Infos

Werbung
Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin
1
Die zwei Kulturen und der Formbegriff
Obwohl in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Intensivierung der
Cassirer-Forschung stattgefunden hat, sind einige der zentralen Konzepte in
der Philosophie Cassirers noch weitgehend unthematisiert geblieben. Eines
dieser Themen ist Cassirers Sicht auf die seit Charles Percy Snow1 so
genannten zwei Kulturen, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und
Literatur bzw. zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.
Dabei ist es für Cassirer selbst ein zentrales Projekt, Natur- und
Geisteswissenschaften – diese zumeist paradigmatisch vertreten durch die
Biologie und durch die Geschichtswissenschaft – in ihrem gemeinsamen
Charakter als Wissenschaften zu verstehen.
Das Überraschende bei diesem Projekt ist allerdings [– und dies mag auch
die bisher eher zögerliche Beschäftigung mit diesem
„einheitswissenschaftlichen“ Projekt Cassirers erklären2 –], dass es ein eher
neutraler Begriff ist, mit dem Cassirer die Brücke schlagen will, auf der ein Weg
die beiden Kulturen miteinander verbindet. Es ist dies der Begriff der Form.
1
Charles Percy Snow stellte die These von den zwei Kulturen 1959 in der Rede-Lecture
auf. S. dazu: Charles P. Snow, Die zwei Kulturen : Literarische und
naturwissenschaftliche Intelligenz. (Aus d. Engl. übers. von Grete u. Karl-Eberhardt
Felten), Stuttgart [Klett Verlag] 1967; Charles P. Snow (Ed. and ann. by Kurt Schrey), The
two cultures and a second look . Frankfurt a.M./ Berlin/Bonn/München [Diesterweg] 1968.
2
Verdienstvoll sind hier die Studien über Cassirers Verständnis der Naturwissenschaften:
Karl-Norbert Ihmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des
,Erlanger Programms‘. Cassirer-Forschungen Band 2. Hamburg [Felix Meiner Verlag]
1997; Enno Rudolph / Ion O. Stamatescu (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft.
Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft. Cassirer-Forschungen Band 3. Hamburg
[Felix Meiner Verlag] 1997; Christiane Schmitz-Rigal, Die Kunst des offenen Wissens.
Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik. Cassirer-Forschungen
Band 7. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002. Von großer Bedeutung für Cassirers
Verständnis der zwei Kulturen ist der Lebensbegriff, der neben und zusammen mit dem
Formbegriff dieses Verständnis begründet. Vgl. dazu Christian Möckel, Urphänomen des
Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff. Cassirer-Forschungen Band 12, Hamburg [Felix
Meiner Verlag] 2005.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 2
Dabei ist allerdings einzuräumen, dass Cassirer in seinen verschiedenen
Formulierungen durchaus nicht eindeutig ist und vielfach eine genauere Klärung
erst gar nicht unternimmt. Dies hängt mit einer stilistischen Eigenart zusammen,
die sich durchgängig in seinem Werk zeigt. Sie besteht darin, dass Cassirer
eher auf bestimmte endgültige Formulierungen, auf Formeln, aus ist als auf
deren schrittweise Erläuterung und Begründung. Diese Formeln – wir werden
ihnen noch begegnen – tauchen immer wieder auf und werden von Cassirer als
Beglaubigungsinstanzen herangezogen, die den Wahrheitsgehalt der
diskutierten These garantieren sollen.
Vor allem im Wortfeld des Dynamischen sammeln sich diese Formeln,
wenn es um das Verhältnis zwischen biologischem und historischem Wissen
geht. Da ist die Rede von den Energien des Geistes und den Potenzen des
Lebens, vom Werden – sei es zur Form oder sei es zum Sein –, vom Wandel
und vom Bewegenden, vom Gestalten und Erzeugen, von den dynamischen
Prozessen des Lebens und der Dynamik des geistigen Werdens, von der
Metamorphose im organischen Sein und zugleich im Sein der Kultur.
Seine besondere Pointe gewinnt dieses Wortfeld durch seine
Kontrastierung mit den statischen Momenten des Festen und Konstanten, der
Permanenz und der Einheit der Gestalt. Indem dann beide, das Dynamische
und das Statische – dies allerdings im Sinne eines Statischen im Dynamischen
– aufeinander bezogen werden, ergibt sich als Drittes eine übergreifende
Dynamik, die über eine Semantik der gespannten Bezüge charakterisiert wird:
zunächst als Verhältnis der Polaritäten, der Spannungen, des Gegensatzes
oder auch des Kampfes – und dann auch hier wieder in einer pointierenden
Steigerung als ein Moment des Ausgleichs und des Gleichgewichts in diesen
gespannten Bezügen.
Cassirer selbst bringt dieses in sich gespannte Verhältnis dynamischer
Entwicklungen mit dem Formbegriff zusammen:
„Nur in [...] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen
Bildern läßt sich die Form als werdende Form, als
beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen
dem Begriff der ,natura naturata‘ und der ,natura naturans‘ geprägt hat, so
muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ,forma
formans‘ und der ,forma formata‘ unterscheiden. Das Wechselspiel
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 3
zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst
aus. Die ,forma formans‘, die zur ,forma formata‘ wird, die um ihrer eigenen
Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in
ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr
zurückzugewinnen, sich zur ,forma formans‘ wiederzugebären – dies ist es,
was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.“3
Es ist diese Rede von dem ständig sich erneuernden Wechselverhältnis
zwischen der forma formans und der forma formata, von einem dynamischen
Spannungsverhältnis von aufeinander bezogenen Polaritäten, die uns den
Schlüssel zu Cassirers Formbegriff liefert. Dieser Formbegriff steht für ein
Formgeschehen, für den ständigen Prozess einer immer neuen Formbildung,
den ständigen Wechsel von Formbefestigung und Formerneuerung.
Wie bereits gesagt, sieht Cassirer dieses dynamische Verhältnis von
gewordener Form und werdender Form nicht nur als kulturelle Prozessform,
sondern auch als die Charakteristik aller Lebensprozesse. Dem entspricht dann
auch, dass Cassirer durchgängig in seinem Werk Geist und Leben in einen
strukturellen Zusammenhang bringt. So bemerkt Cassirer in einer kritischen
Bemerkung zu Linné, dass „das eigentliche Leben der Natur“ im „Übergang [der
Arten], in ihrer Entwicklung und Umbildung“ bestehe.4 Dieser Gedanke der
Formung und Umformung charakterisiert – wie Christian Möckel in seiner
umfassenden Studie über das Urphänomen des Lebens eingehend darstellt5 –
das Leben überhaupt und nicht nur das Leben des Geistes.
Und auch, was die innere Gliederung, die „innere Form“ des Lebens
angeht, finden sich zu biologischen Lebensphänomenen und historischen
Sinnverhältnissen gleichartige Charakterisierungen. So stellt Cassirer im
Anschluss an Cuvier für die Erforschung biologischer „Strukturverhältnisse“ fest:
3
Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von John Michael Krois und
Oswald Schwemmer (ab Band 2: Hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois
und Oswald Schwemmer. Im folgenden zitiert als ECN) Band 1: Zur Metaphysik der
symbolischen Formen. Hg. von John Michael Krois unter Mitwirkung von Anne
Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke, Oswald Schwemmer. Hamburg
[Felix Meiner Verlag] 1995, ECN Band 1, S. 17f.
4
Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Birgit Recki. (Im
folgenden zitiert als ECW) Band 15: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg [Felix
Meiner Verlag] 2003, S. 80.
5
Christian Möckel, Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff. A.a.O.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 4
„Alles Sein ist durchgängig gegliedert; es ist demgemäß nicht nur eine
zufällige Verbindung von Teilen, sondern ein geschlossener
Zusammenhang, dem eine eigentümliche Art von Notwendigkeit anhaftet.
Ist es uns einmal gelungen, die Haupt- und Grundtypen der Lebewesen zu
erkennen […], so wissen wir damit nicht nur, was tatsächlich existiert,
sondern auch was miteinander bestehen kann und nicht bestehen kann.
[…] Denn alles Einzelne ist hier aufeinander bezogen und greift ständig
ineinander ein.“6
2
Form in der Welt des Lebens
Formbildung und Gerichtetheit auf Formbildung, so können wir sagen, ist ein
Charakteristikum von Leben überhaupt:
„,Leben‘ ist nicht blinder Drang; es ist [...] ,Wille zur Form‘, Sehnsucht nach
Form“.7
Wie sollen wir diesen Anthropomorphismus verstehen? Wie sind die
Formelwendungen „Wille zur Form“ und „Sehnsucht nach Form“ aufzulösen,
ohne sie in das semantische Abseits verunglückter Metaphern abzuschieben?
Hilfreich für eine Antwort scheint hier eine Unterscheidung, die Cassirer für
verschiedene Wissenstypen anführt, und ein besonderes Charakteristikum der
Formbildung, die den Begriff der Form oder noch deutlicher den der „inneren
Form“ in seiner Bedeutung für unsere Darstellung der Weltwirklichkeit erst
verständlich macht.
6
ECW Band 5: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren
Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932). Hamburg [Felix
Meiner Verlag] 2000, S. 150.
7
ECN Band 3: Geschichte. Mythos, mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre,
Kunst, Organologie. Sinn, Sprache, Zeit. Hg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert KoppOberstebrink und Rüdiger Kramme. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002, S. 214. Vgl.
auch die vorangehende Formulierung: „Das blosse Leben, das nichts anderes wäre als
das Leben, gehört jedenfalls nicht zu den psychischen ,Phaenomenen‘ – es ist eine
metaphysische Konstruktion.
Nimmt man das Leben als reines Phaenomen, so hat man an ihm immer schon die
intentionale Gerichtetheit – so hat man also an ihm die ,Idee‘, auf die es ,hinzielt‘[.] Dies
ist der Sinn der Platonischen Eros-Lehre –
Das Leben ist nicht blinder Wille, Trieb[,] es ist
, u[nd] dieser
greift über
sich selbst hinaus – er begehrt nicht blind, sondern er ,sehnt sich‘ nach der Form […]“
(Ebd., S. 215)
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 5
Zunächst zur Unterscheidung zwischen Ursachen- und Formwissenschaft
oder auch Gesetzes- und Strukturwissenschaft. Mit großer
Selbstverständlichkeit spricht Cassirer häufig davon, dass es den
Naturwissenschaften um die Erforschung von Ursachen und die Erkenntnis von
Gesetzen geht. Dabei sind diese Formulierungen durchaus nicht eindeutig.
Denn auch eine Struktur kann als Ursache aufgefasst werden, und Gesetze
können zwar Verlaufsgesetze, aber auch Strukturgesetze sein. Was Cassirer
aber, wie der jeweilige Kontext zeigt und er selbst oft auch deutlich macht,
meint, ist die Gegenüberstellung von Ereignissen und Strukturen.
Eine Ursache ist für ihn ein Ereignis, das einen bestimmten Ablauf auslöst,
an dessen Ende dann die Wirkung steht. Ein Gesetz wäre dann erkennbar,
wenn dieser Ablauf sich immer wieder ereignete und damit jeweils als Fall
dieses allgemeingültigen Gesetzes verstehen ließe.
Tatsächlich lässt sich ein solcher Ablauf aber nur unter genau
definierbaren Bedingungen reproduzieren. Wir müssen ihn gleichsam aus der
Welt heraus isolieren, damit keine unerwarteten oder unkontrollierbaren
Einflüsse auf ihn einwirken können. Wir tun dies gewöhnlich durch den Bau von
Laboren, von im wörtlichen Sinne abgedichteten Räumen, in denen die immer
gleichen Bedingungen oder aber auch kontrollierte Abweichungen von ihnen für
bestimmte Abläufe hergestellt werden können. Eben dies geschieht, wie auch
Cassirer sagt, im „physikalische[n] Experiment, das die eigentliche und einzig
legitime Grundlage aller Gesetzesaussagen ist.“8 Die Erfolgsgeschichte der
8
ECW Band 19: Determinismus und Indeterminsmus in der modernen Physik. Historische
und systematische Studien zum Kausalproblem. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2004,
S. 52: „Der Anspruch, den das Experiment in sich schließt, besteht ja eben darin, an eine
Feststellung, die an und für sich auf ein individuelles Hier und Jetzt bezogen und an
dasselbe gebunden ist, eine Folgerung anknüpfen zu dürfen, die von dieser Schranke frei
ist – die übertragbar ist auf andere Raum- und Zeitstellen. Ein Versuch, der nur die
Vorgänge in einem bestimmten Laboratorium und im Augenblick der Ablesung
bestimmter Instrumente beschreiben wollte, hätte methodologisch offenbar keinerlei
Wert: Er würde lediglich einen singulären Fall bezeichnen, der sich der Kette der stetigen
physikalischen Beobachtung und Schlußfolgerung nicht einreihen ließe. Für diese
Einreihung bedarf es der Voraussetzung, daß wir das, was im Einzelexperiment
festgestellt wurde, von Ort zu Ort, von Augenblick zu Augenblick übertragen, daß wir es
gewissermaßen frei verschieben können, ohne dadurch etwas an der ,Natur‘, an der
Wahrheit der Feststellung zu ändern. Der fragwürdige und prekäre Schluß von ,einigen‘
Fällen auf ,viele‘, von ,vielen‘ auf ,alle‘ tritt hierbei nirgends auf: Denn in dem, was das
Experiment aussagt, wird nicht sowohl von einem Hier auf ein Nicht-Hier, von einem Jetzt
auf ein Nicht-Jetzt geschlossen, sondern es wird bewußt über den Gesichtspunkt des
bloßen Hier und Jetzt hinausgegangen. Es findet nicht eine Erweiterung innerhalb der
räumlich-zeitlichen Sphäre, sondern gewissermaßen eine Aufhebung dieser gesamten
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 6
klassischen Mechanik verdankt sich eben dieser Konstruktion und ihrer auch
alltagstechnischen Realisierung. Die auf dieser Isolationsmethode beruhenden
Geräte – von den Verbrennungsmotoren bis zu unseren Kühlaggregaten – sind
eine Art von alltäglichen Gebrauchslaboren, die nicht mehr funktionieren, wenn
ihre Abdichtung gegen die Umwelt schadhaft geworden ist.
Und damit sind wir bei der Betrachtung von Strukturen. Alle
Verlaufsgesetze, die wir kennen, gelten nur unter bestimmten
Randbedingungen. Wenn die Temperatur, der Luftdruck usw. zu hoch oder zu
niedrig sind, lassen sich bestimmte Abläufe nicht mehr herstellen. Diese
Randbedingungen ergeben sich aus den Strukturen der jeweiligen
Umgebungen, in denen sie stattfinden. In organischen Systemen dagegen
finden wir interne Veränderungen, die aus sich heraus bzw. in sich selbst, also
in ihrer inneren Gliederung Neues und vielfach Unerwartetes oder
Unkontrollierbares hervorbringen. Und im strengen Sinne isolieren lassen sich
Lebensprozesse auch nicht. Leben ist nur möglich im ständigen und vielfältigen
Austausch mit seiner Umwelt.
Leben ist nur möglich, so kann man es auch sagen, als ein System von
Systemen. Und zwar von Systemen, die sich in sich selbst organisieren und
wechselseitig aufeinander einwirken. Und all dies wiederum in Wechselwirkung
mit ihren Umwelten. In diesen komplexen Systemzusammenhängen sind auch
anorganische Strukturen integriert. Aber als Teile von Lebensprozessen sind
sie ständig sich verändernden Randbedingungen ausgesetzt und so auch nicht
nur in der ihnen eigenen Kausalität unter isolierten „Normalbedingungen“
darstellbar, sondern – in der Sprache Cassirers – als Elemente eines
umfassenden komplexen Formverhältnisses. Denn eben dies ist für Cassirer
eine Form: eine sich selbst gliedernde Struktur bzw. ein solches System. Beide
Termini verwendet Cassirer übrigens auch selbst.
Kehren wir damit zurück zu der Rätselformel vom Leben als Willen zur
oder Sehnsucht nach Form.
Sphäre, es findet der Fortgang in eine neue Dimension statt: Und diese Änderung der
Dimension ist es, die die Gesetzesaussagen von den bloßen Maßaussagen
unterscheidet.“
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 7
Zunächst dieses: Einen Willen zu etwas oder eine Sehnsucht nach eben
diesem kann man nur haben, wenn dieses Gewollte oder Ersehnte in einer
Differenz zum Wollenden oder Sehnendem steht. Es muss anders sein als er.
Und tatsächlich redet Cassirer auch allgemein von der „,Andersheit‘ der Form“:
„Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht
schlechthin in sich selbst verbleibt. Es muß sich selber Form geben; denn
eben in dieser ,Andersheit‘ der Form gewinnt es, wenn nicht seine
Wirklichkeit, so doch erst seine ,Sichtigkeit‘.“9
Leben in seiner „Sichtigkeit“, das ist Leben, das sich selbst erfasst, das sich auf
sich selbst bezieht und darin gestaltet: das darin seine Form gewinnt. Diese
Form geht nicht aus der „Energie der reinen Lebensbewegung […], wo diese
sich noch ganz selbst überlassen ist“, hervor, sondern entwickelt sich erst im
Widerstand zu ihr:
„Die Formen, in denen sich das Leben äußert und vermöge deren es seine
,objektive‘ Gestalt gewinnt, bedeuten für dasselbe ebensowohl Widerstand,
wie sie seinen unentbehrlichen Widerhalt bezeichnen. […] Die scheinbare
Gegenkraft wird damit selber zum Impuls der Gesamtbewegung“.10
Was Cassirer hier als ein allgemeines Verhältnis des Lebens beschreibt, kann
man als die reflexive Dynamik der Selbstorganisation charakterisieren: Durch
die Etablierung von – wie Arnold Gehlen formuliert – „Kreisprozessen im
Umgang“,11 nämlich in Austausch- und Wechselwirkungsbeziehungen mit den
jeweiligen Umgebungen, werden neue Prozessstrukturen etabliert. Neu sind sie
in dem Sinne, dass sie Eigenschaften besitzen, die keinem ihrer Elemente
zukommen: neu also im Sinne der Emergenz.
Aber es geht Cassirer nicht bloß um das Neue als solches. Es geht ihm
vor allem darum, deutlich zu machen, dass sich die neuen Eigenschaften einer
internen Eigenentwicklung verdanken: einer Entwicklung, die nicht durch eine
voraussteuernde Instanz hervorgebracht und gelenkt wird, sondern die sich in
der wechselseitigen Anpassung der Elemente aneinander ergibt. Cassirer
9
ECW Band 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der
Erkenntnis. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002, S. 45.
10
Ebd., S. 46.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 8
spricht daher auch – und dies im ausdrücklichen Bezug auf Jakob von
Uexküll12 – von der „Autonomie des Lebens“. Leben besteht darin, sich selbst
eine Form, eine innere Form, zu geben. Und diese Form besitzt wiederum ein
Eigensein, das sich – sozusagen im freien Spiel der wirkenden Kräfte – aus
seinem Formbildungspotential unter den gegebenen Umgebungsverhältnissen
ergibt. In diesem Sinne ist Leben ein ständiger Formbildungsprozess, ein sich
selbst Beziehen auf mögliche Formen und dadurch sich selbst Formen. Eben
dies wäre der Übersetzungsversuch der Cassirerschen Formel vom Leben als
dem Willen zur Form und der Sehnsucht nach Form.
Durch ihre innere Gliederung bewahren die Formen des Lebens ihr
Eigensein und damit auch ihre unaufhebbare „Andersheit“ gegenüber dem
reinen Ablauf der Lebensprozesse. Leben geht daher niemals in einer einmal
erreichten Form auf, sondern bleibt diese Bezugswirklichkeit, diese – wie man
auch sagen könnte – relationale Realität, die sich im Vollzug ihrer Bezüge
zugleich aufbaut und verändert.
Eben dieses dynamische Verhältnis war es, das Cassirer als
„Wechselspiel“ zwischen forma formans und forma formata darstellte und dann
„als Pendelschlag des geistigen Lebens selbst“, als das, „was das Werden des
Geistes und das Werden der Kultur“ ausmacht. Lassen sich also
Sinnverhältnisse, um die es in den Geisteswissenschaften geht, in ihrer Struktur
wie oder sogar als Lebensprozesse darstellen?
3
Form und Sinn
Tatsächlich weisen viele Formulierungen Cassirers in diese Richtung. Immer
wieder stellt er die Prozessform – die Ausbildung und Befestigung einer Form,
die Umformung dieser Form zu einer neuen Form, deren Befestigung und
erneute Umformung, die „Festigkeit und innere Wandlungsfähigkeit“ einer
11
So in Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt.
Wiesbaden [Aula-Verlag] 131986, 131ff.
12
ECW Band 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture.
Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2006, S. 28. Sowohl in der englischen Originalausgabe
als auch in der deutschen Übersetzung (Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen.
Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1996, S. 47)
wird Uexküll falsch als Johannes von Uexküll zitiert.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 9
Gestalt13 usw. – als solche in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Und immer
wieder finden sich dann die Wendungen, die die Lebendigkeit einer Gestalt14
als Charakteristikum der geistigen Welt herausstellen, die von einem
„lebendige[n] Gewebe des Geistes“15, von einer „lebendigen Wissenschaft“16
oder auch einer „lebendige[n] Heuristik“17 und ähnlichem reden.
Auf der anderen Seite hebt Cassirer allerdings auch immer wieder die
Besonderheit der geistigen Lebendigkeit im Unterschied zur organischen
Lebendigkeit hervor. Wo es im organischen Leben um Wirkverhältnisse geht,
geht es im geistigen Leben um Sinnverhältnisse.
Was sind Sinnverhältnisse? Oder einfacher: Was ist Sinn? Über Cassirers
eigene Formulierungen hinaus gedacht lässt sich Sinn über den
Zusammenhang von Form und Sinn verstehen: Wir sehen eine Form, ein
Liniengefüge oder ein Farbengeflecht, eine Wölbung oder eine Kante. Aber wir
sehen nicht nur diese Form. Wir sehen sie als Verweisungsmomente auf ihr
Auftreten auch in anderen Konstellationen. Die Form in einer Rockfalte und in
der Kante eines Felsens, in einem Nasenrücken – den das Englische übrigens
als „bridge of the nose“ sieht – und im Sturzflug einer Seeschwalbe: die Form in
der Vielfalt ihres Auftretens schafft ein Netz von Verweisungen, sozusagen
Verwandtschaftsbeziehungen der Formen, die unsere Sehwelt
zusammenhalten.
Aber nicht nur das. Über diese Verweisungsverhältnisse bildet sich für uns
Sinn aus: sichtbarer Sinn. Denn Sinn ist in seiner Grundform Verweisung,
Zusammenhang, Ordnung. Sinn wird durch Form in die Welt gebracht, weil
13
ECN Band 10: Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte 1925-1944. Hg.
von Barbara Naumann in Zusammenarbeit mit Simon Zumsteg. Hamburg [Felix Meiner
Verlag] 2006, S. 26.
14
Z. B. ECW Band 7: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte.
Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2001, S. 316, 317, ECW Band 8: Kants Leben und Lehre.
Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2001, S. 301, ECW Band 9: Aufsätze und kleinere
Schriften (1902-1921), Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2001, S. 317, 336 ECN Band 3:
Geschichte. Mythos, mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst,
Organologie. Sinn, Sprache, Zeit. Hg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert KoppOberstebrink und Rüdiger Kramme. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002, S. 224, 226.
15
ECN Band 1, S. 6.
16
ECN Band 5, S. 91.
17
ECW Band 5, S. 272.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 10
Form Verweisung, Zusammenhang und Ordnung ermöglicht. Sinn entsteht in
der Formwahrnehmung.
Dieses Verhältnis von Form und Sinn überträgt Cassirer auf das Verhältnis
von Form und Leben. Wie Sinn in Verweisungsverhältnissen entsteht, so
entsteht Leben in Korrelationsprozessen. Beide – Verweisungsverhältnisse und
Korrelationsprozesse – sind Formen reflexiver Selbstbezüge: einmal als
symbolische Verweisungen in einem Formkreis und zum anderen als reale,
d. h. energetische, Prozesskoppelungen in einem Funktionskreis. Man kann
dabei das „Herauswachsen“ eines Sinnverhältnisses aus einem Wirkverhältnis
durch besondere formfähige und formbildende Wirkverhältnisse oder auch – mit
der Gehlenschen Formulierung – durch „Kreisprozesse im Umgang“
verdeutlichen.
Das Ereignis des Wahrnehmens wird zu einer Form, wenn sich im
Wahrnehmen korrespondierende Momente entwickeln, die aufeinander
verweisen. Die Linie, die sich krümmt, der Farbtupfer, der sich ausbreitet, der
Ton, der sich abschwächt – sie alle sind dynamische Spannungen, die sich für
unsere Wahrnehmung als ein Gefüge von inneren Verweisungen anbieten.
Diese Verweisungen, die sich im Wahrnehmen ausbilden, sind zugleich eine Art
von Führungslinien für unser Wahrnehmen. In diesem Geführtwerden baut sich
unser Wahrnehmen zugleich auf und erscheint ihm so die Form eines
Wahrgenommenen. Ernst Cassirer bringt diesen Zusammenhang auf die
Formel:
„Die ,Gestalt‘ der Welt ,ist‘ nicht praeexistent, um nachher sichtbar gemacht
zu werden – sondern im Sehen und für das Sehen bildet sich die
Gestalt“.18
Will man solche korrespondierenden Verweisungen in sich, in ihrer inneren
Form also, darstellen, so kann man auf verschiedene Arten von
Wechselverhältnissen hinweisen, auf das Verhältnis der Spiegelung oder der
Resonanz, der Variation oder überhaupt des Rückbezugs. Sie – diese
korrespondierenden Verweisungen – sind es, die etwas in eine Form bringen.
Mit dieser Form wird ein neues Sein in die Welt gebracht, ein Sein aus eigenem
18
ECN Band 3, S. 249.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 11
Recht, das von nun an eine Identität besitzt. Man kann sich auf dieses
identifizierbare Sein als dieses oder jenes beziehen.
Nehmen wir als Beispiel einen Ton und einen Klang. Erst wenn die
Schwingungsereignisse sich in einer periodischen Ordnung aufeinander
beziehen, haben wir es nicht nur mit Geräuschen oder einem ungeordneten und
nur noch in seiner Intensität identifizierbaren Rauschen zu tun. Wir hören
vielmehr einen Ton, den wir in seiner Höhe und Lautstärke identifizieren
können. Und wenn verschiedene periodische Schwingungsfolgen sich ihrerseits
in die Wechselbeziehung von Teilschwingungen und umfassenden
Grundschwingungen ordnen, hören wir einen Klang. Töne und Klänge sind
identifizierbar, weil sie unser Hören in eine innere Ordnung von zueinander
führenden und damit aufeinander verweisenden Hörereignissen hineinziehen.
Dieses Wechselverhältnis bildet einen Formkreis, der von unserer
Wahrnehmung immer wieder durchlaufen werden und in dem unsere
Wahrnehmung, ihn immer wieder durchlaufend, verbleiben kann.
Sowohl unser Hören als auch das Gehörte ist damit in eine Form
gebracht. Wir hören etwas – nämlich Schallereignisse – als etwas – nämlich als
bestimmte, d. h. in ihren Tonhöhen oder Intervallen, in ihrer Lautstärke und
Klangfarbe identifizierbare, Töne oder Klänge. Wir hören in sich gegliederte
Ton- und Klangformen und Klangformverhältnisse. Wir hören akustische
Sinnverhältnisse. Und diese wiederum sind sich aus sich selbst in der
Wahrnehmung herausbildende Formen. Noch einmal pars pro toto mit
Cassirers eigener Formulierunng gesagt:
„im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt“.19
4
Formen des Wollens und Wirkens
Dieses Sich-Bilden der Gestalt, der Form, macht die Form zu einem Eigenen,
das nicht – obzwar es aus der Welt- und Selbsterfassung hervorgeht – unter
der Herrschaft des subjektiven Erfassens steht. Wenn es auch durch die
Beteiligung dieses Erfassens entstehen kann, gewinnt es doch, einmal
entstanden, seine eigene Dynamik, die sich in einer kollektiven Formgleichheit
19
ECN Band 3, S. 249.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 12
der einmal entstandenen Formverhältnisse auswirkt. Auf diese Weise entstehen
nicht nur die Arten und ihre Merkmale im Bereich des Lebendigen, sondern
stabilisieren sich auch in den historischen Sinnverhältnissen kollektive Formen
des Wollens und Wirkens. Auch in dieser historischen Welt finden wir daher
kollektive Formen, die zwar in den konkreten Beziehungen der Menschen
zueinander gründen, dann aber zu bestimmten sich selbst etablierenden und
tradierenden Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führen.
Dabei muss aber ein entscheidender Unterschied zu der Formbildung im
Bereich des organischen Lebens festgehalten werden: ein Unterschied, auf den
der Sache nach schon bei der Darstellung des Zusammenhang zwischen Form
und Sinn hinzuweisen war. Denn Sinn im Unterschied zu Leben konnte nur
durch ein Erfassen von Verweisungen und damit von Formen entstehen, das
diese Verweisungen und Formen auch unabhängig vom Wechsel der Kontexte
und Situationen, in denen sie auftauchen, identifiziert. Eben diese situationsund kontextübergreifende Wahrnehmung bietet ja erst die Möglichkeit zum
Aufbau eines Beziehungsnetzes zwischen den Formen. Die Formen, so können
wir auch sagen, müssen in sich und als sie selbst erfasst werden, um Sinn
entstehen zu lassen.
Diese die Formen verselbständige Erfassung ist ein Charakteristikum der
menschlichen Wahrnehmung und wird von Cassirer in seinem Essay on Man
bei seiner Nachzeichnung des Weges „From Animal Reactions to Human
Responses“ auch entsprechend hervorgehoben.20 Mit dieser
Verselbständigung der Form wird diese zum immer wieder identifizierbaren
Ausgangs- und Endpunkt von Verweisungen von Formen auf Formen. Kurz:
Formen repräsentieren und schaffen damit ein Netz von
Repräsentationsbeziehungen, ein, wie Cassirer sagt, „lebendige[s] Gewebe des
Geistes“.21 Mit Cassirer können wir dann schließlich auch sagen: Sie schaffen
eine Gewebe von Symbolen, von gesellschaftlich sedimentierten
Repräsentationsformen.
In diesem Gewebe können sich Anziehungs- und Sammlungspunkte,
Gravitations- und Assoziationsfelder ausbilden, die sich zu „Ideen“, zu
20
ECW Band 23, S. 32-47.
21
ECN Band1, S. 6.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 13
kollektiven Gedankenverknüpfungen, verfestigen und dadurch zu Faktoren der
kollektiven Weltorientierung entwickeln.
So stellt Cassirer denn auch fest:
„Die verschiedenen Staaten, die grossen Mächte, die sich jeweilig in einer
bestimmten historischen Epoche gegenüberstehen – die sich die
Herrschaft streitig machen – die mit einander um den ,historischen
Lebensraum‘ ringen – sie repraesentieren je eine bestimmte ,Idee‘, d. h. sie
verkörpern eine bestimme Richtung des Herrschaftswillens –
Diese Richtung liegt all ihren Einzelaktionen zu Grunde – und es ist die
Kunst des Historikers[,] sie sichtbar zu machen – sie in den einzelnen,
empirisch noch so zufälligen, Entschlüssen und Aktionen der ,großen
Mächte‘ wiederzuerkennen als das eigentlich beseelende Grundmotiv,
was die einzelnen Akte davor bewahrt, zu zerflattern,
was sie zu einer (teleologischen) Einheit zusammenschließt“22
Er spricht in diesen Zusammenhang auch von einem „Gesamtwollen“, für das
der Einzelakt „symbolisch“ sei.23 Dieses „Gesamtwollen“ kommt durch „Kräfte“
zustande, „die in den einzelnen Taten ihren Ausdruck und Ausbruch gefunden
heben“, durch „ganz bestimmte gerichtete Kraftquellen“, die er
„gewissermassen als gewaltig aufgespeicherte Energien, als ,vektorielle‘
Größen“ ansieht.24
Fragt man, wie dieses Verhältnis zwischen den allgemein wirkenden
„Kräften“ und dem Wollen der Einzelnen näherhin zu denken ist, so verweist
Cassirer auf die „Einheit der Motivation“:
„Das waere sodann eine neue, erst wahrhaft ,philosophische‘ Auffassung
der Geschichte: philosophisch, weil sie nicht auf die Mannigfaltigkeit der
Dinge, Ereignisse, Vorgänge, Taten gerichtet ist, – sondern für die
Mannigfaltigkeit eine ,Einheit‘, als den ,Grund‘ des Mannigfaltigen ansetzt
und voraussetzt – eine Einheit, die in nichts anderem gefunden werden
kann, als in der Einheit der Motivation“.25
22
ECN Band 3, S. 55.
23
ECN Band 3, S. 56.
24
ECN Band 3, S. 57.
25
ECN Band 3, S. 59f.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 14
Zwei Seiten dieser „Einheit der Motivation“ scheinen hier wesentlich und in ihrer
Verschränkung wirksam zu sein. Einmal der Charakter der Motivation als
solcher, dass mit ihr nämlich die „inneren Kräfte“ der Motivation, die Cassirer
auch als „Triebe“ sieht, Vorstellungen erregen und erst über diese
Vorstellungen „auf unser Handeln einwirken und den Lauf dieses Handelns
wesentlich lenken“. Zum anderen ist dabei ein entscheidender Zug dieses
Wirkzusammenhangs, dass sich die „Vorstellungsmassen verdichten“,26 dass
sie sich zu einer Einheit zusammenschließen.
5
Form- und Stilbegriffe
Es ist diese Formeinheit, diese einheitliche Form verschiedener
Formverhältnisse, die für Cassirer die kollektive Wirkungsweise bestimmter
Motive und Vorstellungen ermöglicht. Wie aber ist die Entstehung einer solchen
Formeinheit zu verstehen, und wie ist diese Einheit der Formen zu
charakterisieren?
Cassirer selbst erläutert sein Verständnis dieser Formeinheit noch
dadurch, dass er in ihr – und dies vor allem in seinen nachgelassenen
Manuskripten – im Anschluss an Max Weber einen „Idealtypus“27 oder einen
„Stil-Charakter“28 sieht, der durch „Stilbegriffe“29 darzustellen ist.
Vor allem in seinen Manuskripten zur Kulturphilosophie finden sich
Cassirers Überlegungen zu den Stilbegriffen. So erklärt er:
26
ECN Band 3, S. 62.
27
ECN Band 3, S. 71f., 93, 169. ECW Band 15, S. 220: „Man kann von Montesquieu
sagen, daß er der erste Denker ist, der den Gedanken des historischen ,Idealtypus‘
gefaßt und der ihn klar und sicher ausgeprägt hat. Der »Geist der Gesetze« ist eine
politische und soziologische Typenlehre. Was hier gezeigt und was streng bewiesen
werden soll, ist dies, daß die politischen Gebilde, die wir mit dem Namen der Republik,
der Aristokratie, der Monarchie, des Despotismus bezeichnen, keine bloßen Aggregate
sind, die aus bunt zusammengewürfelten Einzelheiten bestehen, sondern daß jedes von
ihnen gewissermaßen präformiert, daß es Ausdruck einer bestimmten Struktur ist.“
28
ECN Band 3, S. 197.
29
ECN Band 3, S. 232 („Stilbegriffe“, die sich auf „dauernde Tendenzen der Gestaltung“
beziehen), 236 („Die Begriffe, die wir brauchen, sind immer Stilbegriffe“); ECN Band 2:
Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis. Hg. von Klaus Christian Köhnke und John
Michael Krois. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1999, S. 165; ECN Band 5:
Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941. Hg. von Rüdiger Kramme †
unter Mitarbeit von Jörg Fingerhut. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2004, S. 103 („Alle
Kulturbegriffe sind Stilbegriffe“), 122, 133, 166, 168f., 171, 222, 230, 245.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 15
„Und die gesamte Kulturwissensch[aft] besteht zuletzt in der Gewinnung
solcher Stilbegriffe, durch deren fortschreitende Anwendung wir ein
individuelles Gebilde bestimmen – als dieser oder jener Epoche dieser oder
jener Kultur[,] diesem oder jenem Künstler ,zugehörig‘ erkennen können –
Diese Zugehörigkeit gibt dann die synthet[ische] Einheit des
Mannigfaltigen, die wir suchen: wir ordnen die Phaenomene in Reihen –
und durch diese Form der ,Reihung‘ treten sie für uns zusammen und
auseinander – wir unterscheiden und verbinden
und dieses Unterscheid[en] und Verbinden kann, wie die Entwickl[ung] der
Wissensch[aften] zeigt, zu immer grösserer Schärfe und Deutlichkeit
gebracht werden“.30
Ein „individuelles Gebilde“ soll durch Stilbegriffe charakterisiert werden, wobei
diese Individualität die einer Epoche, einer Kultur oder eines Künstlers sein
kann. Das „Bestimmen“ von Individualität wird damit zur Hauptaufgabe der
Kulturwissenschaft erklärt. Es ist aber, um dies noch einmal zu wiederholen,
nicht die Individualität von Ereignissen, um die es hier geht, sondern die
Individualität von Formen und damit von Sinnverhältnissen, also kulturellen
bzw. geistigen Sachverhalten. Zu begreifen oder – wie Cassirer formuliert – zu
„bestimmen“ ist also die individuelle Form von Sinnverhältnissen.
Und dies solle am Ende „zu immer grösserer Schärfe und Deutlichkeit“
des Begreifens führen. Der Weg allerdings, den Cassirer zu diesem Ziel angibt,
erscheint einem eher mathematischen Denken zu entsprechen als einer
Phänomenologie der Kultur. Denn in welchem Sinn eine Reihenbildung hier
hilfreich sein kann, bleibt schwer bis unverständlich. Ich sehe darin ein Relikt
aus der Zeit der Arbeit an „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“31, das
Cassirer bis in seine Philosophie der symbolischen Formen und noch spätere
Schriften hinein immer wieder aufgreift.
Tatsächlich führt aber auch Cassirer selbst viel häufiger als die
Reihenbildung den Idealtypus Max Webers an, um die Bildung von Stilbegriffen
zu erläutern. Und der Idealtypus lässt sich als eine Konfiguration verschiedener
Denk- und Handlungsformen verstehen, die als ein charakteristisches Ganzes
30
ECN Band 5, S. 168f..
31
ECW Band 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die
Grundlagen der Erkenntniskritik. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2000.
Erstveröffentlichung 1910.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 16
einzelne Handlungen und Gedanken und auch einzelne Entwicklungen – und in
diesem Sinne dann auch „Reihen“ – von Handlungen und Gedanken zu
erklären erlaubt.
Dass jede solche Erklärung und damit auch die Konstruktion von
idealtypischen Form- und Sinnverhältnissen provisorisch bleibt und sich in
ihrem Gebrauch ständig ändert, ist für Cassirer dabei kein Argument gegen die
Wissenschaftlichkeit der Stilbegriffe:
„Alle Gestaltbegriffe, Stilbegriffe sind provisorisch, und ständig
vervollkommnungsfähig – aber das ist kein Einwand gegen ihre
,Wissenschaftlichkeit‘[; im Gegenteil: dieser provisorische Charakter ist
auch in der Physik nie zu überwinden. Auch die Gesetzesbegriffe sind
,offene‘ Systeme[,] keine ,geschlossenen‘ Systeme von Phaenomenen –
hierin vermögen wir also keinen Mangel an Exaktheit in den
kulturwiss[enschaftlichen] Gestaltbegriffe[n] zu erkennen und
anzuerkennen – Und auch der ,Objektivierungsprozess‘ vollzieht sich in
beiden Fällen ganz analog“.32
Interessant erscheint hier der Vergleich ausgerechnet mit der Physik und nicht,
wie meist sonst, mit der Biologie. Die Gesetze allerdings, um die es hier geht,
sind keine Gesetze von reibungsfreien Verläufen womöglich noch im Vakuum
eines abgedichteten Laborraumes. Die Gesetze, um die es hier geht, schließen
auch die Umgebungen der Verläufe ein, also deren Randbedingungen, mit
deren Veränderung sich auch die Verlaufsformen ändern können. Sie
formulieren damit Strukturverhältnisse und sind so in der Tat „offene Systeme“
und damit Formbegriffe. Cassirer kann hier auf seine Studien zu
„Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik“33 zurückgreifen
und sich auf einen weiteren – auch die Betrachtung der Randbedingungen
umfassenden – Physikbegriff beziehen als in seinen frühen Schriften.
In dieser erweiterten Perspektive kommt den Form- und Stilbegriffen sogar
die fundierende Rolle zu, die Wissenschaft wie die Wissenschaftlichkeit
32
ECN Band 5, S. 169.
33
ECW Band 19. Erstveröffentlichung als Band 42, Nr. 3 (1936) in der Reihe Göteborgs
högskolas årsskrift, Stockholm 1937, erschienen. (S. dazu den Editorischen Bericht in
ECW Band 19, S. 257. Das Manuskript, aus dem hier zitiert ist, ist wahrscheinlich
1937/38 entstanden. (S dazu den Editorischen Bericht in ECN Band 5, S. 260.)
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 17
überhaupt und darüber hinaus, wie es scheint, auch das nichtwissenschaftliche
Wissen auf den Begriff zu bringen. Zwar formuliert Cassirer vorsichtiger:
„Was wir bedürfen ist, wie mir scheint, eine eigene Theorie der Form- und
Stilbegriffe, die sowohl der Theorie der mathematisch-physikalischen
Begriffe, als auch der Theorie der historischen Begriffe auf der andern
Seite, gleichberechtigt zur Seite treten kann.“34
Aber wenn sowohl die Kulturwissenschaft und damit auch die historische
Forschung auf der einen Seite und die Naturwissenschaften einschließlich der
Physik auf der anderen Seite Form- und Stilbegriffe benötigen, weil sie „offene
Systeme“ sind, wird die eingeforderte Theorie der Form- und Stilbegriffe zur
Grundlagendisziplin für beide Wissenschaftszweige bzw. -kulturen.
Wie sollen wir nun aber die Entstehung einer solchen Formeinheit zu
verstehen?
6
Form als dynamisches Korrespondenzverhältnis
Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, auf die Form- und damit
Erkenntnisbildung in der historischen Forschung, so wie Cassirer sie sieht,
einzugehen. Diesen Erkenntnisprozess stellt Cassirer als einen Prozess
„wechseitiger Formung“ von forschendem Subjekt und erforschter Geschichte
dar:
„,Geschichte‘ ist ein Ergebnis aus wechselseitiger Formung, vom Subjekt
und vom Objekt her – beide als noch nicht erstarrt, fest, gegeben gedacht –
sondern beide an einander sich suchend und findend – in steter
Beweglichkeit und Plastizität[.]
Dem ,Fertigen‘ erschliesst sich keine ,Geschichte‘ – nur wer selbst noch
Geschichte ,ist‘ und Geschichte ,hat‘, dem kann Geschichte sichtbar
werden und etwas bedeuten“.35
Cassirer sieht in diesem Verhältnis lediglich einen besonderen, auch in der
historischen Forschung auftretenden Fall einer allgemeinen Beziehung, die das
Verhältnis zwischen Ich und Welt charakterisiert:
34
ECN Band 5, S. 245.
35
ECN Band 3, S. 119f.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 18
„Indem das ,reine Ich‘ in einem bestimmten, Schwingungszustand‘ sich
befindet, teilt sich dieser Schwingungszustand allem mit, was es, in
Wahrnehmung und Anschauung, an objektivem ,Inhalt‘ vor sich hat –
die Welt um es umher, wie ,sie‘ durch die Anschauung geformt wird, gerät
in denselben Schwingungszustand – und bleibt doch ein durchaus Eigenes,
Selbständiges, Objektives – vom Ich Getrenntes u[nd] dem Ich
,Gegenüber‘-Stehendes
aber die Form der ,Oszillation‘ – das Auf und Ab der Bewegung – dies ist
auf beiden Seiten ,dasselbe‘ oder vielmehr es ,entspricht sich harmonisch‘
– wie es ,harmonische Wellenzüge‘ gibt[.] […] ,
[…] Natur‘ u[nd] ,Ich‘ in ,harmonischem’ Schwingungszustand […]“.36
Mit dieser Metapher verlegt Cassirer die menschliche Erkenntnis in einen
Bereich der Selbstorganisation, des Sich-Einschwingens, der heute
insbesondere in der neuropsychologischen Hirnforschung eine prominente
Rolle spielt. So stellt etwa Wolf Singer die Vernetzung neuronaler Prozesse als
eine Synchronisation von Oszillationsphasen dar.37 Und auch in der
Philosophie gibt es die ähnliche Metapher der Resonanz. So schreibt Helmuth
Plessner 1928 in seiner Philosophischen Anthropologie:
„Geistiges Leben braucht […] Resonanz und wird nur in
Resonanzphänomenen faßbar.“38
36
ECN Band 3, S. 262.
37
Im Zusammenhang mit dem sogenannten Bindungsproblem - philosophisch könnte man
auch vom Synthese-Problem reden - sagt Wolf Singer: „Das Bindungsproblem resultiert
aus der distributiven Organisation des Gehirns und dem Fehlen eines singulären
Koordinationszentrums. […] Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und
wohlkoordinierte Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muß
Metarepräsentationen für die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben […] Wir vermuten,
daß die Einbindung verteilten Neuronengruppen in diese Metarepräsentationen durch die
zeitliche Synchronisation neuronaler Antworten erfolgt. Die Signatur, welche die Aktivität
verteilter Neuronengruppen zusammenbindet, wäre die präzise zeitliche Synchronisation
der entsprechenden Aktivitätsmuster.“ Vgl. dazu auch Singers Beschreibung eines
Wahrnehmungsprozesses, in dem „räumlich verteilte Merkmalsdetektoren ihre
rhythmischen Aktivitäten synchronisieren können und dann in Phase schwingen.” (Wolf
Singer: Hirnentwicklung und Umwelt. In: Wolf Singer (Hg.), Gehirn und Kognition.
Heidelberg [Spektrum der Wissenschaft] 1990, S. 63.
38
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
philosophische Anthropologie. Berlin / New York [Walter der Gruyter, Sammlung
Göschen 2200] 1975, S. 16. Das Manuskript des 1928 in erster Auflage publizierten
Werkes war 1926 abgeschlossen.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 19
Cassirer bedient sich also keiner ungewöhnlichen Metapher, wenn er von
Schwingungszuständen, harmonischen Wellenzügen und Oszillation spricht.
Gleichwohl wird man hier ein gewisses Ausweichen vor einer genaueren
Klärung der epistemischen Verhältnisse nicht übersehen können. Es bleibt bei
Hinweisen, die auch als subjektivistisch missverstanden werden könnten.
Gelingt doch das historische Verstehen nur dann, wenn die historischen
Entwicklungsfaktoren als mögliche Momente des eigenen Sinnverstehens und
damit der eigenen Entwicklung erfasst werden.
Dass Cassirer diese Verschränkung objektiver und subjektiver Form- und
Sinnentwicklung nicht subjektivistisch meint, lässt sich verstehen, wenn man
seine übrigen Formulierungen über diese Verschränkung hinzu nimmt. So
schreibt er über das „große Kunstwerk“, dass in ihm eine „neue Form der
Wirklichkeit heraufsteigt“, die wir in diesem erleben. Und er fügt hinzu:
„In ihm (sc. dem großen Kunstwerk] werden wir ,unserer selbst‘ gewahr –
nicht desjenigen ,realen‘ Selbst, das einer einzelnen realen Seins-Stelle
verhaftet ist, das ,verhaftet an dem Körper klebt‘
sondern der ganzen Schwingungsebene unseres Ich –
nicht seiner ,wirklichen‘ Inhalte, Stoffe, sondern seiner (funktionellen)
Möglichkeiten[.]“39
Was wir in dem Kunstwerk erfassen können, sind eigene Möglichkeiten:
Möglichkeiten der Welt- und Selbstwahrnehmung. Und diese erschließen sich
uns nicht in einem diskursiven Prozess, sondern im Wahrnehmen, in dem wir
uns auf das Kunstwerk oder was sonst auch immer einlassen. Dieses SichEinlassen auf etwas ist es wohl, was Cassirer als ein Resonanz- oder auch
Korrespondenzverhältnis zu beschreiben versucht.
Und dieses Verhältnis sieht Cassirer in einer ähnlichen Weise auch für
verschiedene bereits etablierte, nämlich wirtschaftliche, rechtliche, religiöse und
künstlerische Ordnungsformen:
„Die Formen reflektieren sich in einander u[nd] werden durch einander
erkannt“.40
39
ECN Band 3, S. 44.
40
ECN Band 3, S. 67.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 20
Insgesamt nennt er diese Formbeziehungen „Korrelationen“41 und die
Formenlehre eine „Korrelations-Lehre“, „eine Lehre von der wechselseitigen
Entsprechung“.42 Dabei ist es so, dass diese Korrelationen in sich selbst die
Formen, eine jeweils „innere Form“,43 bilden und als sie selbst in
verschiedenen Bereichen sich entwickeln und wirken können. Sie sind
Relationen, die nicht durch die Relata definiert sind, die sie in eine Verbindung
bringen, sondern alleine durch ihre „immanente Gliederung“.44
„Formen können ,sich entsprechen‘, können einander analog, zugeordnet[,]
eben ,kon-form‘ sein, auch wenn die Inhalte gar nichts mit einander gemein
haben, ganz verschiedenen Dimensionen angehören“.45
Diese „wechselseitigen Entsprechungen“ sind für Cassirer gleichsam das
Gewebe, das „die Welt im Innersten zusammenhält.“46 Dadurch, dass sie
verschiedene Dimensionen von „Sinn-Ordnungen“47 durchziehen, beziehen sie
diese auch aufeinander und schaffen sie die in sich vielfältige Einheit, die wir
als unsere Welt erfahren.
41
ECN Band 3, S. 70.
42
ECN Band 3, S. 67.
43
Für Cassirer ist der Begriff der „inneren Form“ grundlegend und – auch in Abwandlungen
wie der Rede etwa von „inneren Gesetzen und Regeln“ usw. Vgl. dazu auch ECN
Band 3, S. 250f.
44
Es sei hier daran erinnert, dass diese Eigenexistenz der immanenten Gliederung auch
zur Definition der symbolischen Prägnanz gehört: „Vielmehr ist es die Wahrnehmung
selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ,Artikulation‘
gewinnt - die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer
vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ,im‘ Sinn.
Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint
gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit
des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein
charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ,Prägnanz‘ bezeichnen.“ (ECW
Band 13, S. 231.)
45
ECN Band 3. S. 72.
46
Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Erster Teil, Nacht.
47
ECN Band 3, S. 173.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
7
Seite 21
Die zwei Kulturen und die Einheit von Natur- und
Geschichtswissenschaften
Kehren wir damit zurück zu unserem Ausgangspunkt: zu den zwei Kulturen und
der einheitswissenschaftlichen Perspektive. Für Cassirer ist es der Grundfehler
im gängigen „kausalistischen“ Wissenschaftsverständnis, dass die
Wissenschaften als Ursachenforschung verstanden werden. Dabei ist zu sehen,
dass Cassirer die Erforschung der Ursachen und die Aufstellung von
entsprechenden Gesetzen – wohl unter dem Leitbild der klassischen Mechanik
– auch in seinen Manuskripten aus der schwedischen und amerikanischen Zeit
immer wieder noch als Aufgabe der Naturwissenschaften sieht. Zugleich
erkennt er aber auch – wohl unter dem Eindruck der Entwicklungen in der
modernen Physik, wenn auch nicht schon in der Relativitätstheorie,48 sondern
erst in der Quantenphysik und dem Determinismusproblem –, dass alle
Naturwissenschaften Strukturforschung zu sein haben, die sich auch auf die
Konfiguration der Randbedingungen bezieht. Erst in diesem zweiten
Verständnis, auf das er allerdings nur programmatisch und pauschal hinweist
und das er nicht wirklich ausführt, hat er die Perspektive gewonnen, in der sich
48
Die Besonderheit der Relativitätstheorie gegenüber der klassischen Mechanik besteht für
Cassirer in der Relativität der Bezugssysteme, in denen Bewegungen dargestellt und
gemessen werden, nicht aber in der Abhängigkeit von physischen Randbedingungen. Die
Pointe sieht er darin, dass Die Bewegungsgesetze unabhängig von den verschiedenen
Bezugssystemen formuliert werden können. Vgl. dazu ECW Band 10: Zur Einsteinschen
Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Hamburg [Felix Meiner Verlag]
2001, S. 34: „Die Gesetze, nach denen sich die Zustände der physikalischen Systeme
ändern, sind unabhängig davon, auf welches von zwei relativ zueinander in
gleichförmiger Translationsbewegung befindlichen Koordinatensysteme diese
Zustandsänderungen bezogen werden.“ Und auch, wenn er von der „Systemform der
Natur und ihrer Gesetze“ spricht, versteht Cassirer darunter lediglich die mathematisch
formulierbare Invarianz „universeller Konstanten“ und „universeller Gesetze“. Vgl. dazu
ECW Band 10, S. 66f.: „Auch hierin äußert sich wieder das charakteristische Verhalten
der allgemeinen Relativitätstheorie: Indem sie die Dingform der endlichen und starren
Bezugskörper zerschlägt, will sie eben damit nur zu einer höheren Objektform, zur echten
Systemform der Natur und ihrer Gesetze vordringen. Nur dadurch, daß sie die
Schwierigkeiten, die sich schon der klassischen Mechanik aus der Tatsache der
Relativität aller Bewegungen ergeben hatten, steigert und überbietet, hofft sie einen
prinzipiellen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten zu finden.“ Ebd., S. 77.: „Der Physiker
rechnet jetzt weder auf die Konstanz jener Objekte, | bei denen sich die naive sinnliche
Weltansicht beruhigt, noch auf die Konstanz der besonderen, von einem einzelnen
System aus gewonnenen räumlichen und zeitlichen Maßbestimmungen – aber
dessenungeachtet behauptet er, als Bedingung seiner Wissenschaft, den Bestand
,universeller Konstanten‘ und universeller Gesetze, die für alle Systeme der Messung den
gleichen Wert behalten.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 22
die Wissenschaften insgesamt – und damit auch alle Naturwissenschaften und
nicht nur die Biologie – als Strukturforschung verstehen lassen.
Gerade in seinen programmatischen Hinweisen steckt aber ein
wissenschaftsphilosophisches Projekt, das über die weitere Ausarbeitung des
Formbegriffs ein nicht reduktionistisches Verständnis der Einheit der
Wissenschaften zu entwickeln hätte.
Cassirer selbst jedenfalls hat dies als Aufgabe gesehen und ausdrücklich
formuliert. Dabei steht die Kulturwissenschaft und die historische Forschung im
Vordergrund. So konstatiert Cassirer:
„Das „Kausalproblem“ – das Problem, worin das „Wirken“ in der Kultur
besteht – lässt sich hier niemals losgelöst vom Formproblem stellen – und
es lässt sich, innerhalb der Kulturwiss[enschaft], immer nur durch
Rückgang auf das Formproblem lösen“49
Und zur Begründung fügt Cassirer hinzu:
„Alles individuelle ,Wirken‘ im theoretischen wie im praktischen Sinne
erfolgt ja hier schon immer innerhalb einer „vorgegebenen“ Form („in“ der
Sprache, „im“ Staat)
andererseits ist diese Form nicht in dem Sinne vorgegeben, daß sie als ein
Ens per se im begriffsrealistischen Sinn vorausginge („die“ Sprache ist nur
„im“ Sprechen, „der“ Staat nur „in“ den Bürgern)
es ist also hier stets eine individuelle Aktivität die eingebettet ist in eine
universale Form –
und es ist eine universale Form, die sich nicht anders manifestieren kann
und die gar nicht anders „da ist“ als in einer sich fortzeugenden Gesamtheit
von Taten, von individ[uellen] theoretischen und praktischen Akten“50.
Zugleich betont Cassirer auch die disziplinübergreifende Bedeutung des
Formproblems:
„Denn jedes echte Formproblem kann nicht nur, sondern es muss sowohl
natur-theoretisch als geschichts-theoretisch behandelt werden“.51
49
ECN Band 5, S. 190f.
50
ECN Band 5, S. 191.
51
ECN Band 3, S. 235.
Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer und die zwei Kulturen
Seite 23
Dabei sieht Cassirer zwar Möglichkeiten zur Überwindung eines
reduktionistischen Kausalismus, allerdings auch die Gefahr, Form wieder im
kausalistischen Sinne zu interpretieren.
„Die Unsicherheit über das Verhältnis Ursache – Form – Zweck ist für die
Erkenntnislehre der Biologie wir für die Geschichte das eigentliche und
schwierigste Hindernis“.52
Und auch, wenn „die Eigentümlichkeit ihres Formbegriffs“ erkannt wird, hat sich
doch immer wieder die Tendenz eingestellt, den Formbegriff seinerseits durch
den Kausalbegriff zu interpretieren und damit die Form als „eine neue Art von
Ursache‘ (neben der mechanischen)“ einzuführen:
„Dieser Weg lässt sich von Platon an bis zur Erkenntnistheorie der
modernen Biologie und der modernen Historik verfolgen“53
Indem an man die Form „zu einer ;Art von Ursache‘ macht und „das Wirken der
Form-Ursachen zu beschreiben und im Einzelnen zu erklären sucht“, hat man
„sich schon dem ,Kausalismus‘ in die Arme geworfen“. Statt dessen hätte man
„in der ,Form‘ einen ,Gesichtspunkt‘, eine regulative Maxime, eine Funktion der
,Synthesis‘ zu sehen)“.54
Was man bisher noch nicht durchzuführen vermocht hat, wartet nun auf
uns.
52
ECN Band 3, S. 126.
53
Ebd.
54
ECN Band 3, S. 132.
Herunterladen