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Die symbolische Existenz des Göttlichen
Mythos und Religion bei Ernst Cassirer
von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin
1
Cassirers philosophische Konzeption
Wer über den Mythos und die Religion bei Ernst Cassirer redet, kann nicht nur
über den Mythos und die Religion reden. Das Verhältnis von Mythos und
Religion zueinander und insbesondere der Übergang vom Mythos zur Religion
gewinnen ihre philosophische Bedeutung erst innerhalb der Gesamtkonzeption
der Cassirerschen Philosophie und dort insbesondere innerhalb einer Theorie
der Kulturentwicklung. Ich möchte daher meiner Darstellung des Verhältnisses
von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer wenigstens eine knappe Skizze der
Philosophie der symbolischen Formen, und zwar in den Punkten, die für das
Verständnis der Kulturentwicklung bedeutsam sind, voranstellen.
Die philosophische Konzeption Cassirers kann man durch einige polare
Begriffsverhältnisse charakterisieren, die vor allem Cassirers Uminterpretation
neukantianischer Perspektiven deutlich werden lassen.
1.1
Poiesis und Expression
Eine erste begriffliche Polarität besteht zwischen Poiesis und Expression. Der
Mensch ist für Cassirer kein weltloses Subjekt, das sich aus der Kraft seiner
produktiven Einbildung und seiner synthetisierenden Verstandeshandlungen
seine Sinnwelt erst schaffen muß. Vielmehr steht der Mensch immer schon in
einer Welt von Ausdrucksverhältnissen, die ihm nicht nur begegnen, sondern
die ihn betreffen und bewegen und die auch seinem eigenen Verhalten in
diesen Verhältnissen einen betreffenden und bewegenden Ausdruck verleihen.
Seine geistige Leistung besteht darin, daß der Mensch in seinem
Ausdrucksverhalten diesem seinen Ausdruck eine Form gibt, daß er sich selbst
in seinem Ausdruck gestaltet und so als Ausdruckswesen, d.i. in seiner
expressiven Existenz, poietisch ist. In einer allgemeinen Formulierung bestimmt
Ernst Cassirer das Zentrum der geistigen Existenz des Menschen durch den
Bezug auf das eine Ziel, „die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
2
Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks
umzubilden.“1
1.2
Medialität und Individualität
Die zweite begriffliche Polarität läßt sich zwischen Medialität und Individualität
ausmachen. Die Gestaltung des Ausdrucks verlangt ein Medium. Ausdruck im
umfassenden Sinne, in dem auch Darstellung und Bedeutung, Gefühl und
Gedanke miteingeschlossen sind, läßt sich nicht als eine Form des reinen
Denkens und keinesfalls in einer der Sinnerfahrung - und kulturellen
Sinngeschichte - vorgängigen, apriorischen Weise verstehen oder
verwirklichen. Ausdruck von welcher Art auch immer ist Arbeit an und in
Sinnstrukturen, die ihre Gestaltungsgeschichte hinter sich haben, also
historisch sind, und die dem momentanen individuellen Ausdruck seine
Gestaltungsmöglichkeiten anbieten. (Cassirer betrachtet diese medialen
Sinnstrukturen übrigens kaum in ihrer Materialität, sondern nahezu
ausschließlich in ihrer Funktion als besondere Gestaltungsmomente und
-faktoren.) Durch ihre Bindung an ein vor allem individuellen Ausdruck bereits
strukturiertes Medium wird die Individualität des Ausdrucks nicht verhindert.
Cassirer, der Philosoph der Individualität, sieht Individualität und Medialität
vielmehr zusammen. Die Individualisierung sowohl des Ausdrucks als auch der
Persönlichkeit insgesamt geschehen allerdings nicht als die abstrakte Setzung
eines Selbst, sondern durch die konkrete Auseinandersetzung mit dem
Anderen der historischen Sinnstrukturen. Die Individualisierung ist daher keine
subjektive
Konstitutionsleistung,
sondern
eine
Interaktionsund
Kommunikationsleistung in und mit einer Sinnwelt.
1.3
Pluralität der symbolischen Formen und Identität der Persönlichkeit
Die dritte begriffliche Polarität findet sich zwischen der Pluralität der
symbolischen Formen und der Identität der Persönlichkeit. Die vor- oder
überindividuellen Sinnstrukturen sind für Cassirer dann symbolischen Formen,
wenn sie sich unter einem Prinzip ihrer Gestaltungsformen fassen lassen. Sie
bilden dann eine Verweisungseinheit im einheitlich gestalteten Bereich. Die
Einheit der Gestaltungsformen - die übrigens nicht als Einheitlichkeit der
Formeigenschaften mißzuverstehen ist - ergibt sich aus einer Ausformung von
Gestaltungsimpulsen nach einem Prinzip der - z.B. bildlichen, motorischen,
sprachlichen,
technischen
Welt-Perspektivierung.
Durch
diese
perspektivierende Ausformung werden Systeme erzeugt, die - gerade aufgrund
ihrer Ausformung in einer bestimmten und also begrenzten Perspektive zwangsläufig einseitig sind und, wie Cassirer bemerkt, sich gleichwohl -
1
PSF I, S. 11f.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
3
zumindest tendenziell - mit einem umfassenden Anspruch auf Weltdeutung
oder -orientierung verbinden. Die Gleichzeitigkeit des universalen Anspruchs
und der tatsächlichen Perspektivierung kennzeichnet für Cassirer die
dogmatische Metaphysik:
„[D]ie dogmatischen Systeme der Metaphysik [...] vertreten trotz aller
begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des
Gegensatzes. [...] Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als
metaphysische Hypothesen eines bestimmten logischen oder ästhetischen
oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit
dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen
einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer
Formen ab.“2
Und auch wenn Cassirer als sein Ziel „eine philosophische Systematik des
Geistes“ zumindest erwägt, wird dieses Ziel doch nicht durch eine theoretische
Systematisierung erreichbar. Denn obwohl für Cassirer eine solche Systematik
„nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente
Verhältnis“ der symbolischen Formen,3 verdankt sie sich wie jede
Systematisierung überhaupt wiederum einer symbolischen Perspektivierung,
die sich aus dieser ihrer Konstruktion heraus nicht als umfassende Systematik
ausweisen kann. Eine Öffnung gegenüber der „konkreten Totalität“ der
symbolischen Formen ist letztlich nur durch einen praktischen Vollzug möglich:
durch den kritischen und komplementierenden Bezug der verschiedenen
symbolischen Formen aufeinander, d.i. durch die Perspektivierung etwa der
Erkenntnis durch die Kunst, der Religion durch die Technik usw. Dadurch kann
eine praktische Einheit entstehen, die die Einheit einer Persönlichkeit
ausmacht: einer Persönlichkeit, die sich in allen Dimensionen der symbolischen
Formen zu bewegen versucht.
Lediglich als Anmerkung bleibt hier festzustellen, daß mit der Verlagerung der
Einheit unserer geistigen Welt in die Vollzugswirklichkeit des geistigen Lebens
Cassirer jeglicher Form einer Metaphysik ihre innere Unmöglichkeit bescheinigt.
2
PSF I, S. 14.
3
Gegenüber einer dogmatischen Metaphysik führt dann Cassirer als Möglichkeit an: „Der
Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann
zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen
Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: - einen
Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und
der in diesem Blick doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein
immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander [...] haben. Dann entstünde eine
philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch
die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch
den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in
welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit der Allheit steht.“ (PSF I,
S.14.)
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
4
Denn wenn Metaphysik als allgemeine Theorie unserer Erfahrungs- oder auch
der - wodurch auch immer erschlossenen - Weltwirklichkeit im ganzen durch
einen umfassenden Geltungsanspruch definiert wird, dann scheitert sie für
Cassirer notwendigerweise an der Unvereinbarkeit ihrer theoretischen
Verfassung mit diesem Anspruch. Es kann keine Theorie geben, die einerseits
das Ganze unserer Erfahrungs- oder Weltwirklichkeit begreift, weil Theorie als
solche - nämlich durch ihr Angewiesensein auf eine symbolische Artikulation die besonderen Strukturen und als auch Grenzen der jeweiligen symbolischen
Konstruktionsprinzipien in sich trägt. Etwas - wie auch immer - zum Ausdruck
bringen, etwas artikulieren, heißt, zugleich anderes in den Hintergrund oder den
Zwischenraum zu rücken, es als Horizont oder Atmosphäre zwar sein zu
lassen, aber in einer Unbestimmtheit, in der es zwar ebenfalls ist, aber nicht
„etwas“ ist. Mit jedem, was wir sagen, erzeugen wir eine Sphäre des
Ungesagten. Mit allem, was wir durch unsere Artikulation zur Bestimmtheit
seiner Identität bringen, erzeugen wir eine Unbestimmtheit ohne greif- und
begreifbare Identität. Mit der Metaphorik der Perspektive und des Sehens, der
Theoria im wörtlichen Sinne, gesagt: Metaphysik kann nur als das Sehen
Gottes gedacht werden, von dem Nikolaus von Kues spricht:4 kann es also nur
als ein alles zugleich und ohne perspektivische oder zeitliche Eingrenzung
sehende Sehen geben, das es nicht geben kann.
1.4
Handlungsformen und Denkformen
Die vierte begriffliche Polarität schließlich entwickelt sich
Handlungsformen und Denkformen. Das Sein gründet im Tun:
zwischen
Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den
Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der
Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt. Hier zuerst beginnen sich die Kreise des
Objektiven und Subjektiven, beginnt sich die Welt des Ich von der der
Dinge zu scheiden.5
Diese allgemeine Feststellung gilt für Cassirer in allen Bereichen unserer
geistigen Existenz. So gründet der Mythos im Ritus, die Religion im Kult und
unsere rationale Weltorientierung überhaupt in der tätigen Weltbearbeitung.
4
Nikolaus von Kues, Vom Sehen Gottes. In: Ders., Philosophisch-Theologische Schriften.
Hg. Von Leo Gabriel. Wien [Herder] 1967. Bd.3, S.93-219. Vgl. dazu auch die
Textauswahl (Kap. I, II, VII-XII) in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens. Leipzig
[Reclam Verlag], S.75-92.
5
PSF II, S. 187.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
1.5
5
Die neue Tonart der Cassirerschen Philosophie
Diese begrifflichen Polaritäten geben gleichsam die Tonart vor, in der der
Mythos und die Religion ihre Position finden. Es ist eine neue Tonart - „a new
key“, wie Susanne Langer sagt6 -, in die die Motive des Neukantianismus nicht
nur transponiert werden, sondern in der sie auch eine grundlegende
Transformierung erfahren.
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen - hier verstanden als sein
philosophisches Konzept insgesamt - grenzt sich gegenüber Kant und den
Kantianern - und dies insbesondere in der Gestalt des Neukantianismus dadurch ab, daß sie (1) die menschliche Weltorientierung nicht nur als eine
Form der Erkenntnis versteht und (2) das menschliche Ausdrucksleben - und
zwar sowohl das Ausdruckserleben im Gefühl als auch das Ausdrucksverhalten
in seinen konkreten mimischen oder bildhaften Formen - noch vor aller
geordneten Anschauung und vor allen ordnenden Begriffen als Fundament
unserer Weltorientierung begreift.
2
Der Mythos als Ursprungs- und Übergansphänomen der
Kultur
Und damit sind wir endlich beim Mythos in der Philosophie Cassirers. Für
Cassirer gewinnt nämlich das menschliche Ausdrucksleben seine ursprüngliche
Formung im Mythos. Das mythische Ausdrucksleben liefert den „gemeinsamen
Mutterboden“, von dem sich alle symbolischen Formen allmählich loslösen. 7
Der Mythos ist für Cassirer „sozusagen die Urschicht des Bewußtseins und der
tragende Grund für alle seine Leistungen“.8
Im Unterschied zu den meisten anderen symbolischen Formen - wie der
Sprache, der (wissenschaftlichen) Erkenntnis und der Technik - und am
nächsten übrigens noch der Kunst bleibt die Religion in besonderer Weise dem
Mythos verhaftet, weil sie Formen der emotionalen Weltorientierung zum
Ausdruck bringt. Wie der Mythos - und wiederum die Kunst - rührt sie damit an
die Tiefenstruktur der menschlichen Existenz. Denn „alles Denken wie alles
6
Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite,
and Art. 1942. Deutsche Übersetzung: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im
Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main [Fischer] 1984.
7
SM, S. 112.
8
AH, S. 85.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
6
sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht auf einem ursprünglichen
Gefühlsgrund.“9
Der Mythos ist für Cassirer eine primäre Formung unserer stärksten Gefühle.
[E]r ist Gefühl in Bild gewandelt. [...] Was bisher dunkel und undeutlich
gefühlt wurde, nimmt nun eine bestimmte Gestalt an; was ein passiver
Zustand war, wird ein aktiver Prozeß.10
Im Mythos, so kann man sagen, wird der bloß gefühlten Weltsituation des
Menschen, so wie sie sich in seinem emotionalen Erfassen und Erfaßtwerden
ereignet, eine expressive Form gegeben. Diese expressive Form ist eine
„elementare Ausdrucksbewegung“, mit der das Reich der symbolischen
Formen, mit der die Kultur als Reich des Geistigen, geboren wird.
Jede elementare Ausdrucksbewegung bildet [...] insofern eine erste
Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch völlig in der
Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über
diese bereits hinausgeht.11
Dort, wo - wie etwa in der „Tabu-Mana-Formel“, in der mythischen
Beschwörung, die für Cassirer eine „primäre Interjektion des mythischen
Bewußtseins“ ist - „die sinnliche Erregung zum erstenmal einen Ausweg und
einen Ausdruck sucht, steht der Mensch damit an der Schwelle einer neuen
Geistigkeit.“12
Die geistige Entwicklung, von der Cassirer hier spricht, ist nicht nur ein
Bewußtseinsprozeß, sondern ein Prozeß der symbolischen Formbildung in
dinglichen Werken. Cassirer besteht daher darauf, daß auch schon im Mythos und nicht erst in den symbolischen Formen der Sprache, der Kunst oder der
Religion unsere Gefühle nicht in bloße Akte umgewandelt [werden]; sondern in
,Werke‘. Diese Werke verschwinden nicht. Sie sind beharrlich und dauernd.
Eine körperliche Reaktion kann uns nur eine schnelle und kurzfristige
9
PSF II, S. 118.
10
MSD, S. 60; MS, S. 43. Im Mythos „werden Gefühle nicht einfach gefühlt. Sie werden
,intuiert‘; sie werden ,in Bilder gewandelt‘.“ (MSD, S. 66; MS, S. 47: „turned into images“.)
Im bloßen Ritus dagegen bleiben diese Gefühle noch „dunkle und vage Regungen“.
(MSD, S. 62, MS, S. 45: „dim and vague feelings“.)
11
PSF I, S. 127.
12
PSF II, S. 99.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
7
Erleichterung geben; ein symbolischer Ausdruck kann ein monumentum
aere perennius werden.13
Der Mythos, so kann man zusammenfassen, ist das Ursprungsphänomen der
menschlichen Kultur. In ihm vollzieht sich der Übergang vom erlebten Ereignis
zur erzeugten Form. In ihm wird der Mensch zum animal symbolicum. Als
symbolisches Ursprungsphänomen ist der Mythos zugleich aber auch ein
dialektisches Übergangsphänomen. Denn durch den Symbolisierungsprozeß
entstehen mit den Symbolen Eigenwelten von Ausdrucksmöglichkeiten, die den
Menschen in eine Differenz zu seinem ursprünglichen Ausdrucksleben bringen.
Jeder neue Ausdruck wird dadurch im Prinzip zu einer Antwort auf bereits
Ausgedrücktes. Indem etwas gesagt wird, setzt man sich in ein Verhältnis zu
dem bereits Gesagten. Es entstehen damit die existentiellen Unterscheidungen
von dem Geziemenden und dem, was sich nicht geziemt, und darüber hinaus
über weitere Unterscheidungen zu der Unterscheidung zwischen dem sich
vereinzelnden Ich und dem kollektiven Wir. Durch diese Unterscheidungen
verliert der Mythos seine emotionale und expressive Ursprünglichkeit. Der
Mythos, wenn er seiner eigenen Bewegungsrichtung folgt, kann nicht länger
Mythos bleiben. Darin besteht für Cassirer die „Dialektik des mythischen
Bewußtseins“.14 Und in diesem Zusammenhang behandelt Cassirer zusammen mit der Kunst - das Thema der Religion.
Will man den Zusammenhang zwischen Mythos und Religion nicht so sehr in
seiner historischen Entwicklung, sondern vornehmlich in seiner systematischen
Struktur erfassen, dann empfiehlt es sich, Cassirers eigener Verallgemeinerung
zu folgen und in den verschiedenen Formen des Mythos verschiedene
Formungen unseres Ausdruckslebens - und zwar unseres elementaren,
existentiell bedeutsamen Ausdruckslebens - zu sehen. Sowohl der Mythos als
auch die Religion sind in einer solchen Perspektive als allgemeine Formen
unserer Weltorientierung zu interpretieren. Mein eigener Versuch einer solchen
Interpretation der Cassirerschen Sicht auf die Strukturen des Mythos und der
Religion wird darin bestehen, jeweils eine Grammatik und eine Semantik des
Mythos und der Religion zu erkennen und diese einander gegenüberzustellen.
Dazu sind zunächst die elementaren Strukturen der mythischen
Weltwahrnehmung und des in ihr sich bildenden Ausdruckslebens, d.i. die
Situation des mythischen Bewußtseins, zu erfassen.
13
MSD, S. 65; MS, S. 46f.
14
So der Titel des Vierten (und letzten) Abschnitts in PSF II, S. 281ff.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
3
8
Die Grundsituation des mythischen Bewußtseins in einer
Welt des Ausdruckslebens
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal der im Mythos erfaßten Grundsituation
des Menschen, d.i. seiner Weltwahrnehmung und -orientierung an der Schwelle
zu seiner kulturellen Entwicklung.
3.1
Physiognomische Weltwahrnehmung
In ihrer ursprünglichsten Form - als „primitive“ Wahrnehmung, wie Cassirer
sagt15 - erfaßt die Wahrnehmung die Welt nicht als einen „Inbegriff von
Dingen“, sondern als eine Vielfalt von Ausdrucks-Phänomenen, als
eine Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich ,physiognomischer‘
Charaktere. Die Welt hat, im ganzen wie im einzelnen, noch ein
eigentümliches ,Gesicht‘, da sie in jedem Augenblick als Totalität erfaßbar
ist, ohne daß es sich jemals in bloße allgemeine Konfigurationen, in
geometrisch-objektive Linien und Umrisse, auflösen ließe. [...] Der
Ausdrucks-Sinn haftet [...] an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt
und unmittelbar ,erfahren‘.16
Wo der ,Sinn‘ der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da
weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten ,Charakter‘ auf, der
aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihm
unmittelbar zukommt.17
Das Erfassen von Ausdrucks-Sinn ist eine existentielle Relation. Auf der einen
Seite ist es das Betroffenwerden von einer Situation, von einer
„Gesamterscheinung“, durch ihren
Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder
Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser
Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen
Deutung, liegt.18
15
PSF III, S. 72.
16
PSF III, S. 80.
17
PSF III, S. 85.
18
PSF III, S. 78. Vgl. dazu auch S. 85: „Sie [die Erscheinung, die noch in ihrem reinen
Ausdruckssinn genommen wird -] trägt in sich die Züge des Düsteren oder Heiteren, des
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
9
Dieses Betroffenwerden ist „die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die
wir erfahren“.19 Es ist das Stehen in „physiognomisch“ ausdrucksvollen
Wirkungslinien und -feldern, ein - auch im wörtlichen Sinne - Bewegtwerden
von ihnen.
3.2
Dramatische Weltgliederung
Auf der anderen Seite ist es die Gegenbewegung, die Reaktion, die mit dem
Erfassen von Ausdruckssinn verbunden, die in ihm bereits angelegt ist. Unsere
existentielle Situation20 ist, noch vor aller distanzierten Weltwahrnehmung in
der Form der Anschauung, ein Bewegtwerden und Bewegen, ein
Berührtwerden und Berühren - letztlich ein Ausgesetztsein und ein sich dazu irgendwie (und oft ratlos) - Verhalten.
Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein
Ergriffenwerden als ein Ergreifen.21
Und der Mensch
Ausdruckslebens
ist
in
dieser
elementaren
Situation
des
reinen
zwischen den mannigfachen Eindrücken von außen [...] gleichsam geteilt
und [...] hin und her gerissen. Jeder von ihnen nimmt mit seinem Dasein das
Ganze des menschlichen Bewußtseins in Anspruch und schlägt es in seinen
Bann; jeder prägt ihm seine eigene Farbe und Stimmung auf.
Das Ich, das dieser Prägung „zunächst nichts entgegenzusetzen“ hat, wird
zum Spielball zwischen all den Ausdrucksmomenten, die sich ihm an
bestimmten Einzelerscheinungen darbieten, und die es, plötzlich und ohne
Widerstand, überfallen.22
Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden. Als
Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden
Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir hinter
den Erscheinungen stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen.“
19
PSF III, S. 86.
20
Cassirer nennt die Ausdrucksfunktion „eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen
weltumspannende Funktion“. PSF III, S. 95.
21
PSF III, S. 88.
22
PSF III, S. 106.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
10
„Wo das Leben noch ganz im Phänomen des Ausdrucks verharrt,“ da ist die
„Welt“ des Menschen ein Drama, in das er hineingestellt ist, in dem ihm Rollen
zugewiesen sind und von ihm übernommen oder abgelegt werden. Die Welt
wird ihm „zur Gesamtheit möglicher Ausdruckserlebnisse und gleichsam zu
ihrer Bühne und ihrem Schauplatz“.23
3.3
Das Überwältigende des Ungewöhnlichen
Damit ist für die mythische Wahrnehmung bereits eine physiognomische und
eine dramatische Weltgliederung festgestellt, aber auch das überwältigende
Ergriffenwerden von dem, was als Ungewöhnliches, aus der Beherrschung des
alltäglichen Lebens Hinausfallendes, erfaßt wird. Cassirer sieht es als „die
Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten“ an,
daß solches Ergriffenwerden von einem übermächtig Erscheinenden in einem
Augenblick sich - immer wieder - ereignet:
Wenn das Ich auf der einen Seite ganz einem momentanen Eindruck
hingegeben und von ihm ,besessen‘ ist, und wenn auf der anderen Seite die
höchste Spannung zwischen ihm selbst und der Außenwelt besteht, wenn
das äußere Sein nicht einfach betrachtet und angeschaut wird, sondern wenn
es den Menschen jählings und unvermittelt, im Affekt der Furcht oder
Hoffnung, im Affekt des Schreckens oder des befriedigten und gelösten
Wunsches, überfällt, dann springt gewissermaßen der Funke über: die
Spannung löst sich, indem die subjektive Erregung sich objektiviert, indem
sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt. Hier stehen wir vor
jenem mythisch-religiösen Urphänomen, das Usener durch den Begriff und
Ausdruck des ,Augenblicksgottes‘ festzuhalten versucht hat.24
Eine Bedingung für dieses Urphänomen ist bereits genannt. Es ist dies seine
Ungewöhnlichkeit.
Es ist, als ob sich durch die Isolierung des Eindrucks, durch seine
Herausgehobenheit aus dem Ganzen der gewöhnlichen, der alltäglichen
Erfahrung an ihm neben seiner gewaltigen intensiven Steigerung zugleich
eine äußerste Verdichtung geltend machte und als ob kraft dieser
Verdichtung nun die objektive Gestalt des Gottes resultierte, als ob sie aus
ihr geradezu herausspränge.25
23
PSF III, S. 100.
24
SM, S. 103.
25
SM, S. 104.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
3.4
11
Die mythische Metamorphose
In einer tieferen Schicht des mythischen Bewußtseins hat diese Bedingung
ihren Grund in dem Charakterzug des mythischen Denkens, den Cassirer die
mythische
Metamorphose
nennt.
Die
„Ausdruckswerte
und
Ausdrucksmomente“26 der mythischen Erfahrung - also „die Züge des Düsteren
oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder
Furchteinflößenden“27 - besitzen, wie Cassirer in diesem Zusammenhang
immer wieder betont, noch keine Stabilität. Vielmehr herrscht hier die ständige
Möglichkeit der „Metamorphose“,28 des „jähe[n] und unvermittelte[n]
Umschlag[s]“, „als ob das ,Gesicht‘ der Welt noch in einem rastlosen Wandel
begriffen sei“.29 Es ist diese ständige Möglichkeit des jähen und unvermittelten
Umschlags, der die Menschen mit allem Möglichen rechnen läßt, der ihnen das
plötzliche Erscheinen des Ungewöhnlichen als ein schreckliches und
faszinierendes Ereignis zur ständigen, wenn auch verdeckten Gegenwart ihres
Lebens macht. Die mythische Metamorphose definiert die Situation des
mythischen Bewußtseins, die conditio humana am Anfang der
Kulturentwicklung.
26
Ebd.
27
PSF III, S. 85.
28
Zur „mythischen Metamorphose“ vgl. die „klassische“ Stelle in PSF III, S. 71f.: „Der
Mythos insbesondere zeigt uns eine Welt, die zwar keineswegs ohne Struktur, ohne
immanente Gliederung ist, die aber die Gliederung der Wirklichkeit nach ,Dingen‘ und
,Eigenschaften‘ noch nicht kennt. Hier weisen vielmehr alle Seinsgestaltungen noch eine
eigentümliche ,Flüssigkeit‘ auf; sie unterscheiden sich, ohne sich darum voneinander zu
scheiden. Eine jede von ihnen ist gewissermaßen in jedem Augenblick bereit, sich in eine
andere, scheinbar völlig entgegengesetzte zu wandeln. Die mythische ,Metamorphose‘
bindet sich an kein logisches Gesetz der ,Identität‘, - noch findet sie an irgendeiner
feststehenden ,Konstanz‘ der Arten ihre Schranke. Für sie gibt es keine logischen
Gattungen, keine Genera in dem Sinne, daß sie durch bestimmte unverrückbare
Merkmale voneinander gesondert wären und für immer in dieser Sonderung beharren
müßten. Vielmehr verschieben und verflüchtigen sich hier fort und fort all jene
Grenzlinien, wie sie unsere empirischen Gattungs- und Artbegriffe zu ziehen pflegen. Ein
und dasselbe Wesen geht nicht nur ständig in neue Formen über, sondern es enthält und
verknüpft in sich, in ein und demselben Augenblick seiner Existenz, eine Fülle
verschiedener, ja entgegengesetzter Seinsgestalten.“
29
PSF III, S. 125. Ähnliche Formulierungen finden sich in PSF II, S. 51
(„Transsubstantiation“, „Verwandlung“), 61 („Metamorphose im Ovidischen Sinne“), 62,
249 („Umwandlung“ statt „Schöpfung“); PSF III, S. 83 („Der mythische Gestaltwandel zieht
auch das „Ich“ in seinen Kreis und hebt seine Einheit und Einfachheit auf.“), 142 („Alles
„Wirkliche“ ist hier noch ineinander verwandelbar“).
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
4
12
Die Semantik des Mythos
Die Semantik des Mythos entsteht durch symbolische Projektionen aus dieser
Situation heraus. Cassirer folgt bei der Explikation dieser Semantik seinem
Schema von Raum, Zeit, Zahl und Ich - einem Schema, das er auch zur
Analyse der anderen symbolischen Formen anwendet. Die Rede von einer
symbolischen Projektion nimmt eine Metapher Susanne Langers auf. 30 Mit ihr
soll der konstruktive Charakter der Symbolisierung hervorgehoben und zugleich
die Konnotation geometrischer Ordnungsstrukturen genutzt werden: Das
Erleben der mythischen Situation wird in Ordnungsverhältnissen dargestellt, die
um wiederholbare Identifikationen und Distinktionen bemüht sind. Die
Transformation31 des Erlebens in eine Darstellung geschieht durch die
Konstruktion ordnungsstiftender Symbole und erzeugt dadurch eine Welt der
Symbole, die von an als „Projektionsraum“ für die Symbolisierung dienen.
Allgemein gilt hier:
Der Übergang von der Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks zur
vermittelten Welt der anschaulichen, insbesondere der räumlichen
,Vorstellung‘ beruht darauf, daß sich in der fließend immer gleichen Reihe
der Eindrücke die konstanten Verhältnisse, in denen sie stehen und nach
welchen sie wiederkehren, allmählich als ein Selbständiges herausheben und
sich eben hierdurch von den von Moment zu Moment wechselnden,
schlechthin unbeständigen Sinnesinhalten charakteristisch unterscheiden.
Diese konstanten Verhältnisse bilden nun das feste Gefüge und gleichsam
feste Gerüst der ,Objektivität‘.32
30
Susanne K.Langer: Mind: An Essay on Human Feeling. Volume I (1967). Baltimore und
London (The John Hopkins University Press) 51985, S. 67, 73-106, dort insbes. S. 103105, 128, 146, 164.
31
Für Susanne Langer ist die symbolische Transformation - die ständige „Bildung von
Symbolen“, die eine „ursprüngliche Tätigkeit des Menschen“ ist und aus dem
„Grundbedürfnis [...] des Symbolisierens“ entspringt und uns die Umformung des
Erlebens in eine symbolische Darstellung erlaubt - die allgemeiner gefaßte und damit
grundlegendere Symbolisierungstätigkeit des Menschen. Vgl. dazu Susanne K. Langer
trifft in: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst.
Frankfurt am Main [Fischer] 1984, S. 34-60, Zitate S. 49. (Erstveröffentlichung der
amerikanische Originalausgabe 1942: Philosophy in a New Key. A Study in the
Symbolism of Reason, Rite, and Art.) Vgl. dazu auch Susanne K.Langer: Mind: An Essay
on Human Feeling. Volume I. A.a.O., S. 177f.
32
PSF II, S. 46.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
4.1
13
Orte des Heiligen und Profanen
Eine erste symbolischen Projektion - und dies im wörtlichen Sinne - ist die
Auszeichnung des besondere Ortes, des Ortes der Epiphanie, der Erscheinung
des Göttlichen.
Wo immer das mythische Denken und das mythisch-religiöse Gefühl einem
Inhalt einen besonderen Wertakzent verleiht, [...] da pflegt sich ihm diese
qualitative Auszeichnung im Bilde der räumlichen Sonderung darzustellen.
Jeder mythisch bedeutsame Inhalt, jedes aus der Sphäre des Gleichgültigen
und Alltäglichen herausgehobene Lebensverhältnis, bildet gleichsam einen
eigenen Ring des Daseins, ein umhegtes und umfriedetes Seinsgebiet, das
sich durch feste Schranken gegen seine Umgebung abscheidet, und das in
dieser Abscheidung erst zu einer eigenen, individuell-religiösen Gestalt
gelangt.33
Die Grundunterscheidung, die durch diese Ortsauszeichnung entsteht, ist die
zwischen dem Heiligen und dem Profanen.
[J]eder Punkt, jedes Element besitzt hier gleichsam eine eigene „Tönung“.
Es haftet an ihm ein besonderer auszeichnender Charakter, der [...] als
solcher unmittelbar erlebt wird. [...] [Im mythischen Anschauungsraum] ist
jeder Ort und jede Richtung gleichsam mit einem besonderen Akzent
versehen - und dieser geht überall auf den eigentlichen mythischen
Grundakzent, auf die Scheidung des Profanen und des Heiligen zurück.34
Die Richtung dieser Ortsauszeichnung sieht Cassirer übrigens „überall von dem
Gegensatz von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel“35 bestimmt.
Durch diese räumlichen Akzentuierungen erhält das menschliche Dasein
insgesamt - und dies bis zu unseren heutigen „Orientierungen“ - eine
Akzentuierung, die ein Orientierungsschema für unsere Lebensverhältnisse im
ganzen liefert:
Der gesamte Reichtum und die gesamte Dynamik der mythischen
Lebensformen beruht darauf, daß die ,Akzentuierung‘ des Daseins, die sich
33
PSF II, S. 128.
34
PSF II, S. 106; vgl. auch S. 118.
35
PSF II, S. 119.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
14
im Begriff des Heiligen ausspricht, sich voll auswirkt und daß sie
fortschreitend immer neue Gebiete und Inhalte des Bewußtseins ergreift.36
4.2
Ursprungsgeschichten und Zeigestalten
Cassirer verbindet diese räumliche Semantik des mythischen Bewußtseins mit
der These, daß die räumliche „Akzentuierung des Daseins“ die primäre
Orientierung des Menschen ist.
Alle Orientierung in der Zeit setzt die Orientierung im Raume voraus [...].37
Die Orientierung in der Zeit, von der Cassirer spricht, ist eine Orientierung
durch Geschichten.
Der echte Mythos beginnt erst dort, wo nicht nur die Anschauung des
Universums und seiner einzelnen Teile und Kräfte sich zu bestimmten
Bildern, zu den Gestalten von Dämonen und Göttern formt, sondern wo
diesen Gestalten ein Hervorgehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit
zugesprochen wird. [...] Durch seine Geschichte erst wird der Gott
konstituiert - wird er aus der Fülle der unpersönlichen Naturgewalten
herausgehoben und ihnen als ein eigenes Wesen gegenübergestellt.38
Das Geschehen des Mythos ist ein Geschehen aus einem Ursprung. Der
Ursprung zeigt, was etwas oder wer jemand ist.
Der wahre Charakter des mythischen Seins enthüllt sich erst dort, wo es als
Sein der Ursprungs auftritt. Alle Heiligkeit des mythischen Seins geht
zuletzt in die des Ursprungs zurück. Sie haftet nicht unmittelbar am Inhalt
des Gegebenen, sondern an seiner Herkunft [...] Die Vergangenheit selbst
hat kein ,Warum‘ mehr: sie ist das Warum der Dinge.39
Diese Orientierung
„Zeitgestalten“:
ist
eine
konkrete
Orientierung
an
bestimmten
Für den Mythos gibt es keine Zeit, keine gleichmäßige Dauer und keine
regelmäßige Wiederkehr oder Sukzession ,an sich‘, sondern des gibt immer
36
PSF II, S. 100.
37
PSF II, S. 132.
38
PSF II, S. 129.
39
PSF II, S. 130.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
15
nur bestimmte inhaltliche Gestaltungen, die ihrerseits bestimmte
,Zeitgestalten‘, ein Kommen und Gehen, ein rhythmisches Dasein und
Werden offenbaren. Hierdurch wird das Ganze der Zeit durch gewisse
Grenzpunkte und gleichsam durch bestimmte Taktstriche in sich abgeteilt
[...] Insbesondere alles religiöse Tun des Menschen zeigt eine derartige
rhythmische Gliederung.40
Die rhythmische Gliederung der Zeit entwickelt sich mit einem
„Phasengefühl“41, das die Zeit „Im Bilde des Lebens“42, und zwar im Bilde von
Lebensabschnitten erfaßt.
Die religiöse Sonderung der einzelnen Lebensabschnitte, die durch diese
Riten bewirkt wird, ist oft so scharf, daß durch sie geradezu die Kontinuität
des Lebens aufgehoben wird. Es ist eine weitverbreitete [...] Vorstellung,
daß der Mensch, indem er von dem einen Lebenskreis in einen anderen
übergeht, in jedem von ihnen als ein anderes Ich erscheint [...]43
Zugleich entwickeln sich aus diesem Phasengefühl eine rituelle Gliederung der
Zeit und bestimmte Zeitformen der Erzählung.
4.3
Zahl und mythisches Selbstgefühl
Die Semantik der Zahl verknüpft sich im mythischen Bewußtsein mit der
Semantik des Ich oder des Selbst.44 Denn die Zahl hat mit der Unterscheidung
von dem Einen zu dem Anderen zu tun. Und dadurch daß das Andere ein
Lebendiges, ein mich Berührendes und auf mich Wirkendes, ein
physiognomisch Präsentes ist, ist das Andere das schlechthin Unterschiedene,
ein Zweites, zu dem ich das Erste bin, oder ein Erstes, zu dem ich das Zweite
40
PSF II, S. 133.
41
PSF II, S. 134, 136.
42
PSF II, S. 136.
43
PSF II, S. 134f.
44
„Nicht ausschließlich an der Wahrnehmung der äußeren Dinge oder an der Beobachtung
des Ablaufs des äußeren Geschehens reift das Bewußtsein der Zahl heran - sondern eine
seiner stärksten Wurzeln liegt in jenen Grundunterscheidungen, zu denen das subjektivpersönliche Dasein, zu denen das Verhältnis des Ich, Du und Er hinführt.“ (PSF II, S.
181.) - „Wie unter einer leichten Hülle schimmert häufig unter der spekulativen Dreiheit
von Vater, Sohn und Geist noch die natürliche Dreiheit von Vater, Mutter und Kind
hindurch [...] jene eigentümliche Magie der Zahl, die sie als eine Grundmacht im Reich
des Geistes und im Aufbau des Selbstbewußtseins der Menschheit erscheinen läßt. Sie
beweist sich als das Bindemittel, durch das die verschiedenen Grundkräfte des
Bewußtseins sich zum Ineinander fügen, durch das die Kreise der Empfindung, der
Anschauung und des Gefühls sich zu einer Einheit zusammenschließen.“ (PSF II, S. 182.)
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
16
bin. Dabei ist allerdings zu sehen, daß im Mythos als dem Lebens- und
Denkbereich des miteinander verbundenen Lebendigen ein Selbstgefühl im
Sinne des Bewußtseins persönlicher Individualität noch nicht entwickelt werden
kann. Das allgemeine Lebensgefühl kann sich zum Gemeinschaftsgefühl
ausformen, nicht aber dieses Gemeinschaftsgefühl in ein individuelles
Selbstgefühl weiterbilden.
In den ersten Stadien [des mythischen Bewußtseins und des religiösen
Gefühls] [...] finden wir das Selbstgefühl überall noch unmittelbar
verschmolzen
mit
einem
bestimmten
mythisch-religiösen
Gemeinschaftsgefühl. Das Ich fühlt und weiß sich nur, sofern es sich als
Glied einer Gemeinschaft faßt, sofern es sich mit anderen zur Einheit einer
Sippe, eines Stammes, eines sozialen Verbandes zusammengeschlossen
sieht.45
5
Die Identitätsgrammatik des Mythos
Unter der Grammatik des Mythos soll das Prinzip bzw. sollen die Prinzipien
verstanden werden, die das Mythische am Mythos erzeugen. Versucht man,
dieses Mythische durch nur ein Prinzip zu bestimmen, dann kann man ein
Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins ausmachen, das sich in
mehreren Aspekten zeigt.
5.1
Die Identität von Symbol und Symbolisiertem
Da ist zum einen die Identität von Symbol und Symbolisiertem.
Wo wir ein Verhältnis der bloßen ,Repräsentation‘ sehen, da besteht für den
Mythos [...] ein Verhältnis realer Identität. Das ,Bild‘ stellt die ,Sache‘ nicht
dar - es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so
daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. [...] In allem mythischen
Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es
darstellt, vollzieht.46
Kurz:
45
PSF II, S. 209.
46
PSF II, S. 51.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
17
[D]er Tänzer ist der Gott, wird zum Gott.47
5.2
Die Identität von Grund und Begründetem
Mit dieser Identität von „Bild“ und „Sache“ hängt ein weiterer Aspekt des
Identitätsdenkens verknüpft, die Identität von Grund und Begründetem, von
Ursache und Wirkung, nämlich in der „bloße[n] Hingabe an den Eindruck selbst
und seine jeweilige ,Präsenz‘.“48
Dem Bilde der Realität, das auf diese Weise entsteht, fehlt somit gleichsam
die Tiefendimension - die Trennung von Vordergrund und Hintergrund, wie
sie sich im empirisch-wissenschaftlichen Begriff, in der Scheidung des
,Grundes‘ vom ,Begründeten‘, in so charakteristischer Weise vollzieht.49
5.3
Das „Ineinander“ der Dinge
Und schließlich gehört zu diesem Identitätsdenken das „Ineinander“ der Dinge:
[Der Mythos ersetzt in bezug auf die Dinge] ihr sinnliches Aus- und
Nebeneinander durch eine ihm eigentümliche Form des ,Ineinander‘. Das
Ganze und seine Teile sind ineinander verwoben, sind gleichsam
schicksalsmäßig miteinander verknüpft - und sie bleiben es, auch wenn sie
sich rein tatsächlich von einander gelöst haben. [...] Die gesamte
,Phänomenologie der Magie‘ geht [...] auf diese eine Grundvoraussetzung
zurück [...].50
Dieses „Ineinander“ der Dinge läßt die Magie auf einen Zusammenhang durch
Sympathie wirken, als die Beschwörung einer
durchgängige[n] Verknüpfung [...] zwischen allem, was durch räumliche
Nachbarschaft oder durch seine Verbundenheit zu demselben dinglichen
Ganzen noch so äußerlich als ,zusammengehörig‘ bezeichnet wird.51
47
PSF II, S. 52.
48
PSF II, S. 47.
49
PSF II, S. 48.
50
PSF II, S. 67
51
Ebd.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
18
Wirken ist in diesem Sinne immer ein Fall von Konkreszenz oder Koinzidenz,
von Zusammenwachsen oder Zusammenfallen in der Verknüpftheit des Seins.
Aus diesem Identitätsdenken ergibt sich auch der besondere magische
Wortgebrauch:
[D]as Wort und der Name bezeichnen und bedeuten nicht, sondern sie sind
und wirken. Schon der bloßen sinnlichen Materie, aus der die Sprache sich
bildet, schon jeder Äußerung der menschlichen Stimme als solcher wohnt
eine eigentümliche Macht über die Dinge inne.52
Cassirer nennt im Myth of the State die Ersetzung des semantischen durch
einen solchen magischen Wortgebrauch eines der Charakteristika für die
„Technik des Mythos“, die der Nationalsozialismus einsetzte, um das kollektive
Bewußtsein manipulieren und möglichst total kontrollieren zu können.53
6
Die Differenzgrammatik der Religion
6.1
Objektivierung
Sucht man nach strukturellen Unterschieden zwischen Religion und Mythos, so
fällt als erstes die unterschiedliche Grammatik von Religion und Mythos ins
Auge. Im Unterschied zum Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins weist
die Religion wie alle anderen symbolischen Formen, die sich aus dem
„Mutterboden“ des Mythos allmählich loslösen, als ein charakteristisches
Strukturmerkmal eine Differenz zwischen Ich und Wirklichkeit auf. Man kann
die verschiedenen symbolischen Formen durch die besondere Form dieser
Differenz geradezu definieren. Allen gemeinsam ist aber, daß sie gegenüber
dem Mythos Formen der Rationalität verkörpern. Besteht für Cassirer
Rationalität im Kern darin, daß mit ihr eine Objektivierung - welcher Form auch
immer - erreicht wird. Objektivierung bzw. Vergegenständlichung, heißt
Vermittlung: Das Ich geht nicht mehr in der Gegenwart seines Tuns oder
Erlebens, seines Wahrnehmens oder Wollens, seiner Eindrücke und seines
Ausdrucks, auf, sondern sieht dies alles als etwas, das ihm gegenübersteht und
zu dem es sich daher verhalten kann. Durch diese Objektivierung seines
unmittelbaren Lebens und Erlebens wird dem Ich die Möglichkeit eröffnet, sich
52
PSF II, S. 53.
53
MS, S. 368-370; MSD, S. 282-284. Vgl. dazu mein Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph der
europäischen Moderne. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 167.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
19
zu verselbständigen und letztlich zu der „freien Persönlichkeit“ zu werden, die
Cassirer als das Ziel des menschlichen Bildungsprozesses ansieht. 54
7
Operative und ideative symbolische Formen
Der Prozeß der Objektivierung und damit der Kulturentwicklung läßt sich mit
einer Unterscheidung verdeutlichen, die Cassirer selbst nur andeutet, nicht
aber auch ausführt. Ich möchte diese Unterscheidung als die zwischen
operativen und ideativen symbolischen Formen entwickeln.
Die operativen symbolischen Formen entwickeln sich aus einer
objektivierenden Handlungsform. Cassirer nennt diese objektivierenden
Handlungsformen „Prozesse des Heraus-Stellens“, des „Ex-sistere“:
Die objektive ,Existenz‘ der Gegenstände (a l s ,Gegenstände‘, als
selbständiger ,Dinge‘) beruht auf einem solchen Prozess des HerausStellens, des ex-sistere[.] - [...] [Es gibt] 3 Grunddimensionen dieses exsistere in der menschl[ichen] Kultur[:] a) Sprache b) Werkzeug c) bildende
Kunst[.]55
Mit den operativen symbolischen Formen wird sozusagen die praktische
Grundlage der Objektivierung bzw. der Rationalität geschaffen, die dann in den
ideativen symbolischen Formen durch besondere Denkformen interpretiert wird.
Beispiele für solche Denkformen sind grundlegende Wirklichkeitsaufteilungen
wie die zwischen Gott und Welt in der Religion oder die zwischen gesetzlich
Geordnetem und ungeordnet Zufälligem in der (naturwissenschaftlichen)
Erkenntnis. Damit diese ideativen symbolischen Formen sich ausbilden
können, müssen die operativen symbolischen Formen bzw. die ihnen zugrunde
liegenden Handlungsformen bereits entwickelt sein. Religion kann sich also
nicht für sich selbst aus dem Mythos zu einer eigenen symbolischen Form
ablösen, sondern sie bedarf dazu der Vermittlung von Sprache, Werkzeug und
Kunst.
54
„Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt, und
deshalb dürfen wir in ihr [...] nicht lediglich eine Schranke sehen, sondern wir müssen sie
als eine echte und ursprüngliche Kraft erkennen und anerkennen. Das Allgemeine, das
sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der
Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser
Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen,
weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.“
(NHBK in EBK, S. 249f.) Vgl. dazu auch in meinem Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph
der europäischen Moderne. A.a.O., S. 143-183.
55
ECN 1, S. 257.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
7.1
20
Wort, Werkzeug, Werk
Der dreifachen Vermittlung entspricht eine dreifache Veränderung des
mythischen Identitätsdenkens und damit auch der Grammatik des Mythos. Das
Wort der Sprache, das Werkzeug der Technik und das Werk der Kunst
erzeugen drei Zwischen-Welten, drei Medien, die als Projektionsflächen der
Artikulation und damit des Gestaltens dienen und unsere Artikulation zugleich
zu einer neuen, diesen Zwischen-Welten sich einbürgernden Form zwingen.
Die religiöse Artikulation wird dadurch zu einer objektivierenden Transformation
der mythischen Semantik. Zugleich bleibt sie aber in ihrem Ausdruckssinn - und
dies macht ihren besonderen Charakter als eine eigene symbolische Form aus
- als eine Artikulation der existentiellen Situation des Menschen, wie sie schon
im mythischen Bewußtsein artikuliert wird, der Semantik des Mythos zuinnerst
verbunden.
7.2
Die Objektivierung durch das Wort in der Sprache
Eine erste grammatische Veränderung gegenüber dem Mythos findet in der
Religion durch die Umwandlung der Sprachfunktion statt. Die sprachliche
Objektivierung besteht darin, das Wort nicht mehr - wie im magischen
Wortgebrauch - unmittelbar mit einer Wirkung zu verknüpfen, sondern es - in
einem semantischen Wortgebrauch - als (ausdrückende, darstellende und rein
bedeutende) Bezeichnung zu verwenden. Aus der magischen Beschwörung
kann so das religiöse Gebet im Sinne eines Gespräches mit Gott werden.
7.3
Die Objektivierung durch das Werkzeug in der Technik
Schwieriger zu fassen ist die grammatische Veränderung, die durch die
Objektivierung der Technik herbeigeführt wird. Auch durch die Technik wird
eine neue Mittelbarkeit des Denkens erzeugt:
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß in dem Übergang zum
ersten Werkzeug nicht nur der Keim zu einer neuen Weltbeherrschung liegt,
sondern daß hier auch eine Weltwende der Erkenntnis einsetzt. In der Weise
des mittelbaren Handelns, die jetzt gewonnen ist, gründet und festigt sich
erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört. [...] Das
Werkzeug [...] stellt sich zwischen den ersten Ansatz des Willens und das
Ziel - und es gestattet in dieser Zwischenstellung erst, beide voneinander zu
sondern und in die gehörige Distanz zu setzen.56
56
FT, S. 61.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
21
Im Grund wird damit die semantische Objektivierung der Sprache, so scheint
es, noch einmal bestätigt. Tatsächlich sieht Cassirer das Verhältnis aber
umgekehrt. Die Technik bestätigt nicht die Mittelbarkeit der Sprache, sondern
sie begründet sie überhaupt erst. Die semantische Objektivierung ist die
sprachliche Vergegenwärtigung der Mittelbarkeit unseres Weltverhältnisses, die
in der Technik, im Werkzeuggebrauch geschaffen worden ist. 57 Erst durch die
Technik wird der magische Wortgebrauch, der Wortzauber und die
Beschwörung, überwunden.
Denn in den Augenblick, in dem der Mensch auf die Dinge, statt durch
bloßen Bild- oder Namenszauber, durch Werkzeuge einzuwirken sucht, ist
für ihn [...] eine geistige Scheidung, eine innere ,Krisis‘ eingetreten. Die
Allmacht des bloßen Wunsches ist jetzt gebrochen: das Tun steht unter
bestimmte objektive Bedingungen, von denen es nicht abweichen kann. [...]
Es sondert sich ein fester Kreis von ,Gegenständen‘ heraus, die eben
dadurch bezeichnet sind, daß sie in sich selbst einen eigentümlichen Bestand
haben, mit dem sie dem unmittelbaren Verlangen und Begehren
,entgegenstehen‘. [...] Aus der Mittelbarkeit des Wirkens resultiert erst die
des Seins [...]58
Und Cassirer pointiert diesen Primat der Technik gegenüber der Sprache auch
dadurch, daß er im Werkzeuggebrauch die eigentliche Quelle der geistigen
Existenz des Menschen sieht, die ihn vom Tier unterscheidet.
Im Werkzeug und seinem Gebrauch [...] wird gewissermaßen zum ersten
Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses
Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm ,abzusehen‘ - und eben dieses
Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. Diese Form
des Sehens ist es erst, die das ,absichtliche‘ Tun des Menschen von dem
tierischen Instinkt scheidet. Die ,Ab-Sicht‘ begründet die ,Voraus-Sicht‘;
begründet die Möglichkeit, statt auf einen unmittelbar gegebenen Sinnenreiz
hin zu handeln, die Zielbestimmung auf ein räumlich Abwesendes und
zeitlich Entferntes zu richten. Nicht weil das Tier an körperlicher
Geschicklichkeit hinter dem Menschen zurücksteht, sondern weil ihm diese
eigentümliche Blickrichtung versagt ist, gibt es im Bereich tierischen
Daseins keinen eigentlichen Werkzeuggebrauch.59
57
Tatsächlich zeigt sich hier die bereits erwähnte und von Cassirer immer wieder
hervorgehobene Gründung des Seins im Tun. (Vgl. dazu in meinem Buch Ernst Cassirer.
Ein Philosoph der europäischen Moderne. A.a.O., S. 27-30.)
58
PSF II, S. 256.
59
FT, S. 61.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
22
Mit der Objektivierung der Technik wird die sprachliche Objektivierung praktisch
fundiert. Gleichwohl gibt es auch für die Technik ein Phänomen des mythischen
Bewußtseins, das sie unmittelbar transformiert: die Magie und die magischen
Elemente des Ritus. Aus der Magie wird eine menschliche Vorbereitung auf
Gottes Gnade, möglicherweise auch eine Vorleistung oder die Schaffung einer
Vorbedingung: die Beachtung der kultischen Vorschriften, das Opfer, die
Askese, die gottgefällige Lebensführung, die guten Werke und ähnliches
gehören zu diesen transformierten Handlungsformen.
7.4
Die Objektivierung durch das Werk in der Kunst
Eine besondere Rolle für die religiöse Transformation des Mythos spielt für
Cassirer die Kunst - er spricht in diesem Zusammenhang übrigens meist von
der bildenden Kunst und insbesondere von der griechischen Plastik. Denn erst
durch die Kunst kann der Mensch ein Ichgefühl entwickeln.
Erst die Kunst ist es gewesen, die, indem sie dem Menschen zu seinem
eigenen Bilde verhalf, gewissermaßen auch die spezifische Idee Menschen
als solche entdeckt hat. In der plastischen Darstellung der Götter läßt sich
die Entwicklung, die sich hier vollzogen hat, fast Schritt für Schritt
verfolgen. [...] Die griechische Plastik [...] vollzieht hier den scharfen
Schnitt: sie dringt in der Formung der reinen Menschengestalt zu einer
neuen Form des Göttlichen selbst und seines Verhältnisses zum Menschen
durch. Und kaum minder stark als die bildende Kunst hat die Dichtung an
diesem Prozeß der Vermenschlichung und Individualisierung Anteil.60
In der „Autonomie des Ästhetischen“, mit der „die Darstellung der Gestalt [...]
zum Selbstzweck“ wird, wird „zugleich eine neue Autonomie des Menschlichen
erreicht.“
Der menschliche Leib gelangt in der Beseelung, die ihm durch die
künstlerische Formung zu Teil wird, zu einem neuen Sinn und einer neuen
Würde. Er allein erscheint jetzt als das reine Medium der Sichtbarkeit des
Göttlichen. Das Götterbild trägt fortan nicht mehr in bunter Mischung halbtierische, halb-menschliche Züge; es kann den Gott, sofern er überhaupt der
Verkörperung fähig ist, nicht anders als in menschlicher Form sich
offenbaren lassen. [...] Indem die bildende Kunst dem Menschen erst zur
vollen Sichtbarkeit des eigenen Leibes verhilft, indem sie diesen Leib in
klarem und bestimmtem Umriss herausmeisselt, löst sich damit erst das
60
PSF II, S. 234.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
23
spezifisch-menschliche Ichgefühl aus der Sphaere des allgemeinen
mythischen Lebensgefühls heraus.61
Und Cassirer weist in diesem Zusammenhang auch auf die vermenschlichende
und individualisierende Funktion der zeitlichen Darstellung hin:
Und im gleichen Sinne wie die räumliche Begrenzung wirkt hier die
zeitliche Grenzsetzung. Erst wenn der Mensch seine Vergangenheit von
seiner Gegenwart abscheidet, wenn er beide von einander gesondert und
nichtsdestoweniger aufs innigste in einander verwoben erblickt, ersteht ihm
in solcher Verknüpfung und Trennung ein Bild geschichtlichen Seins und
ein Bild seiner selbst als ,Subjekt‘ der Geschichte.62
Die „zeitliche Grenzziehung“, d.i. die prägnante Ausformung des vielstimmigen
und ineinander verwobenen Geschehens zur einer Geschichte, schafft die
„Tiefendimension“ der Gründe und Ursachen oder auch nur der Impulse und
Motive, die dem Mythos fehlt. Dabei geht die Individualisierung aber über die
Sichtbarkeit des Leibes hinaus. Sie führt zum Verständnis einer individuellen
Persönlichkeit über dessen Biographie und ist in diesem Sinne eine sekundäre
Individualisierung,
die
auf
der primären
„Vermenschlichung und
Individualisierung“ durch die Sichtbarkeit gründet. Nur diese primäre
Individualisierung soll hier betrachtet werden.
Zwei Dinge kommen in der Kunst für Cassirer zusammen, um den „Prozeß der
Vermenschlichung und Individualisierung“63 zustande kommen zu lassen.
Einmal geht es um die Individualisierung durch die sinnliche Qualität der „vollen
Sichtbarkeit des eigenen Leibes“,64 durch die „in sich geschlossene Gestalt“,
durch den bestimmten plastischen Umriß“, der erst „die Gewähr der
Vollendung“ bietet.65 Damit wird die gestalterische Durchformung, die
vollständige Ein-Bildung des Göttlichen in die sinnliche Sphäre des Sichtbaren oder sonstwie Wahrnehmbaren - zum wesentlichen Moment der
Individualisierung erklärt. Denn mit dieser vollständigen „Versinnlichung“ des
mythischen Sinnes in einem konkreten Hier und Jetzt seiner Darstellung - nicht
seiner Anwesenheit! - wird das Göttliche zu einem konkreten Moment in einer
konkreten Erfahrungswelt.
61
ECN 1, S. 89f.
62
Ebd.
63
PSF II, S. 234.
64
ECN 1, S. 89f.
65
PSF II, S. 236: „Die künstlerische Anschauung aber erblickt im individuellen Dasein nicht
sowohl diese Vereinzelung als vielmehr die Besonderung, die Zusammenfassung zu einer
in sich geschlossenen Gestalt. Für sie ist erst der bestimmte plastische Umriß die Gewähr
der Vollendung. Die Vollendung selbst verlangt die Endlichkeit, so wahr sie feste
Bestimmung und Begrenzung verlangt.“
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
24
In dieser individualisierenden Konkretion zeigt sich auch schon das zweite, das
vermenschlichende Moment. Denn in die menschliche Erfahrungswelt
hineingezogen, verliert das Göttliche im Prinzip den Charakter des
Überwältigenden, Jenseitigen und Unbegreiflichen. Oder anders gewendet: Es
nimmt nur an dem Überwältigenden, Andersartigen und Unbegreiflichen teil,
das wir auch im diesseitigen Leben erleben können. Das sichtbar dargestellte
Göttliche ist das Göttliche unter uns, das Göttliche hier und jetzt: allerdings wie noch zu zeigen sein wird - nicht in einem Hier und Jetzt der realen Existenz
oder des wirklichen Anwesendseins, sondern im Hier und Jetzt der
symbolischen Repräsentation oder der Verweisung.
Es ist so die - individualisierende und vermenschlichende - Darstellungsleistung
der Kunst, die dem Menschen sein Selbstgefühl im Sinne eines individuellen
Ichs finden läßt. Die Objektivierung der Kunst besteht daher darin, das Ich aus
seiner Gemeinschaft, letztlich aus der Gemeinschaft alles Lebendigen
herausgelöst und es als ein selbständig handelndes Subjekt seiner Welt
gegenübergestellt zu haben.
Denn das Ich, das eigentliche ,Selbst‘ des Menschen findet sich erst auf dem
Umweg über das göttliche Ich. Indem der Gott aus der Gestalt der bloßen
Sondergottes [...] in die Gestalt des persönlichen Gottes übergeht, bedeutet
dies einen neuen Schritt auf dem Wege zur Anschauung der freien
Subjektivität schlechthin.66
7.5
Die Differenz der Repräsentation
Zugleich mit der Differenz zwischen Selbst und Welt wird durch die Kunst auch
die Differenz zwischen „Bild“ und „Sache“ erzeugt und damit das
Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins endgültig aufgelöst. Denn die
vermenschlichende Darstellung des Göttlichen und dadurch die Vergöttlichung
des Menschen sind nur möglich im Bewußtsein von Darstellung, von der
Repräsentation des Einen durch das Andere. Der Tänzer ist nicht mehr Gott, er
stellt ihn dar. Gott ist nicht als oder im Tänzer anwesend. Durch den Tänzer
oder den Priester werden wir auf Gott verwiesen. Der Tänzer existiert nicht
mehr als Gott, er repräsentiert ihn.
Die Situation, die im Mythos artikuliert wird, ist das Eingebundensein in eine
Welt lebendiger Ausdrucksereignisse. Einige dieser Ereignisse sind für den
mythischen Menschen überwältigend und werden als Erscheinung des
Göttlichen erfaßt. Von diesen Ereignissen aus werden die Gliederungen der
Welt und des Lebens in ihr entwickelt und ergibt sich die „Akzentuierung des
Daseins“, die dem mythischen Menschen zu seinen grundlegenden
66
PSF II, S. 245.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
25
Orientierungen verhilft. In der religiösen Artikulation wird die mythische
Unmittelbarkeit aufgehoben. Insbesondere durch die Individualisierung und
Vermenschlichung in der Kunst wird aus dem völligen Ergriffen- und
Besessenwerden eine Begegnung mit Gott, in der der Mensch durchaus ein
eigenständiges Selbst besitzt.
Aus dem Göttlichen wird ein Gott: aus der Sphäre wird eine Person, aus dem
Es wird ein Du, aus dem Ursprung wird ein Schöpfer, 67 aus dem anwesenden
Göttlichen wird ein jenseitiger Gott, der nur noch in Boten oder Zeichen
anwesend ist.
7.6
Das Bewußtsein des eigenen Tuns und das Selbstgefühl
Diese Transformation hat zwei Wurzeln. Eine ist das Bewußtsein des eigenen
Tuns und Wirkens, das „die reine Energie des Tuns als solche“ erfaßt und sie
sich selbst zurechnen kann. Dadurch, daß das Ich sich in der Vermittlung durch
das Werkzeug und das Wort überhaupt als etwas erfassen kann, was seiner
Welt gegenübersteht, kann es sich nun auch als Autor oder Subjekt seines
Tuns begreifen:
Das Ich weiß und erfaßt sich jetzt [...] als konkrete, mit sich identische
Einheit, die alle verschiedenen Richtungen des Tuns miteinander verknüpft
und zusammenhält.68
Die andere Wurzel ist das „Selbstgefühl und Selbstbewußtsein“, das der
Mensch durch das Werk, über seine Gestaltung der Götterbilder und die
Sichtbarmachung seiner selbst gewinnt.
Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene, fertig-ausgestaltete
Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes
Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: sondern die Gestalt seiner Götter ist es,
an der er dieses Selbstbewußtsein erst findet. Durch das Medium der
67
„Das Sein als Ganzes unter die Kategorie der Schöpfung zu stellen, ist eine für den
Mythos zunächst unvollziehbare Forderung. Wo immer er von der Entstehung der Dinge,
von der Geburt des Kosmos spricht, da faßt er dieser Geburt als bloße Umwandlung.
Immer wird ein bestimmtes, zumeist durchaus sinnlich vorgestelltes Substrat
vorausgesetzt, von dem das Werden ausgeht und an dem es vonstatten geht.“ (PSF II,
249.)
68
PSF II, S. 246.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
26
Gottesanschauung gelangt er dazu, sich selbst als tätiges Subjekt vom
bloßen Inhalt des Tuns und von dessen dinglichem Ertrag loszulösen.69
8
Die religiöse Semantik
Diese, das personalisierende und das schöpferische Tun hervorhebende,
Transformation hebt die mythische Semantik nicht auf - und wenn, dann nur im
Hegelschen Sinne des Wortes -, sondern versetzt sie in eine andere Tonart. Es
bleiben die Orte des Heiligen und die Reiche des Profanen, es bleibt die
Akzentuierung unseres Daseins durch die Orientierung an solchen Orten, es
bleiben die rhythmischen Gliederungen unseres Lebens und die großen
Erzählungen, es bleiben schließlich auch die Grundunterscheidungen zwischen
dem Selbst und dem Anderen, dem Fremden und dem Eigenen. Was sich aber
verändert, ist der Grundcharakter dieser Orte, Orientierungen, Gliederungen,
Erzählungen und Unterscheidungen überhaupt. Sie sind nicht mehr einfachhin
die Wirklichkeit, sondern sie zeigen etwas an, verweisen auf etwas, das sie
nicht schon aus sich heraus sind. Es sind symbolische Orte, die auch anderswo
das Heilige anzeigen können. Es sind symbolische Orientierungen, deren
Richtung im Raum verändert werden kann, ohne sie selbst zu verändern. Es
sind symbolische Gliederungen, deren physische Phasen variiert werden
können. Es sind symbolische Erzählungen, die eher wie Gleichnisse und so gut
wie nie als Berichte über tatsächlich Geschehenes behandelt werden. Das
Göttliche des Mythos wird dadurch zum Gott der Religion, daß es eine
symbolische Existenz gewinnt.
9
Kosmische und personale Interpretation des
Geschöpflichen
Die religiöse Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine Beziehung nicht
mehr zwischen Ursache und Hervorgebrachtem, sondern zwischen Schöpfer
und Geschöpf. Diese Beziehung ist von einer grundlegenden Ambivalenz
durchdrungen. So kann das Geschöpf ein Teil der Schöpfung im Ganzen sein,
ein Glied im Kosmos, das in diesem Kosmos immer wieder und überall die
Gegenwart des Schöpfers aufspüren kann. Es kann aber auch ein Partner
69
PSF II, S. 253. Vgl. dazu auch PSF II, S. 267: „[D]ie wachsende Selbständigkeit der
Götter ist die Bedingung dafür, daß der Mensch in sich selber, gegenüber der
auseinanderfließenden Mannigfaltigkeit der einzelnen sinnlichen Triebe, einen festen
Mittelpunkt, eine Einheit des Wollens entdeckt.“
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
27
Gottes in der Schöpfung sein, der - als eine Person wie Gott - womöglich für die
übrige Schöpfung in der Art eines Verwalters verantwortlich ist - gemäß dem
biblischen Auftrag, nicht nur fruchtbar zu sein und sich zu mehren, sondern
auch, sich die Erde untertan zu machen.70
Die kosmische Interpretation des Geschöpflichen bleibt eingebunden in die
sinnliche Welt der Dinge und Bilder, ist welthaltig und von Konkretismen
durchsetzt. Sie realisiert sich in einer ästhetischen Weltsicht. Die personale
Interpretation des Geschöpflichen löst sich dagegen aus dieser sinnlichen Welt
und sieht in der geistigen Welt, wie sie durch die Beziehungen zwischen
Personen erzeugt wird, die wahre Wirklichkeit. Diese geistige Welt der
Personenverhältnisse artikuliert sich in der abstrakten Strenge von
Anerkennung und Verpflichtung, von Verantwortung und Dienst. Durch die
sinnliche Welt der Bilder wird sie eher gestört oder „verunreinigt“. Sie realisiert
sich in einer ethischen Weltsicht.
10
Sakramentalismus und Prophetismus
In den historischen Ausformungen der Religion wird die kosmische
Interpretation durch „sakramentale“ Religionsformen verkörpert, in denen die
Dinglichkeit von Zeichen, konkrete Handlungs- oder Ereignismuster und Bilder
eine zentrale religiöse Funktion besitzen. In Anlehnung an Cassirers
Bemerkung über „den ständigen Kampf zwischen dem geschichtlichen Ursinn
der ,Symbole‘, nach dem sie noch ganz als ,Sakramente‘ und ,Mysterien‘
erscheinen und ihrem abgeleiteten, rein ,geistigen‘ Sinn“71 kann man in diesen
Religionsformen
einen
Sakramentalismus
sehen.
Ein
solcher
Sakramentalismus bewahrt, wie Cassirer dies dem Christentum bescheinigt,
eine „mythische ,Bodenständigkeit‘“.72
Demgegenüber finden wir in den personalen und ethischen Religionsformen
eine Ablehnung dinglicher, konkreter und bildhafter Elemente bis hin zum
Bilderverbot. Cassirer analysiert diese Religionsformen als einen Prophetismus,
der die sittliche Umkehr fordert und den Menschen aus der Zerstreutheit seines
alltäglichen Lebens herausreißen will.
Die prophetische Welt, die rein in der religiösen Idee sichtbar ist, ist durch
kein bloßes Bild, das immer nur auf die sinnliche Gegenwart geht und in ihr
verhaftet bleibt, zu fassen. Das Verbot des Bilderdienstes, das Verbot, sich
70
Genesis 1, 27f.
71
PSF II, S. 297.
72
Ebd.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
28
ein Abbild oder Gleichnis zu machen [...] wird geradezu zum Constituens
eben dieses Bewußtseins selbst.73
Weil für die Grundansicht des Prophetismus zwischen Gott und Mensch
kein anderes Verhältnis als das geistig-sittliche Verhältnis des ,Ich‘ zum
,Du‘ stattfinden kann - darum erscheint nunmehr alles, was nicht dieser
Fundamentalbeziehung angehört, religiös entwertet. In dem Augenblick, in
dem die religiöse Funktion, weil sie die Welt der reinen Innerlichkeit
entdeckt hat, sich von der Welt des Äußeren, des naturhaften Daseins
zurückzieht, hat damit dieses Dasein gewissermaßen seine Seele verloren,
ist es zur toten ,Sache‘ herabgesetzt. Und damit wird jedes Bild, das dieser
Sphäre entnommen ist, nicht wie bisher zum Ausdruck, sondern schlechthin
zum Gegensatz des Geistigen und des Göttlichen.74
11
Das Paradox der religiösen Repräsentation
Sakramentalismus und Prophetismus sind, obwohl sie zumindest als dominante
Motive historische Ausprägungen, nämlich in der christlichen und in der
jüdischen Religion, gefunden haben, im ganzen der Religionen betrachtet
weniger klar voneinander abgrenzbare Religionsformen als vielmehr innere
Momente der verschiedenen Religionsformen, die einen inneren Konflikt der
Religion als solcher deutlich machen:
[D]as religiöse Bewußtsein [bleibt] dadurch gekennzeichnet, daß in ihm der
Konflikt zwischen dem reinen Sinngehalt, den es in sich faßt, und zwischen
dem bildlichen Ausdruck eben dieses Gehalts niemals zur Ruhe kommt,
sondern daß er in allen Phasen seiner Entwicklung stets aufs neue
hervorbricht. [...] In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder
und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser
Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst. Auch die
höchste geistige Sublimierung, die die Religion erfährt, bringt diesen
Gegensatz nicht zum Verschwinden: sie dient nur dazu, ihn immer schärfer
kenntlich zu machen und ihn in seiner immanenten Notwendigkeit zu
verstehen.75
73
PSF II, S. 287.
74
PSF II, S. 288.
75
PSF II, S. 300f.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
29
Wenn Religion das mythische Bewußtsein transformiert, d.h. die mythisch
artikulierte Situation und Semantik bewahren und in eine religiöse
Differenzgrammatik zu übersetzen versucht, dann bleibt sie mit der mythischen
Welt der Bilder verklammert und verhaftet. Wenn sie andererseits alleine die
geistige Welt bildloser Personenverhältnisse artikulieren will, dann müßte sie
sich von ihrem eigenen Boden, der mythischen Existenzerfahrung, lösen und
sich damit auch als Religion mit irgendeinem Bezug zu Gott oder zur Sphäre
des Göttlichen auflösen. Dieser Konflikt ist nicht lösbar. Er zeigt ein Paradox
auf, daß ich als das Paradox der religiösen Repräsentation charakterisieren
möchte.
Die Religion bleibt dadurch mit dem Mythos verklammert und verhaftet, daß es
auch in ihr um die Artikulation der im Mythos zum Ausdruck gebrachten
Grundsituation des Menschen geht, um die Artikulation des Eingebundenseins
in eine Welt des Lebens und der lebendigen Ausdrucksereignisse. Die
Lebendigkeit und Tiefe dieser Erfahrung ist gebunden an das Identitätsdenken,
an die Unmittelbarkeit, mit der wir in dieser Welt von der Äußerungen des
Lebens betroffen und bewegt werden. Auf der anderen Seite besteht das
Religiöse der Religion im Unterschied zum Mythischen des Mythos darin, die
Identität des mythischen Seins, des identischen Seins von Tänzer und Gott,
aufzulösen und statt dessen die Differenz der Repräsentation, der
Repräsentation Gottes durch den Tänzer, aufzutun. Die Verwandlung von
Existenz in Repräsentation ist für die Religion konstitutiv und nimmt ihr zugleich
die Tiefe der Einwurzelung in den „Gefühlsgrund“, von dem Cassirer redet, in
die emotionale Basis unserer Existenz. Es ist aber diese emotionale Basis, die
der Religion ihren besonderen Status gegenüber allen anderen nichtmythischen symbolischen Formen verleiht, der ihre zugleich unangefochtene
und unnachsichtige Herrschaft über die Gemüter der Gläubigen fundiert.
Als Repräsentation ist Religion sie nicht mehr nur Expression. Als Expression
geht sie nicht in der Repräsentation auf. Dieses Paradox gehört zum Wesen
der Religion und führt sie immer wieder vor die Frage, ob sie sich selbst
aufhebe. Es ist dies nicht nur eine Frage von außen, die sich unter dem Blick
ins Herbarium der Religion stellt. Es ist dies eine Frage aus dem Inneren der
Religion selbst. Denn die explizierende Repräsentation öffnet die Dimension
der kritischen Reflexion, der die emotionale Expression sich anverwandeln
muß, wenn ihre Stimme gehört werden will. Was dann noch im Diskurs
verbleibt, ist die Religionskritik, nicht aber mehr die Religion. Die emotionale
Expression wiederum, die Stimme der im Mythos artikulierten Grundsituation
des Menschen, erkennt sich nicht wieder in den kritischen Diskursen der
Reflexion. So hat sie denn die Tendenz, zum fundamentalistischen Bekenntnis
zu werden und kämpferisch der Religionskritik wie der intellektuellen überhaupt
zu begegnen. Die Religionskriege sind noch nicht ausgestanden.
Diese Religionskriege können im Kampf der Religionen und der Kulturen
enden, aber auch in einem Kampf zwischen Religion und der übrigen Kultur.
Denn die Religion, in ihrer Nähe zu den existentiell verwurzelten Gefühlen der
Menschen, bleibt - wie gesagt - da, wo sie überhaupt wirksam bleibt, eine der
stärksten Kräfte des menschlichen Lebens. Und wo sie sich zur fixen Form
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
30
kanonisiert, kann sie eine unbarmherzige Herrschaft über die Menschen und
ihre Individualität ausüben, die eine totale Hingabe und die Aufgabe allen
Eigenseins fordert. Man kann aber auch hoffen, daß der innere Konflikt der
Religion immer wieder auch in dem Kampf endet, der die Verkrustungen - sei
es im Sakramentalismus, sei es im Prophetismus - auflöst und damit zum
Prinzip einer wie immer etikettierten Wiederverlebendigung, nämlich der
Formen menschlicher Existenzerfahrung, werden kann.
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
12
31
Verzeichnis der Siglen für die zitierten Werke Cassirers
AH
Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der
Gegenwart. In: Göteborgs Högskolas Årsskrift XLV 1939:1 [Elanders
Boktryckeri Aktienbolag] Göteborg 1939.
ECN 1
Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hrsg. von John Michael
Krois und Oswald Schwemmer. Band 1: Zur Metaphysik der
symbolischen Formen. Hrsg. von John Michael Krois unter
Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A.Bast, Klaus Christian
Köhnke, Oswald Schwemmer. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1995.
FT
Form und Technik. In: Leo Kerstenberg (Hrsg.): Kunst und Technik.
Berlin [Wegweiser Verlag] 1930, S.15-61. Wiederveröffentlicht in
Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren
1927-1933. Hrsg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois
unter Mitwirkung von Josef M.Werle. Hamburg [Felix Meiner Verlag]
1985. S.39-91.
MS
The Myth of the State. New Haven and London [Yale University
Press] 1946.
MSD
Der Mythus des Staates. Die deutsche Übersetzung von Franz
Stössl erschien zuerst 1949 (2.Aufl.1978) und noch ohne den
Untertitel (als Band der Erasmus-Bibliothek) in Zürich / München
[Artemis Verlag]. 1985 wurde sie mit dem Untertitel Philosophische
Grundlagen politischen Verhaltens (und ohne die Nennung des
Übersetzers) neu aufgelegt. Frankfurt am Main [Fischer
Taschenbuch Verlag].
NHBK
Naturalistische
und
humanistische
Begründung
der
Kulturphilosophie. In: Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och VitterhetsSamhälles Handlingar, Femte Följden Ser.A 7 (1939), Nr.3, S.1-28.
Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur.
Herausgegeben und eingeleitet sowie mit Anmerkungen und
Registern versehen von Rainer A.Bast. Hamburg [Felix Meiner
Verlag, Philosophische Bibliothek Band 456] 1993. S.231-261,
Anmerkungen S.296-306.
PSF I
Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache.
Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 71977 (1.Auflage
Berlin 1923).
PSF II
Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische
Denken. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 71977
(1.Auflage Berlin 1925).
Oswald Schwemmer: Die symbolische Existenz des Göttlichen
32
PSF III
Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie
der Erkenntnis. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft]
81982 (1.Auflage Berlin 1929).
SM
Sprache und Mythos. - Ein Beitrag zum Problem der Götternamen.
In: Studien der Bibliothek Warburg 6, Leipzig [B.G.Teubner] 1925.
Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des
Symbolbegriffs. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft]
1983, S.71-167.
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