Zur Struktur physikalischer Theorien: Maßaussagen

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Zur Struktur physikalischer Theorien:
Maßaussagen, Gesetzesaussagen, Prinzipien,
Kausalsatz.
I.
Der Kausalitätsbegriff……………………………………………………………...... 3
II.
Überblick über die Diskussion von Kausalität in der Philosophie…………………... 3-5
III.
Struktur und Klassifizierung physikalischer Theorie………………………………... 5-17
1. Einordnung in die bisherige Diskussion: Ausgangspunkt Duhem……………… 5-6
2. Cassirer: Typen physikalischer Aussagen………………………………………. 7
a.
Maßaussagen………………………………………………………
…......
b.
Gesetzesaussagen……………………………………………………
…...
c.
7-8
8-9
Exkurs: Scheibe und die Problematik der Trennung von Theorie
und Messergebnissen…………………………………………………..... 9-12
d.
i.
Erläuterung der Problematik anhand der Keplerschen Gesetze....... 9
ii.
Induktion und Deduktion………………………………………....
iii.
Theoriegeladenheit des Experiments……………………………… 11-12
Prinzipienaussagen…………………………………………………
…….
e.
12-13
Der
allgemeine
Kausalsatz……………………………………………….
f.
10-11
Kausalsatz
13-15
in
der
Quantentheorie……………………………………….. 15-17
IV.
Zusammenfassung……………………………………………………………………. 17-18
Bibliografie………………………………………………………………………………………19
Selbstständigkeitserklärung………………………………………………………………….. 20
I.
Der Kausalitätsbegriff
Der Begriff der Kausalität bildet in der physikalischen, aber auch in der philosophischen
Diskussion eine ebenso fest verankerte wie umstrittene Konstante. Im Allgemeinen
bezeichnet Kausalität das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, wobei der Terminus
mehr als einen bloß logischen Zusammenhang zwischen Grund und Folge umfasst: er zielt
darüber hinaus auf Begriffe wie die Wirksamkeit, das Verursachen, das Bewirkende und die
Art des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung ab 1. Somit steht die Frage nach der
Kausalität im Zusammenhang mit Determinismus, in der Philosophie häufig verbunden mit
dem freien Willen, in der Physik mit einer Systematik innerhalb der physikalischen Theorie.
Aus dieser Struktur schöpft die physikalische Forschung ihre Motivation, welche erst
dadurch entstehen kann, dass eine Gesetzmäßigkeit in der Abfolge von Ereignissen in der
Natur besteht und diese erkennbar ist. Diese Gesetzmäßigkeit ist im sogenannten
Kausalgesetz festgehalten, welches zwischen den verschiedenen Vorgängen eine funktionale
Abhängigkeit beschreibt und häufig in der Formulierung „Gleiche Ursachen haben die gleiche
Wirkung“ vorzufinden ist2. Lange Zeit galten physikalische Gesetze als Kausalgesetze, die
wiederum dem Kausalprinzip „Nichts geschieht ohne Grund“, nach Leibniz Formulierung,
unterliegen3. Somit wird, wenigstens noch in der klassischen Physik, von einem
durchgängigen Kausalnexus ausgegangen. Mit dem Bruch der klassischen Mechanik durch
die Quantentheorie wird die Frage nach der Kausalität erneut aufgeworfen. Im Folgenden soll
im Rahmen dieser wissenschaftstheoretischen Arbeit nach einem kurzen Überblick über
einige philosophische Auslegungen und in Anknüpfung an Pierre Duhem (1861-1916) die
Typisierung physikalischer Aussagen nach Ernst Cassirer (1874-1945), der sich
gebietsübergreifend
sowohl
mit
Geistes-
als
auch
Naturwissenschaften
intensiv
auseinandersetzte untersucht und diskutiert werden. Insbesondere soll seine Definition von
Kausalität, an dessen Gültigkeit er auch in der Quantentheorie festhält, fokussiert werden.
II.
Überblick über die Diskussion von Kausalität in der Philosophie
Bereits in der Antike war der Zusammenhang von Ursache und Wirkung sowie die
Determiniertheit alles Seins ein zentraler Gegenstand der philosophischen Diskussion.
Diesem Aspekt schenkte der Empirist David Hume (1711-1776) besondere Beachtung, dessen
Ausspruch, Kausalität sei der „Zement des Universums“ 4, in der Diskussion über
Kausalbegriffe zu einem geflügelten Wort geworden ist. Er vertritt die Ansicht, dass
1
Vgl. Prechtl, P.(Hrsg.)(2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. Stuttgart [u.a.]: Metzler
Verlag, S. 290
2
Ibd., S. 290
3
Vgl. ibd., S. 291
3
Kausalverknüpfungen nicht mit strenger Notwendigkeit behauptet werden können, da
Naturgesetze nicht erfahrbar, also empirisch feststellbar, sind. Vielmehr entspringen
Gesetzmäßigkeiten unserer Gewohnheit auf Grundlage unserer bisherigen Sinneseindrücke
und Erfahrungen. Anhand des Beispiels der Billardkugel versucht Hume dies zu
verdeutlichen: Bei der Beobachtung, wie eine weiße Kugel angestoßen wird und sich
daraufhin die getroffene schwarze Kugel in Bewegung setzt, fassen wir den Stoß der weißen
Kugel als Ursache für das Rollen der schwarzen Kugel auf. Dies sei darauf zurückzuführen,
dass die beiden Ereignisse zeitlich unmittelbar aufeinander folgen, und wir durch bisherige
Erfahrungen zu dem Schluss gelangt sind, dass der Stoß die Bewegung der schwarzen Kugel
verursacht, und somit die Verknüpfung der beiden Ereignisse als kausal aufgefasst haben.
Demzufolge liegt die Erwartung, dass diese Wirkung eintritt, nicht in den Gegenständen
selbst, sondern in unserem Bewusstsein 5. Eine temporale Abfolge von Ereignissen ist keine
notwendige Voraussetzung dafür, dass sie tatsächlich kausal miteinander verknüpft sind:
„[Es ist] rational nicht zu rechtfertigen, von wiederholten Ereignissen unserer Erfahrung auf zukünftige,
von denen wir noch keine Erfahrung besitzen, zu schließen.“6
Unter anderem von Bertrand Russell wird folgende Anekdote zur Verdeutlichung dieser
willkürlichen Gleichsetzung von temporal und kausal aufgegriffen: Ein Huhn erlebt, wie es
jeden Tag, nachdem der Bauer über den Hof marschiert ist, Futter bekommt und empfindet so
den Lauf des Bauern als die Ursache für die Fütterung. Eines Tages läuft der Bauer über den
Hof und schlachtet das Huhn.
Der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749-1827) repräsentiert das
gegenteilige Extrem, das als typisch für die klassische Physik seiner Zeit gilt. Seine
deterministische Anschauung, dass alles Geschehen durch Mechanik beschreibbar sei,
versucht er mittels des sogenannten Laplaceschen Dämon zu veranschaulichen, einem
imaginären Wesen, dem er die Fähigkeit zuspricht, alles Geschehen mit einer Weltformel
beschreiben zu können, wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt Allwissenheit erlangen
könnte. Er geht also von einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit aus:
„Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes
ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen
Augenblick alle Kräfte kennte, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde,
die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu
4
Büttner, P.(2010): Kausalität: die Wahrnehmung von Ursache und Wirkung. Unter: http://www.mmiinteraktiv.de/uploads/media/MMI_Kausalitaet-Die_Wahrnehmung_von_Ursache_und_Wirkung.pdf Zuletzt
aufgerufen am 09.12.2010
5
In dieser Ansicht kann man eine erste wichtige Grundlage für die notwendige Abstraktion von der Realität zum
Naturgesetz und umgekehrt erkennen.
6
Lutz, B. (Hrsg.)(1995): Metzler-Philosophen-Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen.
Stuttgart [u.a.]: Metzler Verlag, S. 410
4
unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des
leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar
vor ihren Augen.“7
Auch Immanuel Kant (1724-1804) setzte sich mit dem Kausalitätsbegriff auseinander. Er
bezeichnet Kausalität eine die Erfahrung ermöglichende Verstandeskategorie8, womit er eine
Brücke zwischen dem rationalistischen und dem empiristischen Ansatz schlägt. Ursache und
Wirkung sind nicht von den „Dingen an sich“ abzulesen, sondern basieren auf den
Erkenntnishandlungen selbst, da die kausale Relation dem Denken zugehörig ist9. Kant
erläutert, dass die Erkenntnis vom Dasein der Dinge nur innerhalb der Erfahrung stattfindet
und daher muss das Kausalgesetz für den Bereich der Erfahrung Gültigkeit haben, ihr aber
nicht, wie bei Hume, entspringen. Das Kausalgesetz sei keine „idea innata“, die dem Verstand
des Menschen von Natur aus gegeben ist10.
III.
Struktur und Klassifizierung physikalischer Theorie
1.
Einordnung in die bisherige Diskussion: Ausgangspunkt Duhem
Das Kausalprinzip, das nicht nur in der Philosophie einen zentralen Aspekt ausmacht, sondern
ebenso in der theoretischen Physik, geht also von einer Gesetzmäßigkeit aus, von der Struktur
innerhalb
der
physikalischen
Theorie,
die
ein
zielgerichtetes
Fortschreiten
des
wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ermöglicht. Schon Pierre Duhem, französischer
Physiker und Wissenschaftstheoretiker, spricht von der Theorie als ein „System logisch
aneinander geketteter Lehrsätze“, weshalb es eine naturgemäße Klassifikation von
physikalischen Gesetzen gibt. Somit ist das Ziel jeder physikalischen Theorie diese
Darstellung experimenteller Gesetze. Duhem definiert dabei ein physikalisches Gesetz wie
folgt:
„Ein physikalisches Gesetz ist eine symbolische Beziehung, deren Anwendung auf die konkrete
Wirklichkeit erfordert, daß man eine ganze Gruppe von Theorien kenne und akzeptiere.“ 11
Diese Gesetze beruhen auf den Resultaten physikalischer Experimente, wobei sich
Experimente in zwei Teile untergliedern: die Beobachtung, welche keine spezifischen
Kenntnisse benötigt, und die Interpretation, deren Voraussetzungen physikalische Kenntnisse
und die Einbettung der Beobachtungen in die physikalische Theorie sind12. Durch diese
7
Büttner, P.(2010): Kausalität: die Wahrnehmung von…, op.cit.
Vgl. Prechtl, P.: Metzler Lexikon…op.cit., S. 290
9
Vgl. ibd., S. 290
10
Cassirer, E.: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik: historische und systematische
Studien zum Kausalproblem. In: Recki, B. (Hrsg.)(2004): ECW19. Hamburg: Felix Meiner, S. 73
11
Duhem, P.: Ziel und Struktur physikalischer Theorien. In: Schäfer, L. (Hrsg.) (1998): Philosophische
Bibliothek, Band 477. Hamburg: Felix Meiner, S. 222
12
Vgl. Duhem, P.: Ziel…, op.cit., S. 192
8
5
Interpretation ergibt sich das eigentliche Ergebnis des Experiments, ein Urteil, das in
Symbolsprache gefasst ist. Das heißt, bei der Entwicklung einer Theorie ist eine „Übersetzung
der Bedingungen“ in Symbolsprache erforderlich, wobei die Maßmethoden als Vokabular
dienen13, um über abstrakte Begriffe wie Kraft sprechen zu können. Der symbolische
Charakter physikalischer Gesetze zählt gemäß Duhem zu deren Hauptmerkmalen.
Eine große Rolle kommt dabei der Mathematik zu, da sie als ein „wunderbares Mittel der
Klassifikation und Darstellung“ dazu beiträgt, „ein symbolisches, erstaunlich klares und
konzises Bild“14 der Beobachtungen anzufertigen. So setzt Duhem theoretische Physik mit
mathematischer Physik gleich, wobei der treffendere Begriff angenäherte mathematische
Physik wäre. Dies liegt darin begründet, dass eine praktische Tatsache einem ganzen Bündel
von theoretischen Tatsachen, welche sich nur innerhalb einer gewissen Messfehlergrenze
unterscheiden, entspricht15. Bei der Übersetzung in Symbolsprache wird man zwangsweise nie
Exaktheit erreichen, weshalb man aber nicht davon sprechen kann, dass ein Symbol falsch ist
– nur mehr oder weniger gut gewählt. Will man also in der Physik mathematische
Deduktionen verwenden, muss bewiesen sein, dass eine Folgerung auch dann noch annähernd
richtig ist, wenn die Voraussetzung nur annähernd wahr ist16.
Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gesetzen, die als fest und absolut gelten, sind
physikalische Gesetze aufgrund ihrer Annäherung provisorisch und relativ, da sie ab einem
gewissen Punkt nicht mehr genau genug sind. Ist dies der Fall, so werden sie im
physikalischen Forschungsprozess modifiziert, nicht im Sinne einer Verwerfung der
bisherigen Gesetze, sondern durch Erreichen eines höheren Grades an Exaktheit:
„Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird die Wirklichkeit früher oder später die
rücksichtslose Widerlegung durch eine Tatsache entgegenstellen. Aber unermüdlich wird die Physik das
widerlegte Gesetz verbessern, modifizieren und verwickelter machen, und es so durch ein
umfassenderes Gesetz ersetzen, in dem die durch das Experiment aufgezeigte Ausnahme nun ihrerseits
ihre Regel findet.“17
2. Cassirer: Typen physikalischer Aussagen
Ernst Cassirer war ebenfalls ein Wissenschaftsphilosoph, der sich mit der Struktur
physikalischer Theorien auseinandersetzte und ein Klassifizierungsschema der verschiedenen
physikalischen Aussagen entwickelte. Als Philosophieprofessor lehrte er unter anderem an der
13
Vgl. ibd., S. 210
Ibd.,S. 216
15
Vgl. Ibd., S. 175
16
Vgl. Ibd., S. 187
17
Ibd., S. 235
14
6
Universität in Hamburg, später ging er ins Exil nach Großbritannien und lehrte in Oxford,
später in Göteborg, Yale und Columbia18.
Cassirers Anschauungen decken sich stellenweise mit denen Duhems, insbesondere was die
Rolle der Mathematik und die Symbolik betrifft. So geht er beispielsweise davon aus, dass
alle physikalischen Gegenstandsbegriffe keine Dingbegriffe, sondern Maßbegriffe sind, dass
sie auf Symbolen beruhen und dass in der Physik kein Sein und keine Eigenschaft „[…]
anders als durch die Angabe solcher charakteristischen Zahlen definiert werden“19 kann.
Im Rahmen der Problematik des Kausalsatzes stellt er zunächst fest, dass sich zwar im
physikalischen Wissenschaftsprozess methodische Geschlossenheit erkennen lässt, jedoch
keine einheitliche Meinung über den Kausalsatz und seine Bedeutung herrscht. Den Grund
dafür sieht er darin, dass bisher in der theoretischen Physik keine scharfe Unterscheidung der
verschiedenen Aussagetypen vorgenommen worden ist. So zählt zu seinen Forderungen, dass
man in Anlehnung an die mathematische Logik, insbesondere an die zu seiner Zeit
aufkommende Typentheorie Russells, die unterschiedlichen Aussagen nach Ebenen trennen
sollte20. Man kann behaupten, dass auch Duhem schon ansatzweise eine Unterscheidung
vorgenommen hat, wenn er davon spricht, dass das physikalische Experiment zum einen auf
der Beobachtung, zum anderen auf der Interpretation beruhe, welche eine Übersetzung der
beobachteten Tatsachen in eine logische Sprache mit Hilfe der von den physikalischen
Theorien gelieferten Regeln sei. Cassirer nimmt nun eine Definition und logische Trennung
von Maßaussagen, Gesetzesaussagen, Prinzipienaussagen vor.
a. Maßaussagen
Den ersten Typ physikalischer Urteile bezeichnet er als Maßaussagen. Diese
„…stellen den ersten Schritt in jenem entscheidenden Übergang dar, der uns von der Welt des
Gegebenen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis, von der «Sinnenwelt» zur «physikalischen» Welt
hinüberführt“21.
Innerhalb der Maßaussagen findet ein Übergang zu Zahl und Maß statt und somit eine
Abwendung vom unmittelbar Beobachteten in Richtung der Symbolwelt. Auf diese Weise
fungieren sie als Vermittler zwischen physikalischer Welt und Gegenständen.
Aufgrund
dieser
bedeutenden
Position
bilden
Maßaussagen
den
Grundstoff
der
physikalischen Welt, auf sie sind alle weiteren physikalischen Aussagen angewiesen, sie
18
Vgl. Friedman, M. (2004): “Ermst Cassirer”, Stanford Encyclopedia of Philosophy, Edward N. Zalta (Hrsg).
http://plato.stanford.edu/entries/cassirer/ Zuletzt aufgerufen am 10.12.2010
19
Cassirer, E.: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik: historische und systematische
Studien zum Kausalproblem. In: Recki, B. (Hrsg.)(2004): ECW19. Hamburg: Felix Meiner, S. 45
20
Vgl. ibd., S. 39
21
Ibd., S. 40
7
bilden also die Basis aller anderen Urteile22. Dieser Grundstoff darf aber nicht im Sinne eines
ersten Bausteins eines Baukastenmodells interpretiert werden, vielmehr sind die
verschiedenen Aussagen der Physik miteinander verschränkt und bedingen sich gegenseitig.
Maßaussagen zeichnen sich durch ihren individuellen Charakter aus, in ihnen wird der „HierJetzt-So-Bezug“ gewahrt23. Zu dieser Form physikalischer Urteile zählen konkrete Aussagen
über Einzelgrößen, wie zum Beispiel „ein gewisser Körper der Masse 1kg fällt nach der
Strecke 1m mit Geschwindigkeit 4,43 m/s zu Boden“.
Hier wird deutlich, dass es eine „höhere Ebene“ geben muss, denn diese konkreten,
spezifischen Einzeldaten sind auch in ihrer Summe nicht hinreichend für eine physikalische
Erkenntnis24. Es stellt sich die Frage, wie denn die Aussagen über ein Hier und Jetzt
miteinander verbunden sind, und man stößt auf die Gesetzesaussagen.
b. Gesetzesaussagen
So wie sich die verschiedenen Beobachtungen und Sinneseindrücke in Maßaussagen
zusammenfassen lassen, ist auch eine Klassifizierung der Maßaussagen selbst auf der Ebene
der Gesetze möglich. Gesetzesaussagen definiert Cassirer als „Urteile […], die eine exakte
Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen von Maßaussagen behaupten“ 25 und für ihn
bilden sie den einzig gültigen „Weg, um das einzelne an das Ganze anzuschließen und das
Ganze mit dem einzelnen zusammenzuschließen“ 26. Die legitime Grundlage, auf welcher die
Gesetzesaussagen beruhen, bilden physikalische Experimente. Aufgabe der Gesetze ist es,
„Phänomene der Natur in dauernde Gedanken“ zu befestigen 27, indem sie diese in die Form
von mathematischen Funktionen bringt. In den Gesetzesaussagen wird das ,,Hier-Jetzt-So“
der Maßaussagen in ein hypothetisches Urteil ,,Wenn x, so y“ umformuliert 28. Somit werden
nicht bloß Einzelgrößen, die an bestimmten Raum-Zeitpunkten herrschen, miteinander in
Verbindung gebracht, sondern dieses hypothetische Urteil betrifft Größenklassen, so dass
Gesetzesaussagen sich gegenüber den anderen Aussagen durch ihren generellen Charakter
auszeichnen. Als Beispiel für ein Gesetz könnte man das Gravitationsgesetz angeben.
Es stellt sich die Frage, wie man nun zu den Gesetzesaussagen kommt. Üblicherweise erhält
man als Antwort auf diese Frage, dass mit Hilfe der induktiven Methode dieser Übergang
22
Vgl. Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 44f
Vgl. ibd., S. 46
24
Vgl. ibd., S. 46
25
Ibd., S. 49
26
Ibd., S. 48
27
Ibd., S. 48
28
Vgl. ibd., S. 52
23
8
bewältigt werden kann29. Dies ist insofern problematisch, da das Fundamentalprinzip, nämlich
dass es Gesetzmäßigkeiten in der Natur gibt, nicht per Induktion bewiesen werden kann.
Daher betont Cassirer, dass es sich nicht um eine Schlussrichtung von „einige“ zu „manche“
zu „viele“ handeln kann, sondern dass, wie bereits erwähnt, dieser Schluss von einem „HierJetzt“ zu einem „Wenn, dann“ abstrahieren muss 30. Der Übergang zwischen Maß-und
Gesetzesaussagen entpuppt sich gemäß Cassirer als ein geistige Energie benötigender Sprung
in eine „neue Dimension“31, wobei diese neue Stufe mehr ist als die Summe der Aussagen der
niedrigeren Stufe der Maßaussagen.
c. Exkurs: Scheibe und die Problematik der Trennung von Theorie und
Messergebnissen
i.
Erläuterung der Problematik anhand der Keplerschen Gesetze
Obschon Cassirer auf die Verwobenheit der verschiedenen Aussagetypen hinweist, soll an
dieser Stelle auf die Problematik einer eindeutigen Unterscheidbarkeit und Trennung
eingegangen werden. Betrachtet man beispielsweise die Keplerschen Gesetze, dann erfüllen
sie die ein Gesetz definierende Eigenschaft, dass sie aus zeit- und ortsabhängigen
Beobachtungen ein verallgemeinertes Urteil „Wenn x, dann y“ bilden. Auch bei Moritz
Schlick (1882-1936), deutscher Physiker und Philosoph, findet sich diese Feststellung, wobei
er jedoch weiter schließt, dass der „Prozess der Zusammenfassung“ noch weitergeht, und im
Newtonschen Gesetz mündet, welches Planetenbewegungen und Fallbewegungen durch
Erläuterung anhand der Gravitation zusammenfasst 32. Ordnet man die Newtonschen Gesetze
also auf der Ebene der Gesetze ein, könnte man argumentieren, dass die Keplerschen Gesetze
nicht auf der gleichen Ebene stehen können. Anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass
die Kategorisierung nicht eindeutig ist bzw. ihre Grenzen nicht notwendig an diesen Stellen
gezogen werden müssen oder eine weitere Differenzierung der Typen erforderlich wäre.
29
Vgl. Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 50
Vgl. ibd., S. 51
31
Ibd., S. 52
32
Vgl. Schlick, M.: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung aus dem Wintersemester
1933/1934. Hrsg.: H.L. Mulder et al. (1986). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 112
30
9
ii.
Induktion und Deduktion
In Erhard Scheibes (1927-2010) Werk „Die Philosophie der Physiker“ finden sich einige
Aspekte, die auf die Problematik einer Trennung von physikalischer Theorie und den
Messergebnissen der Experimente und auch auf den Vorgang der Theorieentwicklung mittels
Induktion und Deduktion aufmerksam machen. Diese letzten beiden Methoden, die vielmehr
der Rechtfertigung als der Entdeckung physikalischer Gesetze dienen, seien beide
Voraussetzung eines erfolgreichen physikalischen Erkenntnisprozesses. Unter Induktion
versteht Scheibe dabei einen Schluss „von unten“ 33, welcher gestattet, innerhalb einer Reihe
von Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten nach dem Verfahren
F(a1), F(a2),…, F(a n) ⊢ ∀x F(x),
festzustellen, wobei F Basisaussagen über beobachtete Ereignisse a 1, a2,…,an bezeichnen
soll34, aus denen man allgemeine Gültigkeit für alle Ereignisse x folgert.
Dahingegen geht die Schlussrichtung der Deduktion „von oben“ aus, ihr Ausgangspunkt ist
die Theorie. Man hat also im Allgemeinen Aussagen von der Form
A1, A2,…, An ⊢A,
wobei A1, A2,…, An schon bewiesene Aussagen sind, die A implizieren, wodurch man die
Gültigkeit von A zeigt. Die Deduktion setzt innerhalb der Theorieentwicklung dort ein, wo es
um die Überprüfung von Hypothesen geht, wenn man eine Ursache (hypothetisch) annimmt
und überprüft, ob die sich daraus ergebenden Folgerungen mit der Erfahrung vereinbar sind.
Moritz Schlick geht dabei sogar soweit zu behaupten, dass der logische Schluss der
Deduktion nicht im eigentlichen Sinne eine Erweiterung des Wissensbereichs darstelle, da er
nie zu neuem Wissen führe, sondern er lediglich ein „Umformen von Ausdrücken“ sei 35.
Insgesamt setzt sich der Forschungsprozess nach Scheibes Ausführungen sowohl aus der
Induktion auf der Grundlage von Beobachtungen, um erste Vorarbeit wie in einer
Anlaufrechnung zu leisten36, als auch aus der Deduktion zusammen; zusätzlich gehen jedoch
noch das „Prinzip der freien Hypothesenbildung“ und das „Prinzip der empirischen
Bewährung“ ein37. Theoretische Spekulation treibt dabei die Erweiterung des Wissensbereichs
voran, während die Fassung in Form von Hypothesen und der Abgleich über Experiment oder
Beobachtung, wenn möglich, vorschnelle Schlüsse in die falsche Richtung vermeiden soll 38
und Raum für eine gegebenenfalls nötige Neuformulierung lässt. Dabei ist zu beachten, dass
33
Scheibe, E.(2006): Die Philosophie der Physiker. München: Beck, S. 130
Vgl. ibd., S. 130
35
Vgl. Schlick, M.: Die Probleme…, op.cit., S. 110
36
Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S. 133
37
Ibd., S. 138
38
Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S. 131
34
10
sich aus der experimentellen Überprüfung zunächst die Brauchbarkeit, nicht sofort
Richtigkeit, oder aber die Falschheit der Aussage ergibt39.
An die Stelle der Induktion, eine vielfach umstrittene Methode 40, setzt Einstein die Intuition,
da er betont, dass die Verbindung von Beobachtung und physikalischer Theorie „nicht selbst
von logischer Natur“41 sei, sondern intuitiv. Auch Schlick spricht von der Intuition, im Sinne
von glücklichem Raten als „Quelle aller Wissenschaft“42:
„Mit der Rechnung wird also kein Verhalten der Natur abgeleitet, sondern nur das, was wir von ihrem
Verhalten vorausgesetzt haben[…] Unsere Gesetze gelten von der Natur nicht deshalb, weil zwischen
unseren Rechnungen und der Natur eine Verwandtschaft bestünde, sondern weil die allgemeinen
Gesetze vom Verhalten der Natur richtig geraten sind.“43
Er betont dabei den hypothetischen Charakter: „…der allgemeine Satz aber, das Naturgesetz,
bleibt immer hypothetisch“44.
iii.
Theoriegeladenheit des Experiments
Nicht nur anhand des notwendigen Zusammenspiels von Induktion und Deduktion, von
theoretischer Spekulation und experimenteller Absicherung unterstreicht Scheibe die auch bei
Duhem bedeutsame Verwobenheit von Theorie und der empirischen Grundlage der
Messungen. Aufgrund der Theoriegeladenheit des Experiments ist eine strikte Unterscheidung
in Theorie und Praxis weder möglich noch sinnvoll. Obwohl Cassirer für eine Trennung der
verschiedenen Aussagetypen plädiert, soll nochmals hervorgehoben werden, dass auch er
darauf aufmerksam macht, dass sich Maßaussagen, Gesetze und Prinzipien gegenseitig
bedingen und miteinander in Verbindung stehen45.
Anhand einiger Beispiele verdeutlicht Scheibe, warum sich eine Trennung zwischen
Resultaten aus Messungen und den theoretischen Gesetzen als problematisch erweist.
So erfolgt zum einen die Messung einer Größe immer über mindestens eine weitere Größe;
beispielsweise geht es bei der Messung der Temperatur eigentlich um die Erfassung des
39
Ibd., S. 131
Unter anderem kritisiert Duhem stark die Induktion, die er auf Newton zurückführt und die seiner Ansicht
nach für falsche Methoden im Physikunterricht sorgt – in der Physik jedoch nichts verloren habe: „Die
Notwendigkeit für den Physiker, die experimentellen Tatsachen symbolisch auszudrücken, bevor er sie in seine
Überlegungen einführt, macht den rein induktivem Weg […] für ihn unbrauchbar.“ Vgl. Duhem, P.: Ziel…,
op.cit., S. 262f
41
Einstein, A., Schilpp, P.A.(1955): Albert Eínstein als Philosoph und Naturforscher. Philosophen des 20.
Jahrhunderts, S. 4. Zitiert in: Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S. 136
42
Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S. 114
43
Schlick, M.: Die Probleme…, op.cit., S.115f. Seine Trennung von Rechnungen und Naturvorgängen weisen
wieder auf die Notwendigkeit einer Abstraktion von der Realität zu den Naturgesetzen, die eben nicht an die
Geschehnisse selbst geknüpft sind, sondern eine Aussage über unsere Erkenntnis der Dinge darstellen.
44
Ibd., S. 115
45
Vgl. Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S.45
40
11
Volumenmaßes, das durch die Quecksilbersäule angegeben wird 46. Diese indirekte Messung
verlangt wiederum Berechnungen mit Formeln, die uns die Theorie liefert, und die Kenntnis
von entsprechenden Gesetzen, die einen Zusammenhang zwischen den Größen herstellen.
Zudem muss beachtet werden, dass in der Physik häufig von der Existenz einer axiomatischen
Basis ausgegangen wird, die nur auf der Erfahrung bzw. auf Konvention beruht und somit
eigentlich als eine Definition zu werten ist47. Diese Erkenntnis geht auf den französischen
Mathematiker Henri Poincaré (1854-1912) zurück, der bemerkte:
„Die euklidischen Axiome sind … weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen.
Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen … Mit anderen Worten, die geometrischen
Axiome sind nur verkleidete Definitionen.“48
So ist die euklidische Geometrie – und mit ihr die euklidische Metrik, die die Basis von
Messungen, Messinstrumenten, etc. bildet – keine notwendige Eigenschaft des Raumes, denn
dieser hat nur topologische Eigenschaften. Vielmehr handelt es sich um eine Wahl, die
eigentlich willkürlich und nur durch die Eigenschaft der Einfachheit, der Anpassung und
Konvention begründbar ist.
Wenn man, wie Cassirer, von einer begrifflichen Trennung innerhalb der Physik spricht, sollte
man diesen Aspekt der Verwobenheit von Theorie und Experiment berücksichtigen.
d. Prinzipienaussagen
Der bisher erörterte Übergang von den Maßaussagen zu den Gesetzesaussagen bildet zwar ein
wichtiges Moment des physikalischen Erkenntnisprozesses; dieser ist damit jedoch noch nicht
abgeschlossen. Denn auch Gesetzesaussagen lassen sich gliedern und so gelangt Cassirer zu
dem dritten Aussagetypus, den Prinzipienaussagen. Diese stehen wiederum auf einer anderen
Ebene als die Gesetze und fungieren als Orientierungshilfen, als „…Regeln, gemäß denen
nach Gesetzen zu suchen und nach denen diese zu finden sind“ 49. Cassirer definiert Prinzipien
als
„…kühne Antizipationen, die sich an dem bewähren, was sie für den Aufbau und die innere
Organisation des gesamten Wissensstoff leisten. Sie beziehen sich nicht direkt auf die Phänomene,
sondern auf die Form der Gesetze, nach denen wir diese Phänomene ordnen. Ein echtes Prinzip steht
daher nicht einem Naturgesetz gleich; es ist vielmehr die Geburtsstätte für Naturgesetze; es ist
gleichsam eine Matrix, aus der sich immer wieder neue Naturgesetze gebären können.“ 50
46
Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S. 142f
Vgl. ibd., S. 149
48
Poincaré, J. H. (1914): Wissenschaft und Methode, S. 51f. Zitiert in: Scheibe, E.: Die Philosophie…, op.cit., S.
150
49
Cassirer, E.: Determinismus.., op.cit., S. 65
50
Cassirer, E.: Determinismus.., op.cit., S. 66
47
12
Voraussetzung dafür, eine solch übergreifende Aussageform bestimmen zu können, ist die
Existenz „gewisser gemeinsamer, für alles Naturgeschehen gültiger Bestimmungen“51.
Prinzipien sind universell und stellen somit einen weiteren Verallgemeinerungsschritt dar,
wobei mathematische Gleichungen durch ihre übergreifende, abstrakte Form als Leitfaden
beim Finden eines Gesetzes dienen. Diesen Übergang zum dritten Aussagentyp bezeichnet
Cassirer als eine andere Form der Induktion, die nicht „von Besonderheit zu Besonderheit“
geht, sondern „von Gesetz zu Gesetz“ und wiederum einen Sprung in eine neue Dimension
darstellt52. Dadurch können mit ihrer Hilfe die Gebiete des physikalischen Wissens wie
beispielsweise Optik, Mechanik oder Elektrodynamik unterschieden und andererseits aus
einer übergreifenden Einheit erklärt werden53.
Ein Beispiel wäre das Hamiltonsche Prinzip, auch Prinzip der kleinsten Wirkung genannt, das
im Laufe der Zeit immer weiter entwickelt worden ist, angefangen bei den Griechen, wo es
lediglich in der Annahme bestand, dass der Weg des Lichtes ein Minimum sein müsse, über
Leibniz, der die mechanische Bedeutung des Prinzips erkannte, bis hin zu Lagrange und
schließlich zu Hamilton, der die Endfassung formulierte 54. Es besagt, dass sich Teilchen und
Felder so verhalten, dass das Wirkungsfunktional der Teilchenbahnen und Felder minimal in
Bezug auf alle möglichen Teilchentrajektorien oder Feldwerte ist. Aus dem Hamiltonschen
Prinzip folgen insbesondere die Grundgesetze der klassischen und relativistischen Mechanik
sowie die Maxwellgleichungen der Elektrodynamik. Hieran ist die gebietsübergreifende
Funktion von Prinzipien gut erkennbar.
e. Der allgemeine Kausalsatz
Nach der Erläuterung dieser drei Aussageformen konstatiert Cassirer, dass der physikalische
Erkenntnisprozess
auf
dem
Dreischritt
von
Maßaussagen,
Gesetzesaussagen
und
Prinzipienaussagen beruht55. Cassirer spricht jedoch von einem vierten Aussagetyp, dem
allgemeinen Kausalsatz, welcher eine andere Ebene definiert und an der Spitze der Hierarchie
der naturwissenschaftlichen Sätze anzusiedeln ist. Er ist nicht in den Dreischritt des
Erkenntnisprozesses integriert, da es sich nur methodisch, nicht inhaltlich um eine neue
Erkenntnis handelt56: Cassirer fasst ihn als ein Postulat des empirischen Denkens auf, als eine
„transzendentale“ Aussage über unsere Erkenntnis der Dinge, welche innerhalb der Erfahrung
51
Vgl. ibd., S. 65
Vgl. ibd., S. 57
53
Vgl. ibd., S. 55f
54
Vgl. ibd., S. 64f
55
Vgl. ibd., S. 68
56
Vgl. Cassirer, E.: Determinismus.., op.cit., S. 74
52
13
stattfindet, nicht über die Dinge an sich57. Die in dieser Arbeit thematisierte Struktur
physikalischer Theorie, durch die sich die verschiedenen Aussagetypen systematisieren
lassen, der Versuch, durch Verallgemeinerungen von Sätzen den Sprung in die nächsthöhere
Ebene zu bewältigen, ist der eigentliche Inhalt des Kausalsatzes. Die Bedingung dafür, dass
dies möglich ist, liegt in der nicht beweisbaren Annahme der Physiker, dass
Naturerscheinungen verständlich sind – Cassirer schreibt hierzu:
„Aber das Suchen nach immer allgemeineren Gesetzen ist ein Grundzug, ein regulatives Prinzip unseres
Denkens. Ebendieses regulative Prinzip, und nichts anderes, ist das, was wir das Kausalgesetz nennen.
In diesem Sinne ist es ein a priori gegebenes, ein transzendentales Gesetz: Denn einen Beweis desselben
aus der Erfahrung ist nicht möglich. Aber auf der anderen Seite gilt, dass wir für seine Anwendbarkeit
keine andere Bürgschaft als seinen Erfolg haben. Wir könnten in einer Welt leben, in der jedes Atom
von jedem anderen verschieden wäre; in ihr wäre keine Regelmäßigkeit zu finden, und unsere
Denktätigkeit müsste ruhen. Aber der Forscher rechnet nicht mit einer solchen Welt; er vertraut auf die
Begreifbarkeit der Naturerscheinungen…“58
Das häufig als essentiell angenommene Merkmal der Voraussagbarkeit klammert Cassirer aus
der Definition des Kausalsatzes aus. Zwar handele es sich um ein wichtiges Motiv,
insbesondere im technischen Forschungsbereich, aber um kein Prinzip und somit kein
hinreichendes Merkmal. Der Weg der Erschließung vollzieht sich nicht temporal, geht nicht
von der Vergangenheit in Zukunft, sondern von einem beschränkten Erkenntnisbereich zu
einem erweiterten Bereich. Statt von Voraussagbarkeit spricht Cassirer von der Fähigkeit der
Naturgesetze zur Extrapolation59; das heißt, ein Gesetz gilt nicht nur für unmittelbare
Beobachtungen, sondern ermöglicht eine Erweiterung und Hinführung zu unbekannten, von
den gemachten
Beobachtungen
unabhängigen Phänomenen
und somit
zu neuen
Gesetzesklassen. Als ein Beispiel seien die Gleichungen Fouriers innerhalb der
Wärmeleitungstheorie erwähnt60. Da Fourier nur von Wärme als etwas flüssig Strömendem
ausgegangen war, stellte er eine Differentialgleichung auf, die generell der Beschreibung von
Transportprozessen dient. Diese allgemeine Form ermöglicht eine Wiederverwendung, eine
Anpassung der Formeln, so dass sie beim Übergang zur modernen Kinetik und später von
Heisenberg im Rahmen der Quantenmechanik Wiederverwendung gefunden haben. Sie bilden
57
An dieser Stelle wird der Bezug zu Kant, dessen Einstellung zuvor erläutert worden ist, deutlich. Cassirer
selbst bezieht sich dabei auf folgendes Zitat: „Daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann gar nicht aus
dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man
allererst von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne.“ Kant, I.: Kritik der
reinen Vernunft, S. 249. Zitiert in: Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 153
58
Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 77
59
Vgl. ibd., S. 81
60
Vgl. ibd., S. 49 und S. 82
14
aufgrund ihres allgemeinen Charakters einen möglichen Anknüpfungspunkt, der den Weg zu
neuen Forschungsgebieten eröffnet, ohne dass dies ihrem Erfinder bewusst gewesen wäre61.
Somit fungiert der Kausalsatz als ein „…Leitfaden[…], der uns von Erkenntnis zu Erkenntnis
und dadurch erst mittelbar von Ereignis zu Ereignis führt“ und „uns erlaubt, individuelle
Aussagen auf generelle und universelle zurückzuführen“62.
f. Kausalsatz in der Quantentheorie
Das Aufkommen der Quantentheorie führte zu einem scharfen Bruch mit der klassischen
Theorie und somit zu einer strukturellen Veränderung der physikalischen Theorie. Während
Planck noch davor warnte, die seinem Strahlungsgesetz zugrunde liegende Quantenhypothese,
die
dem
Kontinuitätsprinzip
der
klassischen
Physik
widersprach,
vorschnell
zu
verallgemeinern63, erfolgte mit der Bohrschen Theorie, nach welcher die Energieniveaus eines
Atoms nur diskrete Werte annehmen können, rasch eine Ausbildung der Theorie. Aus dem
Quantengesetz wird ein Quantenprinzip64, das Theorien von verschiedenen physikalischen
Gebieten wie die der Wärmestrahlung oder des lichtelektrischen Effekts verknüpft und ihren
Zusammenhang erklärt. Dennoch bleibt das System der klassischen Mechanik und der
Elektrodynamik ein notwendiger Bestandteil physikalischer Theorie 65, der als unvereinbar mit
der Atomphysik erschien, wodurch ein mit der vorherigen Einheitlichkeit brechender
Dualismus konstituiert wird. Bohrs Korrespondenzprinzip ist zwar ein
„Ausdruck für die Bestrebung, ungeachtet des grundsätzlichen Gegensatzes zwischen den Postulaten
der Quantentheorie und den klassischen Theorien, jeden Zug dieser Theorien beim Ausbau der
Quantentheorie in sinngemäßer Umdeutung zu verwerten“ 66,
eine Vereinheitlichung gelang aber erst Schrödinger, welcher das physikalische Problem
durch die Einführung der Wellenmechanik auf ein mathematisches reduzierte67.
Mit der Quantentheorie sind die Maßaussagen im Kontext der Heisenbergschen
Unschärferelationen problematisch geworden. Denen zufolge werden in einem Experiment
die zu beobachtenden Größen durch das Messungsverfahren beeinflusst, so dass sich
bestimmte experimentelle Größen nicht mit beliebiger Genauigkeit messen lassen: So ist es
beispielsweise prinzipiell nicht möglich, den Impuls und den Ort eines Teilchens gleichzeitig
exakt zu bestimmen. Die Unschärferelationen setzen daher genau an dem Punkt der
61
Daher spricht Cassirer ihnen eine „Eigenbedeutung“ zu, vgl. Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 49
Ibd., S. 81
63
Vgl. ibd., S. 132
64
Vgl. ibd., S.133
65
Vgl. ibd., S. 133
66
Ibd., S. 134
67
Vgl. ibd., S. 136
62
15
Übertragung eines Ereignisses von der Sinnenwelt in die Welt der Physik an, welche auf der
Ebene der Maßaussagen stattfindet68.
Das heißt aber auch, dass die Bedingung für den Gebrauch des Kausalprinzips in der Physik
im Schluss von „wenn x, dann y“ neu formuliert werden muss. Nun muss „x“ zulässig, das
heißt durch ein gewisses Messungsverfahren exakt bestimmbar bzw. beobachtbar sein69.
Nach Cassirers obiger Definition des Kausalsatzes, die losgelöst ist von dem zeitlichen
Aspekt der Voraussagbarkeit und sich auf die Erkenntnisse und nicht die Dinge an sich
bezieht, stellt sich mit den neuen Ergebnissen der Quantentheorie die Frage nach einem
Richtungswechsel der Naturerkenntnis, nicht jedoch nach dessen Gültigkeit 70. Hier grenzt sich
Cassirer klar von Heisenbergs Behauptung ab, dass mit den Unbestimmtheitsrelationen die
Gültigkeit des Kausalsatzes aufgehoben würde und begründet dies mit dessen Annahme des
Kausalprinzips in seiner strengen Fassung71. Die zu ziehende Konsequenz aus den
Unbestimmtheitsrelationen ist die Aufgabe einer deterministischen Theorie wie in der
klassischen Physik, was jedoch nicht notwendigerweise die Aufgabe des Kausalprinzips
impliziert – wenn man dessen vom zeitlichen Aspekt unabhängige Fassung verwendet.
Auch der nur noch statistische Charakter der Gesetze führt nicht notwendigerweise zu einer
Verwerfung des Kausalsatzes, denn auch statistische Aussagen sind streng und die sich
ergebenden Wahrscheinlichkeiten selbst, beispielsweise beim radioaktiven Zerfall, sind
determiniert und präzise, auch wenn sich über das „Schicksal“ eines einzelnen Atoms keine
Aussagen treffen lassen 72– was aber auch keine Frage der Kausalität ist. Cassirer bestreitet
die Aufgabe des Determinismus, wie er in der klassischen Mechanik vertreten worden ist,
nicht, jedoch betont er, dass deswegen noch nicht von tatsächlichem Indeterminismus die
Rede sein kann. Dieser wäre dann gegeben, wenn die Natur von „Fall zu Fall“ unter den
gleichen Bedingungen ihre Gesetze in unkontrollierbarer Weise ändern könnte, wenn wie in
einem Würfelspiel darüber entschieden werden könnte, welches Gesetz anzuwenden ist73.
Doch dies tritt nicht einmal bei dem häufig als Beleg für den Indeterminismus
herangezogenen Doppelspaltexperiment auf: Das Elektron wählt nicht – unter den gleichen
Bedingungen ergibt sich für das gleiche Experiment das gleiche Ergebnis und so lassen sich
klare Aussagen darüber treffen, wann und unter welchen Voraussetzungen sich bei den
Messungen ein Interferenzmuster ergibt und wann nicht.
68
69
70
71
72
73
Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 138
Vgl. ibd., S. 150
Vgl. ibd., S. 137
Vgl. ibd., S. 139
Vgl. ibd., S. 142f
Vgl. ibd., S. 143
16
Eine weitere wichtige Folgerung der Quantenmechanik für die Struktur der physikalischen
Theorie ist, die statistischen Gesetze als einen neuen, fundamentalen Typ physikalischer
Aussagen anzuerkennen und in die bisherige Systematisierung mit aufzunehmen74.
Als ein letztes Argument zur Stützung seiner Behauptung, dass der allgemeine Kausalsatz
auch nach der Einführung der Quantenmechanik seine Gültigkeit behalte, zieht Cassirer das
Energieprinzip heran. Betrachtet man dieses als angemessene Darstellung des Kausalgesetzes
in der Physik in dem Sinne, dass ein Ereignis immer eine äquivalente Umwandelung einer
oder mehrere Energieformen in andere impliziere 75, oder gesteht zumindest zu, dass die
Kausalität einen wesentlichen Aspekt des Energieprinzips darstellt, und hält auch in
statistischen Aussagen der Quantenmechanik an diesem Prinzip fest, dann erfolgt somit eine
implizite Anerkennung des Kausalprinzips76.
IV.
Zusammenfassung
Die Frage nach der Gültigkeit des Kausalprinzips, nach der Gesetzlichkeit oder eines
herrschenden Determinismus in der Natur ist ein Problem, das Menschen, Philosophen aber
auch insbesondere Physiker, seit Jahrhunderten beschäftigt hat und ein nicht eindeutig
beantwortbares Phänomen bleibt. Jedoch zeichnet sich gerade bei der Behandlung von
Kausalität innerhalb der Quantentheorie, ähnlich wie bei jeglicher Art von Forschung, ab, auf
welche Weise Kausalität nicht zu verstehen ist: ein Festhalten an Kausalität im Sinne von der
Voraussagbarkeit des Naturgeschehens wie im Determinismus der klassischen Physik ist nicht
mehr haltbar. Dies ist insofern interessant, da Kausalität ja eine Aussage über Erkenntnisse ist
und der Erkenntnisprozess selbst von dem Verwerfen und dem Bewahren von Hypothesen
lebt.
Um das Kausalprinzip innerhalb der theoretischen Physik einheitlich definieren zu können,
schlägt der Wissenschaftsphilosoph Ernst Cassirer eine methodologische Trennung der
verschiedenen Aussagetypen vor. Diese seien durch Maßaussagen, Gesetzesaussagen und
Prinzipien gegeben und dienen zur Beschreibung des Erkenntnisprozesses. Dabei wird von
den individuellen Maßaussagen durch eine Art „sprunghafte“ Induktion auf die generellen
Gesetze geschlossen und von diesen wiederum auf die sich durch Universalität
auszeichnenden Prinzipien. Neben Induktion benötigt die Physik auch die deduktive Methode
sowie die Hypothesenbildung, um ihre Forschung voranzutreiben. Maßgeblich ist dabei die
Verwendung einer Symbolsprache, der Einsatz der Mathematik, wodurch eine Abstraktion
74
75
76
Cassirer, E.: Determinismus…, op.cit., S. 145
Vgl. ibd., S. 140
Vgl. ibd., S. 140
17
erst ermöglicht wird, eine Ansicht, die sich auch bei Pierre Duhem findet. Jedoch darf nicht
übersehen werden, dass sich die verschiedenen Aussageformen gegenseitig bedingen, dass
eine Einordnung nicht immer eindeutig umsetzbar ist und dass Experimente erst durch ihren
theoretischen Kontext interpretierbar sind.
Cassirers Leistung liegt also insbesondere darin begründet, ein Handwerkzeug zu liefern, um
nicht nur Klarheit innerhalb der Aussagen über die physikalischen Gegenstände selbst zu
schaffen, sondern auch über die verschiedenen Stufen des Erkenntnisprozesses auf der
metasprachlichen Ebene, wodurch er einen wichtigen Beitrag für die Diskussion über den
Zusammenhang und die Struktur physikalischer Theorie leistet.
18
Bibliografie
− Cassirer, E.: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik:
historische und systematische Studien zum Kausalproblem. In: Recki, B. (Hrsg.)
(2004): ECW19. Hamburg: Felix Meiner
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(1998): Philosophische Bibliothek, Band 477. Hamburg: Felix Meiner
− Lutz, B. (Hrsg.)(1995): Metzler-Philosophen-Lexikon. Von den Vorsokratikern bis
zu den Neuen Philosophen. Stuttgart [u.a.]: Metzler Verlag
− Prechtl, P.(Hrsg.)(2008): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen.
Stuttgart [u.a.] : Metzler Verlag
− Scheibe, E.(2006): Die Philosophie der Physiker. München: Beck, S. 127-163
− Schlick, M.: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung
aus dem Wintersemester 1933/1934. Hrsg.: H.L. Mulder et al. (1986). Frankfurt
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−
Büttner, P.(2010): Kausalität: die Wahrnehmung von Ursache und Wirkung. Unter:
http://www.mmi-interaktiv.de/uploads/media/MMI_KausalitaetDie_Wahrnehmung_von_Ursache_und_Wirkung.pdf
Zuletzt aufgerufen am 09.12.2010
− Friedman, M. (2004): “Ermst Cassirer”, Stanford Encyclopedia of Philosophy,
Edward N. Zalta (Hrsg). http://plato.stanford.edu/entries/cassirer/
Zuletzt aufgerufen am 10.12.2010
19
Erklärung
Ich erkläre, dass ich die Arbeit selbstständig und nur mit den angegebenen Hilfsmitteln angefertigt habe und dass alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken
entnommen sind, durch Angabe der Quellen kenntlich gemacht worden sind.
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Name:
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