Die Wissenschaft in der Lebenswelt von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin 1 Theoretischer und praktischer Universalismus In seinem Buch über den Kampf der Kulturen1 - den „clash of civilizations“ zeichnet Samuel P. Huntington ein Bild der europäischen kulturellen Tradition, das diese in ihren Grundzügen möglichst prägnant charakterisieren soll. Huntington verfolgt dabei - wie der deutsche Untertitel seines Buches schon hervorhebt - das Ziel einer politischen Analyse. In diesem Rahmen untersucht er denn auch die militärischen und kommerziellen Rahmenbedingungen für die Beziehungen der Kulturen zueinander. Dabei betont er besonders stark die jeweiligen religiösen Vorstellungen und Verbindlichkeiten, denen Huntington eine zentrale Stellung für die jeweilige kulturelle Identität zuschreibt. Was dann aber als „Ideenfundament“ Europas bleibt, sind der westliche Universalismus2, sind die Menschenrechte und die Demokratie3 und ist als „Inbegriff der westlichen Kultur“, der Individualismus4. Tatsächlich lassen sich der Universalismus auf der einen und der Individualismus auf der anderen Seite als zwei wesentliche Orientierungen unserer westlichen Kultur ansehen. Durch sie wird deren rationale, deren moralische und schließlich auch deren emotionale Qualität charakterisiert. Und alle diese Qualitäten sind zuinnerst verbunden mit einer besonderen Dimension dieser unserer Kultur, nämlich mit der Dimension der Wissenschaften und der durch sie gestützten Technik. Während allerdings für den Bereich der ▬ 1 Samuel P.Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. München / Wien [Europa Verlag] 1996. (Originalausgabe: The Clash of Civilizations. New York [Simon & Schuster] 1996 2 3 4 Ebd., S. 291-296. Ebd., S. 307-316. Ebd., S. 343. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 2 Wissenschaften ein Universalismus im Sinne der Allgemeingültigkeit wissenschaftlich begründeter Aussagen - zumindest als Ziel und Anspruch - zu den Selbstverständlichkeiten des Wissenschaftsverständnisses gehört, ist dies für eine ethischen Universalismus nicht der Fall. Der einen wissenschaftlichen und man könnte hinzufügen: wie auch der einen technischen und kommerziellen - Welt stehen sich auf dem Markt der Meinungen viele und widersprüchliche Welten der Moral und des Rechts gegenüber. Hier scheint ein Universalismus nichts anderes zu bedeuten als einen unberechtigten Übergriff der einen Kultur auf das Leben einer anderen Kultur bzw. aller anderen Kulturen. Theoretischer Universalismus ja, praktischer Universalismus nein. So könnte man die Situation auf eine Kurzformel bringen. Und noch einmal anders gesagt: Der theoretische Universalismus der Wissenschaften definiert deren Rationalität. Der praktische Universalismus von Moral- und Rechtsvorstellungen kommt hingegen dem Versuch einer Kolonialisierung gleich und hat es nur mit dem Willen zur Macht auch über andere und anderes und jedenfalls nichts mit Rationalität im wissenschaftlichen Sinne zu tun. 2 Multikulturalismus und Universalismus Die Reaktionen auf diese Situationen sind verschieden. Sie lassen sich zwischen zwei polaren Extrempositionen anordnen, von denen die heutigen Diskussionswellen im allgemeinen ausgehen. Die eine Extremposition beansprucht die Einsicht in die kulturelle Vielfalt der alltäglichen Lebenswelten mit der Aufkündigung auch des theoretischen oder wissenschaftlichen Universalismus. Selbst die Logik und die Mathematik, beide zum Allerheiligsten der wissenschaftlichen Rationalität zählend, werden dabei zur Disposition gestellt und zu einem Sonderweg der westlichen Traditionen erklärt. Die entgegengesetzte Extremposition sieht dagegen in der kulturellen Vielfalt der Lebenswelten ein Indiz lediglich für das jeweils erreichte Maß der unbezweifelten allgemeinen Rationalität, die ein Maß für jede Kultur Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 3 darstellt. Die verschiedenen Kulturen erscheinen dann auf einer Entwicklungslinie von stark traditionsgebundenen bis hin zu fortschrittlichen Gesellschaften. Der kulturelle Fortschritt einer Gesellschaft bemisst sich dabei im allgemeinen nach den Kriterien der mathematisch und technisch begründeten Wissenschaften und einer in deren Sinne effektiven sozialen Organisation. Jeweils auf eine Formel gebracht, lassen sich die beiden Extrempositionen zu den Thesen verdichten: Die unbestreitbare kulturelle Vielfalt schließt auch die Wissenschaften und die Technik ein. Dies wäre die Position eines universalen Multikulturalismus. Die Rationalität der Wissenschaften und der Technik gilt als Maßstab des Denkens und Handelns auch für die verschiedenen Kulturen. Dies wäre die Position eines kulturübergreifenden Universalismus. Wie fast immer, so denke ich, liegt auch hier die Wahrheit irgendwo zwischen den Extremen. Aber selbst mit dieser Bemerkung gerate ich in die Gefahr, mich auf Extrempositionen einzulassen. Denn wer würde nicht bei der Rede von der Wahrheit an unerschütterliche Gewissheitsansprüche und deren ebenso heftige Relativierungen denken? Diesem Streit möchte ich mich hier nicht aussetzen. Worum es mir geht, ist eine vertretbare Orientierung im Umgang mit den verschiedenen Positionen zum Universalismus - und zwar eine Orientierung, die sich in diesem Umgang und aufgrund dieses Umgangs dann auch durchaus verändern kann. 3 Wissenschaft und Verallgemeinerung Doch damit zurück zu meiner Frage nach dem westlichen Universalismus und seiner möglichen Berechtigung. Wissenschaft muss verallgemeinern. Sonst ist sie keine Wissenschaft. Im Grunde, so könnte man sagen, besteht die Wissenschaft darin, über das möglichst verlässlich etwas zu sagen, was sie Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 4 nicht im einzelnen untersucht hat. Oder noch pointierter gesagt: Erfahrungswissenschaft besteht darin, über die tatsächlich gemachten Erfahrungen hinauszugehen. Das, was wir gesehen haben, macht zwar ein Wissen aus, begründet aber noch keine Wissenschaft. Die beginnt erst dort, wo wir aus dem, was wir gesehen oder gehört, was wir überhaupt in irgendeiner Weise erfahren haben, Folgerungen ziehen, die über das tatsächlich Erfahrene hinausgehen. Aber auch, wenn uns dies gelingt, müssen unsere Folgerungen noch keine Wissenschaft begründen. Denn solche Folgerungen können auch auf unserem Urteilsvermögen, unserem Feingefühl, auf unserer praktischen Erfahrung beruhen. Unsere handwerklichen Traditionen sind ein gutes Beispiel für die praktische Begründung solcher Folgerungen. Wissenschaft verlangt darüber hinaus ihre Lehrbarkeit, und zwar ihre im Prinzip unbegrenzte Lehrbarkeit. Nur weil wir Wissenschaft auf diese Weise, nämlich als eine lehrbare Fertigkeit betreiben, machen unsere Schulen und Hochschulen, macht Wissenschaft als Institution einen Sinn. Eine solche offene Lehr- und Lernbarkeit von Wissen ergibt sich aber nur, wenn der Erwerb und die Weitergabe dieses Wissens nicht an individuelle Situationen oder Personen gebunden ist, wenn - mit anderen Worten - dieses Wissen in sich selbst eine verallgemeinerte Form besitzt. Für den Philosophen, Logiker und Mathematiker Alfred North Whitehead besteht das wahre Wesen der Kultur - er sagt „the very essence of civilization“ -, ja die Kultur selbst, darin, Begriffe von einer großen und angemessenen Allgemeinheit zu bilden und zu nutzen. „Zivilisierte Wesen sind solche, die die Welt mit einer hinreichend großen Allgemeinheit des Verstehens überblicken.“5 5 Zunächst stellt Whitehead fest: „Systematization is the criticism of generality by methods derived from the specialism of science. It presupposes a closed group of primary ideas.“ Dann fügt er hinzu: „In another aspect philosophy is the entertainment of notions of large, adequate generality. Such a habit of mind is the very essence of civilization. It is civilization. The hermit thrush and the nightingale can produce sound of the utmost beauty. But they are not civilized beings. They lack ideas of adequate generality respecting their own actions and the world around them. Without doubt, the higher animals entertain notions, hopes, and fears. And yet they lack civilization by reason of the deficient generality of their mental functionings. Their love, their devotion, their beauty of performance, rightly claim our love and our tenderness in return. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 4 5 Kritik der Verallgemeinerung als Kritik des Verfügungswissens Gerade dieser Punkt ist zum Hauptärgernis der Wissenschaftskritik geworden. Und seit Friedrich Nietzsche hat sich diese Kritik am „Moloch der Abstraktion“6 oder, wie es Theodor W. Adorno dann formuliert, an der „logische[n] Höllenmaschine“7 mit einer allgemeinen Kultur- oder Gesellschaftskritik verbunden. Verallgemeinerungen sind das Ergebnis einer seelenlosen Routine, mit der man die konkrete Erfahrung der lebendigen Individuen ausblendet, mit der man dem Leben seine Erlebnisqualität, seine emotionale Bedeutung nimmt, mit der man den Menschen nur noch als austauschbares Objekt von Maßnahmen, sei es eines unpersönlichen Denkens, sei es eines gesichtslos verwaltenden Handelns, sieht. Verallgemeinernde Wissenschaft, so wäre zu folgern, ist letztlich ein Produkt der Inhumanität. Weniger extrem, aber durchaus in derselben Richtung, argumentieren heute manche Vertreter einer alternativen, nämlich ökologischen, oder einer multikulturellen, nämlich kulturrelativen, Wissenschaft. Und auch in diesen Argumentationen wird das alternative oder kulturrelative Wissenschaftsverständnis aus einer allgemeineren Kultur- oder Gesellschaftskritik abgeleitet. Die experimentgestützte Wissenschaft gilt in einem gewissen Sinn als gewalttätig. Werden doch in den Experimenten die natürlichen Bedingungen künstlich zugerichtet, werden Abläufe in einem abgedichteten Bereich in Gang gesetzt und als isolierte Systeme aufgebaut. Experimente zwingen die uns umgebende Natur in ein Labor. Sie begradigen die komplexen 6 7 Civilization is more than all these; and in moral worth it can be less than all these. Civilized beings are those who survey the world with some large generality of understanding.“ (Alfred North Whitehead, Modes of Thought. New York [The Free Press. A Division of Macmillan Publishing Co., Inc.] 1968, S. 3f.) Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Abschnitt 11. In: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta. Zweiter Band. München [Carl Hanser] 1966, 71973, S. 1172. Theodor W. Adorno, Einleitung, in: ders. u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied / Berlin [Luchterhand] 1969, S. 8. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 6 Zusammenhänge, in denen wir tatsächlich leben, zu beherrschbaren Abläufen.8 Die Beherrschbarkeit der Abläufe im Labor erlaubt die Form des Wissens, die durch die Universalisierbarkeit definiert ist. Denn das, was ich immer wieder in gleicher Weise in Gang setzen und kontrolliert ablaufen lassen kann, das kann ich auch im Prinzip für jedermann jederzeit und überall beweisbar darstellen. Und da die neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht schon durch die Modelle des Verstehens und Erklärens und auch nicht schon durch eine hinreichend entwickelte Mathematik, sondern erst durch das Experiment möglich geworden sind, liegt der Schluss nahe, dass die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften insgesamt auf dem Willen zur Beherrschung der Natur gründet und dass unser wissenschaftliches Wissen daher im Kern ein Verfügungswissen ist. Tatsächlich sind diese Folgerungen gezogen worden. So verschiedene Denker wie der existenzanalytische Martin Heidegger und der gesellschaftskritische Theodor W. Adorno sind sich darin einig, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft ein Wissen der Berechnung und Beherrschung, des Herstellens und Verfügens produziert. 5 Die ökologische Wissenschaftskritik Es ist diese, vor allem den neuzeitlichen Naturwissenschaften unterstellte, Mentalität des Berechnen- und Beherrschenwollens, gegen die man glaubt, eine alternative Wissenschaft propagieren zu müssen, die nicht mehr oder doch nicht mehr nur berechnen und beherrschen, sondern belassen und sich einfügen will: sei es in die Natur oder sei es in die jeweilige Kultur, in der wir leben. Und methodisch will eine solche Wissenschaft auf Empirie als auf den Grund ihrer Verlässlichkeit zwar nicht verzichten, sich dabei aber Goethes Ideal einer „zarte[n] Empirie“ verpflichten, „die sich mit dem Gegenstand innigst 8 Vgl. dazu die Darstellung in Holm Tetens, Experimentelle Erfahrung. Eine wissenschaftstheoretische Studie zur Rolle des Experiments in der Begriffs- und Theoriebildung der Physik. Hamburg [Felix Meiner] 1987. S. hier vor allem die Einleitung und Kap.1 über „Das physikalische Experiment und die Konzeption der experimentalistischen Kausalität“, S. 1-41. Unter anderem wird hier das Experiment als „Isolation kausal relevanter Umstände“ und als „Begradigung von Verläufen“ charakterisiert. (S. 29-32) Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 7 identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“ 9 Schon Francis Bacon könnte man in diesem Sinne als Kronzeugen gewinnen, wenn er nämlich in seinem Novum Organon von 1620 die Maxime aufstellt: „Natura enim non nisi parendo vincitur.“10 „Die Natur lässt sich nur durch Gehorsam besiegen.“11 Beispiele für diesen Gehorsam gegenüber der Natur liefern denn häufig die Erfahrungs- und Wissenstraditionen, die sich in vor- oder eben nichtindustriellen Gesellschaftsformen entwickelt und zum Teil bis heute erhalten haben. Die Kritik an dem Beherrschungswillen, den man den neuzeitlichen Naturwissenschaften eingepflanzt glaubt, geht bis hin zur Forderung einer „Rechtsgemeinschaft der Natur“, die einem Wald oder einer Landschaft Rechte zuschreibt:12 Eine entsprechende Rechtfertigungspflicht würde, so der Autor Klaus-Michael Meyer-Abich, zwar die Durchsetzung der menschlichen Interessen etwa auf Kosten des Waldes nicht immer verhindern, sie aber wesentlich verändern: „Die animistische Regel, sich bei einem Baum zu entschuldigen, bevor man ihn fällte, half dem Baum, dem gegenüber sie ausgesprochen wurde, ja auch nichts mehr. Sondern hier sagte z.B. ein junges Paar: Lieber Baum, wir wollen heiraten und brauchen ein Haus. Bitte, laß uns aus dir unser Haus bauen, wir werden es dir 9 10 11 12 „Es gibt eine zarte Empirie die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.“ Maximen und Reflexionen 565. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Münchner Ausgabe. Band 17, München / Wien [Carl Hanser] 1991, S. 823. Die Maximen findet sich auch im Brief an Zelter vom 5.Oktober 1828. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (op.cit.). Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Band 20.2. Text 1828-1832. Dokumente. Register. A.a.O. 1998, S. 1163f. Vgl. dazu auch die Maxime 411: „Die höhere Empirie verhält sich zur Natur, wie der Menschenverstand zum praktischen Leben.“ In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (op.cit.) Band 17. A.a.O., S. 792. Francis Bacon, Novum Organon. Buch 1, Aphorismus 3. In deutscher Übersetzung: Francis Bacon, Das neue Organon. (Novum Organon). Hrsg. von Manfred Buhr. Berlin [Akademie Verlag] 1962, S. 41. Vgl. dazu im Sinne einer ökologischen Naturphilosophie und -wissenschaft: Lothar Schäfer, Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1993. So die Formulierung von Klaus Michael Meyer-Abich in seinem Beitrag Naturphilosophie auf neuen Wege. In: Oswald Schwemmer (Hrsg.), Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Frankfurt am Main [Vittorio Klostermann] 1987, S. 72. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 8 nicht vergessen - und dann wurde der Baum gefällt. Die Rechtfertigungspflicht half aber allen Bäumen, die zu fällen unentschuldbar gewesen wäre. So wäre es auch, wenn Bäume Rechte hätten.“13 Vielfach verbunden ist mit dieser, sagen wir: ehrfürchtigen, Haltung gegenüber der Natur ein deutlich technikkritisches Wissenschaftsideal, weil man nur so glaubt, die Natur schonen zu können. Daneben gibt es allerdings auch Konzeptionen ökologischer Wissenschaften, die ausdrücklich als Weiterführung unserer, auch die vielen Formen des technischen Handeln einschließenden, Wissenschaftstradition entwickelt worden sind. Bereits 1866 prägte Ernst Haeckel für solche Konzeptionen den Terminus einer „ökologischen Wissenschaft, nämlich der „gesamten Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt“.14 Wir sehen in einer solchen Wissenschaft heute die Konzeptionen, in denen die Vernetzung der Wirkungslinien untersucht wird, die sich in „den Wechselbeziehungen zwischen den Organismen und der unbelebten und belebten Umwelt“15 ergeben. Diese Vernetzung ist vor allem für das Handeln, mit dem die Menschen in ihre physischen, sozialen und semantischen Umwelten eingreifen, zum zentralen Thema geworden.16 Im Unterschied zu den klassischen Positionen der neuzeitlichen Naturwissenschaften werden dabei - durchaus im Sinne einer systemtheoretischen Perspektive - sehr viel stärker die Rückwirkungen des Handelns - wie überhaupt der betrachteten Ereignisse - auf die Bedingungen dieses Handelns bzw. dieser Ereignisse in den Blick gebracht. Diese Konzeption einer ökologischen Wissenschaft verlangt zwar eine außerordentlich komplexe Betrachtungsweise von Systemen und ihren Umwelten, bricht aber nicht dem grundlegenden Postulat der Verallgemeinerung. Auch in den so konzipierten Wissenschaften wird Wissen 13 14 15 16 Ebd., S. 73. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Band II. Berlin [Georg Reimer] 1866, S. 286. Dies meine eigene Formulierung im Anschluß an Ernst Haeckel in meinem Buch Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 21. Zum Konzept einer ökologischen Wissenschaft vom Menschen vgl. op.cit., S. 15-40. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 9 durch experimentell gestützte Verallgemeinerungen gewonnen. Aber dieses Wissen wird dann auf konkrete historisch gegebene Systemzusammenhänge angewendet und - im wörtlichen Sinne - konkretisiert. Eine alternative Wissenschaft dagegen würde gerade an der experimentellen Stützung und technischen Nutzung der wissenschaftlichen Ergebnisse ihre kritischen Fragen ansetzen und den „Gehorsam“ gegenüber der Natur einfordern. 6 Neue Wissenschaft oder gesellschaftliche Umorientierung? Die Frage, die sich an die Formulierungen Goethes und Bacons anschließt, ist nicht, ob wir unsere Methoden in den Wissenschaften tatsächlich an der Sache, d. i. am Gegenstand der Untersuchungen, ausrichten oder ob wir unser Handeln auf unserem Wissen, d. i. auf der Kenntnis der naturgesetzlichen Zusammenhänge, gründen müssen. Beide Forderungen scheinen mir außer Zweifel zu stehen und im Grunde bereits in den Begriff der Wissenschaften hineinzugehören. Die Frage ist vielmehr die, ob mit diesen Forderungen eine neue, eine zur Entwicklung unserer Wissenschaftstradition alternative Wissenschaft notwendig wird. Und natürlich bleibt auch noch die Frage, ob die Gründung der neuzeitlichen Naturwissenschaften auf dem Experiment tatsächlich mit dem Willen zum Berechnen und Beherrschen verbunden ist, wie dies die Kritik an den neuzeitlichen Naturwissenschaften behauptet. Fragen wir zunächst nach der Notwendigkeit einer alternativen Wissenschaftskonzeption. Diese Frage ist leider nicht so eindeutig, wie sie zunächst klingen mag. Denn es hat sich ja in den letzten Jahren und Jahrzehnten tatsächlich einiges Grundlegende in unserem Wissenschaftsbetrieb verändert. Diese Veränderungen verdanken sich teilweise - wie etwa die systemtheoretische Konzeption - einer Entwicklung innerhalb bestimmter Wissenschaften selbst, teilweise aber auch einer allgemeinen geistigen und - darauf aufbauend - wissenschaftspolitischen Umorientierung in unserer Gesellschaft. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 10 Beide Veränderungen lassen sich nicht säuberlich auseinanderhalten und auf abgegrenzte Anteile hin zerlegen. Neue wissenschaftliche Möglichkeiten eröffnen auch der gesellschaftlichen Orientierung neue Perspektiven. Gesellschaftliche Orientierungen lenken auch die Richtungen der wissenschaftlichen Entwicklung. Dieses Wechselverhältnis, so elementar es ist, wird immer wieder übersehen und mit erstaunlich hohem intellektuellem Aufwand in ein Innenverhältnis der Wissenschaften oder der Politik bzw. der gesellschaftlichen Dynamik uminterpretiert. 7 Eine neue Wissenschaft ohne Experiment? Ein Beispiel für eine solche Interpretation bietet übrigens die Darstellung des Zusammenhangs von Experiment und dem Willen zur Beherrschung, die ich oben referiert habe. Stellt man doch mit dieser Darstellung eine Verknüpfung her, die als eine systemimmanente Notwendigkeit in die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften hineingelesen werden soll. Ist es aber wirklich so, dass Experimentieren unvermeidlich und aus seinem praktischen Sinn heraus bereits Beherrschenwollen ist, eine Ausbeutung der Natur? Die Ambivalenz, mit der der Herrschafts- und Ausbeutungsverdacht oder auch -vorwurf arbeitet, wird sofort deutlich, wenn man sich die Alternative zur experimentellen Begründung der Naturwissenschaften auszudenken versucht. Sollen wir nur durch beobachtende oder auf sonst eine Weise passiv bleibende Weise unser Wissen erwerben? Kann man alleine durch Sehen oder Hören Verallgemeinerungen begründen?17 Muss man überhaupt auf eingreifendes 17 Tatsächlich steht am Anfang unserer Wissenschaftstradition ein phänomenaler Erfahrungsbegriff. Wenn nämlich Aristoteles von Erfahrungen redet, dann nicht in dem gleichen Sinne, in dem es heute unsere Wissenschaftler tun. Vereinfacht gesagt, ist für Aristoteles alles das schon Erfahrung, was wir - aufgrund des Vergleichs unserer Erinnerungen miteinander - als Beobachtungen gesammelt haben. „Aus Wahrnehmung also entsteht Erinnerung, wie wir sagen; und aus Erinnerung desselben Dinges, wenn sie oft zustandekommt, Erfahrung - denn viele Erinnerungen sind eine einzige Erfahrung - und aus Erfahrung, oder aus jedem Allgemeinen, das zur Ruhe gekommen ist in der Seele - das eine neben den vielen, was in allen jenen Dingen als eines desselben ist -, ein Prinzip von Kunst und Wissen - wenn in Hinsicht auf Werden, von Kunst, wenn dagegen in Hinsicht auf das Sein, von Wissen.“ (Analytica Posteriora B19.100a3-10. Hier zitiert nach der Akademie-Ausgabe übersetzt und erläutert von Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 11 Handeln verzichten, wenn man die Welt verschonen will? Auf eingreifendes Handeln kann man nur verzichten, wenn man es sich leisten kann: wenn man nichts abwehren oder herbeiführen muss, um leben oder eben auch besser leben zu können. Und sich alleine aufs Sehen oder Hören verlassen kann man nur, wenn man die grundlegenden Zusammenhänge alle schon kennt und das Gesehene oder Gehörte in sein Wissen einordnen kann, wenn man schon weiß, was man da sieht oder hört. Wer dies aber noch nicht weiß und wer sich nicht dem naturwüchsigen Geschehen ausliefern und dieses auch nicht einfach Wolfgang Detel. In: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Band 3. Teil II. Berlin [Akademie Verlag] 1993, S. 83.) Vgl. dazu auch die entsprechende Stelle in Metaphysik A1.980b28ff. Mein eigener Kommentar findet sich in meinem Aufsatz Die Entstehung der Wissenschaft aus dem Geiste der Geometrie in: Mitteilungsblatt des Deutschen Vereins für Vermessungswesen Landesverein Rheinland-Pfalz e. V. in Zusammenarbeit mit dem Landesverein Saarland e. V.. Heft 1/2-1986. 35. Jahrgang, S. 19f.: „Ein Beispiel: Der von Eseln gezogene Karren bleibt stehen, wenn die Esel stehen bleibt. Das von Männern stromaufwärts gezogene Schiff bewegt sich nicht mehr stromaufwärts, wenn die Männer nicht weitergehen und -ziehen; es treibt mit dem Strom zurück, wenn diese die Seile loslassen. Dies sind Beobachtungen, die wir immer wieder machen können. Wir können sie daher auch verallgemeinern. Bewegungen im Sinne von Ortsveränderungen, so scheint der verallgemeinernde Schluß aus diesen Beobachtungen, werden durch Kräfte in Gang gehalten. Denn mit ihnen wird kein Widerstand überwunden. Bewegung ist ein Gleichgewichtszustand zwischen Kraft und Widerstand. Diese erfahrungsgestützte Erkenntnis war ungefähr 2000 Jahre lang die Grundlage der Physik. Die neuzeitliche Mechanik beginnt damit, dass diese Grundlage aufgegeben wird. Sie macht nämlich andere Erfahrungen. Die wissenschaftliche Erfahrung der neuzeitlichen Physik ergibt sich gerade nicht aus dem, was wir sehen, wenn wir hinschauen auf die Ereignisse, die sich vor unseren Augen abspielen. Für die neuzeitliche, d. h. die Newtonsche Mechanik zeigt sich dies besonders deutlich wieder an der Bewegungsdefinition. Eine gleichförmig geradlinige Bewegung, so die grundlegende Erkenntnis, bedarf keiner Kraft, um erhalten zu bleiben. Und dies stützt sich ebenfalls auf Erfahrungen. Aber es ist die methodisch vorbereitete Erfahrung, die Erfahrung, wie wir sie - und auch dies nur angenähert - im Labor machen können. Es gibt keine gleichförmig geradlinigen Bewegungen, ebensowenig wie es Punkte, Geraden Ebenen, Kreise oder Kugeln gibt. Alle diese geometrischen Gegenstände sind denkend definierte Ideale, denen wir uns - mehr oder weniger gut - durch deren Realisierung annähern können. Wir können versuchen, eine möglichst gute Ebene herzustellen, möglichst gute Kugeln zu schleifen und diese dann die Ebenen, die wir wie Galilei in verschiedenen Neigungsgraden aufstellen, herunterrollen lassen. Was wir dann beobachten, das sind Erfahrungen - und selbst dies nur mit Einschränkungen. Denn auch diese vorbereiteten Beobachtungsergebnisse deuten wir nach mathematischen Geschichtspunkten um. Wir „schönen“ unsere Beobachtungsergebnisse, um klare d. h. mathematische einfach formulierbare Zusammenhänge zu erhalten. die Differenzen zwischen den tatsächlichen Beobachtungsergebnissen und den aufgestellten Gesetzmäßigkeiten erklären wir zu Abweichungen aufgrund störender Bedingungen, die sozusagen Verunreinigungen der angestrebten reinen Laborsituation ausmachen. In unserem Beispiel sind natürlich Reibung, Luftwiderstand und ähnliches. Während so die Aristotelische Erfahrung die jedermann zugängliche Beobachtung ist, die man immer wieder im alltäglichen Leben machen kann, wenn man nur sorgfältig und geduldig hinschaut, ist die Erfahrung der neuzeitlichen Wissenschaft das Experiment der Experten.“ Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 12 sich selbst überlassen will, der muss wissen, was er tun kann und tun muss. Es ist so, wie es schon Francis Bacon sagte: „Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur läßt sich nämlich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.“18 Oder anders formuliert: Erst durch die experimentellen Naturwissenschaften werden wir in die Lage versetzt, wissend und könnend zu handeln und damit auch schonend mit der Natur wie überhaupt mit unserer Umwelt umzugehen. Mit der experimentellen Gründung der Naturwissenschaften als solcher ist eben überhaupt noch keine bestimmte Geisteshaltung gegenüber der Natur oder überhaupt gegenüber unserer Umwelt verbunden. Das Wissenwollen lässt sich mit den verschiedensten allgemeineren Geisteshaltungen verbinden. Dem Wissenwollen als solchem sieht es man es eben nicht an, aus welchen sonstigen Motiven es sich speist und welchen Zwecken es sich selbst dienstbar zu machen gedenkt. 8 Die Begrenzung der verschiedenen Sinnprovinzen unserer Handlungs- und Lebenswelten Diese zumindest auf den ersten Blick einigermaßen trivial erscheinenden Überlegungen sollen auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, den gerade ein allzu kompliziertes Denken geneigt ist, aus den Augen zu verlieren. Eine robuste Anbindung des Denkens an unser alltägliches Handeln kann hier manchmal - auch in der Philosophie - heilsam sein. Der Sachverhalt jedenfalls, um den es mir geht, lässt sich als die Begrenzung von Sinnprovinzen erklären. Damit, dass es Sinnprovinzen in unserem Handeln und seinen Lebensumgebungen gibt, die begrenzt sind, meine ich, dass es vielerlei Bereiche unseres Lebens und Handelns gibt, die durch ganz verschiedene Prinzipien und Strukturen geprägt werden. Wer als Wissenschaftler an seinen 18 Francis Bacon, Novum Organon. A.a.O., S. 41. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 13 Forschungen arbeitet, tut dies im Rahmen von institutionellen, aber auch intellektuellen Vorgaben, die den Sinn dessen, was er als Wissenschaftler tut, definieren. Thomas S. Kuhn hat dies mit seinem Essay über Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen im Anschluss an Ludwig Fleck19 eindrucksvoll zu zeigen versucht. Was die wissenschaftliche Arbeit für jemanden aber in seinem übrigen Leben bedeutet, ergibt sich in anderen Sinnzusammenhängen, nämlich in den Sinnprovinzen der jeweiligen alltäglichen Lebensumgebungen. Und wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen in der Hochschule, in der Industrie, in der Politik usw. beachtet und verwendet werden, ist ebenfalls nicht schon durch die Forschungsarbeit selbst festgelegt. Auch dies ergibt sich in den anderen Sinnprovinzen der anderen Lebens- und Handlungswelten. Mit der Behauptung von der Verschiedenheit und damit auch der Begrenzung der Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns will ich nicht auch behaupten, dass alle diese Sinnprovinzen sich selbständig und unabhängig voneinander entwickeln und erhalten. Unsere Überlegungen zur Gestaltung unseres Handelns bestehen zumeist gerade darin, moralische, politische, ökonomische, soziale, technische, wissenschaftliche oder sonstige Motive aus jeweils anderen Sinnprovinzen aufeinander zu beziehen und in einen kritischen Zusammenhang zu bringen. Und in diesem Sinn lassen sich auch viele wissenschaftskritische Argumente verstehen. Es geht dabei nicht um eine neue Art von Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit, sondern um die Konfrontation des Wissenschaftsbetriebs mit moralischen, politischen, ökonomischen, sozialen oder sonstigen Argumenten. In solchen Konfrontationen der Argumente aus verschiedenen Sinnprovinzen unseres Lebens, aber auch im untergründigen Eindringen von Denkformen aus anderen Sinnprovinzen entwickeln sich die Sinnstrukturen unserer verschiedenen Lebens- und Handlungsbereiche. Sie entwickeln sich zumeist als Mischformen aus unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen, 19 Vgl. dazu Kuhns eigene Erwähnung in Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1967, 1973, S. 9. Kuhn bezieht sich dort auf die „fast unbekannte Monographie“ Ludwig Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Basel [Benno Schwabe & Co.] 1935. Diese Monographie ist mit einer Einleitung inzwischen neu herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle: Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1980. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 14 die aber gleichwohl - und dies nicht zuletzt aufgrund ihrer institutionellen Regelungen - eine deutliche Abgrenzung zu den anderen Mischformen anderer Lebens- und Handlungsbereiche aufweisen. Wer eine Veränderung der Wissenschaften fordert, wird daher zu unterscheiden haben, was er wirklich verändern will: die moralischen, politischen oder sonstigen Zielsetzungen, die unser wissenschaftliches Handeln leiten sollen, oder tatsächlich die wissenschaftlichen Begriffe, Methoden, Modelle und Konzepte, durch die überhaupt die jeweils angestrebte Wissenschaftlichkeit definiert wird. Die Änderung der wissenschaftlichen Begrifflichkeit und Methodik, der Modelle und Konzepte ist eine Aufgabe innerhalb der wissenschaftlichen Sinnprovinz. Sie muss - auch wenn dies kontrovers geschieht - anknüpfen an die wissenschaftlichen Entwicklungen, die sie in eine andere Richtung bringen will. Solche Änderungen sind das Geschäft der Wissenschaftler, insofern sie Wissenschaft betreiben. Sie können dabei von durchaus wissenschaftsexternen Motiven bewegt werden. Aber in ihren Änderungsvorschlägen, in ihren Revisionen oder Revolutionen haben sie sich den anderen Wissenschaftlern, der Gemeinschaft der Wissenschaftler, verständlich zu machen, haben sie ihre Argumentationsstandards als Wissenschaftler einzuhalten. Sonst sind es eben keine wissenschaftlichen Änderungsvorschläge, die sie vortragen. Die Wissenschaftlichkeit der Reflexion auf die wissenschaftliche Entwicklung, sei es der Kritik an oder der Fortsetzung von ihr, ist die eine Hälfte der Geschichte. Die andere Hälfte bekommen wir in den Blick, wenn wir auf die anderen Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns schauen, in denen es nicht oder nicht nur und vor allem nicht vorrangig um die Wissenschaftlichkeit unseres Denkens und Handelns geht, sondern um unsere grundlegenden Denk- und Lebensorientierungen und unser Leben, Denken und Handeln selbst. Es geht - mit den Begriffen meines Vortragstitels zu formuliert - um die rationale, die ethische und die emotionale Seite unserer Geschichte. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 9 15 Wissenschaft und Persönlichkeit Und hier beginnt nun wirklich ein neues Kapitel. Ging es doch bei den wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen, politischen und sozialen Sinnprovinzen um öffentlich präsente und diskutierte Formen der Rationalität, über die es im allgemeinen eine zumindest konventionelle Form der Übereinstimmung gibt. Dies gilt aber weder für die Moral noch für die Emotionen. Unsere Gefühle gehören zu uns als individuellen Personen. Und wenn auch die Moral ein Thema der öffentlichen Diskussion und damit eine Frage der Rationalität ist, so gilt dies nicht in gleichem Sinne auch für die Frage, ob eine bestimmte Person moralisch sei oder nicht. Die Rede von den Gefühlen und der Moral bringt jedenfalls eine neue Dimension in unsere Überlegungen: die Dimension des Persönlichen und der Persönlichkeit. Und das ist eine Dimension, die man im allgemeinen im Zusammenhang mit den Fragen nach der Rationalität der Wissenschaften weniger erwartet. Und tatsächlich scheint die Verbindung von Persönlichkeit und Wissenschaft zwar für die Organisation von Wissenschaft bedeutsam. So würde man sicher nicht jedem erfolgreichen Forscher auch die Leitung eines Instituts anvertrauen, in dem ein gutes Arbeitsklima herrschen soll. Ob darüber hinaus aber die Gefühle und die moralische Integrität, ob in diesem Sinne die Persönlichkeit eines Wissenschaftlers für seine wissenschaftliche Arbeit entscheidend ist, scheint zumindest auf den ersten Blick eher zweifelhaft. Gilt es doch für die Erhaltung der Wissenschaftlichkeit geradezu als eine Grundregel, die eigene Persönlichkeit - und das sind die eigenen Gefühle, aber auch Einfälle und Überzeugungen - hinter die Bemühung um Objektivität zurückzustellen. Für Hegel ist eine solche Haltung für das „Studium der Wissenschaft“ unerlässlich und der Grund für die „Aufmerksamkeit auf den Begriff“, ohne die eine Wissenschaft überhaupt nicht zustande kommt: „Sich des eignen Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe entschlagen, in ihn nicht durch die Willkür und sonst Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 16 erworbene Weisheit eingreifen, diese Enthaltsamkeit ist selbst ein wesentliches Moment der Aufmerksamkeit auf den Begriff.“20 Und als weiterer Zeuge mag hier Leopold von Ranke zu Wort kommen, der in seiner Englischen Geschichte schreibt: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.“21 Nun sind es aber gerade diese beiden Kronzeugen, die in ihrem Werk höchst eindrucksvoll zeigen, wie sehr ihre Persönlichkeit in ihr Denken eingegangen ist.22 Und dies ist kein beiläufiger Fehler, sondern ein struktureller Befund, der zum Begriff der Wissenschaften wie des Wissens gehört, in denen es um einen geistigen Austausch geht. Ich rede damit jetzt im weitesten Sinne über die Wissenschaften vom Menschen, über die Geistes- oder, allgemeiner, über die Kulturwissenschaften. 10 Das Allgemeine der Kultur und das individuelle Verstehen In diesen Wissenschaften spielen Erfahrung und Urteilskraft - und spielen damit auch die Persönlichkeit und ihre Gefühle - eine entscheidende Rolle. Ich will versuchen, diesen Zusammenhang noch einmal durch die Korrespondenz von Universalität - nämlich der wissenschaftlichen Begriffe und Erklärungen - und Individualität - nämlich der wissenschaftlich arbeitenden Personen - zu verdeutlichen. Ich beginne mit einem Zitat: 20 21 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede. Nach dem Text der Originalausgabe herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg [Felix Meiner] 61952, S. 48. Leopold von Ranke, Englische Geschichte 2.Band. In: Sämtliche Werke 15.Band. Leipzig 1877, S. 103. Für Rankes Werk versucht dies Ernst Cassirer, immer wieder eingehend zu zeigen, so z.B. in: Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832--1932). Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1973, S. 237-249. Vgl. auch Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1996, S. 286-292. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 17 „Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.“23 Es ist dies eine Formulierung Ernst Cassirers, die im Zusammenhang mit seiner, wie er sie nennt, „humanistischen“ Begründung der Kulturphilosophie steht. In der Welt des geistigen Austauschs kommt Universalität nur durch den Prozess der Individuierung, nur durch die Formung zur Individualität, zustande. Denn unser Verstehen ist nicht das bloße Aufnehmen fremder Gedanken oder Taten, sondern ein tätiges Gestalten, „eine echte Palingenese - eine Neugestaltung und Neubelebung der Welt, die nicht anders denn aus einem eigentümlichen geistigpersönlichen Lebensmittelpunkt erfolgen kann“.24 Und an einer anderen Stelle, wo es gerade um die angeblich unpersönliche Objektivität in Rankes Werk, um eine Objektivität durch eine Art Selbstauslöschung geht, sieht Cassirer in eben diesem Werk „eines der grandiosesten Beispiele dafür [ist], wie die echte Universalität der geschichtlichen Überschau nicht aus einer Ausschaltung der Individualität, sondern aus ihrer Stärkung, Vertiefung und Steigerung hervorgeht.“25 Und er fügt hinzu: „Denn nur aus dem lebendigen Quellpunkt des individuellen Selbst heraus kann das universelle Leben der Ideen ergriffen, gedeutet, verstanden werden.“26 23 24 25 26 Ernst Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. In: Ernst Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur. Herausgegeben und eingeleitet sowie mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A.Bast. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1993, S. 249f. Ernst Cassirer, Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs. Antrittsrede von Prof.Dr.Cassirer bei der Feier des Rektoratswechsels der Hamburgischen Universität am 7.November 1929, Hamburg [J.G.Bittner & Sohn] o.J., S. 3-22. Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache. Herausgegeben von Ernst Wolfgang Orth. Leipzig [Reclam Verlag] 1993., S. 193-217. Zitat S. 207. Ebd., S. 206. Ebd., S. 206f. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 18 Das historische und soziale, ich will dafür sagen: das kulturelle Verstehen ist immer selbst ein historischer und sozialer, ein kultureller Prozess. Für denjenigen, der sich um dieses Verstehen bemüht, ist es ein Moment seiner geistigen Individuation, seiner Arbeit an der eigenen geistigen Form, seiner Selbstformung zu einer, wie Cassirer formuliert, „freien Persönlichkeit“. „Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt [...].“27 11 Die Gesprächsform des kulturellen Verstehens Das kulturelle Verstehen lässt sich wie ein Gespräch sehen, in dem es um den Austausch von Erfahrungen, Überzeugungen, Zielvorstellungen, überhaupt von Gedanken oder Ideen geht. Diese Form des Gesprächs gibt dem kulturellen Verstehen insbesondere dann, wenn es als Verstehen des Fremden28 im Sinne des Fremdkulturellen zu leisten ist, einen Sinn, der über die Konstruktion von Theorien hinausreicht. So bemerkt Clifford Geertz in seiner kritischen Studie über den Ethnologen als Autor, „daß ethnographische Texte, ganz gleich welchen Nutzen sie in Zukunft haben werden, wenn sie tatsächlich momentan einen haben, damit zu tun haben werden, das Gespräch über - durch Ethnizität, Religion, Klasse, Geschlecht, Sprache, Rasse gezogene gesellschaftliche Grenzen hinweg zu ermöglichen, die zunehmend nuancierter, unmittelbarer und unregelmäßiger geworden sind. Der nächste notwendige Schritt (so scheint es mir wenigstens) ist weder die Konstruktion einer universellen esperantoartigen Kultur, der Kultur der Flughäfen und Motels, und auch nicht die Erfindung einer gewaltigen Technik der Menschenführung. Er besteht in der Erweiterung der Möglichkeit eines intelligiblen Diskurses zwischen Menschen, die voneinander in ihren Interessen und Ansichten, in 27 28 Ernst Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. A.a.O., S. 249. Vgl. dazu das entsprechende Kapitel in meinem Buch Die kulturelle Existenz des Menschen. A.a.O., S. 137-163. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 19 Reichtum und Macht ganz verschieden und doch in einer Welt beheimatet sind, in der es, so wie sie nun einmal in endlose Verbindung geschleudert sind, zunehmend schwierig ist, sich aus dem Wege zu gehen.“29 In einem verstehenden Gespräch sind sowohl die Äußerungen als auch ihr Verstehen kulturelle Individuationsprozesse, nämlich individuelle Neugestaltungen und Neubelebungen der kulturellen Formen, mit denen wir leben und in denen wir uns geistig bewegen. Das bloße Klischee, die übernommene Geste, der nachgeredete Spruch verbergen oder verhindern die Individualität eines Ausdrucks - und das auch dann, wenn er sich in einer Theatralik in Szene setzt, die eine individuelle Unverwechselbarkeit beansprucht. Bedeutsam wird für uns eine Äußerung als Äußerung einer Person erst dann, wenn sich uns in ihr eine Gestaltungsgeschichte zeigt, ein Individuationsprozess, eine Arbeit an der eigenen Form. Diese Bedeutsamkeit erzeugt und steigert die Bestimmtheit der jeweiligen Äußerung: Die vorgeformte Wendung lässt weitgehend unbestimmt, was der Äußernde selbst als diese Person meint. Auch die Formel kann zwar einen sehr klar umrissenen Sinn als eine, wie man dann oft sagt, Verlautbarung, z.B. als eine Ankündigung, eine Aufforderung, eine Behauptung haben. Aber sie lässt den Äußernden hinter sich verschwinden - und beabsichtigt das vielfach auch.30 Aber selbst diese Formeln, die im übrigen zu einer jeden Kultur und auch zum oft lebensnotwendigen Repertoire unserer persönlichen Äußerungen gehören, sind erst verstanden, wenn sie als Momente eines kulturellen, eines geistigen Prozesses erkannt sind: z.B. als die befestigten Stütz- und Haltepunkte im Fluss unserer Lebensgeschichten, als die kulturellen Nutzungsangebote im Prozess unserer individuellen Selbstformung. Mit der Sicht des kulturellen Verstehens als eines Gesprächs lassen sich die kulturellen Prozesse im weitesten Sinne als Artikulationsprozesse auffassen, als Prozesse, in denen auf der einen Seite die Äußerungen und auf 29 30 Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt am Main [Fischer Taschenbuch Verlag] 1993, S. 141f. Institutionelle Zusammenhänge leben zu einem guten Teil davon, dass die Person des Sich-Äußernden hinter seinen (institutionellen) Äußerungen zumindest weitgehend verschwindet. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 20 der anderen Seite die Aufnahme dieser Äußerungen (in welchem Sinne auch immer) und die Antwort auf sie in eine Form gebracht werden. Diese wechselseitig aufeinander bezogenen Artikulationsprozesse lassen eine Welt von - darstellenden oder verstehenden - Äußerungen entstehen, die als „universe of discourse“, als Dikursuniversum, die jeweilige kulturelle Kommunikation ausmacht. 12 Kommunikative Universalisierung und individuelle Artikulation In diesem Diskursuniversum lässt sich auch das Verhältnis von Universalisierung und Individuation auf eine neue Weise verstehen: nämlich im Sinne nicht einer klassifikatorischen Verallgemeinerung, die immer eine Vereinheitlichung mit sich bringt, sondern im Sinne einer kommunikativen Universalisierung. Unter der kommunikativen Universalisierung einer Äußerung verstehe ich den weiterführenden Anschluss an sie, ihr Erfassen durch jemand anderen und die Antwort auf sie - in welchem Sinne auch immer - und ihre wechselvolle Wanderung durch die weiteren Äußerungen weiterer Personen.31 Eine solche Universalisierung hat nichts mit einer Vereinheitlichung oder einer Schematisierung zu tun. Äußerungen werden vielmehr, wie bereits gesagt, nur dadurch für jemanden bedeutsam - und überhaupt als die Äußerungen einer Person verständlich -, wenn sich in ihnen ein individueller Artikulationsprozess, ein Prozess der persönlichen Selbstformung, zeigt. An diese in der individuellen Artikulation erzeugte Form können dann andere - wie auch man selbst in einer anderen Situation - anschließen: man kann sie aufnehmen und weiterführen, sie verwerfen oder verändern, sie erhalten oder auflösen. Mit der Durchgestaltung unserer Äußerungen zu einer bestimmten Form, mit deren gestaltender Individualisierung wird ein Ausgangspunkt für die 31 Vgl. zum ganzen die ausführlichere Darstellung in meinem Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 143-195. Zur Verallgemeinerung des Verstehens s. auch das entsprechende Kapitel in meinem Buch Die kulturelle Existenz des Menschen. A.a.O., S. 119-136. Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 21 weitere Verständigung und den Umgang miteinander gesetzt. Die Universalisierung unserer Verständigung und unseres Umgangs miteinander, also die kommunikative Universalisierung, setzt so immer wieder an individuellen Artikulationsleistungen an - wie die Wellen, die von einem ins Wasser geworfenen Stein in alle Richtungen ausgehen. 13 Wissenschaftliche Rationalität Kommen wir damit zurück zu unserer Eingangsfrage nach der Bedeutung von Universalismus und Individualismus für die wissenschaftliche Rationalität - und schließlich auch für unsere Gesellschaft, in der sich diese wissenschaftliche Rationalität ausgebildet hat. Ich habe zwei Formen der Universalisierung vorgestellt: die theoretische und die kommunikative Universalisierung. Die theoretische Universalisierung der neuzeitlichen Naturwissenschaften stützt sich auf das Experiment und besteht, logisch gesehen, in einer Verallgemeinerung identischer Eigenschaften bzw. Verlaufsformen von Naturprozessen. Wir können daher sagen: Es geht in der theoretischen Universalisierung um die universelle Identität von Verlaufsformen. In der kommunikativen Universalisierung der verstehenden Geistes- bzw. Kulturwissenschaften geht es demgegenüber um die bleibende Differenz der verschiedenen individuellen Artikulationsformen, um die Verallgemeinerung des Diskurses, der in lauter Individuationsprozessen geführt wird. Es geht - so können wir hier sagen - in der kommunikativen Universalisierung um die individuellen Differenzen von Artikulationsformen. Experiment und Gespräch bestimmen auf unterschiedliche, aber durchaus komplementäre Art das, was Universalisierung und Individualisierung in den Wissenschaften bedeuten.32 Komplementär sind die beiden Formen der 32 Auch Cassirer sieht die Bewegung zwischen „Ich und Welt“ in den Natur- und Geschichtswissenschaften (die exemplarisch für die Geistesbzw. Kulturwissenschaften stehen) in zwei komplementären Phasen vom Ich auf die Welt hin und von der Welt in das Ich zurück. Dazu sei hier noch einmal die oben bereits zitierte Stelle zur Objektivität der Geschichtswissenschaften im Zusammenhang wiedergegeben: „Denn nur aus dem lebendigen Quellpunkt des individuellen Selbst Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 22 Universalisierung darum, weil auch in den Naturwissenschaften Gespräche geführt und auch in den Geistes- oder Kulturwissenschaften auf vereinheitlichende Weise verallgemeinert, wenn auch kaum experimentiert wird. Schließlich sind ja auch die begrifflichen Konstruktionen, die theoretischen Modelle und die mathematischen Systeme in den Naturwissenschaften Leistungen des kulturellen Verstehens. Und auch die Diskurse in den Geistesoder Kulturwissenschaften verlangen die Kenntnis von Strukturen und Fakten, in welche Interpretationsrahmen sie dann auch immer eingefügt sein mögen. So finden wir in den Wissenschaften zwar durchaus unterschiedliche Formen der Universalisierung und damit auch der Rationalität. Und diese unterschiedlichen Formen entwickeln in den verschiedenen Wissenschaften ein unterschiedliches Gewicht. Gleichwohl gilt aber, dass keine Wissenschaft ohne beides, die theoretische Universalisierung in Bezug auf die Erfassung von Strukturen und die kommunikative Universalität in Bezug auf die Ausbildung von Perspektiven zur Erfassung von Strukturen, auskommen kann. Und dies wiederum bedeutet, dass wissenschaftliche Rationalität, wie immer wir sie für die unterschiedlichen Formen der Wissenschaft weiter differenzieren mögen, in jedem Fall auch durch die Persönlichkeit des Wissenschaftlers mitgetragen wird - wenn auch in unterschiedlichem Maße und auch auf unterschiedliche Weise. Ich möchte dies in einer Schlussbemerkung noch einmal verdeutlichen: Die Universalisierungen der Wissenschaften bewegen sich auf verschiedenen Ebenen und ergeben sich in verschiedenen Bereichen. Als theoretische und heraus kann das universelle Leben der Ideen ergriffen, gedeutet, verstanden werden. So stehen Ich und Welt hier in keinem antithetischen Verhältnis, sondern beide können sich nur aneinander begreifen und aneinander entzünden. Indem das Ich sich zur Welt weitet, gibt es sich damit nicht auf, sondern es findet sich vielmehr erst in diesem Akt der Erweiterung. Jede neue Weite des Welt-Horizontes, die es gewinnt, führt es um so tiefer in sein eigenes Zentrum zurück - und jede tiefere Selbstbesinnung, jedes neue Wissen um das, was es ist und was es als Sinn seines Daseins begreift, schließt ihm einen neuen Horizont der objektiven Wirklichkeit auf. Den Weg, den die naturwissenschaftliche Forschung geht, wird und muß immer in gewissem Sinn ein Weg der Selbstentäußerung des Ich sein - denn was auf diesem Wege erreicht werden soll, das ist gerade die Welt des ,Draußen‘, die Welt der Gegenstände, die eben als solche uns räumlich gegenüber- und sachlich entgegenstehen. Aber die Objektivität der Geschichte ruht auf einem anderen Grunde; - sie entsteht uns nicht in solcher Entäußerung, sondern sie erwächst aus dem Prozeß der fortschreitenden Er-Innerung. Und jede solche Erinnerung schließt zugleich eine neue Verinnerlichung, ein neues seiner selbst ,Inne-Werden‘ in sich.“ (Ernst Cassirer, Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs. A.a.O., S. 206f.) Oswald Schwemmer, Die Wissenschaft in der Lebenswelt 23 kommunikative Universalisierungen sind sie in der konkreten wissenschaftlichen Arbeit komplementär aufeinander bezogen. Die kommunikativen Universalisierungen verlangen eine individuelle Gestaltungsleistung, eine Arbeit auch in der moralischen und emotionalen Dimension unseres Lebens und damit den Einsatz unserer Persönlichkeit im ganzen. Gerade bei der kommunikativen Universalisierung ist aber auch zu sehen, dass wir hier aus verschiedenen Sinnprovinzen unserer Existenz unsere Argumente beibringen. Die begriffliche, empirische und methodische Arbeit des Wissenschaftlers - also die wissenschaftliche Arbeit im Sinne einer professionellen Tätigkeit - ist daher nicht als eine abgeschlossene und selbständige Tätigkeit zu sehen und zu betreiben. Sie ist ein Teil unseres Lebens und Handelns, das über sie und ihre besondere Rationalität hinausreicht. Und sie sollte als ein solcher Teil, der in unser Leben und Handeln, wie es sich auch in anderen Sinnprovinzen entwickelt, integriert bleiben. Es geht dabei nicht darum, die wissenschaftliche Tätigkeit zu entprofessionalisieren und etwa mit lebensweltlichen Traditionen und Erfahrungen zu durchmischen. Es geht vielmehr darum, die professionellen Standards unserer Wissenschaften aufrechtzuerhalten und wo immer möglich noch zu steigern und dabei zugleich die Argumente aus den anderen Sinnprovinzen unseres Lebens und Handelns als komplementäre Orientierungen zu reflektieren und zur Sprache zu bringen. Insbesondere geht es aber auch darum, die Rolle der Persönlichkeit und also auch die Bedeutung des persönlichen Einsatzes und der persönlichen Verantwortung in den Wissenschaften hervorzuheben und, wie ich meine, wo immer dies möglich ist, vorzuleben. In einer Zeit, wo uns selbst die Kunst - die in unserer Kultur seit jeher eine Sachwalterin der individuellen Kreativität und zugleich eine Anstifterin zur Subversion kollektiver Routinen war - das Individuum als Autor oder Schöpfer von Werken auszureden versucht, in einer solchen Zeit scheint es mir wieder an der Zeit zu sein, dieser Rolle und dieser Bedeutung der Persönlichkeit auch in den Wissenschaft gerecht zu werden.