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Die Wissenschaft in der Lebenswelt
von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin
1
Theoretischer und praktischer Universalismus
In seinem Buch über den Kampf der Kulturen1 - den „clash of civilizations“ zeichnet Samuel P. Huntington ein Bild der europäischen kulturellen Tradition,
das diese in ihren Grundzügen möglichst prägnant charakterisieren soll.
Huntington verfolgt dabei - wie der deutsche Untertitel seines Buches schon
hervorhebt - das Ziel einer politischen Analyse. In diesem Rahmen untersucht
er denn auch die militärischen und kommerziellen Rahmenbedingungen für die
Beziehungen der Kulturen zueinander. Dabei betont er besonders stark die
jeweiligen religiösen Vorstellungen und Verbindlichkeiten, denen Huntington
eine zentrale Stellung für die jeweilige kulturelle Identität zuschreibt. Was dann
aber als „Ideenfundament“ Europas bleibt, sind der westliche Universalismus2,
sind die Menschenrechte und die Demokratie3 und ist als „Inbegriff der
westlichen Kultur“, der Individualismus4.
Tatsächlich lassen sich der Universalismus auf der einen und der
Individualismus auf der anderen Seite als zwei wesentliche Orientierungen
unserer westlichen Kultur ansehen. Durch sie wird deren rationale, deren
moralische und schließlich auch deren emotionale Qualität charakterisiert. Und
alle diese Qualitäten sind zuinnerst verbunden mit einer besonderen Dimension
dieser unserer Kultur, nämlich mit der Dimension der Wissenschaften und der
durch sie gestützten Technik. Während allerdings für den Bereich der
▬
1 Samuel P.Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die
Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von
Holger Fliessbach. München / Wien [Europa Verlag] 1996. (Originalausgabe: The
Clash of Civilizations. New York [Simon & Schuster] 1996
2
3
4
Ebd., S. 291-296.
Ebd., S. 307-316.
Ebd., S. 343.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
2
Wissenschaften ein Universalismus im Sinne der Allgemeingültigkeit
wissenschaftlich begründeter Aussagen - zumindest als Ziel und Anspruch - zu
den Selbstverständlichkeiten des Wissenschaftsverständnisses gehört, ist dies
für eine ethischen Universalismus nicht der Fall. Der einen wissenschaftlichen und man könnte hinzufügen: wie auch der einen technischen und
kommerziellen - Welt stehen sich auf dem Markt der Meinungen viele und
widersprüchliche Welten der Moral und des Rechts gegenüber. Hier scheint ein
Universalismus nichts anderes zu bedeuten als einen unberechtigten Übergriff
der einen Kultur auf das Leben einer anderen Kultur bzw. aller anderen
Kulturen. Theoretischer Universalismus ja, praktischer Universalismus nein. So
könnte man die Situation auf eine Kurzformel bringen. Und noch einmal anders
gesagt: Der theoretische Universalismus der Wissenschaften definiert deren
Rationalität. Der praktische Universalismus von Moral- und Rechtsvorstellungen
kommt hingegen dem Versuch einer Kolonialisierung gleich und hat es nur mit
dem Willen zur Macht auch über andere und anderes und jedenfalls nichts mit
Rationalität im wissenschaftlichen Sinne zu tun.
2
Multikulturalismus und Universalismus
Die Reaktionen auf diese Situationen sind verschieden. Sie lassen sich
zwischen zwei polaren Extrempositionen anordnen, von denen die heutigen
Diskussionswellen im allgemeinen ausgehen.
Die eine Extremposition beansprucht die Einsicht in die kulturelle Vielfalt
der alltäglichen Lebenswelten mit der Aufkündigung auch des theoretischen
oder wissenschaftlichen Universalismus. Selbst die Logik und die
Mathematik, beide zum Allerheiligsten der wissenschaftlichen Rationalität
zählend, werden dabei zur Disposition gestellt und zu einem Sonderweg
der westlichen Traditionen erklärt.
Die entgegengesetzte Extremposition sieht dagegen in der kulturellen
Vielfalt der Lebenswelten ein Indiz lediglich für das jeweils erreichte Maß
der unbezweifelten allgemeinen Rationalität, die ein Maß für jede Kultur
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
3
darstellt. Die verschiedenen Kulturen erscheinen dann auf einer
Entwicklungslinie von stark traditionsgebundenen bis hin zu fortschrittlichen
Gesellschaften. Der kulturelle Fortschritt einer Gesellschaft bemisst sich
dabei im allgemeinen nach den Kriterien der mathematisch und technisch
begründeten Wissenschaften und einer in deren Sinne effektiven sozialen
Organisation.
Jeweils auf eine Formel gebracht, lassen sich die beiden Extrempositionen zu
den Thesen verdichten:
Die unbestreitbare kulturelle Vielfalt schließt auch die Wissenschaften und
die Technik ein. Dies wäre die Position eines universalen
Multikulturalismus.
Die Rationalität der Wissenschaften und der Technik gilt als Maßstab des
Denkens und Handelns auch für die verschiedenen Kulturen. Dies wäre die
Position eines kulturübergreifenden Universalismus.
Wie fast immer, so denke ich, liegt auch hier die Wahrheit irgendwo zwischen
den Extremen.
Aber selbst mit dieser Bemerkung gerate ich in die Gefahr, mich auf
Extrempositionen einzulassen. Denn wer würde nicht bei der Rede von der
Wahrheit an unerschütterliche Gewissheitsansprüche und deren ebenso heftige
Relativierungen denken? Diesem Streit möchte ich mich hier nicht aussetzen.
Worum es mir geht, ist eine vertretbare Orientierung im Umgang mit den
verschiedenen Positionen zum Universalismus - und zwar eine Orientierung,
die sich in diesem Umgang und aufgrund dieses Umgangs dann auch durchaus
verändern kann.
3
Wissenschaft und Verallgemeinerung
Doch damit zurück zu meiner Frage nach dem westlichen Universalismus und
seiner möglichen Berechtigung. Wissenschaft muss verallgemeinern. Sonst ist
sie keine Wissenschaft. Im Grunde, so könnte man sagen, besteht die
Wissenschaft darin, über das möglichst verlässlich etwas zu sagen, was sie
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
4
nicht im einzelnen untersucht hat. Oder noch pointierter gesagt:
Erfahrungswissenschaft besteht darin, über die tatsächlich gemachten
Erfahrungen hinauszugehen. Das, was wir gesehen haben, macht zwar ein
Wissen aus, begründet aber noch keine Wissenschaft. Die beginnt erst dort, wo
wir aus dem, was wir gesehen oder gehört, was wir überhaupt in irgendeiner
Weise erfahren haben, Folgerungen ziehen, die über das tatsächlich Erfahrene
hinausgehen.
Aber auch, wenn uns dies gelingt, müssen unsere Folgerungen noch keine
Wissenschaft begründen. Denn solche Folgerungen können auch auf unserem
Urteilsvermögen, unserem Feingefühl, auf unserer praktischen Erfahrung
beruhen. Unsere handwerklichen Traditionen sind ein gutes Beispiel für die
praktische Begründung solcher Folgerungen. Wissenschaft verlangt darüber
hinaus ihre Lehrbarkeit, und zwar ihre im Prinzip unbegrenzte Lehrbarkeit. Nur
weil wir Wissenschaft auf diese Weise, nämlich als eine lehrbare Fertigkeit
betreiben, machen unsere Schulen und Hochschulen, macht Wissenschaft als
Institution einen Sinn.
Eine solche offene Lehr- und Lernbarkeit von Wissen ergibt sich aber nur,
wenn der Erwerb und die Weitergabe dieses Wissens nicht an individuelle
Situationen oder Personen gebunden ist, wenn - mit anderen Worten - dieses
Wissen in sich selbst eine verallgemeinerte Form besitzt. Für den Philosophen,
Logiker und Mathematiker Alfred North Whitehead besteht das wahre Wesen
der Kultur - er sagt „the very essence of civilization“ -, ja die Kultur selbst, darin,
Begriffe von einer großen und angemessenen Allgemeinheit zu bilden und zu
nutzen.
„Zivilisierte Wesen sind solche, die die Welt mit einer hinreichend
großen Allgemeinheit des Verstehens überblicken.“5
5
Zunächst stellt Whitehead fest: „Systematization is the criticism of generality by
methods derived from the specialism of science. It presupposes a closed group of
primary ideas.“ Dann fügt er hinzu: „In another aspect philosophy is the entertainment of
notions of large, adequate generality. Such a habit of mind is the very essence of
civilization. It is civilization. The hermit thrush and the nightingale can produce sound of
the utmost beauty. But they are not civilized beings. They lack ideas of adequate
generality respecting their own actions and the world around them. Without doubt, the
higher animals entertain notions, hopes, and fears. And yet they lack civilization by
reason of the deficient generality of their mental functionings. Their love, their devotion,
their beauty of performance, rightly claim our love and our tenderness in return.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
4
5
Kritik der Verallgemeinerung als Kritik des
Verfügungswissens
Gerade dieser Punkt ist zum Hauptärgernis der Wissenschaftskritik geworden.
Und seit Friedrich Nietzsche hat sich diese Kritik am „Moloch der Abstraktion“6
oder, wie es Theodor W. Adorno dann formuliert, an der „logische[n]
Höllenmaschine“7 mit einer allgemeinen Kultur- oder Gesellschaftskritik
verbunden. Verallgemeinerungen sind das Ergebnis einer seelenlosen Routine,
mit der man die konkrete Erfahrung der lebendigen Individuen ausblendet, mit
der man dem Leben seine Erlebnisqualität, seine emotionale Bedeutung nimmt,
mit der man den Menschen nur noch als austauschbares Objekt von
Maßnahmen, sei es eines unpersönlichen Denkens, sei es eines gesichtslos
verwaltenden Handelns, sieht. Verallgemeinernde Wissenschaft, so wäre zu
folgern, ist letztlich ein Produkt der Inhumanität.
Weniger extrem, aber durchaus in derselben Richtung, argumentieren
heute manche Vertreter einer alternativen, nämlich ökologischen, oder einer
multikulturellen, nämlich kulturrelativen, Wissenschaft. Und auch in diesen
Argumentationen wird das alternative oder kulturrelative
Wissenschaftsverständnis aus einer allgemeineren Kultur- oder
Gesellschaftskritik abgeleitet.
Die experimentgestützte Wissenschaft gilt in einem gewissen Sinn als
gewalttätig. Werden doch in den Experimenten die natürlichen Bedingungen
künstlich zugerichtet, werden Abläufe in einem abgedichteten Bereich in Gang
gesetzt und als isolierte Systeme aufgebaut. Experimente zwingen die uns
umgebende Natur in ein Labor. Sie begradigen die komplexen
6
7
Civilization is more than all these; and in moral worth it can be less than all these.
Civilized beings are those who survey the world with some large generality of
understanding.“ (Alfred North Whitehead, Modes of Thought. New York [The Free
Press. A Division of Macmillan Publishing Co., Inc.] 1968, S. 3f.)
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Abschnitt 11. In:
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta. Zweiter
Band. München [Carl Hanser] 1966, 71973, S. 1172.
Theodor W. Adorno, Einleitung, in: ders. u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der
deutschen Soziologie. Neuwied / Berlin [Luchterhand] 1969, S. 8.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
6
Zusammenhänge, in denen wir tatsächlich leben, zu beherrschbaren Abläufen.8
Die Beherrschbarkeit der Abläufe im Labor erlaubt die Form des Wissens, die
durch die Universalisierbarkeit definiert ist. Denn das, was ich immer wieder in
gleicher Weise in Gang setzen und kontrolliert ablaufen lassen kann, das kann
ich auch im Prinzip für jedermann jederzeit und überall beweisbar darstellen.
Und da die neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht schon durch die
Modelle des Verstehens und Erklärens und auch nicht schon durch eine
hinreichend entwickelte Mathematik, sondern erst durch das Experiment
möglich geworden sind, liegt der Schluss nahe, dass die Entwicklung der
neuzeitlichen Naturwissenschaften insgesamt auf dem Willen zur Beherrschung
der Natur gründet und dass unser wissenschaftliches Wissen daher im Kern ein
Verfügungswissen ist. Tatsächlich sind diese Folgerungen gezogen worden. So
verschiedene Denker wie der existenzanalytische Martin Heidegger und der
gesellschaftskritische Theodor W. Adorno sind sich darin einig, dass die
neuzeitliche Naturwissenschaft ein Wissen der Berechnung und Beherrschung,
des Herstellens und Verfügens produziert.
5
Die ökologische Wissenschaftskritik
Es ist diese, vor allem den neuzeitlichen Naturwissenschaften unterstellte,
Mentalität des Berechnen- und Beherrschenwollens, gegen die man glaubt,
eine alternative Wissenschaft propagieren zu müssen, die nicht mehr oder doch
nicht mehr nur berechnen und beherrschen, sondern belassen und sich
einfügen will: sei es in die Natur oder sei es in die jeweilige Kultur, in der wir
leben. Und methodisch will eine solche Wissenschaft auf Empirie als auf den
Grund ihrer Verlässlichkeit zwar nicht verzichten, sich dabei aber Goethes Ideal
einer „zarte[n] Empirie“ verpflichten, „die sich mit dem Gegenstand innigst
8
Vgl. dazu die Darstellung in Holm Tetens, Experimentelle Erfahrung. Eine
wissenschaftstheoretische Studie zur Rolle des Experiments in der Begriffs- und
Theoriebildung der Physik. Hamburg [Felix Meiner] 1987. S. hier vor allem die
Einleitung und Kap.1 über „Das physikalische Experiment und die Konzeption der
experimentalistischen Kausalität“, S. 1-41. Unter anderem wird hier das Experiment als
„Isolation kausal relevanter Umstände“ und als „Begradigung von Verläufen“
charakterisiert. (S. 29-32)
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
7
identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“ 9 Schon Francis
Bacon könnte man in diesem Sinne als Kronzeugen gewinnen, wenn er nämlich
in seinem Novum Organon von 1620 die Maxime aufstellt: „Natura enim non
nisi parendo vincitur.“10 „Die Natur lässt sich nur durch Gehorsam besiegen.“11
Beispiele für diesen Gehorsam gegenüber der Natur liefern denn häufig die
Erfahrungs- und Wissenstraditionen, die sich in vor- oder eben nichtindustriellen Gesellschaftsformen entwickelt und zum Teil bis heute erhalten
haben. Die Kritik an dem Beherrschungswillen, den man den neuzeitlichen
Naturwissenschaften eingepflanzt glaubt, geht bis hin zur Forderung einer
„Rechtsgemeinschaft der Natur“, die einem Wald oder einer Landschaft Rechte
zuschreibt:12 Eine entsprechende Rechtfertigungspflicht würde, so der Autor
Klaus-Michael Meyer-Abich, zwar die Durchsetzung der menschlichen
Interessen etwa auf Kosten des Waldes nicht immer verhindern, sie aber
wesentlich verändern:
„Die animistische Regel, sich bei einem Baum zu entschuldigen,
bevor man ihn fällte, half dem Baum, dem gegenüber sie
ausgesprochen wurde, ja auch nichts mehr. Sondern hier sagte z.B.
ein junges Paar: Lieber Baum, wir wollen heiraten und brauchen ein
Haus. Bitte, laß uns aus dir unser Haus bauen, wir werden es dir
9
10
11
12
„Es gibt eine zarte Empirie die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und
dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens
aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.“ Maximen und Reflexionen 565. In: Johann
Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Wilhelm Meisters
Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Münchner Ausgabe. Band 17, München /
Wien [Carl Hanser] 1991, S. 823. Die Maximen findet sich auch im Brief an Zelter vom
5.Oktober 1828. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (op.cit.). Briefwechsel
zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Band 20.2. Text 1828-1832.
Dokumente. Register. A.a.O. 1998, S. 1163f. Vgl. dazu auch die Maxime 411: „Die
höhere Empirie verhält sich zur Natur, wie der Menschenverstand zum praktischen
Leben.“ In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (op.cit.) Band 17. A.a.O.,
S. 792.
Francis Bacon, Novum Organon. Buch 1, Aphorismus 3. In deutscher Übersetzung:
Francis Bacon, Das neue Organon. (Novum Organon). Hrsg. von Manfred Buhr. Berlin
[Akademie Verlag] 1962, S. 41.
Vgl. dazu im Sinne einer ökologischen Naturphilosophie und -wissenschaft: Lothar
Schäfer, Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur.
Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1993.
So die Formulierung von Klaus Michael Meyer-Abich in seinem Beitrag
Naturphilosophie auf neuen Wege. In: Oswald Schwemmer (Hrsg.), Über Natur.
Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Frankfurt am Main [Vittorio
Klostermann] 1987, S. 72.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
8
nicht vergessen - und dann wurde der Baum gefällt. Die
Rechtfertigungspflicht half aber allen Bäumen, die zu fällen
unentschuldbar gewesen wäre. So wäre es auch, wenn Bäume
Rechte hätten.“13
Vielfach verbunden ist mit dieser, sagen wir: ehrfürchtigen, Haltung gegenüber
der Natur ein deutlich technikkritisches Wissenschaftsideal, weil man nur so
glaubt, die Natur schonen zu können.
Daneben gibt es allerdings auch Konzeptionen ökologischer
Wissenschaften, die ausdrücklich als Weiterführung unserer, auch die vielen
Formen des technischen Handeln einschließenden, Wissenschaftstradition
entwickelt worden sind. Bereits 1866 prägte Ernst Haeckel für solche
Konzeptionen den Terminus einer „ökologischen Wissenschaft, nämlich der
„gesamten Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur
umgebenden Außenwelt“.14 Wir sehen in einer solchen Wissenschaft heute die
Konzeptionen, in denen die Vernetzung der Wirkungslinien untersucht wird, die
sich in „den Wechselbeziehungen zwischen den Organismen und der
unbelebten und belebten Umwelt“15 ergeben. Diese Vernetzung ist vor allem für
das Handeln, mit dem die Menschen in ihre physischen, sozialen und
semantischen Umwelten eingreifen, zum zentralen Thema geworden.16
Im Unterschied zu den klassischen Positionen der neuzeitlichen
Naturwissenschaften werden dabei - durchaus im Sinne einer
systemtheoretischen Perspektive - sehr viel stärker die Rückwirkungen des
Handelns - wie überhaupt der betrachteten Ereignisse - auf die Bedingungen
dieses Handelns bzw. dieser Ereignisse in den Blick gebracht. Diese
Konzeption einer ökologischen Wissenschaft verlangt zwar eine
außerordentlich komplexe Betrachtungsweise von Systemen und ihren
Umwelten, bricht aber nicht dem grundlegenden Postulat der
Verallgemeinerung. Auch in den so konzipierten Wissenschaften wird Wissen
13
14
15
16
Ebd., S. 73.
Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Band II. Berlin [Georg Reimer]
1866, S. 286.
Dies meine eigene Formulierung im Anschluß an Ernst Haeckel in meinem Buch Die
kulturelle Existenz des Menschen. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 21.
Zum Konzept einer ökologischen Wissenschaft vom Menschen vgl. op.cit., S. 15-40.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
9
durch experimentell gestützte Verallgemeinerungen gewonnen. Aber dieses
Wissen wird dann auf konkrete historisch gegebene Systemzusammenhänge
angewendet und - im wörtlichen Sinne - konkretisiert. Eine alternative
Wissenschaft dagegen würde gerade an der experimentellen Stützung und
technischen Nutzung der wissenschaftlichen Ergebnisse ihre kritischen Fragen
ansetzen und den „Gehorsam“ gegenüber der Natur einfordern.
6
Neue Wissenschaft oder gesellschaftliche
Umorientierung?
Die Frage, die sich an die Formulierungen Goethes und Bacons anschließt, ist
nicht, ob wir unsere Methoden in den Wissenschaften tatsächlich an der Sache,
d. i. am Gegenstand der Untersuchungen, ausrichten oder ob wir unser
Handeln auf unserem Wissen, d. i. auf der Kenntnis der naturgesetzlichen
Zusammenhänge, gründen müssen. Beide Forderungen scheinen mir außer
Zweifel zu stehen und im Grunde bereits in den Begriff der Wissenschaften
hineinzugehören. Die Frage ist vielmehr die, ob mit diesen Forderungen eine
neue, eine zur Entwicklung unserer Wissenschaftstradition alternative
Wissenschaft notwendig wird. Und natürlich bleibt auch noch die Frage, ob die
Gründung der neuzeitlichen Naturwissenschaften auf dem Experiment
tatsächlich mit dem Willen zum Berechnen und Beherrschen verbunden ist, wie
dies die Kritik an den neuzeitlichen Naturwissenschaften behauptet.
Fragen wir zunächst nach der Notwendigkeit einer alternativen
Wissenschaftskonzeption. Diese Frage ist leider nicht so eindeutig, wie sie
zunächst klingen mag. Denn es hat sich ja in den letzten Jahren und
Jahrzehnten tatsächlich einiges Grundlegende in unserem
Wissenschaftsbetrieb verändert. Diese Veränderungen verdanken sich teilweise
- wie etwa die systemtheoretische Konzeption - einer Entwicklung innerhalb
bestimmter Wissenschaften selbst, teilweise aber auch einer allgemeinen
geistigen und - darauf aufbauend - wissenschaftspolitischen Umorientierung in
unserer Gesellschaft.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
10
Beide Veränderungen lassen sich nicht säuberlich auseinanderhalten und
auf abgegrenzte Anteile hin zerlegen. Neue wissenschaftliche Möglichkeiten
eröffnen auch der gesellschaftlichen Orientierung neue Perspektiven.
Gesellschaftliche Orientierungen lenken auch die Richtungen der
wissenschaftlichen Entwicklung. Dieses Wechselverhältnis, so elementar es ist,
wird immer wieder übersehen und mit erstaunlich hohem intellektuellem
Aufwand in ein Innenverhältnis der Wissenschaften oder der Politik bzw. der
gesellschaftlichen Dynamik uminterpretiert.
7
Eine neue Wissenschaft ohne Experiment?
Ein Beispiel für eine solche Interpretation bietet übrigens die Darstellung des
Zusammenhangs von Experiment und dem Willen zur Beherrschung, die ich
oben referiert habe. Stellt man doch mit dieser Darstellung eine Verknüpfung
her, die als eine systemimmanente Notwendigkeit in die Entwicklung der
neuzeitlichen Naturwissenschaften hineingelesen werden soll. Ist es aber
wirklich so, dass Experimentieren unvermeidlich und aus seinem praktischen
Sinn heraus bereits Beherrschenwollen ist, eine Ausbeutung der Natur?
Die Ambivalenz, mit der der Herrschafts- und Ausbeutungsverdacht oder
auch -vorwurf arbeitet, wird sofort deutlich, wenn man sich die Alternative zur
experimentellen Begründung der Naturwissenschaften auszudenken versucht.
Sollen wir nur durch beobachtende oder auf sonst eine Weise passiv bleibende
Weise unser Wissen erwerben? Kann man alleine durch Sehen oder Hören
Verallgemeinerungen begründen?17 Muss man überhaupt auf eingreifendes
17
Tatsächlich steht am Anfang unserer Wissenschaftstradition ein phänomenaler
Erfahrungsbegriff. Wenn nämlich Aristoteles von Erfahrungen redet, dann nicht in dem
gleichen Sinne, in dem es heute unsere Wissenschaftler tun. Vereinfacht gesagt, ist für
Aristoteles alles das schon Erfahrung, was wir - aufgrund des Vergleichs unserer
Erinnerungen miteinander - als Beobachtungen gesammelt haben. „Aus Wahrnehmung
also entsteht Erinnerung, wie wir sagen; und aus Erinnerung desselben Dinges, wenn
sie oft zustandekommt, Erfahrung - denn viele Erinnerungen sind eine einzige
Erfahrung - und aus Erfahrung, oder aus jedem Allgemeinen, das zur Ruhe gekommen
ist in der Seele - das eine neben den vielen, was in allen jenen Dingen als eines
desselben ist -, ein Prinzip von Kunst und Wissen - wenn in Hinsicht auf Werden, von
Kunst, wenn dagegen in Hinsicht auf das Sein, von Wissen.“ (Analytica Posteriora
B19.100a3-10. Hier zitiert nach der Akademie-Ausgabe übersetzt und erläutert von
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
11
Handeln verzichten, wenn man die Welt verschonen will? Auf eingreifendes
Handeln kann man nur verzichten, wenn man es sich leisten kann: wenn man
nichts abwehren oder herbeiführen muss, um leben oder eben auch besser
leben zu können. Und sich alleine aufs Sehen oder Hören verlassen kann man
nur, wenn man die grundlegenden Zusammenhänge alle schon kennt und das
Gesehene oder Gehörte in sein Wissen einordnen kann, wenn man schon
weiß, was man da sieht oder hört. Wer dies aber noch nicht weiß und wer sich
nicht dem naturwüchsigen Geschehen ausliefern und dieses auch nicht einfach
Wolfgang Detel. In: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Band 3. Teil II. Berlin
[Akademie Verlag] 1993, S. 83.) Vgl. dazu auch die entsprechende Stelle in Metaphysik
A1.980b28ff. Mein eigener Kommentar findet sich in meinem Aufsatz Die Entstehung
der Wissenschaft aus dem Geiste der Geometrie in: Mitteilungsblatt des Deutschen
Vereins für Vermessungswesen Landesverein Rheinland-Pfalz e. V. in Zusammenarbeit
mit dem Landesverein Saarland e. V.. Heft 1/2-1986. 35. Jahrgang, S. 19f.: „Ein
Beispiel: Der von Eseln gezogene Karren bleibt stehen, wenn die Esel stehen bleibt.
Das von Männern stromaufwärts gezogene Schiff bewegt sich nicht mehr
stromaufwärts, wenn die Männer nicht weitergehen und -ziehen; es treibt mit dem
Strom zurück, wenn diese die Seile loslassen. Dies sind Beobachtungen, die wir immer
wieder machen können. Wir können sie daher auch verallgemeinern. Bewegungen im
Sinne von Ortsveränderungen, so scheint der verallgemeinernde Schluß aus diesen
Beobachtungen, werden durch Kräfte in Gang gehalten. Denn mit ihnen wird kein
Widerstand überwunden. Bewegung ist ein Gleichgewichtszustand zwischen Kraft und
Widerstand. Diese erfahrungsgestützte Erkenntnis war ungefähr 2000 Jahre lang die
Grundlage der Physik. Die neuzeitliche Mechanik beginnt damit, dass diese Grundlage
aufgegeben wird. Sie macht nämlich andere Erfahrungen. Die wissenschaftliche
Erfahrung der neuzeitlichen Physik ergibt sich gerade nicht aus dem, was wir sehen,
wenn wir hinschauen auf die Ereignisse, die sich vor unseren Augen abspielen. Für die
neuzeitliche, d. h. die Newtonsche Mechanik zeigt sich dies besonders deutlich wieder
an der Bewegungsdefinition. Eine gleichförmig geradlinige Bewegung, so die
grundlegende Erkenntnis, bedarf keiner Kraft, um erhalten zu bleiben. Und dies stützt
sich ebenfalls auf Erfahrungen. Aber es ist die methodisch vorbereitete Erfahrung, die
Erfahrung, wie wir sie - und auch dies nur angenähert - im Labor machen können. Es
gibt keine gleichförmig geradlinigen Bewegungen, ebensowenig wie es Punkte,
Geraden Ebenen, Kreise oder Kugeln gibt. Alle diese geometrischen Gegenstände sind
denkend definierte Ideale, denen wir uns - mehr oder weniger gut - durch deren
Realisierung annähern können. Wir können versuchen, eine möglichst gute Ebene
herzustellen, möglichst gute Kugeln zu schleifen und diese dann die Ebenen, die wir
wie Galilei in verschiedenen Neigungsgraden aufstellen, herunterrollen lassen. Was wir
dann beobachten, das sind Erfahrungen - und selbst dies nur mit Einschränkungen.
Denn auch diese vorbereiteten Beobachtungsergebnisse deuten wir nach
mathematischen
Geschichtspunkten
um.
Wir
„schönen“
unsere
Beobachtungsergebnisse, um klare d. h. mathematische einfach formulierbare
Zusammenhänge zu erhalten. die Differenzen zwischen den tatsächlichen
Beobachtungsergebnissen und den aufgestellten Gesetzmäßigkeiten erklären wir zu
Abweichungen aufgrund störender Bedingungen, die sozusagen Verunreinigungen der
angestrebten reinen Laborsituation ausmachen. In unserem Beispiel sind natürlich
Reibung, Luftwiderstand und ähnliches. Während so die Aristotelische Erfahrung die
jedermann zugängliche Beobachtung ist, die man immer wieder im alltäglichen Leben
machen kann, wenn man nur sorgfältig und geduldig hinschaut, ist die Erfahrung der
neuzeitlichen Wissenschaft das Experiment der Experten.“
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
12
sich selbst überlassen will, der muss wissen, was er tun kann und tun muss. Es
ist so, wie es schon Francis Bacon sagte:
„Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja
Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur läßt
sich nämlich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung
als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.“18
Oder anders formuliert: Erst durch die experimentellen Naturwissenschaften
werden wir in die Lage versetzt, wissend und könnend zu handeln und damit
auch schonend mit der Natur wie überhaupt mit unserer Umwelt umzugehen.
Mit der experimentellen Gründung der Naturwissenschaften als solcher ist eben
überhaupt noch keine bestimmte Geisteshaltung gegenüber der Natur oder
überhaupt gegenüber unserer Umwelt verbunden. Das Wissenwollen lässt sich
mit den verschiedensten allgemeineren Geisteshaltungen verbinden. Dem
Wissenwollen als solchem sieht es man es eben nicht an, aus welchen
sonstigen Motiven es sich speist und welchen Zwecken es sich selbst dienstbar
zu machen gedenkt.
8
Die Begrenzung der verschiedenen Sinnprovinzen
unserer Handlungs- und Lebenswelten
Diese zumindest auf den ersten Blick einigermaßen trivial erscheinenden
Überlegungen sollen auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, den gerade
ein allzu kompliziertes Denken geneigt ist, aus den Augen zu verlieren. Eine
robuste Anbindung des Denkens an unser alltägliches Handeln kann hier
manchmal - auch in der Philosophie - heilsam sein. Der Sachverhalt jedenfalls,
um den es mir geht, lässt sich als die Begrenzung von Sinnprovinzen erklären.
Damit, dass es Sinnprovinzen in unserem Handeln und seinen
Lebensumgebungen gibt, die begrenzt sind, meine ich, dass es vielerlei
Bereiche unseres Lebens und Handelns gibt, die durch ganz verschiedene
Prinzipien und Strukturen geprägt werden. Wer als Wissenschaftler an seinen
18
Francis Bacon, Novum Organon. A.a.O., S. 41.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
13
Forschungen arbeitet, tut dies im Rahmen von institutionellen, aber auch
intellektuellen Vorgaben, die den Sinn dessen, was er als Wissenschaftler tut,
definieren. Thomas S. Kuhn hat dies mit seinem Essay über Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen im Anschluss an Ludwig Fleck19 eindrucksvoll
zu zeigen versucht. Was die wissenschaftliche Arbeit für jemanden aber in
seinem übrigen Leben bedeutet, ergibt sich in anderen Sinnzusammenhängen,
nämlich in den Sinnprovinzen der jeweiligen alltäglichen Lebensumgebungen.
Und wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen in der Hochschule, in
der Industrie, in der Politik usw. beachtet und verwendet werden, ist ebenfalls
nicht schon durch die Forschungsarbeit selbst festgelegt. Auch dies ergibt sich
in den anderen Sinnprovinzen der anderen Lebens- und Handlungswelten.
Mit der Behauptung von der Verschiedenheit und damit auch der
Begrenzung der Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns will ich nicht
auch behaupten, dass alle diese Sinnprovinzen sich selbständig und
unabhängig voneinander entwickeln und erhalten. Unsere Überlegungen zur
Gestaltung unseres Handelns bestehen zumeist gerade darin, moralische,
politische, ökonomische, soziale, technische, wissenschaftliche oder sonstige
Motive aus jeweils anderen Sinnprovinzen aufeinander zu beziehen und in
einen kritischen Zusammenhang zu bringen. Und in diesem Sinn lassen sich
auch viele wissenschaftskritische Argumente verstehen. Es geht dabei nicht um
eine neue Art von Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit, sondern um die
Konfrontation des Wissenschaftsbetriebs mit moralischen, politischen,
ökonomischen, sozialen oder sonstigen Argumenten.
In solchen Konfrontationen der Argumente aus verschiedenen
Sinnprovinzen unseres Lebens, aber auch im untergründigen Eindringen von
Denkformen aus anderen Sinnprovinzen entwickeln sich die Sinnstrukturen
unserer verschiedenen Lebens- und Handlungsbereiche. Sie entwickeln sich
zumeist als Mischformen aus unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen,
19
Vgl. dazu Kuhns eigene Erwähnung in Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1967, 1973, S. 9. Kuhn bezieht sich dort
auf die „fast unbekannte Monographie“ Ludwig Flecks Entstehung und Entwicklung
einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und
Denkkollektiv. Basel [Benno Schwabe & Co.] 1935. Diese Monographie ist mit einer
Einleitung inzwischen neu herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle:
Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1980.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
14
die aber gleichwohl - und dies nicht zuletzt aufgrund ihrer institutionellen
Regelungen - eine deutliche Abgrenzung zu den anderen Mischformen anderer
Lebens- und Handlungsbereiche aufweisen.
Wer eine Veränderung der Wissenschaften fordert, wird daher zu
unterscheiden haben, was er wirklich verändern will: die moralischen,
politischen oder sonstigen Zielsetzungen, die unser wissenschaftliches Handeln
leiten sollen, oder tatsächlich die wissenschaftlichen Begriffe, Methoden,
Modelle und Konzepte, durch die überhaupt die jeweils angestrebte
Wissenschaftlichkeit definiert wird. Die Änderung der wissenschaftlichen
Begrifflichkeit und Methodik, der Modelle und Konzepte ist eine Aufgabe
innerhalb der wissenschaftlichen Sinnprovinz. Sie muss - auch wenn dies
kontrovers geschieht - anknüpfen an die wissenschaftlichen Entwicklungen, die
sie in eine andere Richtung bringen will. Solche Änderungen sind das Geschäft
der Wissenschaftler, insofern sie Wissenschaft betreiben. Sie können dabei von
durchaus wissenschaftsexternen Motiven bewegt werden. Aber in ihren
Änderungsvorschlägen, in ihren Revisionen oder Revolutionen haben sie sich
den anderen Wissenschaftlern, der Gemeinschaft der Wissenschaftler,
verständlich zu machen, haben sie ihre Argumentationsstandards als
Wissenschaftler einzuhalten. Sonst sind es eben keine wissenschaftlichen
Änderungsvorschläge, die sie vortragen.
Die Wissenschaftlichkeit der Reflexion auf die wissenschaftliche
Entwicklung, sei es der Kritik an oder der Fortsetzung von ihr, ist die eine Hälfte
der Geschichte. Die andere Hälfte bekommen wir in den Blick, wenn wir auf die
anderen Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns schauen, in denen es
nicht oder nicht nur und vor allem nicht vorrangig um die Wissenschaftlichkeit
unseres Denkens und Handelns geht, sondern um unsere grundlegenden
Denk- und Lebensorientierungen und unser Leben, Denken und Handeln
selbst. Es geht - mit den Begriffen meines Vortragstitels zu formuliert - um die
rationale, die ethische und die emotionale Seite unserer Geschichte.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
9
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Wissenschaft und Persönlichkeit
Und hier beginnt nun wirklich ein neues Kapitel. Ging es doch bei den
wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen, politischen und sozialen
Sinnprovinzen um öffentlich präsente und diskutierte Formen der Rationalität,
über die es im allgemeinen eine zumindest konventionelle Form der
Übereinstimmung gibt. Dies gilt aber weder für die Moral noch für die
Emotionen. Unsere Gefühle gehören zu uns als individuellen Personen. Und
wenn auch die Moral ein Thema der öffentlichen Diskussion und damit eine
Frage der Rationalität ist, so gilt dies nicht in gleichem Sinne auch für die Frage,
ob eine bestimmte Person moralisch sei oder nicht. Die Rede von den Gefühlen
und der Moral bringt jedenfalls eine neue Dimension in unsere Überlegungen:
die Dimension des Persönlichen und der Persönlichkeit. Und das ist eine
Dimension, die man im allgemeinen im Zusammenhang mit den Fragen nach
der Rationalität der Wissenschaften weniger erwartet.
Und tatsächlich scheint die Verbindung von Persönlichkeit und
Wissenschaft zwar für die Organisation von Wissenschaft bedeutsam. So
würde man sicher nicht jedem erfolgreichen Forscher auch die Leitung eines
Instituts anvertrauen, in dem ein gutes Arbeitsklima herrschen soll. Ob darüber
hinaus aber die Gefühle und die moralische Integrität, ob in diesem Sinne die
Persönlichkeit eines Wissenschaftlers für seine wissenschaftliche Arbeit
entscheidend ist, scheint zumindest auf den ersten Blick eher zweifelhaft. Gilt
es doch für die Erhaltung der Wissenschaftlichkeit geradezu als eine
Grundregel, die eigene Persönlichkeit - und das sind die eigenen Gefühle, aber
auch Einfälle und Überzeugungen - hinter die Bemühung um Objektivität
zurückzustellen.
Für Hegel ist eine solche Haltung für das „Studium der Wissenschaft“
unerlässlich und der Grund für die „Aufmerksamkeit auf den Begriff“, ohne die
eine Wissenschaft überhaupt nicht zustande kommt:
„Sich des eignen Einfallens in den immanenten Rhythmus der
Begriffe entschlagen, in ihn nicht durch die Willkür und sonst
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
16
erworbene Weisheit eingreifen, diese Enthaltsamkeit ist selbst ein
wesentliches Moment der Aufmerksamkeit auf den Begriff.“20
Und als weiterer Zeuge mag hier Leopold von Ranke zu Wort kommen, der in
seiner Englischen Geschichte schreibt:
„Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die
Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.“21
Nun sind es aber gerade diese beiden Kronzeugen, die in ihrem Werk höchst
eindrucksvoll zeigen, wie sehr ihre Persönlichkeit in ihr Denken eingegangen
ist.22 Und dies ist kein beiläufiger Fehler, sondern ein struktureller Befund, der
zum Begriff der Wissenschaften wie des Wissens gehört, in denen es um einen
geistigen Austausch geht. Ich rede damit jetzt im weitesten Sinne über die
Wissenschaften vom Menschen, über die Geistes- oder, allgemeiner, über die
Kulturwissenschaften.
10
Das Allgemeine der Kultur und das individuelle
Verstehen
In diesen Wissenschaften spielen Erfahrung und Urteilskraft - und spielen damit
auch die Persönlichkeit und ihre Gefühle - eine entscheidende Rolle. Ich will
versuchen, diesen Zusammenhang noch einmal durch die Korrespondenz von
Universalität - nämlich der wissenschaftlichen Begriffe und Erklärungen - und
Individualität - nämlich der wissenschaftlich arbeitenden Personen - zu
verdeutlichen. Ich beginne mit einem Zitat:
20
21
22
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede. Nach dem Text
der Originalausgabe herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg [Felix
Meiner] 61952, S. 48.
Leopold von Ranke, Englische Geschichte 2.Band. In: Sämtliche Werke 15.Band.
Leipzig 1877, S. 103.
Für Rankes Werk versucht dies Ernst Cassirer, immer wieder eingehend zu zeigen, so
z.B. in: Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit. Vierter Band. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832--1932).
Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1973, S. 237-249. Vgl. auch Ernst
Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur.
Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1996, S. 286-292.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
17
„Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache,
in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher
stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt
sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen
anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche
Verwirklichung finden kann.“23
Es ist dies eine Formulierung Ernst Cassirers, die im Zusammenhang mit
seiner, wie er sie nennt, „humanistischen“ Begründung der Kulturphilosophie
steht. In der Welt des geistigen Austauschs kommt Universalität nur durch den
Prozess der Individuierung, nur durch die Formung zur Individualität, zustande.
Denn unser Verstehen ist nicht das bloße Aufnehmen fremder Gedanken oder
Taten, sondern ein tätiges Gestalten,
„eine echte Palingenese - eine Neugestaltung und Neubelebung der
Welt, die nicht anders denn aus einem eigentümlichen geistigpersönlichen Lebensmittelpunkt erfolgen kann“.24
Und an einer anderen Stelle, wo es gerade um die angeblich unpersönliche
Objektivität in Rankes Werk, um eine Objektivität durch eine Art
Selbstauslöschung geht, sieht Cassirer in eben diesem Werk „eines der
grandiosesten Beispiele dafür [ist], wie die echte Universalität der
geschichtlichen Überschau nicht aus einer Ausschaltung der Individualität,
sondern aus ihrer Stärkung, Vertiefung und Steigerung hervorgeht.“25 Und er
fügt hinzu:
„Denn nur aus dem lebendigen Quellpunkt des individuellen Selbst
heraus kann das universelle Leben der Ideen ergriffen, gedeutet,
verstanden werden.“26
23
24
25
26
Ernst Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie.
In: Ernst Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur. Herausgegeben und eingeleitet sowie mit
Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A.Bast. Hamburg [Felix Meiner
Verlag] 1993, S. 249f.
Ernst Cassirer, Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs.
Antrittsrede von Prof.Dr.Cassirer bei der Feier des Rektoratswechsels der
Hamburgischen Universität am 7.November 1929, Hamburg [J.G.Bittner & Sohn] o.J.,
S. 3-22. Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den
Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache. Herausgegeben von
Ernst Wolfgang Orth. Leipzig [Reclam Verlag] 1993., S. 193-217. Zitat S. 207.
Ebd., S. 206.
Ebd., S. 206f.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
18
Das historische und soziale, ich will dafür sagen: das kulturelle Verstehen ist
immer selbst ein historischer und sozialer, ein kultureller Prozess. Für
denjenigen, der sich um dieses Verstehen bemüht, ist es ein Moment seiner
geistigen Individuation, seiner Arbeit an der eigenen geistigen Form, seiner
Selbstformung zu einer, wie Cassirer formuliert, „freien Persönlichkeit“.
„Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich
selbst ihre Form gibt [...].“27
11
Die Gesprächsform des kulturellen Verstehens
Das kulturelle Verstehen lässt sich wie ein Gespräch sehen, in dem es um den
Austausch von Erfahrungen, Überzeugungen, Zielvorstellungen, überhaupt von
Gedanken oder Ideen geht. Diese Form des Gesprächs gibt dem kulturellen
Verstehen insbesondere dann, wenn es als Verstehen des Fremden28 im Sinne
des Fremdkulturellen zu leisten ist, einen Sinn, der über die Konstruktion von
Theorien hinausreicht. So bemerkt Clifford Geertz in seiner kritischen Studie
über den Ethnologen als Autor,
„daß ethnographische Texte, ganz gleich welchen Nutzen sie in
Zukunft haben werden, wenn sie tatsächlich momentan einen haben,
damit zu tun haben werden, das Gespräch über - durch Ethnizität,
Religion, Klasse, Geschlecht, Sprache, Rasse gezogene gesellschaftliche Grenzen hinweg zu ermöglichen, die zunehmend
nuancierter, unmittelbarer und unregelmäßiger geworden sind. Der
nächste notwendige Schritt (so scheint es mir wenigstens) ist weder
die Konstruktion einer universellen esperantoartigen Kultur, der Kultur
der Flughäfen und Motels, und auch nicht die Erfindung einer
gewaltigen Technik der Menschenführung. Er besteht in der
Erweiterung der Möglichkeit eines intelligiblen Diskurses zwischen
Menschen, die voneinander in ihren Interessen und Ansichten, in
27
28
Ernst Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie.
A.a.O., S. 249.
Vgl. dazu das entsprechende Kapitel in meinem Buch Die kulturelle Existenz des
Menschen. A.a.O., S. 137-163.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
19
Reichtum und Macht ganz verschieden und doch in einer Welt
beheimatet sind, in der es, so wie sie nun einmal in endlose
Verbindung geschleudert sind, zunehmend schwierig ist, sich aus
dem Wege zu gehen.“29
In einem verstehenden Gespräch sind sowohl die Äußerungen als auch ihr
Verstehen kulturelle Individuationsprozesse, nämlich individuelle
Neugestaltungen und Neubelebungen der kulturellen Formen, mit denen wir
leben und in denen wir uns geistig bewegen. Das bloße Klischee, die
übernommene Geste, der nachgeredete Spruch verbergen oder verhindern die
Individualität eines Ausdrucks - und das auch dann, wenn er sich in einer
Theatralik in Szene setzt, die eine individuelle Unverwechselbarkeit
beansprucht. Bedeutsam wird für uns eine Äußerung als Äußerung einer
Person erst dann, wenn sich uns in ihr eine Gestaltungsgeschichte zeigt, ein
Individuationsprozess, eine Arbeit an der eigenen Form. Diese Bedeutsamkeit
erzeugt und steigert die Bestimmtheit der jeweiligen Äußerung: Die vorgeformte
Wendung lässt weitgehend unbestimmt, was der Äußernde selbst als diese
Person meint. Auch die Formel kann zwar einen sehr klar umrissenen Sinn als
eine, wie man dann oft sagt, Verlautbarung, z.B. als eine Ankündigung, eine
Aufforderung, eine Behauptung haben. Aber sie lässt den Äußernden hinter
sich verschwinden - und beabsichtigt das vielfach auch.30 Aber selbst diese
Formeln, die im übrigen zu einer jeden Kultur und auch zum oft
lebensnotwendigen Repertoire unserer persönlichen Äußerungen gehören, sind
erst verstanden, wenn sie als Momente eines kulturellen, eines geistigen
Prozesses erkannt sind: z.B. als die befestigten Stütz- und Haltepunkte im
Fluss unserer Lebensgeschichten, als die kulturellen Nutzungsangebote im
Prozess unserer individuellen Selbstformung.
Mit der Sicht des kulturellen Verstehens als eines Gesprächs lassen sich
die kulturellen Prozesse im weitesten Sinne als Artikulationsprozesse
auffassen, als Prozesse, in denen auf der einen Seite die Äußerungen und auf
29
30
Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt
am Main [Fischer Taschenbuch Verlag] 1993, S. 141f.
Institutionelle Zusammenhänge leben zu einem guten Teil davon, dass die Person des
Sich-Äußernden hinter seinen (institutionellen) Äußerungen zumindest weitgehend
verschwindet.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
20
der anderen Seite die Aufnahme dieser Äußerungen (in welchem Sinne auch
immer) und die Antwort auf sie in eine Form gebracht werden. Diese
wechselseitig aufeinander bezogenen Artikulationsprozesse lassen eine Welt
von - darstellenden oder verstehenden - Äußerungen entstehen, die als
„universe of discourse“, als Dikursuniversum, die jeweilige kulturelle
Kommunikation ausmacht.
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Kommunikative Universalisierung und individuelle
Artikulation
In diesem Diskursuniversum lässt sich auch das Verhältnis von
Universalisierung und Individuation auf eine neue Weise verstehen: nämlich im
Sinne nicht einer klassifikatorischen Verallgemeinerung, die immer eine
Vereinheitlichung mit sich bringt, sondern im Sinne einer kommunikativen
Universalisierung. Unter der kommunikativen Universalisierung einer Äußerung
verstehe ich den weiterführenden Anschluss an sie, ihr Erfassen durch jemand
anderen und die Antwort auf sie - in welchem Sinne auch immer - und ihre
wechselvolle Wanderung durch die weiteren Äußerungen weiterer Personen.31
Eine solche Universalisierung hat nichts mit einer Vereinheitlichung oder
einer Schematisierung zu tun. Äußerungen werden vielmehr, wie bereits
gesagt, nur dadurch für jemanden bedeutsam - und überhaupt als die
Äußerungen einer Person verständlich -, wenn sich in ihnen ein individueller
Artikulationsprozess, ein Prozess der persönlichen Selbstformung, zeigt. An
diese in der individuellen Artikulation erzeugte Form können dann andere - wie
auch man selbst in einer anderen Situation - anschließen: man kann sie
aufnehmen und weiterführen, sie verwerfen oder verändern, sie erhalten oder
auflösen. Mit der Durchgestaltung unserer Äußerungen zu einer bestimmten
Form, mit deren gestaltender Individualisierung wird ein Ausgangspunkt für die
31
Vgl. zum ganzen die ausführlichere Darstellung in meinem Buch Ernst Cassirer. Ein
Philosoph der europäischen Moderne. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 143-195. Zur
Verallgemeinerung des Verstehens s. auch das entsprechende Kapitel in meinem Buch
Die kulturelle Existenz des Menschen. A.a.O., S. 119-136.
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
21
weitere Verständigung und den Umgang miteinander gesetzt. Die
Universalisierung unserer Verständigung und unseres Umgangs miteinander,
also die kommunikative Universalisierung, setzt so immer wieder an
individuellen Artikulationsleistungen an - wie die Wellen, die von einem ins
Wasser geworfenen Stein in alle Richtungen ausgehen.
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Wissenschaftliche Rationalität
Kommen wir damit zurück zu unserer Eingangsfrage nach der Bedeutung von
Universalismus und Individualismus für die wissenschaftliche Rationalität - und
schließlich auch für unsere Gesellschaft, in der sich diese wissenschaftliche
Rationalität ausgebildet hat. Ich habe zwei Formen der Universalisierung
vorgestellt: die theoretische und die kommunikative Universalisierung. Die
theoretische Universalisierung der neuzeitlichen Naturwissenschaften stützt
sich auf das Experiment und besteht, logisch gesehen, in einer
Verallgemeinerung identischer Eigenschaften bzw. Verlaufsformen von
Naturprozessen. Wir können daher sagen: Es geht in der theoretischen
Universalisierung um die universelle Identität von Verlaufsformen.
In der kommunikativen Universalisierung der verstehenden Geistes- bzw.
Kulturwissenschaften geht es demgegenüber um die bleibende Differenz der
verschiedenen individuellen Artikulationsformen, um die Verallgemeinerung des
Diskurses, der in lauter Individuationsprozessen geführt wird. Es geht - so
können wir hier sagen - in der kommunikativen Universalisierung um die
individuellen Differenzen von Artikulationsformen.
Experiment und Gespräch bestimmen auf unterschiedliche, aber durchaus
komplementäre Art das, was Universalisierung und Individualisierung in den
Wissenschaften bedeuten.32 Komplementär sind die beiden Formen der
32
Auch Cassirer sieht die Bewegung zwischen „Ich und Welt“ in den Natur- und
Geschichtswissenschaften
(die
exemplarisch
für
die
Geistesbzw.
Kulturwissenschaften stehen) in zwei komplementären Phasen vom Ich auf die Welt hin
und von der Welt in das Ich zurück. Dazu sei hier noch einmal die oben bereits zitierte
Stelle zur Objektivität der Geschichtswissenschaften im Zusammenhang
wiedergegeben: „Denn nur aus dem lebendigen Quellpunkt des individuellen Selbst
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
22
Universalisierung darum, weil auch in den Naturwissenschaften Gespräche
geführt und auch in den Geistes- oder Kulturwissenschaften auf
vereinheitlichende Weise verallgemeinert, wenn auch kaum experimentiert wird.
Schließlich sind ja auch die begrifflichen Konstruktionen, die theoretischen
Modelle und die mathematischen Systeme in den Naturwissenschaften
Leistungen des kulturellen Verstehens. Und auch die Diskurse in den Geistesoder Kulturwissenschaften verlangen die Kenntnis von Strukturen und Fakten,
in welche Interpretationsrahmen sie dann auch immer eingefügt sein mögen.
So finden wir in den Wissenschaften zwar durchaus unterschiedliche
Formen der Universalisierung und damit auch der Rationalität. Und diese
unterschiedlichen Formen entwickeln in den verschiedenen Wissenschaften ein
unterschiedliches Gewicht. Gleichwohl gilt aber, dass keine Wissenschaft ohne
beides, die theoretische Universalisierung in Bezug auf die Erfassung von
Strukturen und die kommunikative Universalität in Bezug auf die Ausbildung
von Perspektiven zur Erfassung von Strukturen, auskommen kann. Und dies
wiederum bedeutet, dass wissenschaftliche Rationalität, wie immer wir sie für
die unterschiedlichen Formen der Wissenschaft weiter differenzieren mögen, in
jedem Fall auch durch die Persönlichkeit des Wissenschaftlers mitgetragen wird
- wenn auch in unterschiedlichem Maße und auch auf unterschiedliche Weise.
Ich möchte dies in einer Schlussbemerkung noch einmal verdeutlichen: Die
Universalisierungen der Wissenschaften bewegen sich auf verschiedenen
Ebenen und ergeben sich in verschiedenen Bereichen. Als theoretische und
heraus kann das universelle Leben der Ideen ergriffen, gedeutet, verstanden werden.
So stehen Ich und Welt hier in keinem antithetischen Verhältnis, sondern beide können
sich nur aneinander begreifen und aneinander entzünden. Indem das Ich sich zur Welt
weitet, gibt es sich damit nicht auf, sondern es findet sich vielmehr erst in diesem Akt
der Erweiterung. Jede neue Weite des Welt-Horizontes, die es gewinnt, führt es um so
tiefer in sein eigenes Zentrum zurück - und jede tiefere Selbstbesinnung, jedes neue
Wissen um das, was es ist und was es als Sinn seines Daseins begreift, schließt ihm
einen neuen Horizont der objektiven Wirklichkeit auf. Den Weg, den die
naturwissenschaftliche Forschung geht, wird und muß immer in gewissem Sinn ein Weg
der Selbstentäußerung des Ich sein - denn was auf diesem Wege erreicht werden soll,
das ist gerade die Welt des ,Draußen‘, die Welt der Gegenstände, die eben als solche
uns räumlich gegenüber- und sachlich entgegenstehen. Aber die Objektivität der
Geschichte ruht auf einem anderen Grunde; - sie entsteht uns nicht in solcher
Entäußerung, sondern sie erwächst aus dem Prozeß der fortschreitenden Er-Innerung.
Und jede solche Erinnerung schließt zugleich eine neue Verinnerlichung, ein neues
seiner selbst ,Inne-Werden‘ in sich.“ (Ernst Cassirer, Formen und Formwandlungen des
philosophischen Wahrheitsbegriffs. A.a.O., S. 206f.)
Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt
23
kommunikative Universalisierungen sind sie in der konkreten
wissenschaftlichen Arbeit komplementär aufeinander bezogen. Die
kommunikativen Universalisierungen verlangen eine individuelle
Gestaltungsleistung, eine Arbeit auch in der moralischen und emotionalen
Dimension unseres Lebens und damit den Einsatz unserer Persönlichkeit im
ganzen.
Gerade bei der kommunikativen Universalisierung ist aber auch zu sehen,
dass wir hier aus verschiedenen Sinnprovinzen unserer Existenz unsere
Argumente beibringen. Die begriffliche, empirische und methodische Arbeit des
Wissenschaftlers - also die wissenschaftliche Arbeit im Sinne einer
professionellen Tätigkeit - ist daher nicht als eine abgeschlossene und
selbständige Tätigkeit zu sehen und zu betreiben. Sie ist ein Teil unseres
Lebens und Handelns, das über sie und ihre besondere Rationalität
hinausreicht. Und sie sollte als ein solcher Teil, der in unser Leben und
Handeln, wie es sich auch in anderen Sinnprovinzen entwickelt, integriert
bleiben. Es geht dabei nicht darum, die wissenschaftliche Tätigkeit zu
entprofessionalisieren und etwa mit lebensweltlichen Traditionen und
Erfahrungen zu durchmischen. Es geht vielmehr darum, die professionellen
Standards unserer Wissenschaften aufrechtzuerhalten und wo immer möglich
noch zu steigern und dabei zugleich die Argumente aus den anderen
Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns als komplementäre
Orientierungen zu reflektieren und zur Sprache zu bringen.
Insbesondere geht es aber auch darum, die Rolle der Persönlichkeit und
also auch die Bedeutung des persönlichen Einsatzes und der persönlichen
Verantwortung in den Wissenschaften hervorzuheben und, wie ich meine, wo
immer dies möglich ist, vorzuleben. In einer Zeit, wo uns selbst die Kunst - die
in unserer Kultur seit jeher eine Sachwalterin der individuellen Kreativität und
zugleich eine Anstifterin zur Subversion kollektiver Routinen war - das
Individuum als Autor oder Schöpfer von Werken auszureden versucht, in einer
solchen Zeit scheint es mir wieder an der Zeit zu sein, dieser Rolle und dieser
Bedeutung der Persönlichkeit auch in den Wissenschaft gerecht zu werden.
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