Anthropologie des Ausdrucks – Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur / Norbert Meuter (Habil 2004) / Wilhelm Fink Verlag (DG) Kommentare von [email protected] (S.127) Kap. 3 - Ernst Cassirer: Die Symbolisierung des Ausdrucks (S.137) Die Mehrdimensionalität der geistigen bzw. symbolischen Welt reicht im übrigen tief hinein in die Struktur unserer Wahrnehmung. Dies macht Cassirer an einem ebenso einfachen wie prägnanten Beispiel deutlich. Der Sinn und die Bedeutung, die ein visuelles Muster – Cassirer verweist auf einen „einfachen Linienzug“ – für uns annehmen kann, variiert je nach der symbolischen Form, die im Hintergrund die Wahrnehmung des Musters bestimmt. (DG) Noch bevor Sinn/Bedeutung ins Spiel kommt, lässt sich von Aspektwahrnehmung sprechen. Bestimmte Aspekte können (zB. bei Cézanne) fokusiert werden ,ohne dass Semantik (Sinn/Bedeutung) ins Spiel kommt. (S.137) (…weiter) In einer ästhetischen Einstellung kann ich den Linienzug zB.“den Charakter eines bestimmten Ornaments“ erfassen, „mit dem sich für mich ein bestimmter künstlerischer Sinn und eine künstlerische Bedeutsamkeit verknüpft“. (DG) Der Begriff Einstellung legt nahe, dass wir (einfach) zwischen unterschiedlichen Aspekten (der Wahrnehmung) hin und her schalten können. Im Rahmen der diagrammatischen Analysen zeigt es sich jedoch, wie schwer es ist, die ästhetischen „Anteile“ eines Bildes herauszufiltern. Bei den Diagrammen gelingt es nur insofern, als jene Anteile, die der Ordnungsaufgabe (des Diagrammes) in nüchterner/strenger Weise dienen, quasi subtrahiert werden und der verbleibende Rest als ästhetischer Überschuß gelesen wird. Man versucht dabei herauszufinden, was auch anders (oder noch strenger oder nüchterner) gelöst sein könnte. Es hat also keinen Sinn bestimmte Diagrammgrundtypen wie Karte und Netz ästhetisch gegeneinander auszuspielen. Bei Karten hat man durch die flächigen Auffassungen in der Regel auch ästhetisch breitere Möglichkeiten in der Detailgestaltung; das dürre Gestell der Netzdiagramme führt in der Regel zu trockeneren bzw. spröderen Gestaltungen. (DG) Die Begriffe „künstlerischer Sinn“ und „künstlerische Bedeutsamkeit“ schwindeln sich in das Bedeutungsfeld von „Sinn“ und verbaler „Bedeutung“ ein und versuchen einen ästhetischen Sinn und eine ästhetische Bedeutsamkeit Nahe zu legen. Nur was könnte der Kern dieser Bedeutsamkeit sein? Geht es dabei um „Energielagen“, um „Ausdrucksstärke“, um eine bestimmten „Duktus“, um kulturell besetzte „Bewegungsmuster“, um „Expressivität“ bzw. emotionale Wirksamkeit. (S.138) In einer wissenschaftlichen Perspektive wiederum kann der Linienzug „zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmten Funktionsverlaufs“ werden; und auch dann kann es noch spezifische Unterschiede geben: der „Blick des Mathematikers“ sieht etwa „das Bild einer Sinuskurve vor sich“, während der Physiker in dem Linienzug „das Gesetz eines bestimmten Naturvorgangs“ erkennt. (S.138) (…weiter) Darüber hinaus ist es, so Cassirer, auch möglich, das uns das Muster als relativ eigenständiger „physiognomischer Charakter“ anspricht, d.h. hinsichtlich seines Ausdruckssinns: „das Auf und Ab der Linien im Raume fasst eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich“. (DG) Was wird mit dieser inneren Bewegtheit nun angesprochen? Sind es Emotionen …. Oder ist es eine Art von Gedankenfluß …. Oder eine Art Lebensenergie? (DG) Ist der „physiognomische Charakter“ eine ganz eigene Qualität, oder werden dabei ganz bestimmte komplexe (glatte) (oft organische) Ausformungen angesprochen, die uns emotionale Lesarten nahe legen? (S.138) Cassirer legt besonderen Wert darauf, dass der Sinn, den das visuelle Muster jeweils annehmen kann, nicht etwas ist, was in einem eigenen oder nachträglichen Akt der Sinngebung dem Muster hinzugefügt wird, sondern etwas, was der Wahrnehmung selbst inhärent ist. (DG) Das würde sich mit Formulierungen von G. Böhme decken; aber ich habe den Verdacht, dass Cassirer seinen Symbolbegriff mit maximaler Reichweite ausgestattet denkt und das symbolische Konzept allen anderen Ansätzen überstülpt. (S.138) Das Erlebnis selbst, „als reine phänomenale Gegebenheit“, weise „jedenfalls keine derartige Trennung auf“, sondern es zeige sich, „dass, >Sinnliches< und >Sinnhaftes< uns rein phänomenologisch immer nur als ungeschiedene Einheit gegeben sind“. Hier formuliert Cassirer eine der Grundeinsichten seiner Philosophie insgesamt – die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit -, die er terminologisch unter den Begriff der „symbolischen Prägnanz“ bringt. (DG) Ist damit die Parallelität der Verarbeitung (in unserem Gehirn) angesprochen, oder eine innige Verwobenheit, die nur analytisch aufgetrennt werden kann? (DG) Die Formulierung der „symbolischen Prägnanz“ lässt mich an den Versuch denken, eine „diagrammatische Prägnanz“ fassen zu können. Bei dieser Analyse habe ich mich auf jene strukturellen Fragen konzentriert, die repräsentationstechnisch (für Diagramme) als Grundlage aufgefasst werden können. Diese (kulturell) „erfahrenen“ Formen werden damit auch aus der Sicht einer Prägnanz bewertbar, in dem man das Überflüssige, bloß Schöne, die „Dekoration“, die Forcierung, …. Subtrahiert, um auf den Kern (als diagrammatischen Prägnanz) zu stoßen. Da in der Diagrammatik aber ein a-symbolischer bzw. a-semantischer Zugang thematisiert wird, ist eine Übertragung auf eine „symbolische Prägnanz“ nicht in jeder Hinsicht zielführend, da eine „semantische Prägnanz“ außerhalb der Reichweite der Diagrammatik ist. Vielmehr müsste an dieser Stelle die Rolle einer Codierung mit gedacht werden. (DG) Auch wenn zB. die Kreuzform sehr prägnant ist und daher in vielen Kulturen eine wichtige Stelle einnimmt, bietet diese Form keinerlei Anhaltspunkt, warum sie für bestimmte Inhalte besonders gut geeignet sein sollte (im Sinne der: symbolischen Prägnanz). (DG) in diesem Sinne wird auch der folgende Schlüsselsatz (als semantische Zauberformel) von Cassirer zu eine „Leerformel“: (S.138) Die berühmte Definition des Begriffs, die Cassirer im Anschluß an das Linienzugbeispiel formuliert, lautet: „Unter >symbolischer Prägnanz< soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als >sinnliches< Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen >Sinn< in sich fasst und ihn zur unmittelbar konkreten Darstellung bringt.“ (DG) Daß diese „unmittelbar konkrete Darstellung“ nur ein Mythos sein kann, lässt sich mit den Überlegungen zum „Verwendungssinn“ (also u.a. mit Wittgenstein) zeigen. Wenn wir nie in die je relevante Handhabungspraxis eingeführt wurden, keine relevante Erfahrungen haben und den Kontext nicht lesen können, …. dann kommt auch kein „nicht-anschaulicher Sinn“ unmittelbar konkret zur Darstellung. (S.144) (1) Das mythische Erleben und Handeln ist für Cassirer grundsätzlich durch einen starken prozessualen Charakter gekennzeichnet. Dem Mythos fehlt das Moment der Stabilität und Kontinuität. „Das Sein, das körperliche wie das seelische, hat sich noch nicht verfestigt, sondern es besitzt und bewahrt eine eigentümliche >Fluidität<. …. (DG) Vergl. dazu die begrifflichen Analysen zu atmosphärischen Gestaltungsfragen (also zur Rolle fluider Begrifflichkeit) (S.145) (2) Die Welt des Mythos ist durch und durch emotional. Cassirer ist der Auffassung, dass auf der Stufe des mythischen Erlebens und Handelns „die Dinge für das Ich nur dadurch >sind<, dass sie in ihm affektiv wirksam werden, - dass sie in ihm eine bestimmte Regung der Hoffnung oder Furcht, der Begierde oder des Schreckens, der Befriedigung oder Enttäuschung auslösen. Auch die Natur ist dem Menschen, lange bevor sie zum Gegenstand der Anschauung, geschweige zum Gegenstand der Erkenntnis werden kann, einzig in dieser Weise gegeben.“ (DG) Vergl. dazu den Zusammenhang von Emotionalität und atmosphärischen Gestaltungsfragen. (S.145) (…weiter) Der Mythos ist „ein Abkömmling der Emotion, und sein emotionaler Kontext durchtränkt seinen Hervorbringungen mit seiner spezifischen Färbung“. Der Mensch im Mythos „lebt ein Leben von Affekten, nicht von Gedanken“. (DG) Vergl dazu auch J. Gebser / In Summe besteht die Gefahr die Rolle der Emotionalität in vorgeschichtliche Zeit zu verorten und mit primitiven Denkformen zu assoziieren. Damit wird die zentrale Rolle für das Funktionieren unseres Gehirns (vergl. E. Pöppel) eher verdeckt als befördert. (S.146) (3) Neben der Prozessualität und Emotionalität ist Expressivität ein drittes und in unserem Zusammenhang das entscheidende Strukturmerkmal des Mythos. Die Erlebniswelt des Mythos ist, so Cassirer „in reinen Ausdruckserlebnissen fundiert“. Die Welt des Mythos ist eine „Ausdruckswelt“. „Die Landschaft ist düster oder heiter, streng oder lieblich, zart oder erhaben. Dies alles sind offenbar (…) reine Ausdrucks-Charaktere. Cassirer spricht häufig auch vom „physiognomischen“ Charakter des mythischen Erlebens. „Die Welt hat, im ganzen wie im einzelnen, noch ein eigentümliches >Gesicht<, das in jedem Augenblick als Totalität erfassbar ist (…). Sie trägt in sich die Züge (…) des Erregenden oder Sänftigen, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden.“ (DG) Expressivität als Strukturmerkmal: Wenn man von den hier genannten Begriffen ausgeht, dann wäre die Expressivität als Unterthema der Ästhetik denkbar. Eine Seite weiter sieht man, dass er von einer vor-ästhetischen Wahrheit spricht. Die Ausdrucksfrage ist also grundlegender als die ästhetische Frage. Ausdrucks-Charaktere als Strukturmerkmale: Wenn man die hier verwendeten Begriffe zugrunde legt, dann können man von dem ausgehen, was mit dem Gesicht (mit dem Körper) ausgedrückt werden kann: …. düster, heiter, streng, lieblich, zart, erhaben Der physiognomische Charakter, wäre also primär mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers in Verbindung zu bringen. In freier Natur sind wir aber auch damit vertraut, Landschaften physiognomisch zu lesen. Dabei geht es nicht darum, Gesichter oder Körper in die Hügelketten hinein zu lesen. Es geht also nicht nur um die überlebensrelevante Rolle der Gesichter-Wahrnehmung. Glatte (komplex gekrümmte) Gebilde scheinen unsere Wahrnehmung sehr direkt anzusprechen. Es kommen aber auch Begriffe in den Sinn, die mit Wetterlagen in Verbindung gebracht werden (also mit atmosphärischer Begrifflichkeit im weitesten Sinne). (S.146) Für die „Welt des Ausdrucks“ gilt (vielmehr), „dass ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewusstsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein ergreifen – und diese >Rezeptivität< steht zu jener Art >Spontaneität<, in der alles Selbstbewusstsein gründet, im deutlichen Gegensatz.“ Die emotionalen Qualitäten, die das mythische Erleben so stark beherrschen, werden direkt in den „physiognomischen“ Ausdrucksformen erfahren: Wo der >Sinn< der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten „Charakter“ auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern ihr unmittelbar zukommt. (…) Als Ausdruckswerte oder Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter der Erscheinung stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen. Das Erfassen der Ausdrucksformen im Mythos ist demnach kein Vorgang der Interpretation (in dem Sinne, in dem eine Interpretation stets mehrere Deutungsmöglichkeiten impliziert), sondern – um es paradox zu formulieren – es handelt sich um ein interpretations- oder deutungsfreies Verstehen. (DG) Das könnte nun als eine eindeutige Semantik verstanden werden, die uns körperlich eingeschrieben (also genetisch als Verhaltensprogramm vererbt) wurde. Es wäre eine non-propositionale Logik, die uns ganz unmittelbar anspricht. Es könnte auch a-semantisch gelesen werden, so zu sagen als zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit, die jede Sinndimension (emotional) „einfärben“ kann. (DG) Es sind also Gestaltungen denkbar, die uns als Menschen sehr unmittelbar ansprechen. Diese Ausdrucksformen (emotional wirksamen Bewegungsmuster, Farben, Lichtverhältnisse, ….) können für jede Aufgabenstellung genutzt werden. (S.147) (…weiter) Cassirer selbst zieht ausdrücklich diese Konsequenz. Im „reinen Ausdrucksphänomen“ ist, wie er sagt, „ein Modus des >Verstehens< gegeben, der nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist: die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist. Diese Aussage ist deshalb so erstaunlich, weil sie eigentlich der Grundannahme der Philosophie der symbolischen Formen fundamental widerspricht. Denn nach dieser Grundannahme dürfte es gerade kein direktes oder unmittelbares Verhältnis des Menschen zu(r) Welt geben. (DG) Vergl. dazu die Atmosphäriker Böhme, Schmitz, etc. (S.147) Hier sagt Cassirer, dass der Sinn und Gehalt der reinen Ausdrucksfunktion als solcher nicht erst auf Umweg über eine einzelne geistige Gestaltungs-Sphäre beglaubigt werden kann, weil sie vielmehr als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion, der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung vorausliegt. Ihre Sicherheit und ihre >Wahrheit< ist sozusagen eine noch vor-mythische, vor-logische und vor-ästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben. (S.148) (… weiter) Diese besondere Bedeutung des Ausdrucks, die darin besteht, dass der Ausdruck die eigentliche Grundlage von Symbolisierungsprozessen überhaupt darstellt (gleichgültig in welche symbolische Formen sich diese dann ausdifferenzieren), drückt Cassirer an vielen Stellen dadurch aus, dass er ihn als „Urphänomen“ oder auch „Urphänomen des Lebens“ bezeichnet. (DG) Könnte Musik als „reine Ausdrucksform“ aufgefasst werden? (S.148) Kap. Das „Urphänomen“ des Ausdrucks …. Cassirer beruft sich an vielen Stellen auf die Befunde und Einsichten der Entwicklungspsychologie seiner Zeit (W. Stern, K. Koffka, C. Bühler); diese zeigen uns, „wie stark der Primat der Ausdruckswahrnehmung auch in der Welt des Kindes (…) noch ist. Gegenüber sensualistischen Annahmen der philosophischen und psycholgischen Tradition sind es keine einfachen Reize, auf die das Kleinkind reagiert, sondern durchaus komplexe und insbesondere körpergebundene Ausdrucksqualitäten: „Die ersten differenzierten Schallreaktionen erfolgen gegenüber der menschlichen Stimme, also auf sehr komplizierte Reize (und >Empfindungen<). Nicht an einfachen Farben hat der Säugling Interesse, sondern an menschlichen Gesichtern.“ (S.148) Von diesen Befunden ausgehend, entwickelt Cassirer die generelle These vom „Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung“. Damit ist gemeint, dass wir uns sowohl in genetischer als auch in struktureller Hinsicht zunächst auf Ausdrucksqualitäten und erst dann auf Gegenstände beziehen: „Das >Verstehen von Ausdruck< ist wesentlich früher als das >Wissen von Dingen<“. Bevor sich „für das Bewusstsein die Konstanz von >Gegenständen< herausbildet, teilt sich ihm die Wirklichkeit nach gewissen Ausdruckswerten. Sie ist freundlich oder feindlich, anreizend oder abstoßend, lockend oder schreckhaft.“ (S.149) „Wenn wir versuchen, in irgendeiner Weise ein Bild der >Wahrnehmungswelt< und >Vorstellungswelt< der Tiere zu gewinnen, so scheint das Einzige, was sich mit einiger Sicherheit über sie aussagen lässt, eben darin zu bestehen, dass sie ausschließlich oder vorwiegend im Kreise solcher Ausdruckswerte beharrt. Die >Orientierung< des Tieres scheint wesentlich auf ihnen zu beruhen.“ (S.150) Das Phänomen des körpergebundenen Ausdrucks bestimmter basaler Emotionen umfasst demnach die Mensch/Tier-Differenz. Was uns mit der tierischen Existenzform verbindet, ist die primäre Expressivität. Aber nicht nur in genetischer, auch in struktureller Hinsicht besitzt die Ausdrucks- gegenüber der Dingwahrnehmung einen spezifischen Vorrang …. Im Prinzip erfasst jede Wahrnehmung (auch wenn jeweils die Strukturprinzipien der anderen symbolischen Formen dominieren) bestimmte Ausdrucksqualitäten. Cassirer betont immer wieder, „wie alle Wahrnehmung eines >Objektiven< ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser >physiognomischer< Charaktere ausgeht, und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt“. Die >Urschicht des Ausdruckserlebnisses< wird zwar, wie Cassirer sagt, „sobald wir von der mythischen Welt zur ästhetischen, von der ästhetischen Welt zu der der theoretischen Erkenntnis fortgehen, sehr erheblich modifiziert und umgestaltet: aber sie wird hierbei nicht schlechthin abgetragen“. Die Modifikation bedeutet also nicht, dass sich die primäre Expressivität ganz auflösen würde, den sonst „wäre damit nicht nur die mythische Dämonen und Götterwelt versunken, sondern es wäre damit auch das Grundphänomen des >Lebendigen überhaupt< erloschen“. Nur in (solchen) hochformalisierten Symbolsystemen wie zB. der Logik oder der Mathematik treten die Ausdrucksqualitäten mehr oder weniger vollständig in den Hintergrund. Was wir also beständig und strukturell über oder in Ausdrucksfunktionen erfassen, ist das „Grundphänomen des Lebendigen“, und das vor allem hinsichtlich seiner emotionalen bzw. affektiven Qualitäten. (DG) Diagrammgrundtypen und Graphen, die Ablaufphänomene visualisieren, bzw. der Sicht der Fluidität zugerechnet werden können eher als „lebendige“ Strukturen gelesen werden, als kristalline/architektonische Gebilde. Physiognomische Begrifflichkeit greift für erstere auch besser wie für Zweitere. Die „atmosphärische“ Diagonale und die performative Achse im Medienschema können Also mit dem „Lebendigen“ in Verbindung gebracht werden. (S.152) Cassirer schlägt vor, „die Ordnung und die Richtung der Betrachtung um(zu)kehren. Statt zu fragen, durch welche Prozesse der logischen Schlussfolgerung oder der ästhetischen Projektion das Physische zum Psychischen wird, muß sie vielmehr die Wahrnehmung bis zu dem Punkt verfolgen, in dem sie statt Dingwahrnehmung reine Ausdruckswahrnehmung, und – in dem sie daher Inneres und Äußeres in Einem ist“. Über die Ausdrucksfunktion erfassen wir direkt und unmittelbar das Grundphänomen des Lebendigen, und sie eröffnet uns damit auch die Richtung auf das Du. (DG) Die „ästhetische Projektion“ wird hier deutlich von der „Ausdruckswahrnehmung“ abgegrenzt, bzw. wird eine fiktive Stelle (eine Art Übersetzungsstelle) im Prozeß (und auch in Bezug auf die Repräsentation) gesucht, wo diese „Muster(Ordnungen) aufeinander treffen. Wäre jede Ausdruckswahrnehmung eine ästhetische Wahrnehmung, dann wäre jede Lebendigkeit ästhetisch aufzufassen. Mit Welsch könnte man noch sagen: Wenn Aisthesis die Wahrnehmung im umfassendsten Sinne ist, dann umfasst sie sowohl die Ausdruckswahrnehmung als auch die ästhetische Projektion. (vereinfacht: Aisthesis = Ausdruck + Ästhetik). (S.152) … Cassirer wendet sich gleichermaßen gegen zwei extreme Positionen. Auf der einen Seite kritisiert er panpsychistische Vorstellungen, in denen er eine „kritik- und schrankenlose Verwendung der Ausdrucksfunktion“ sieht; Der Panpsychismus behaupte: „alles ist Ausdruck – und darin gibt alles Kunde von einem seelischen, fremdpsychischen Leben“. (DG) Auch für die Diagrammatik scheint es sinnvoll zu sein, die „Reichweite“ des Ausdrucks, auf gewisse (Gestaltungs)Aspekte begrenzt zu sehen. Abstrakte „dürre Gestelle“ und abstrakte/spröde Symbolik sollten in der Ausdrucksfrage also eher ausgeklammert werden. Muster, Linienführungen und „glatte“ Flächenverläufe welche die Abtastbewegungen der Wahrnehmung in „bestimmte“ (ausdrucksstarke bzw. ausdrucksrelevante) Bewegungen versetzen, scheinen als Ausdrucksaspekte relevant zu sein. (DG) Es wird also von einer psychisch/seelischen Relevanz gesprochen, also dem, was uns „bewegt“. Damit stellt sich die Frage, welche Gestaltungsaspekte uns jenseits einer inhaltlichen Lesart bewegen können. Im Prinzip könnte man sich auf „Ausdrucksbewegungen“ konzentrieren, also um - wenn auch „eingefrorene“ – Bewegungsmuster, die wir durch unsere wahrnehmenden Abtastungen wieder zum Leben erwecken. Am einfachsten scheint das (bei gleichzeitig maximaler Abstraktheit) bei musikalischen Mustern zu gelingen. Aber auch der Begriff der Bewegungsanmutung dürfte in diese Richtung weisen. (DG) G: Böhme (Atmosphäre): „Die (Gesichts)Züge brauchen nicht als Spuren von Bewegung gelesen werden, sondern laden selbst zur Bewegung ein. Schmitz hat hier sehr glücklich von „Bewegungsanmutungen“ gesprochen. Die Formen eines Dinges lassen die Möglichkeiten spüren, dieses Ding zu umfassen und zu handhaben, die Linien eines Gebirgszuges laden dazu ein, ihnen mit den Augen zu folgen. Das Ding steht so mit seinen Formen und Zügen in einen Raum möglicher Bewegungen hinaus. „ (DG) Bestimmte Ausformungen bewegen uns also mehr als andere. Wenn man nun konkrete Ordnungsmuster ins Spiel bringt, stellt sich die Frage, wie zB. rhythmische Konzepte in Relation zu tonalen Bewegungen (Tonübergängen) zu bewerten wären. Die „Wirkung“ der Kerbe scheint ja eher Bewegungen zu unterbrechen oder zu behindern. Wenn man aber genauer hinsieht, dann können Abfolgen von Kerbungen einen (Linien)Verlauf rhythmisch so gliedern, das man von Bewegungsmustern sprechen kann. Einerseits geht es also um die Verfolgung von „Linienzügen“ und andererseits sind diskrete Erscheinungen zu berücksichtigen, die diesen Verlauf (rhythmisch) gliedern. Diese Gliederung kann tonal ausgearbeitet sein oder aber auch durch monotone KlangEreignisse in Erscheinung treten. Diese Bewegungsanmutungen sollten also keineswegs einseitig der „glatten“ oder der „gekerbten“ Seite zugerechnet werden. (DG) Ornamentale Regelmäßigkeit und Symmetrien sind für unsere Wahrnehmung ebenso „attraktiv“ wie komplex gekrümmte Physiognomien (wie Gesichter oder Gebirge sie bieten). (DG) Da Wahrnehmung (organisch implementiert) grundsätzlich immer mit bewegter Abtastung, oder einem Mitschwingen zu tun hat, kann man sich in einigen Bereichen (auf der Basis dieser Bewegungsmuster) auch eine „Übersetzbarkeit“ unterschiedlichster Bewegungsreize vorstellen. Gerade beim Vergleich der beschreibend verwendeten Eigenschaftswörter drängt sich diese Vermutung auf. Wenn etwas als „überschießend“ charakterisiert wird, kann eine Tonlage oder Ausruf gemeint sein, der Duktus von Gesten, freudige Emotionen (als Minenspiel), das Bewegungsmuster von Flüssigkeiten oder aber auch weit auskragende Objekte. (DG) Muster die uns (in der Wahrnehmung) nicht zur Ruhe kommen lassen, zeigen sich oft als ausgeprägte „Kerben“. Unendlich auslaufende gekrümmte „Glätte“, diffuse Verhältnisse und monochrome Kontexte (und gedeckte Farben) können die Wahrnehmung zur Ruhe kommen lassen. Der Blick in unendliche Weiten (des Himmels und des Meeres) kann uns auch emotional stark beeinflussen. (S.155) Auf der Ebene der primären Expressivität geht, wie wir bereits wissen, auch Cassirer von einem möglichen universalen – „interpretationsfreien“ – Verstehen aus. „Die elementarsten menschlichen Äußerungen“, so heißt es, sind >natürlich<, nicht >künstlich< (…). Sie hängen nicht von einer Übereinkunft, von Sitte oder Gewohnheit ab, sondern sie sind sehr viel tiefer verwurzelt. Sie sind unwillkürliche Ausdrücke menschlicher Gefühle und Affekte“. Die Ausdrucksfunktion ist auch hinsichtlich der Dimension des Verstehens eine „wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion“. (DG) Es geht also explizit um Gefühle und Affekte, also um emotionale Aspekte der Wahrnehmung, bzw. um Ausformungen die jenseits jeder Interpretation (und Inhaltlichkeit), emotional wirksam sind. Auf die Sicht der Diagrammatik/Graphematik übertragen: Bestimmte Ausformungen werden unwillkürlich auch emotional gelesen. Bestimmte (fluide) dynamische Ausformungen sind emotional stärker wirksam, als simple Reihen oder ungeordnete Platzierungen. (S.155) Auf der Ebene der Repräsentation und des kulturell geformten Ausdrucks ergeben sich für das Verstehen stets mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Auch das haben wir – insbesondere am Beispiel des „Linienzugs“ – gesehen. Cassirer deutet nun allerdings auch für die Ebene der Kultur ein bestimmtes Phänomen an, welches universale Aspekte enthält. Wie nicht anders zu erwarten, hängt dieses Phänomen jedoch eng mit dem natürlichen Ausdruck körpergebundener Emotionen zusammen. Cassirer bezieht sich dabei – freilich nur an einigen wenigen Stellen – auf Aby Warburgs Begriff der „Pathosformel“. (S.156) (Cassirer zu Warburg:) Pathosformeln seinen „gewaltige >Energiesymbole<; sie entspringen dem Bedürfnis der Ausdruckssteigerung, wie sie in den Momenten gesteigerten inneren Lebens hervorbricht. Solche >Superlative< der Gebärdensprache erscheinen zunächst als reine Schöpfungen des Augenblicks. Aber einmal gefunden, beweisen sie eine eigentümliche Kraft der Fortdauer. Sie bilden ein festes Erbgut, das in immer neuen Abwandlungen gebraucht wird. So gibt es eine Art Grammatik und Stilistik der Ausdruckssprache bildender Kunst. (DG) Der Begriff „Ausdruckssteigerung“ könnte auch für die Diagrammatik nützlich sein, auch wenn es dabei nicht um „Superlative der Gebärdensprache“ gehen kann. Einerseits wären die KreisQuadrat-Schemen zu nennen, die oft auf symmetrischen bzw. Geometrischen Superlativen aufsetzen (und oft für Weltbilddarstellungen verwendet werden). Die Ausdruckssteigerung kann auch dem Inhalt zugeordnet sein, indem zB. Schlüsselstellen visuell (zB. farblich) forciert werden. (S.156) Mit dem Konzept der Pathosformel, … lässt sich demnach die Differenz Natur-Kultur ausdruckstheoretisch vermitteln: die primäre Expressivität bildet den Ausgangspunkt und das Material von kulturellen Gestaltungsprozessen. Aber sie bildet nicht nur das Material, sondern sie bleibt (im Sinne Plessners) der beständige „Motor“ der Kultur. (DG) Die Gegenüberstellung von Natur /vs/ Kultur (also, die „primäre Expressivität“ der Naturseite zuzuschlagen), könnte auch auf Graphematik /vs/ Diagrammatik übertragen werden. Analoge Messungen, das Mitschwingen, Mitschreiben, … die Spurverfolgung erzeugt Graphen/Spuren, die eine „primäre Expressivität“ einer sehr weit aufgefassten Natur zugerechnet werden könnten. Dabei ginge es nicht mehr nur um (höhere) Lebewesen mit komplexen Wahrnehmungssystemen, sondern auch um alle physikalische Ereignisse. Wie oben angeführt, geht es dabei nicht um „panpsychistische Vorstellungen“ (eine Explosion will ja nichts zum Ausdruck bringen), sondern um die Frage, ob Messkurven genauso gelesen werden können wie zeichnerisch abgesetzte Linienzüge. Wenn wir den Entstehungskontext einer Linie nicht kennen, bleibt uns kein Anhaltspunkt um den sozialen/kulturellen/emotionalen Stellenwert der Bewegungsanmutungen zu bestimmen. (DG) Alle fluidalen Erscheinungen, sei nun aus GestalterInnen-Hand oder als Visualisierung von Messwerten (zB. aus einer Brennkammer) werden von uns in ihrer primären Expressivität wahrgenommen. Über Wasserbewegungen, dem Tanz der Flammen, über sturmgetriebene Bewegungsmuster, …. sind wir mit diesen (übermächtigen) Energien ja wohl vertraut und gerade diese zT. lebensbedrohlichen Erscheinungen sind tief in unseren Leib eingeschrieben. Die Atmosphären-Studie zeigt klar auf, welche Rolle alle Arten von Orientierungsverlust für unseren emotionalen Haushalt spielen. (DG) Im Rahmen der Graphematik geht es um Repräsentationstechniken der Naturwissenschaften; energetische Veränderungen finden ihren Ausdruck in Spuren bzw. Graphen. Im Gegensatz dazu sind die meisten Diagrammgrundtypen (der Diagrammatik) Ordnungsschemen für symbolische Inhalte (geringerer Expressivität). Nur bei jenen Diagrammtypen, die sich mit Faltungen und dynamischen Prozessen (Abläufen) beschäftigen, oder Diagrammtypen, die komplexe Physiognomien darstellen oder als Bezugssystem haben, spielt diese primäre Expressivität eine ähnliche Rolle. (S.157) Cassirer schlägt … vor, „eine scharfe Unterscheidung zwischen zwei Typen des Ausdrucks [zu] machen: zwischen natürlichen und symbolischen Ausdrücken“. Natürlicher Ausdruck findet sich bereits bei der tierischen Existenzform, der Mensch dagegen „hat eine neue Art des Ausdrucks entdeckt: den symbolischen Ausdruck“. Die primäre (und praktische) Expressivität wird in eine symbolische Expressivität transformiert. (DG) Cassirer schließt also die Pflanzenwelt und die unbelebten Realwelterscheinungen aus seinen Betrachtungen aus. Wie oben beschrieben, können wir Windgeräusche genauso lesen wie elektroakustische Musik, oder Strömungsformen der Natur genau so wie fluidales Design. (S.157) Der [symbolische] Ausdruck eines Fühlens ist nicht das Fühlen selbst – er ist Gefühl in Bild verwandelt. (DG) Aber WIE zeigt es dort am Bild? Es muß sich in Farbe/Licht und/oder Formen umsetzen lassen. Wenn man naturalistisch umgesetzte Gesichter/Gesten/Körperhaltungen einmal ausklammert, stellt sich die Frage einer allgemeingültigeren Umsetzung. In der Regel dürfte es energetisch „wirksame“ Kontraste gehen, um Farbverläufe, Tonverläufe, Linienverläufe, ….. Als Beispiele für Ausdrucksformen wurden hier Verlaufsformen angeführt. Verläufe in der Zeit und Verläufe Im Raum (und auf der Fläche). So könnte jedes kontextuelle Zueinander in Bezug auf Ausdruckswirksamkeit diskutiert Werden. (S.160) Nach dieser Theorie (von H. Usener) wird am Ursprung der mythischen Erfahrung das emotionale Ergriffenwerden durch einen Ausdruck, welches ja auch schon für die tierische Existenzform charakteristisch ist, noch einmal extrem gesteigert und punktuell intensiviert, wobei zugleich der gesamte übrige „Kontext der Erfahrung“ ausgeblendet wird. Gestalttheoretisch formuliert entsteht ein totaler Figur/Hintergrund-Kontrast. Der jeweilige extrem prägnante Inhalt, auf den sich die mythische Konzentration richtet, „füllt das Bewusstsein vollständig aus, so dass nichts mehr neben ihm oder außer ihm besteht. In höchster Energie ist das Ich diesem Einen zugewandt, lebt in ihm und vergisst sich in ihm. Hier herrscht somit statt der Erweiterung der Anschauung vielmehr deren äußerste Verengung.“ (DG) totales erfasst werden; ergriffen werden: Wie können Diagramme das leisten? Einerseits könnte es bei überweltigenden Größenordnungen (der Diagramme) möglich sein oder aber auch über einen hohen Ordnungsgrad: man denke dabei an diverse abstrakte Diagramme, die in asiatischen Kulturen der Meditation dienen. (S.166) Auch der Begriff der Prägnanz – im gestalttheoretischen Sinne – verweist zunächst noch auf den Bereich der primären Expressivität. Es hat sich ja ebenfalls gezeigt, dass die natürlichen Ausdrucksmuster bestimmte intensive und auffällige Formmerkmale aufweisen (müssen) – damit sie sich vom „Fluß“ des Erlebten abheben können -, die dann durch die Kondensierung aufgegriffen und noch einmal zu einem vollständigen Figur/Hintergrund-Kontrast gesteigert werden. (S.168) Cassirer zieht also einen scharfen Schnitt zwischen natürlichem und symbolischen Ausdruck, zwischen Präsenz und Repräsentation, zwischen Ausdrucksfunktion und Darstellungsfunktion, zwischen primärer und symbolischer Expressivität. (S.170) Der Menschen wie Tiere(n) gleichermaßen zukommenden primären Expressivität „fehlt ein Element, das für die menschliche Sprache charakteristisch und unverzichtbar ist: Wir finden keine Zeichen, die eine objektive Referenz oder eine objektive Bedeutung haben. (…) Die Unterscheidung zwischen aussagender, propositionaler Sprache (>propositional language<) und emotionaler Sprache (>emotional language<) bezeichnet die eigentliche Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt.“ (DG) Vergleiche dazu die Plazierungen im Medienschema: atmospharische/emotionale Diagonale. (S.170) „… die Erscheinung des Ausdrucks scheint ein echtes Urphänomen des Lebens zu sein, das bis in seine untersten Grade und Schichten herabreicht. (…) Gelingt es daher, den Ausdrucksvorgang als reinen Lebensvorgang zu erfassen und ihn mit rein biologischen Kategorien zu beschreiben – so ist damit prinzipiell der Weg frei gemacht, der vom rein natürlichen Dasein, in ununterbrochenem und stetigem Fortschritt, bis zu den höchsten geistigen Erzeugnissen heraufzuführen verspricht. (DG) Cassirer beschränkt diesen Ansatz also auf organische Lebensformen. Wie oben angesprochen, würde ich auch andere „hochenergetische“ Erscheinungen der „Natur“ mit ins Spiel bringen, da all unsere Ängste mit diesen (erhabenen) Erscheinungen zu tun haben. Vergleiche dazu auch das Konzept der Ektasen der (Natur)Dinge und (Natur)Vorgänge bei G. Böhme. Kap. 4 – Max Scheler : Die moralische Dimension des Ausdrucks (S.173) „Unser emotionales Leben ist (…) ein großartig differenziertes System natürlicher Offenbarungen und Zeichen, in denen wir uns selbst erschlossen werden.“ Scheler geht dabei immer auch den Bezügen nach, die zwischen den Emotionen und ihren Ausdrucksformen bestehen. Man kann daher durchaus, wie Sceler selbst dies tut, von einer „Philosophie des Ausdrucks“ sprechen. Ebenso wie für Dilthey, Plessner und Cassirer ist auch für Scheler der Ausdruck ein echtes „Urphänomen des Lebens“. (S.176) Ausdruck finde sich „bereits im pflanzlichen Sein“, dem eine „gewisse Physiognomik (…) wie matt, kraftvoll, üppig, arm“ zukomme. (S.178) Ein Ausdruck besitzt demnach einen „Ganzheitscharakter“; dass mir ein anderer zB. freundlich oder feindlich gesinnt ist, erfasse ich, so Scheler, in der „Ausdruckseinheit des Blickes“. (S.179) Es ist so, wie Scheler in einem bereits ausgeführten Zitat sagt, dass das Erlebnis im Ausdruck „gleichsam endet“. An einer anderen Stelle verwendet er die verwandten Begriffe der Peripherie und der Grenze: Der Ausdruck bzw. seine Form, Gestalt, dessen anschauliche Attribute (Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke usw.)“ seien nur die „periphere Erscheinung und Grenze“ des „inneren Lebens“. (S.179) In dem „au“ liegt nicht die Intention der >Mitteilung< eines Scherzes - …, sondern es ist die unmittelbare Ausdrucksfolge dieses schmerzhaften Erlebnisses.“ Ein Gefühlsausdruck „meint nichts und bedeutet nichts, sondern drückt einen Gefühlszustand einfach aus“ … (S.184) Ebenso (wie höhere Primaten) verfügen bereits Kleinkinder über die Fähigkeit des Ausdrucks- und Fremdverstehens, lange bevor sie höhere kognitive bzw. logische Operationen durchführen könnten. (S.184) Aus den beschriebenen Phänomenen (diversen Kleinkindreaktionen) zieht Scheler den Schluß, „dass >Ausdruck< sogar das Allererste ist, was der Mensch an außer ihm befindlichen Dasein erfasst, und dass er irgendwelche sinnliche Erscheinungen zunächst nur und insofern erfasst, als sich seelische Ausdruckseinheiten in ihnen >darstellen< vermögen“ – eine sehr prägnante Beschreibung der primären Expressivität! (S.185) Auch Scheler geht – wie alle anderen hier behandelten Autoren – von einer (faktischen) Universalität und Kulturinvarianz des Ausdrucksverstehens aus. Immer wieder spricht er von einer „universalen Grammatik“, die für alle Sprachen des natürlichen Ausdrucks gelte und „oberste Verständnisgrundlage für alle Arten von Mimik und Pantomimik des Lebendigen“ sei. Diese universale Grammatik des natürlichen Ausdrucks reiche noch über die Grenzen der menschlichen Gattung hinaus und umfasse die gesamte Sphäre des organisch-natürlichen Lebens. Noch einmal gegen die Einfühlungstheorie des Fremdverstehens wendet Scheler in diesem Zusammenhang ein, „dass wir Erlebnisse zB. an Tieren verstehen können, deren Ausdrucksbewegungen wir auch der bloßen >Tendenz< nach nicht nachzuahmen vermögen“. Im Hinblick auf die verschiedenen Modi des Lebensgefühls reiche „Verständnis und Mitgefühl durch die gesamte Lebenswelt hindurch, wenn sie auch hinsichtlich der besonderen Qualitäten in der Tierreihe nach unten rasch abnehmen“. In jedem Falle aber führe das das natürliche Ausdrucksverstehen zu einer „emotionalen >Realisierung< der Menschheit als Gattungseinheit“. Wir besitzen, so Scheler, ein Wissen um die universale Grammatik der Ausdruckssprache des Lebendigen. Die Sphäre des Lebendigen sei nämlich ein „ungeheures Ganzes von Ausdrucksfeldern“, und alle Erscheinungen innerhalb dieser Sphäre weisen einen durch die universelle Mimik, Pantomimik und Grammatik des Ausdrucks verständlichen (…) Sinnzusammenhang“ auf. (DG) An anderer Stelle wurde bereits hinterfragt, ob es diese Ausdrucksgrammatik und diese Form des Sinnzusammenhanges rechtfertigen könnte, bereits von einer (emotional relevanten) Semantik sprechen zu können. (DG) Die >Kulturinvarianz des Ausdrucksverstehens< eröffnet auch im Bereich der Diagrammatik/Graphematik Gestaltungsmöglichkeiten, da diese „Grammatik“ für alle Kulturen gleich relevant sein dürfte. Neben den strukturalen Aspekten scheinen auch die emotional wirksamen Aspekte als Gestaltungsfundament kulturübergreifend relevant zu sein. (DG) Wenn man die Positionen des Medienschemas mit in Betracht zieht, dann scheinen P2 (mimetische/physiognomische Sicht), P3 (materiale Sicht), P4 (diagrammatisch strukturale Sicht) und Diagonale (atmosphärisch emotionale Sicht) ihre Wurzeln in der (belebten) Natur zu haben. Gleiches gilt für den übergreifenden Zusatzlayer (der ästhetischen Sicht). Nur die Sicht P1 (als codierte symbolische Sicht) fällt hier aus dem Rahmen. (S.188) Der für Scheler entscheidende Punkt ist zunächst jedoch, dass wir überhaupt nur über unsere Emotionalität einen Zugang zur Sphäre des Werthaften besitzen. (in Abgrenzung zu Kant) (S.193) Das intentionale Fühlen bezieht sich jedoch nicht nur und auch nicht vorrangig auf (eigene und andere) Gefühlszustände, sondern zB. auch auf, wie Scheler, formuliert, gegenständliche emotionale Stimmungscharaktere“. Als Beispiele nennt er die „Ruhe eines Flusses, Heiterkeit des Himmels, Trauer einer Landschaft“. Dies sind zwar Charakterisierungen, die auch auf eigene Gefühlszustände angewendet werden, aber Scheler legt großen Wert darauf, dass es sich hierbei nicht um anthropomorphe Übertragungen oder Zuschreibungen handelt. Die emotionalen Stimmungscharaktere werdn nicht „als >Gefühle<, d.h. ichbezüglich erlebt“, sondern als Qualitäten der jeweiligen Situationen selbst, die wir emotional erfassen. (S.195) … Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir zB. zugleich zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert. (S.195) Was Scheeler in dieser phänomenologischen Skizze aufzeigt, ist, dass es in unserem Bewusstsein, in unserer Wahrnehmung, generell in unserem Verhalten zur Welt eine Phase der emotionalen und wertenden Bezugnahme gibt, die dem Erfassen von Ding- und Eigenschaftsqualitäten vorausgeht bzw. diesem Erfassen zugrunde liegt. Scheler unterscheidet hier begrifflich zwischen einer „Wertkomponente“ und einer „Bildkomponente“ und meint, dass es „zu der Bildkomponente entweder gar nicht oder in allen möglichen Graden der >Deutlichkeit< und der >Klarheit< kommen kann, während die Wertkomponente bereits vollkommen klar und deutlich im Streben gegeben ist“. ….. Damit ist gemeint, dass bevorzugt dasjenige in den Fokus und in die Differenziertheit unserer bildlichen bzw. gegenständlichen Wahrnehmung gelangt, was in der Richtung des emotionalen Werterfassens liegt. (DG) Was heißt dies für diagrammatische Darstellungen? Jede Wahrnehmung muß sich auf bestimmte Eigenschaftsqualitäten beziehen (auch wenn sie (noch) nicht im Detail bewusst werden. Manche Lösungen können uns also von Grund auf anziehen oder abstoßend wirken. Siehe dazu Scheler (S.198, 199) (S.196) Dies ist äußerst wichtig festzuhalten: In der Tat „erleben“ wir Situationen zunächst hinsichtlich ihrer emotionalen Gesamtatmosphäre, die für uns eine spezifische Bedeutung besitzt, ohne dass wir dafür bereits über sprachliche, insbesondere begrifflich differenzierte Informationen verfügen müssen. Scheler spricht daher auch von einem „prälogischen Erfassen“ oder eben von einem „Wertfühlen“. (DG) Vergl . dazu die Ansätze der Atmosphäriker (S.198) Auch das emotionale Erfassen von werthaften Qualitäten benötigt „Anhaltspunkte“ im sinnlichen Material (nämlich die Formen des Ausdrucks, …). (DG) In vielen Fällen sind es jene Anhaltspunkte, auf die sich auch jene Eigenschaftsworte beziehen, die ich für die ästhetischen Betrachtungen zu sammeln versuche. (S.199) Um jegliche ontologische Implikationen zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle einen für meine eigene Position zentralen Interpretationsvorschlag machen. Man kann, so lautet der Vorschlag, den Ausdrucksbegriff heranziehen und das Wertfühlen an das Erfassen von Ausdrucksqualitäten bzw. Ausdrucksformen binden. Insbesondere die oben angeführte phänomenologische Skizze legt diese Annahme nahe, denn ob wir einen Menschen als „sympatisch“, ob wir eine Situation als „peinlich“, ein Kunstwerk als „schön“ oder eine Landschaft als „freundlich“ usw. empfinden, hängt davon ab, ob wir bestimmte Ausdrucksqualitäten wahrnehmen (können), die ihrerseits wiederum an bestimmte materielle Formen gebunden sind. (S.200) Das „Wertfühlen“ wäre dann ein Aspekt des Ausdrucksverstehens: indem wir bestimmte Ausdrucksqualitäten erfassen, erfassen wir eine Situation zugleich hinsichtlich ihrer werthaften Dimension. … Zieht man in der hier vorgeschlagenen Weise den Ausdrucksbegriff hinzu, dann lässt sich die These Schelers vom Vorrang der Wertkomponente vor der Bild- bzw. Gegenstanskomponente übrigens ganz analog zu der These Cassirers vom Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung verstehen. Cassirer geht, wie sich gezeigt hat, davon aus, dass wir uns sowohl in zeitlicher als auch in struktureller Hinsicht zunächst auf Ausdrucksqualitäten und erst dann auf Gegenstände bzw. differenzierte Wahrnehmungsinhalte beziehen. (S.200) In Wesen und Formen der Sympathie stellt er selbst den entsprechenden Bezug zum Ausdrucksbegriff her: „Daß jemand mir freundlich oder feindlich gesinnt ist, erfasse ich in der Ausdruckseinheit des >Blickes<, lange bevor ich etwa die Farbe, die Größe der >Augen< anzugeben vermag“. Kap. 5 – Von der Philosophie zu den Wissenschaften (S.219) Das Kleinkind, darin waren sich alle Autoren einig, lebt noch vollständig in einer Welt der unmittelbaren Ausdrucksqualitäten. Es orientiert sich ganz am leiblichen Ausdruck seiner Bezugspersonen und äußert sich selbst ausschließlich expressiv. Es nimmt auch noch keine „Gegenstände“ im eigentlichen Sinne wahr, sondern vielmehr „Zentren der Expressivität“. Kap. 6 – Die Universalität des Ausdrucks (S.232) Der Emotionspsychologe Klaus Scherer bezeichnet Emotionen (daher) auch als „Alarmzustände des Organismus“ (DG) Vergl. dazu Verben-Analyse zu Atmo-Gestaltungen und das Spektrum der denkbaren Katastrophen (auf der Basis der 4 Elemente-Sicht) (S.232) Emotionen sind demnach in der Phylogenese entstanden und dienen als funktional wirksame Zustände der Adaption des Organismus an die Umwelt. Die adaptive Funktion wird dabei vor allem in der Bewertung interner (innerorganismischer) oder externer (situativer) Wahrnehmungsinhalte gesehen, die ständig auf ihre Relevanz für den Organismus überprüft werden. (S.232) Emotionen dienen der Regulation immer komplexer werdenden Verhaltenszusammenhänge. Sie schieben sich gewissermaßen zwischen Reiz und Reaktion und ermöglichen dem Individuum so ein gerichtetes, aber offeneres und flexibleres Verhalten. Kap. 6.4 – Ausdruck in den Kunstwissenschaften (S.281) Warburg bezeichnet die Pathosformeln als „Superlative der Gebärdensprache“ oder als „Urworte der Gebärdensprache“. (S. 281) Bei den Pathosformeln handelt es sich also um emotional besonders bedeutsame Ausdrucksformen, die durch die bildlich-künstlerische Repräsentation eine nochmalige Steigerung erhalten. (S.282) Für Warburg und auch, wie wir gesehen haben, für Cassirer ist es vielmehr so, dass Mythen und Narrationen ihren Ursprung in rituellen und stark expressiven Praktiken besitzen, d.h. sich aus dem Ausdruck erst allmählich ausdifferenzieren. Für die Pathosformeln gibt es daher keine homogene kulturelle Bedeutung, aber durchaus, wenn man so will, einen homologen expressiven Sinn. Sie sind Artikulationen und Repräsentationen starker Gefühle, die in verschiedene kulturelle Formen eingebettet sind. (S.286) Oder um es mit Gombrich zu formulieren: Pathosformeln sind besonders gut „lesbare Einheiten“. Kap. 7 – Vom Ausdruck zum Symbol (S.033) Ich werde – vor allem gestützt auf tierprimatologische und paläoanthropologische Forschungen – die These vertreten, dass sich der für den Menschen spezifische symbolische Weltbezug aus dem Ausdrucksphänomen heraus entwickelt hat. Kurz formuliert: Kultur ist der Prozeß vom Ausdruck zum Symbol. (S.296) Der Grundgedanke, den ich in diesem Kapitel versuchen werde zu entwickeln, besteht nun (1) darin, diesen Prozeß der Hominidenentwicklung als einen Symbolisierungsprozeß aufzufassen, und (2) die Ausdrucksfunktion als einer der entscheidenden Ausgangspunkte und generell als das „Medium“ dieses Prozesses zu bestimmen. Um es pointiert zu formulieren. Die Differenz von Natur und Kultur bzw. Mensch und Tier haben sich evolutiv aus dem Ausdruck heraus entwickelt. Kultur ist der Prozeß vom Ausdruck zum Symbol. Diese These von der Symbolisierung der Expressivität ist (wie jede These) einseitig. (DG) So gesehen könnte (im Medienschema) die Diagrammatik(-Sicht) als der jüngste Entwicklungsbereich aufgefasst werden. Von der Materialität über die Expressivität bzw. Performativität zur Physiognomie; und von dort zur Symbolisierung und zuletzt zur Diagrammatik. Vergleiche dazu auch das Schema (S.297) : episodische Kultur / mimetische Kultur / mythische Kultur / theoretische Kultur (S.341) Durch die steigende Emotionalität (im Laufe der Entwicklung) werden die Wahrnehmungen mit werthaften Bedeutungen überzogen. Sie werden zu expressiven Bildern. Kap. 8 – Ausdruck und Moral (S.393) Lévinas bietet sich für mich aus einem wichtigen Grund an: der Wert des Anderen manifestiert sich im Ausdruck, der Andere begegnet mir im „Antlitz“. Kap. 1 – W. Dilthey – Die Entdeckung der Ausdruckswelt (S.051) Der Mensch lebt, wie es wiederum bei Misch treffend und Dilthey konsequent interpretierend heißt: in ein einer Ausdruckswelt, und nicht in einer Erlebniswelt. Nehmen wir also das, was man Ausdruck nennt, unbefangen in seiner ganzen Weite, so müssen wir sehen, dass die ganze geistige Welt, in der wir leben, eine Ausdruckswelt ist; und dann ist offenbar, dass die Sphäre des Ausdrucks universal ist, sie ist unbegrenzt, unendlich wie das geistige Leben selber; … (S.057) (Zum Bildbegriff) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Dilthey Bilder primär nicht als Repräsentationen versteht. Es geht ihm nicht um das späte Produkt eines Abbildes, sondern vielmehr um den Prozeß des Bildens, an dessen Endpunkt ein Bild stehen kann … Diltheys Bildbegriff ist zudem weder auf eine bestimmte Art der Sinneswahrnehmung (visuell, auditiv usw.) noch auf die Sphäre des Gegenständlichen beschränkt, sondern zielt allgemeiner auf das Erzeugen und Erfassen von – gleichwohl sinnlich wahrnehmbaren – Formen bzw. Formzusammenhängen, die noch in einer vorgegenständlichen Sphäre liegen (können). Es gibt demnach in diesem weiteren Begriffssinn z.B. auch „hörbare Bilder“, etwa in der Musik oder in der Sprachmelodie eines Gedichtes, und auch „Stimmungen“ - die wir intuitiv wahrnehmen, können als Bilder aufgefasst werden. (S.057) Bilder sind demnach so etwas wie die Grundschicht, in der sich Sinn bzw. Bedeutung „bildet“. (S.058) Die grundlegende Funktion von Bildern besteht also nicht darin, gegenständliche Inhalte zu repräsentieren, sondern Zustände in eine Form zu bringen und sie so zu präsentieren. Es handelt sich um eine, wie man sagen könnte, Selbstpräsentation von Zuständen in Bildern. Der „Inhalt“ des Bildes liegt nicht – oder zunächst nicht – in einem Verweis auf etwas anderes, sondern im „Zustand“ des Bildes selbst, der sich in seiner Form präsentiert. (S.060) Verstehen ist, anders formuliert, stets Verstehen von Ausdruck. Wir leben nicht in einer (inneren) Erlebnis- und einer davon getrennten (äußeren) Gegenstands-, sondern in einer beides umfassenden (sinnhaften) Ausdruckswelt. Erlebnisse in ihrer „Unmittelbarkeit“ sind dem Verstehen gar nicht zugänglich, wohl aber die verschiedenen Ausdrucksformen, in denen sich das Erleben artikuliert. (S.063) Ohne Zweifel ist es äußerst sinnvoll, auch Handlungen als Ausdrucksformen aufzufassen. Allerdings stellt sich die Frage, ob das vorrangige Ausdrucksmoment einer Handlung wirklich ihr Ziel bzw. ihr Zweck ist, wie Dilthey dies vorzuschlagen scheint, oder ob nicht vielmehr die Art und Weise, wie gehandelt wird – etwa freudig oder widerwillig, schnell oder gemächlich usw. – den eigentlichen Ausdruckssinn einer Handlung bestimmt. (S.071) Das kindliche und das mythische Bewusstsein lassen sich als eine ursprüngliche Form des Weltzugangs verstehen, in denen das ausdrucksvermittelte Fremdverstehen eine grundsätzlich erste Orientierung ermöglicht. Dabei geht es gar nicht darum, „in ein fremdes Bewusstsein einzudringen“, sondern darum, ein Element der Ausdruckswelt zu erfassen. Auch beim körpergebundenen Erlebnisausdruck ist der eigentliche Bezugspunkt des Verstehens nicht das innere Erlebnis selbst, sondern der sinnhafte Ausdruck. Allerdings ist der „Sinn“, der sich in einem leiblichen Erlebnisausdruck artikuliert, zu großen Teilen noch in der organisch-natürlichen Sphäer unseres Lebens verankert. Wir bewegen uns hier, wie man vielleicht sagen könnte, an der Grenze des Sinnhaften. In der primären Expressivität erfahren wir zB. (in einem lachenden oder weinenden Gesichtsausdruck) den Lebenszustand eines anderen als etwas Hochbedeutungsvolles. (S.071) Das Verstehen eines leiblichen Erlebnisausdrucks ist daher eher eine Art Wahrnehmen. Wir sehen direkt die bedeutsame (körperlich-emotionale) Gesamtbefindlichkeit des anderen im Ausdruck. Kap. 2 – H. Plessner – Der Mesch als Ausdruckswesen (S.85) Wichtig zum Verständnis von Plessners Position ist der, wie es heißt, „Gestaltcharakter des Verhaltens“. Plessner hebt zunächst den Gestaltcharakter von organischen Bewegungen insgesamt hervor: In der Sphäre des Organischen verlaufen Bewegungen nach einem „einheitlichen Rhythmus“, zeigen eine „dynamische Gestalt“. Er verweist hier auf Uexkülls Begriff der „Bewegungsmelodie“ und nennt als Beispiel Bewegungsformen wie „Gehen, Fliegen, Schwimmen“, dann aber auch speziellere Verhaltensformen wie „Greifen, Fliehen, Abwehren, Suchen, Drohen“, die von sich aus eine bestimmte Ausdrucksqualität aufweisen. (S.87) Plessner: … die umgebungsbezogenen Bewegungen der Tiere und des Menschen [zeigen] einen Gestaltcharakter, eine Ganzheitlichkeit aus der heraus die Bewegungsabfolge in einem bestimmten Folgesinn fassbar wird. Die eine Bewegung sieht dann spielerisch, die andere freudig, die dritte ängstlich, die vierte zornig aus, einfach darum, weil unter >Spiel<, >Freude<, >Angst<, >Zorn< im Grunde genommen nur Bewegungsgestalten von einer bestimmten Folgesinnigkeit verstanden werden.