Begriff der Hermeneutik enger zu fassen und darunter zuallererst eine
Theorie der Interpretation zu verstehen. Dabei kann unbestimmt
bleiben, was Theorie besagen soll, denn jede Hermeneutik hatte auch
eine verschiedene Auffassung dessen, was von einer hermeneutischen
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
Theorie zu erwarten sei. Für die einen sollte diese Theorie eine
Kunstlehre (Schleiermacher) sein, d. h. eine methodische Regelanweisung für den Umgang mit Texten, deren Aufgabe vorwiegend technisch-normativer Natur war. Sie wollte lehren, wie man interpretieren soll, um die Beliebigkeit im Universum der Interpretation auszumerzen. Für die anderen soll die Hermeneutik auf diese technische
Aufgabe Verzicht leisten, um die umfassendere Gestalt einer philosophischen oder phänomenologischen Analyse des ursprünglichen Phänomens der Interpretation bzw. des Verstehens anzunehmen. In ihrer
phänomenologischen Spielart lehrt die Hermeneutik anscheinend
nicht mehr, wie man interpretieren soll, sondern wie de facto interpretiert wird. Grundsätzlich kann man es entweder mit einer normativ-methodischen oder mit einer phänomenologischen Hermeneutik
zu tun haben.
Die Reichweite des Interpretationsbegriffs ist auch variabel. Behauptet man etwa, Sprache sei als solche immer schon Interpretation,
so wäre eine Theorie der Interpretation eine allgemeine Theorie der
Sprache oder des Wissens. Selbst wenn Sprache unabdingbar Interpretation mit einschließt, würde dies aber kaum einen Gegenstand für
eine geschichtliche Einführung in die Hermeneutik hergeben (in diesem Zusammenhang werden wir gleichwohl vom hermeneutischen
Beitrag zur Sprachphilosophie handeln). Auch hier erscheint es geboten, einen engeren Interpretationsbegriff heuristisch zu gebrauchen.
Demgemäß tritt Interpretation erst dann in Erscheinung, wenn ein
fremder oder als fremd empfundener Sinn verständlich gemacht werden soll. Das Interpretieren ist somit ein Verständlichmachen oder
ein Übersetzen von fremdem Sinn in Verständliches (nicht notgedrungen in Vertrauliches, weil Unvertrautes als solches dem Verständnis erschlossen werden kann). Mit diesem Vorgang der Interpretation hat es die hermeneutische Theorie zu tun. Er erscheint als
sekundär, wenn man ihn für einen winzigen Ausschnitt der menschlichen Erfahrung hält, nimmt aber universale Relevanz an, sobald
man gewahr wird, daß alle menschlichen Tätigkeiten einen gewissen
Prozeß des Verständlichmachens, sei es nur als fernen Telos, zur
Grundlage haben. Davon wird schließlich der Universalitätsanpruch
der Hermeneutik Zeugnis ablegen. Erst im 20. Jahrhundert ist diese
Universalität dem philosophischen Bewußtsein aufgegangen. Früher
wurde der Vorgang der Interpretation bis auf wenige Ausnahmen als
ein spezielles Problem behandelt, dessen eine normative Hilfsdisziplin innerhalb der auslegenden Wissenschaften Herr werden wollte.
Eine konsequente Geschichte der Hermeneutik muß ihrer Selbst-
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Sprachliche Vorverständigung
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vergewisserung wegen auf ihre „provinziellen“ Ursprünge zurückkommen. Interessant für die Erschließung ihrer Archäologie ist der
Umstand, daß es gewisse Achsenzeiten der Hermeneutik, sozusagen
Schaltepochen, in denen das Problem der Interpretation etwas brennender wurde, gegeben hat. Selbst wenn sie des öfteren aus dem
Nachher, nämlich von der Warte der heutigen Geschichtsschreibung
aus, festgestellt wurden, waren es vor allem Erfahrungen des Traditionsbruches, die das Problem der Interpretation und ihrer hermeneutischen Theorie zu erneuter Brisanz gedeihen ließen. So wurde
beispielsweise in der nacharistotelischen Philosophie eine Theorie der
allegorischen Mythendeutung entwickelt, um die unvertraut und anstößig gewordenen Mythen einer rationalisierenden Auswertung zu
unterwerfen, die fremden Sinn in neue Aktualität verwandelte. Die
Ausglättung des Traditionsbruches geschah dabei oft genug um den
Preis auslegender Gewaltsamkeit. Ebenso mußte die Verkündigung
Jesu, die die jüdische Überlieferung hintanzustellen schien, eine besondere Besinnung auf die Prinzipien der Interpretation hervorrufen.
Für das frühe Mittelalter überhaupt mußte die Interpretation einen
bevorzugten Platz einnehmen, beruhte doch sein ganzes Wissen auf
der Exegese der Heiligen Schrift und der Schriftsteller der Antike.
Die Umwandlung der mittelalterlichen Hermeneutik durch die
Norm der sola scriptura in der Reformation wurde zu einem neuen
Antrieb der hermeneutischen Reflexion. So wird in ihr oft, so z. E.
bei Dilthey, der Beginn der Hermeneutik gefeiert. Es muß aber auffallen, daß die hermeneutischen Traktate, die die Reformation in ihrer
Auseinandersetzung mit der katholischen Orthodoxie produzierte,
von Regeln wimmelten, die der Rhetorik und den Kirchenvätern entnommen waren, so daß sich diese Achsenzeit oder Geburtsstunde der
Hermeneutik weit weniger umstürzlerisch ausnimmt, als in der klassischen, der protestantischen Theologie verpflichteten Geschichtsschreibung der Hermeneutik angenommen wird.
Im 17. Jahrhundert, angefangen mit J. C. Dannhauer, sprossen
viele, heute fast vergessene Hermeneutiken oder allgemeine Auslegungslehren hervor, mit dem Ziel, im Geist des Rationalismus methodische Regeln für die Herausstellung des wahren Sinnes von Textstellen vermitteln zu wollen. Angeregt durch die kopernikanische Revolution Kants, die der Subjektivität eine neue, konstitutive Rolle im
Erkenntnisprozeß einräumte, erfolgte in der Romantik ein neuer
Umbruch, der sich auf den Vollzug des „Verstehens“ konzentrierte,
aber auch hier unter weitgehender Umwandlung älteren Materials
aus der Tradition der Rhetorik. Der Subjektivierungsstoß der Kanti-
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
schen Kritik beschwor im späteren 19. Jh. die Herausforderung des
Historismus herauf, die die hermeneutische Theorie radikal vor das
relativ neue, weil vom Aufschwung der Naturwissenschaften nahegelegte Problem der Objektivität der Geisteswissenschaften stellte. Bei
Autoren wie Boeckh, Dilthey und Droysen wurde das Kantische Desiderat einer Kritik der historischen Vernunft laut. Die Zukunft der
Hermeneutik schien nunmehr in der Methodologie der Geisteswissenschaften aufgehoben zu sein. Just der Entfremdungsprozeß, den
die Obsession mit der Methodologie und der Erkenntnistheorie in
der Philosophie verursachte, führte bei Heidegger zur philosophischen Universalisierung und Radikalisierung der Hermeneutik. Das
„Verständlichmachen“, das die hermeneutische Bemühung von Anfang an in Atem hielt, wurde nicht mehr ein Epiphänomen am Rande
der textverbundenen Wissenschaften, sondern zum grundlegenden
Existential für ein der Zeit unterstehendes Wesen, dem es in seinem
Sein um dieses Sein selbst geht. Bis hin zu Gadamer und Habermas
ist dies der Horizont der unwiderruflich philosophisch gewordenen
Hermeneutik geblieben.
Bis dahin war die Geschichte der Hermeneutik vielleicht bloß eine
„Vorgeschichte“ gewesen. Ihre wichtigsten Stationen sollen uns jetzt
beschäftigen. Wir setzen bei einer etymologischen Rückbesinnung
an.
2. Zum Wortfeld um ρμηνεειν
Die Idee, daß die Hermeneutik die Verständlichmachung von
Sinn zum Gegenstand hat, findet einen ersten Anhalt in der Etymologie. Seit G. Ebeling2 pflegt man drei Bedeutungsrichtungen von
ρμηνεειν zu unterscheiden: ausdrücken (aussagen, sprechen), auslegen (interpretieren, erklären) und übersetzen (dolmetschen). Daß
sich die beiden letzten Funktionen durch dasselbe Verb wiedergeben
lassen, ist nicht schwer einzusehen, denn das Übersetzen, die Übertragung von fremd vorkommenden Lauten in vertrauliche Rede, ist in
gewissem Sinne ein Interpretieren. Der Übersetzer hat ja zu erklären
oder verständlich zu machen, was ein fremder Sinn sagen will. So
bleiben zwei Grundbedeutungen von ρμηνεειν übrig: ausdrücken
und interpretieren. Auch hier läßt sich ein gemeinsamer Nenner fassen, denn man hat es im Grunde in beiden Fällen mit einer ähnlichen,
auf Verständnis zielenden Bewegung des Geistes zu tun, nur daß sie,
wie es J. Pépin3 formuliert hat, einmal nach außen, das andere Mal
nach innen gerichtet ist. Beim „Ausdrücken“ gibt der Geist sozusa-
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Zum Wortfeld um ρμηνεειν
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gen seine inneren Gehalte nach außen hin zur Kenntnis, während das
„Interpretieren“ den geäußerten Ausdruck auf seinen inneren Gehalt
hin zu durchschauen strebt. In beiden Richtungen gehe es also um
eine Verständlichmachung oder Sinnvermittlung. Das Aussagen gibt
ein „Inneres“ kund, während das Interpretieren den inneren Sinn
hinter dem ausgedrückten (zurück)sucht. Es empfiehlt sich also, zwischen einer rhetorischen und einer ausgesprochen hermeneutischen
Sinnvermittlung zu unterscheiden: Während die erste ad extra geht,
verläuft die andere umgekehrt vom Ausdruck auf seinen „inneren“
Gehalt hin oder – um psychologistische Verengung zu vermeiden –
auf das, was ein Ausdruck zu sagen hat (Gehaltsinn). So verstand die
gesamte Tradition das Interpretieren als die Umkehrung des Aktes
des Redens, bis hin zu Schleiermacher.4 Dies erklärt auch, warum die
meisten hermeneutischen Regeln direkt der Rhetorik entnommen
wurden, u. a. die Tropenlehre und der sog. hermeneutische Zirkel,
wonach das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen sei. Die wichtigsten Vermittler waren dabei, wie wir sehen werden, die Rhetoriklehrer Augustin und Melanchthon, die die Auslegekunst nach dem Vorbild des viel reicheren Rhetorikcorpus ausrichteten.
Die Griechen verstanden aber offenbar das Aussagen selber als ein
„Interpretieren“, ein ρμηνεειν. Die ausgesagte Rede ist lediglich
die Übertragung von Gedanken in Worten. So konnte Aristoteles’ logisch-semantische Schrift ›Peri hermeneias‹, die vom wahr oder falsch
sein könnenden Aussagesatz (dem λ
γος ποφαντικ
ς5) handelt,
durchweg durch ›De interpretatione‹ auf Latein wiedergegeben werden. Die Aussage (ρμηνεα) ist stets die Übertragung von Gedanken
in der Seele (von Innerem also) in äußere Sprache. Der Satz ist insofern der Mittler zwischen den Gedanken und dem Adressaten. Diese
griechische Auffassung der Rede gipfelt in der stoischen Unterscheidung zwischen dem λ
γος προφορικ
ς und dem λ
γος νδιετος
(dem ausgesprochenen und dem inneren λ
γος). Der erste bezieht
sich nur auf den Ausdruck (ρμηνεα), während der letztere dessen
Inneres, das Gedachte (διανοα)6 anvisiert. Die ρμηνεα ist nichts als
der in Worte gefaßte Logos, seine Ausstrahlung ad extra. Wer hinwiederum das gesprochene Wort auslegen will, muß den umgekehrten
Weg nach innen, zum λ
γος νδιετος zu gehen versuchen. Das
ρμηνεειν erweist sich also durchaus als ein Vorgang der Sinnvermittlung, die vom Äußeren auf ein Inneres von Sinn zurückgeht.
Der Begriff der Hermeneutik gilt gewöhnlich als eine Schöpfung
der Neuzeit. Dies ist wohl richtig, sofern man nur die lateinische hermeneutica im Auge hat. Dieser Terminus ist aber nichts anderes als
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