Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache von Oswald Schwemmer, Humboldt-Universität zu Berlin 1 Tractatus und Philosophische Untersuchungen: Die Klarheit der Sprache Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus ist sowohl hinsichtlich seines inneren Aufbaus als auch seiner äußeren Wirkung einer der merkwürdigsten Texte der philosophischen Literatur. Nach einer immensen Wirkung z. B. auf den Wiener Kreis gilt er zwar auch heute noch als ein klassischer philosophischer Text, wird im allgemeinen aber durch die Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins nicht nur deutlich in den Schatten gestellt, sondern auch, wie es scheint, geradezu dementiert. Nicht eine Idealsprache, wie sie im Tractatus entwickelt wird, sondern die Umgangssprache ist gemäß den Philosophischen Untersuchungen zu analysieren und vor ungedeckten Erweiterungen geschützt. Ungedeckt sind alle Erweiterungen, die sich aus dem Feld des alltäglichen Gebrauchs sozusagen hinausstehlen und in nur noch innersprachliche Bezüge verwickeln und verirren. So formuliert Wittgenstein „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“, „Name“ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (PhU 116) Die Sprache, so kann man sagen, ist in den Philosophischen Untersuchungen ein vollständig funktionierendes Kommunikationsmittel, solange sie in die Üblichkeiten des Umgangs miteinander und überhaupt unseres Handelns eingebunden bleibt. Wer nach der Bedeutung eines Satzes fragt, würde daher immer auch mit den Tätigkeiten vertraut gemacht werden müssen, innerhalb derer dieser Satz seine Rolle spielt. In diesem Sinne ließen sich ähnliche Formulierungen wie die, die Wittgenstein in seinem Tractatus benutzt, auch für die Philosophischen Untersuchungen finden: Geht es in beiden Werken doch um die Klarheit der Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 2 Sprache, so etwa mit der Feststellung, dass der Sinn eines Satzes sich in seiner Verwendungsweise innerhalb bestimmter Üblichkeiten zeigt und damit offen zutage liegt. Das Aufzeigen eines solchen Offen-zutage-Liegens von Bedeutung wäre dann das gemeinsame Ziel, das Wittgenstein sowohl im Tractatus als auch in den Philosophischen Untersuchungen verfolgt. In diesem Sinne ließe sich dann auch das den Philosophischen Untersuchungen vorangestellte Nestroy-Zitat verstehen: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist“ – der Forschritt nämlich vom Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen. 2 Bedeuten und Zeigen: Innere Eigenschaften und äußere Beziehungen Was aber, so können wir fragen, ist näherhin das Ziel des Tractatus, und zwar auch dort, wo er sich von den Philosophischen Untersuchungen unterscheidet? Eine Antwort lässt sich über die Unterscheidung von Bedeuten und Zeigen finden. Dabei ist allerdings zu sehen, dass Wittgenstein von Bedeutung in durchaus unterschiedlichem Sinne redet. In einem kritischen Sinne redet er von der Bedeutung eines Begriffs als einer Eigenschaft: einer Eigenschaft im Sinne eines geistigen Gehaltes, der von dem Begriff selbst verschieden, aber mit ihm gemeint ist. Eine solche Auffassung von Bedeutung lehnt Wittgenstein ab, da sich diese Bedeutung nicht zeigt und sich – eben als geistiger Gehalt oder als Vorstellung – erst erschlossen oder gedeutet werden muss. Eine solche Deutung verirrt sich seiner Meinung nach aber im unwegsamen Raum einer Innerlichkeit, in der Einfälle, Gefühle, Formeln und Formulierungen, Impulse und Motive und vieles andere mehr in einer unauflösbaren Weise miteinander verschränkt sind. Soll sich etwas zeigen, so muss es, wie Wittgenstein fordert, offen zutage liegen und für jedermann erfassbar sein. Statt von inneren geistigen Gehalten oder Vorstellungen will daher Wittgenstein nur von äußeren Verhältnissen reden und eine sprachliche Darstellung dieser äußeren Verhältnisse entwerfen, die Deutungen weder benötigt noch zulässt. Um diese Ziel zu erreichen, beschränkt sich Wittgenstein Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 3 in seiner „zeigenden“ Sprache zunächst auf zwei Elemente: auf Namen und Zeichenkonstellationen für Beziehungen zwischen den Namen. Die Namen beziehen sich auf Gegenstände und Zeichenkonstellationen stehen für Beziehungen zwischen diesen Gegenständen. Das besondere an dieser minimalistischen Sprachkonstruktion ist, dass die Gegenstände ohne Eigenschaften gedacht werden. Der Gegenstand ohne Eigenschaften wird lediglich als ein identifizierbares Etwas behandelt, das zu anderen Gegenständen, die in gleicher Weise unbestimmt, aber identifizierbar bleiben, in äußeren Beziehungen steht. Als Beispiel kann man sich eine solche Beziehung als eine räumliche vorstellen, als ein Nebeneinander, Hintereinander usw., das jeweils eine Lage im Raum angibt, das aber über die Gegenstände, die zueinander diese Lagen einnehmen, keine weiteren Angaben macht. Ob es sich um Menschen, Steine, Pflanzen oder Tiere handelt: All dies bleibt unbestimmt. Statt innerer Eigenschaften werden nur äußere Beziehungen angegeben. 3 Gegenstände und Sachverhalte Charakterisiert werden kann ein Gegenstand in einer solchen Sprache der äußeren Beziehungen alleine dadurch, dass man die möglichen Beziehungen angibt, in die dieser Gegenstand zu anderen Gegenständen treten kann. Er ist dann z. B. ein räumlicher Gegenstand, wenn er in alle möglichen räumlichen Beziehungen zu anderen Gegenständen eintreten kann. Die äußeren Beziehungen, in die Gegenstände zueinander treten können, nennt Wittgenstein Sachverhalte oder auch Sachlagen. „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen)“ (2.01) Wittgenstein kann dann auch sagen, dass die Gegenstände oder auch Dinge dadurch charakterisiert werden können, dass sie „Bestandteil eines Sachverhaltes sein können“ (2.011). „Die Gegenstände enthalten die Möglichkeit aller Sachlagen.“ (2.014) „Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes“ (2.0141) Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 4 Dass der Gegenstand nicht in sich selbst durch seine innere Eigenschaften charakterisiert werden soll oder kann, drückt Wittgenstein dadurch aus, dass er sagt: „Der Gegenstand ist einfach.“ (2.2.) Eine Zwischenbemerkung mag hier ein naheliegendes Missverständnis vermeiden. Wittgenstein selbst schreibt: „Um einen Gegenstand zu kennen, muß ich zwar nicht seine externen – aber ich muß alle seine internen Eigenschaften kennen.“ (2.01231) Diese „internen“, nämlich den Gegenständen unabhängig von ihrer tatsächlichen Lage zukommenden Eigenschaften, sind „sämtliche Möglichkeiten“ des Vorkommens dieser Gegenstände in Sachverhalten (2.0123). „Denn jede solche Möglichkeit“, so Wittgenstein, „muß in der Natur [sc. im „Inneren“] des Gegenstandes liegen.“ Anders gesagt: Die Natur eines Gegenstandes und damit seine „internen Eigenschaften“ sind seine Relationen zu anderen Gegenständen, mit denen er in einem Sachverhalt vorkommen kann. Und in einer explizit auf das „Innere“ der Gegenstände bzw. der Dinge: „Wenn die Dinge in vorkommen können, so muß dies schon in ihnen liegen.“ (2.0121) 4 Sprache und Welt Das Bild, das sich damit für die von Wittgenstein entwickelte Sprache auf der einen Seite und unsere Welt, auf die diese Sprache sich beziehen soll, auf der anderen Seite ergibt, lässt sich so durch das Korrespondenzverhältnis zwischen Sprachelementen und -relationen auf der einen und Weltelementen und -relationen auf der anderen Seite charakterisieren. Die Namen der Sprache stehen für die Gegenstände der Welt, und die Zeichen für die Relationen stehen für die relationalen Gegebenheiten. Oder anders gesagt: Die Namen vertreten die Gegenstände, und die Relationszeichen bilden die bestehenden Weltbeziehungen ab. Am Beispiel der räumlichen Beziehungen: Eine diagrammatische Darstellung räumlicher Verhältnisse bildet diese räumlichen Verhältnisse ab – und dies, ohne dass eine Deutung im Sinne geistiger Sachverhalte notwendig wäre. Was notwendig ist, ist einzig die Kenntnis, dass und wie die Zeichen für die Gegenstände und Sachverhalte substituiert werden können. Wittgenstein bringt hier das Bild eines Maßstabs, der – wir können hinzufügen: dort, wo die Gegenstände durch die Namen substituiert werden – Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 5 die Welt berührt und dessen jeweilige Maßaufteilung oder Mensur für die Relationen zwischen den Gegenständen steht: „Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten, stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten“. „Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung.“ (2.15) „Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zu einander verhalten, wie die Elemente des Bildes.“ (2.151) „Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr.“ (2.1511) „Es ist wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt.“ (2.1512) „Nur die äußersten Punkte der Teilstriche berühren den zu messenden Gegenstand.“ (2.15121) Zentral für das Verständnis dieser Korrespondenzbeziehung zwischen Zeichen und Gegenstandsverhältnissen in der Welt ist Wittgensteins Rede von einem Bild und einer abbildenden Beziehung. Das Bild ist in diesem Zusammenhang die Konfiguration der Zeichen, die die Konfiguration der Gegenstände präsentieren. Entscheidend ist, dass es sich dabei nicht um eine interpretationsbedürftige Repräsentation handelt, sondern um die unmittelbare Präsentation der Sachverhalte durch die gleichsam isometrische Konfiguration der Zeichen. 5 Wortsprache und Zeichensprache Damit löst sich aber Wittgenstein von der Wortsprache und präsentiert statt dessen Zeichenkonfigurationen, deren Struktur – von den Zeichen her gesehen – die Struktur der Sachverhalte unmittelbar bzw., wie man auch zu sagen pflegt, eins zu eins abbildet. Dass dieses Abbildungsverhältnis von den Zeichen her definiert ist, besagt, dass in dieser Zeichensprache nur die Relationen aufgenommen werden, die tatsächlich präsentierbar sind, d. h. für die wir äquivalente Relationszeichen besitzen. Diese Zeichen sind Elemente in einem bestimmten Zeichenraum, der wie etwa der Raum der Farben oder eben auch Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 6 der räumlichen Beziehungen selbst eindeutige und unmittelbar wahrnehmbare Weltverhältnisse bzw. Sachverhalte darstellt. Wittgenstein spricht in diesem Zusammenhang auch von Formen, nämlich der Abbildung und der Wirklichkeit: „Das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat. Das räumliche Bild alles Räumliche, das farbige alles Farbige, etc.“ (2.171) Ein Beispiel, das Wittgenstein selbst anführt, scheint dies zu verdeutlichen: „Schwarzer Fleck auf weißem Papier; die Form des Fleckes kann man beschreiben, indem man für jeden Punkt der Fläche angibt, ob er weiß oder schwarz ist. Der Tatsache, daß ein Punkt schwarz ist, entspricht eine positive – der, daß ein Punkt weiß (nicht schwarz) ist, eine negative Tatsache.“ (4.063) Bei näherem Hinsehen, zeigt sich allerdings ein Unterschied zu den bisher erwähnten räumlichen Darstellungen. Geht es doch bei dem „Abtasten“ der Fläche mit dem schwarzen Fleck nicht mehr um eigenschaftlich charakterisierte Elemente wie die räumlichen Zeichen, sondern nur noch um Existenz oder Nicht-Existenz, um positive oder negative Tatsachen. Die Zeichen sind alleine dadurch bestimmt, dass sie in einer binären Relation stehen, deren Glieder sich ausschließen: z. B. als Ja oder Nein, entweder oder, 1 oder 0, wahr oder falsch. Mit dem Beispiel scheint daher eine Reduktion der Darstellung auf diese zweiwertige logische Grundrelation als einziges Beschreibungsmittel vollzogen zu werden. 6 Strukturdarstellung und Formwahrnehmung Tatsächlich ist aber zu sehen, dass der Weg zum Gebrauch dieser Relation durchaus voraussetzungsvoll ist: Zunächst ist vorauszusetzen, dass wir nicht nur schwarz und weiß wahrzunehmen und zu unterscheiden wissen, sondern dass wir uns auch entscheiden bzw. daran gewöhnt haben müssen, die verschiedenen Abtönungen, die sich bei näherem Hinsehen zeigen, als schwarz oder weiß zu identifizieren. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt eindrucksvoll eine Analyse Henri Bergsons: „Man betrachte aufmerksam ein Blatt Papier, das z. B. durch vier Kerzen beleuchtet ist und lösche nacheinander eine, zwei, drei davon aus. Man wird sagen, die Fläche bleibe weiß und ihre Helligkeit verringere sich. Man Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 7 weiß ja allerdings, daß man eine Kerze ausgelöscht hat; oder, weiß man es nicht, so hat man oft genug eine analoge Veränderung des Aussehens einer weißen Fläche beobachtet, wenn man die Beleuchtung verringerte. Man abstrahiere indessen von seinen Erinnerungen und Sprachgewohnheiten: was man wirklich bemerkt hat, ist nicht eine Beleuchtungsveränderung der weißen Fläche, sondern eine Schicht von Schatten, die im Augenblick des Auslöschens der Kerze über die Fläche hingeglitten ist. Dieser Schatten ist für das Bewußtsein eine Realität so gut wie das Licht. Nannte man die ursprüngliche Fläche in all ihrer Helligkeit weiß, so verlangt das jetzt Gesehene einen anderen Namen; denn es ist etwas anderes: es wäre, könnte man sich so ausdrücken, eine neue Nuance von Weiß.“1 Mit anderen Worten: Die Reduktion auf die binäre Relation von Ja oder Nein bringt auch eine Reduktion für die Binnendifferenzierung unserer Wahrnehmung mit sich. Nuancen werden nicht mehr berücksichtigt. Unsere Welt scheint durch diese „logische Reduktion“ der Darstellung auf eine disjunkte Mannigfaltigkeit zurückgeführt zu werden. Bevor dieses Argument wieder aufgenommen wird, ist aber eine weitere Voraussetzung zu nennen. Sie zeigt sich, wenn wir nach den Bedingungen dafür fragen, dass wir von einer Form – hier der „Form des Fleckens“ – reden können. Diese Form erscheint uns ja nur, wenn wir in einer geordneten, also bereits geformten Weise unser „Abtasten“ vornehmen. Wir dürfen nicht „kreuz und quer“, also ungeordnet, über das Blatt Papier fahren, sondern nur in einer streng geordneten Weise also z. B. bündig links (waagerechte) Zeile für (waagerechte) Zeile. Wir erhielten dann, wenn 0 für weiß und 1 für schwarz steht, ein „Bild“ wie dieses: 1 Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Text als Nachdruck der 1920 in Jena [Eugen Diederichs Verlag] erschienenen 2. Auflage der Übersetzung von Paul Fohr (1. Auflage dieser Übersetzung 1911). Frankfurt am Main [Athenäum] 1989, S. 42. Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 8 00000000000000000000000000000000000000000000000000000 00000000000000000000001000000000000001000000000000000 00000000000000000000111110000000000001110000000000000 00000000000000111111111111100000001111111110000000000 00000000000001111111111111111100111111111111111000000 00000000001111111111111111111111111111111111111111000 00000001111111111111111111111111111111111111111111100 00000011111111111111111111111111111111111111111100000 00001111111111111111111111111111111111111111100000000 00111111111111111111111111111111111111111100000000000 01111111111111111111111111111111111111111000000000000 00011111111111111111111111111111111111111100000000000 00000011111111111111111111111111111111100000000000000 00000011111111111111111111111111111111111000000000000 00000000111111111111111111111111111111100000000000000 00000000001111111111111111111111111111000000000000000 00000000000001111111111111111111111000000000000000000 00000000000000001111111111111111000000000000000000000 00000000000000000000000011111000000000000000000000000 00000000000000000000000000110000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000000000000000000000000 Das Bild, also die Form des Fleckens ergibt sich, wie man hier deutlich sieht, nur, wenn die Anordnung der Punkte, die man untersucht, bzw. die Schritte des Untersuchungsvorgangs bereits eine strenge Form aufweisen. Aber nicht nur dieses: Auch unsere Wahrnehmung muss bereits eine FormWahrnehmung sein, wenn man eine Form überhaupt identifizieren will. Dass wir den unterschiedlichen Wechsel von – disjunkt erfasstem – Weiß und Schwarz als einen schwarzen Flecken auf weißem Papier wahrnehmen und dann darstellen können, beweist die innere Selbst-Gliederung der Wahrnehmung, ihren immanenten Formcharakter. Auch hier mag wieder ein anderer Autor als Zeuge angerufen werden: dieses Mal Susanne Langer: „Ebenso wie die höheren Nervenzentren, mit denen wir Arithmetik und Logik betreiben, scheint auch unserer Empfangsapparatur eine Tendenz innezuwohnen, das sensorische Feld in Gruppen und bestimmte Muster von Sinnesdaten zu gliedern, Formen wahrzunehmen statt eine Flut von Lichteindrücken. Dieser unbewußte ,Sinn für Formen‘ aber ist die primitive Wurzel aller Abstraktion, die ihrerseits der Schlüssel zur Rationalität ist; es zeigt sich also, daß die Bedingungen der Rationalität tief in unserer rein animalischen Erfahrung liegen – in unserer Wahrnehmungsfähigkeit, in den elementaren Funktionen unserer Augen, Ohren und Finger. Das geistige Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 9 Leben beginnt schon mit unserer physiologischen Konstitution. Ein wenig Nachdenken macht einsichtig, daß, da jede Erfahrung einmalig ist, die sogenannten ,wiederholten‘ Erfahrungen in Wirklichkeit analoge Vorkommnisse sind, die sämtlich in eine Form passen, welche durch Abstraktion bei der ersten Gelegenheit gewonnen wurde. Die Vertrautheit von Phänomenen ist nichts weiter als die Eigenschaft, daß etwas sehr genau in die Form einer früheren Erfahrung paßt. Unsere angeborene Gewohnheit, Eindrücke zu hypostasieren, Dinge und nicht Sinnesdaten zu sehen, beruht, glaube ich, darauf, daß wir prompt und unbewußt aus jeder Sinneserfahrung eine Form abstrahieren und uns dieser bedienen, um die Erfahrung als ein Ganzes, als ,Ding‘ zu begreifen.“2 Wittgenstein selbst, von dessen Tractatus Susanne Langer übrigens stark beeinflusst ist, könnte – und würde auch wohl – dieser Darstellung vorbehaltlos zustimmen. Redet er doch selber immer wieder von Form und Konfiguration, zu denen er auch die Anordnungen der logischen Zeichen rechnet. So formuliert er z. B.: „Die Substanz der Welt kann nur eine Form und keine materiellen Eigenschaften bestimmen. Denn diese werden erst durch die Sätze dargestellt – erst durch die Konfiguration der Gegenstände gebildet.“ (2.0231) „Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt.“ (2.0272) „Die Konfiguration der einfachen Zeichen im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage.“ (3.21) „Konfiguration“, „Struktur“ und „Form“ (als „Möglichkeit der Struktur“), „Bild“ – all dies sind Basistermini Wittgensteins, die sich erst in ihrer Verwendung klären und jedenfalls zur Klärung seines Sprachkonzeptes genutzt werden. Sie charakterisieren die gedankliche Form, die Wittgensteins Tractatus eigen ist und sind damit die Bausteine des Gebäudes einer logisch geordneten Sprache, die nicht mehr die Bedeutung ihrer Zeichen verstanden werden soll, sondern durch sich selbst zeigen soll, was der Fall ist und was nicht. 2 Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main [Fischer Taschenbuch Verlag] 1984, S. 95f. Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 10 Dieser Grundidee des Zeigens fügt Susanne Langer die Bedingung hinzu, die dem Zeigen erst seine Möglichkeit bietet: „Unsere reine Sinneserfahrung ist bereits ein Prozeß der Formulierung. Die Welt, die den Sinnen wirklich begegnet, ist ja keine Welt von ,Dingen‘, an denen wir Tatsachen entdecken sollen, sobald wir die dazu erforderliche logische Sprache kodifiziert haben; die Welt der reinen Sinnesempfindung ist so komplex, fließend und reich, daß bloße Reizempfindlichkeit nur das antreffen würde, was William James ,eine blühende, schwirrende Konfusion‘3 genannt hat. Aus diesem Chaos müssen unsere Sinnesorgane bestimmte vorherrschende Formen auswählen, wenn sie Dinge und nicht bloß sich auflösende Sinnesempfindungen melden sollen. Auge und Ohr müssen ihre Logik [...] haben. Ein Objekt ist kein Sinnesdatum, sondern eine durch das sensitive und intelligente Organ gedeutete Form, eine Form, die gleichzeitig ein erlebtes Einzelding und ein Symbol für dessen Begriff, für diese Art von Ding ist.“4 Das „sensitive und intelligente Organ“ arbeitet nicht nur nach biologischen Prozessen, sondern auch in sozialen und kulturellen Verhältnissen. So lernt unser Auge und unser Ohr in den Prozessen des Sehens und Hörens. Alles, was wir sehen, sehen wir durch die Bilder hindurch, die wir gesehen haben. Alles, was wir hören, hören wir durch die Töne, Laute und Geräusche hindurch, die wir gehört haben. Und dies können wir entsprechend von all unseren anderen Sinnesorganen auch sagen. Allgemein können wir feststellen, dass das Wahrgenommene sich in einem Wechselverhältnis seiner Präsenz und seiner Erfassung herausformt und über seine Darstellung – die z. B dinglich, gestisch bildlich oder sprachlich sein kann – und deren Wahrnehmung zu einem kollektiven Formenrepertoire sedimentiert. Es entsteht so ein kollektiver Besitz von Formen des Wahrgenommen und Wahrnehmbaren: von Formen, die unseren Wahrnehmungen ihre Identifizierbarkeit geben. Diese Formen sind kulturelle Tatsachen. Sie bilden ein Feld von Verweisungen, durch die unsere 3 William James, Some Problems of Philosophy. A Beginning of an Introduction to Philosophy (1911). New York [Greenwood Press] 1968, S. 50: “If my reader can […] lapse back into his immediate sensible life at this very moment, he will find it to be what someone has called a big blooming buzzing confusion, as free from contradictions in its ,much-at-onceness‘ as it is all alive and evidently there.” 4 Susanne Langer, op. cit., S. 95. Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 11 Wahrnehmungswelt zusammengehalten wird und sich damit ein Sinnzusammenhang aus aufeinander verweisenden Formen bildet. 7 Die kulturelle Differenz der Formwahrnehmungen Was für das Verständnis des Tractatus hier bedeutsam ist, wird mit der Rede von kulturellen Tatsachen angedeutet. Denn dass es sich bei den Verweisungsfeldern der Formen als einem kollektiv sedimentierten Repertoire um kulturelle Tatsachen handelt, bedeutet ja, dass wir es in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen und insbesondere in verschiedenen Kulturen mit verschiedenen Formzusammenhängen und Wahrnehmungsverhältnissen zu tun haben können und meist auch haben. Mit dem Blick auf diese kulturelle Differenz verschwindet aber die Offensichtlichkeit des Gezeigten. Nicht einmal der schwarze Flecken auf weißem Papier kann sicher sein, als ein solcher wahrgenommen zu werden. Ernst Cassirers Darstellung von unterschiedlichen Sichtweisen eines Linienzuges bietet hier einen inzwischen schon fast „klassischen“ Beleg: „Wir können ein optisches Gebilde, wie etwa einen einfachen Linienzug, nach seinem reinen Ausdruckssinn nehmen. Indem wir uns in die zeichnerische Gestaltung versenken und sie für uns aufbauen, spricht uns in ihr zugleich ein eigener physiognomischer ,Charakter‘ an. […] Das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich. […] Aber all dies tritt nun alsbald zurück und erscheint wie vernichtet und ausgelöscht, sobald wir den Linienzug in einem anderen ,Sinne‘ nehmen – sobald wir ihn als mathematisches Gebilde, als geometrische Figur verstehen. Er wird nunmehr zum bloßen Schema, zum Darstellungsmittel für eine allgemeine geometrische Gesetzlichkeit. […] Und wieder in einem völlig anderen Gesichtskreis stehen wir, wenn wir den Linienzug als mythisches Wahrzeichen oder wenn wir ihn etwa als ästhetisches Ornament nehmen. Das mythische Wahrzeichen faßt als solches den mythischen Grundgegensatz, den Gegensatz des »Heiligen« und »Profanen«, in sich. Es ist aufgerichtet, um diese beiden Gebiete voneinander zu trennen, um zu warnen und zu schrecken, um dem Ungeweihten die Annäherung an das Heilige oder seine Berührung zu Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 12 wehren. […] Als Ornament betrachtet, erscheint die Zeichnung ebensowohl der Sphäre des ,Bedeutens‘, im logisch-begrifflichen Sinne, wie der des magisch-mythischen Deutens und Warnens entrückt. Sie besitzt in sich selbst ihren Sinn, der sich nur der reinen künstlerischen Betrachtung, der ästhetischen ,Schau‘ als solcher, erschließt.“5 Je nach dem Verweisungsfeld, in dem das Sehen sich zu einer gesehenen Form ausbildet, haben wir es so mit verschiedenen Bedeutungen des Gesehenen zu tun. Dies wiederum besagt, dass wir es bei der logischen Darstellung des schwarzen Fleckens auf weißem Papier nicht mit einem interpretations- bzw. – im Wittgensteinschen Sinne – bedeutungsfreien Zeigen zu tun haben. Letztlich liegt dies daran, dass Wittgenstein bei dieser Darstellung zwar keine Zeichen für Eigenschaften benutzt, diese Zeichen aber auf Eigenschaften – auf Schwarz und Weiß einschließlich deren Abtönungen und auf die Form des Fleckens bzw. auf die Eigenschaft „schwarzer Flecken auf weißem Papier“ – beziehen muss. Als Fazit ist damit festzustellen, dass die logische Reduktion der Darstellung nicht weit genug geführt worden ist. Soll die Darstellung wirklich interpretationsfrei und in diesem Sinne „klar“ sein, so ist von allen Eigenschaften abzusehen. 8 Die logische Reduktion und der Verlust des Weltbezugs Dies ist aber nur möglich, wenn die Zeichen keinen Weltbezug mehr beanspruchen, sondern sich nur noch auf andere Zeichen beziehen, die lediglich durch ihre wechselseitigen formalen Relationen, also durch ihre logische „Bedeutung“ definiert sind. Eine einfache Realisierung solcher Definitionen bieten die Wahrheitstafeln, in denen „a“ und „b“ für ein Satzzeichen, und „w“ und „f“ für „wahr“ und „falsch“ stehen, z. B. 5 Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Birgit Recki (im folgenden zitiert als ECW). Band 13, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2002, S. 228ff. Vgl. dazu auch Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie. In ECW Band 17: Aufsätze und kleinere Schriften 1927-1931. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2004, S. 257f. Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 13 a b wenn-dann Und oder w w w W w w f f f w f w w f w f f w f f Die komplexere Darstellung, die Wittgenstein selbst gibt, findet sich im Tractatus ab 4.3. Hier scheint Wittgensteins Forderung erfüllt: „Die Regeln der logischen Syntax müssen sich von selbst verstehen, wenn man nur weiß, wie ein jedes Zeichen bezeichnet.“ (3.334) Dass ein logischer Satz wahr ist, erkennt man bereits über die Definition der Zeichen, die deren Verwendungsweise festlegen: „Es ist das besondere Merkmal der logischen Sätze, daß man am Symbol allein erkennen kann, daß sie wahr sind, und diese Tatsache schließt die ganze Philosophie der Logik in sich.“ (6.113) Liest man Wittgensteins Projekt von der Klarheit der Sprache in diesem auf die formale Logik reduzierten Sinn, dann gewinnt man zwar die Möglichkeit, eine klare Sprache ohne Interpretationsprobleme aufzubauen, verliert aber jeglichen Weltbezug. Auf diesem Weltbezug scheint Wittgenstein aber zu bestehen. So findet sich – neben den bereits zitierten Aussagen über den Zusammenhang von Zeichen und Bild mit der Wirklichkeit – auch die spezifisch auf das logische Bild hinweisende Formulierung: „Das logische Bild kann die Welt abbilden.“ (2.19) Dass ausgerechnet das logische Bild – und nicht das räumliche oder farbige – die Welt abbilden kann, scheint schwer verständlich und mit der hier entwickelten Interpretation jedenfalls nicht vereinbar zu sein. Um hier zu einer Klärung zu kommen, müssen wir uns mit der teils impliziten, teils aber auch explizierten Ontologie Wittgensteins auseinandersetzen. Dies geschieht am besten, wenn wir uns den Wittgensteinschen Bauplan der „klaren Sprache“ auf Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 14 der einen und der Welt bzw. der Wirklichkeit auf der anderen Seite vor Augen führen. 9 Die implizite Ontologie des Tractatus Zunächst zur Welt/Wirklichkeit: Die Welt/Wirklichkeit „ist die Gesamtheit der Tatsachen“ (1.1), eine Tatsache „ist das Bestehen von Sachverhalten“ (2), der Sachverhalt „ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen)“ (2.01) Die Welt/Wirklichkeit hat somit drei Dimensionen: (1) Gegenstände (Dinge/Sachen), (2) Tatsachen, d. h. bestehende Verknüpfungen zwischen ihnen. Die Möglichkeiten dieser Verknüpfungen sind – als Möglichkeiten! – bestimmt und in diesem Sinne „gegeben“ (2.0124) Als „gegeben“, so könnte man mit Alfred North Whitehead sagen, sind diese Möglichkeiten zwar nicht „real“ oder „realisiert“, „existieren“ aber – so, wie wir durchaus auch davon reden, dass diese oder jene Möglichkeit existiert und andere dagegen nicht. Die „klare Sprache“ baut sich auf (1) aus Namen, (2) aus Elementarsätzen und (3) aus Sätzen. Ein Elementarsatz „ein Zusammenhang, eine Verkettung, von Namen“ (4.22). „Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.“ (5) Er entsteht aus logischen Operationen wie „Verneinung, logische Addition, logische Multiplikation, etc., etc.“ (5.2341) Die Grundoperation, durch die ein einfacher Satz entsteht, ist die Beurteilung eines Elementarsatzes als wahr oder falsch. Damit fängt für Wittgenstein „die logische Konstruktion des Satzes“ an (5.234) Der Elementarsatz gehört in diesem Sinne noch nicht zur Logik, weil er nicht „auf logisch bedeutungsvolle Weise aus einem anderen [Satz] entsteht.“ (Ebd.) Im üblichen Sinne ist daher der Elementarsatz auch noch kein Satz, sondern ein komplexes Prädikat. Parallelisiert man die beiden Strukturen von Welt und Sprache, so entsprechen die Namen den Gegenständen, die Elementarsätze den Sachverhalten und die Sätze den (positiven oder negativen) Tatsachen. Und damit zeigt sich nun die Ontologie in Wittgensteins Tractatus: Die Namen „berühren“ (2.15121) gleichsam die Gegenstände in der Welt und vertreten sie im Elementarsatz. Der Elementarsatz verknüpft die Namen auf eine Weise, die der (möglichen) Verknüpfung der Gegenstände in den Sachverhalten Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 15 entsprechen soll. Besteht diese Verknüpfung, ist der Elementarsatz wahr. Und es gilt allgemein: „Die Angabe aller wahren Elementarsätze beschreibt die Welt vollständig.“ (4.26) Die „Berührung“, in der der Bezug der Sprache auf die Welt hergestellt wird, ist nicht mit einer Übertragung der Form des Gegenstandes auf den Namen verbunden. Sie besagt nur, dass es diesen – möglichen oder wirklichen – Gegenstand gibt und er daher benannt werden kann; und zwar – wie oben dargestellt – ohne ihm damit bereits innere Eigenschaften zuzusprechen. Im Grunde wird der Gegenstand damit als eine Art „Ding an sich“ vorgestellt, der erst durch sein Vorkommen in – möglichen oder wirklichen – Sachverhalten in seinen äußeren Eigenschaften charakterisiert werden kann. Wittgenstein formuliert dies so: „Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist.“ (3.221) Die Gegenstände, so erfuhren wir schon, sind „das Feste, das Bestehende“: im Unterschied zu den Sachverhalten, die „das Wechselnde, Unbeständige“ sind. (2.0271) Diese Feststellung ist – zumindest zunächst – schwer nachvollziehbar. Und dies besonders dann, wenn Wittgenstein dieses Feste, Bestehende auch noch mit dem Begriff der Substanz in Verbindung bringt: „Die Substanz ist das, was unabhängig von dem was der Fall ist, besteht.“ (2.024) Das unabhängig von dem, was der Fall ist, also von den – wechselnden, unbeständigen – Tatsachen Bestehende aber sind die Gegenstände. Warum soll man die Gegenstände als eine Substanz auffassen? 10 Jenseits der Eigenschaften: Whiteheads Konzept der Individualität des Existierenden Tatsächlich lässt sich eine Interpretation finden, die mit den übrigen Behauptungen im Tractatus konsistent ist und zur Konzeption des Tractatus passt. Es ist dies eine Interpretation, die auf Whiteheads Begriff der „enduring Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 16 individuality“ bzw. des „individual ,It‘“ berufen kann. Für Whitehead gründet unser Erfassen der Wirklichkeit in ihrem besonderen Charakter als Wirklichkeit. Dieses Erfassen richtet sich auf die Individualität des Existierenden, in der sich das Existierende in seiner bloßen und bleibenden Existenz und nicht in seinen verschiedenen und wechselnden Eigenschaften zeigt. Als Beispiel kann man etwa das Verhältnis der Abbildungen einer Landschaft in einem Reisekatalog zum Erleben der abgebildeten Landschaft selbst heranziehen. Obwohl die Abbildungen meist eine viel schönere Ansicht zeigen als die, sich uns darbietet, wenn wir uns tatsächlich in ihr befinden, kann kein noch so eindrucksvolles Bild das Erleben der wirklichen Landschaft ersetzen. Wäre es anders, könnten sich die Reisebüros auf den Verkauf der schönen Bilder beschränken, ohne noch die tatsächlichen Reisen anzubieten. Ein anderes Beispiel finden wir in unserem Verhältnis zu Personen. Die tiefe emotionale Beziehung, die wir zu einer Person empfinden mögen, ist in ihrer Tiefe nicht getragen von irgendwelchen Eigenschaften dieser Person – wenngleich diese für das Ausleben der Beziehung eine wichtige und oft entscheidende Rolle spielen. Sie ist getragen von der tatsächlichen Individualität dieser Person, die wir auch im Wechsel der Situationen und Reaktionen, der äußeren Erscheinung und der inneren Haltung dieser Person erfassen und erfahren. Es ist diese sich im Wechsel durchhaltende Individualität, die – wie Whitehead formuliert – getrennt von ihren Eigenschaften erfasst wird, die nicht nur den Charakter der Wirklichkeit als solcher ausmacht, sondern auch für uns eine geradezu lebenstragenden emotionale Bedeutsamkeit, eine – wie wiederum Whitehead sagt – „emotionale Signifikanz“ besitzt.: „Die emotionale Signifikanz, die einem von seinen qualitativen Aspekten getrennten und als ein Es dargebotenen Objekt im Augenblick seines Erfaßtwerdens zukommt, ist eine der stärksten Kräfte der menschlichen Natur.“6 6 Alfred North Whitehead, Abenteuer der Ideen. Einleitung von Reiner Wiehl. Aus dem Englischen von Eberhard Bubser. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 1971, S. 457. Im Original: “The emotional significance of an object as ‘It’, divorced from its qualitative aspects at the moment presented, is one of the strongest forces in human nature.”(Alfred North Whitehead, Adventures of Ideas. New York [The Free Press. A Division of the Macmillan Publishing Co.,Inc.] London [Collier Macmillan Publishers] 1967, S. 262. Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 17 Und Whitehead bezieht sich wie Wittgenstein auf die aristotelische Substanz, wenn er das Erfassen der Individualität auch in einer künstlerischen Darstellung sieht, in dem gelungenen zum Erscheinen Bringen in der Wirklichkeit und Tatsächlichkeit eines Werkes – wie in diesem Falle der „berühmten Skulpturen am Portal der Kathedrale von Chartres“:7 „Wir können nun auch verstehen, wie man durch die Erscheinung zu dem aristotelischen Standpunkt geführt werden kann, daß es ein substantielles, dauerndes und durch gewisse Wesensmerkmale gekennzeichnetes Es gibt.“8 Liest man Wittgensteins Bemerkungen zu den substantiellen Gegenständen und wechselnden Konfigurationen bzw. Sachverhalten mit den Augen Whiteheads, so gewinnt Wittgensteins Konzeption einer Ontologie – zumindest, was deren Explikation angeht – eine zusätzliche Komponente: Das Wirklichsein der Wirklichkeit, also die Welt in ihrer „Substanz“, erreichen wir nur jenseits ihrer Eigenschaften in den wirklichen Gegenständen der Welt. Diese können wir nur benennen, aber nicht beschreiben. Beschreiben können wir, streng genommen, nur ihr Vorkommen in Sachverhalten, d. h. in Beschreibungen, in denen sie unbeschriebene, aber benannte Elemente der Konfigurationen sind, die durch die Beschreibungen dargestellt werden. Auf diese Weise bleibt das Ideal der klaren Sprache unangetastet und eingebettet in eine Ontologie, in der sich „das Feste, das Bestehende“ der Gegenstände und das „das Wechselnde, Unbeständige“ der Sachverhalte einander gegenüberstellen lassen. 11 Wittgensteins Atomismus und die Kontingenz der Kausalität Mit dieser Gegenüberstellung hängt auch Wittgensteins sogenannter Atomismus zusammen, der die Tatsachen als kausal voneinander unabhängig und somit wie einzelne aus ihrer Umgebung herauslösbare Atome sieht. So formuliert er pointiert: 7 Ebd., S. 460. 8 Ebd., S. 461. Im Original: „We also understand how Appearance leads to the Aristotelian doctrine of a substantial, enduring It with essentia character.“ (Ebd., S. 264) Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 18 „Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.“ (5.1361) Und weiter: „Einen Zwang, nach dem Eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit.“ (6.37) Wenn nämlich nur die Gegenstände das Feste und Bestehende der Welt ausmachen und wir über diese Gegenstände aber nichts sagen können, dann werden die Tatsachen und damit die Wirklichkeit der Sachverhalte dem Wechsel und dem Unbeständigen überantwortet: und damit der Kontingenz des tatsächlich Eintretenden, die sich keiner Notwendigkeit fügt. Auch diese zunächst so radikal anmutenden Bemerkungen gewinnen ihren Sinn, wenn man sich auf Wittgensteins Sicht einlässt. Es ist nämlich einzuräumen, dass die Naturgesetze, mit denen kausale Notwendigkeiten festgestellt werden sollen, keine unbedingten Verlaufsgesetze sind. Sie beschreiben vielmehr Idealisierungen tatsächlicher Verläufe, die nur unter besonderen Bedingungen – nämlich im isolierten Raum eines Labors bzw. im eigens eingerichteten und kontrollierten Experiment – wenigstens annäherungsweise herbeigeführt werden können.9 Nicht einmal angenähert spielen sich dagegen die tatsächlichen Verläufe in unserer Welt – d. h. außerhalb der Labore – im allgemeinen so ab, wie die aus den Strukturgesetzen abgeleiteten idealisierten Verläufe es darstellen. Vielmehr finden diese Verläufe unter komplexen und kontingenten Randbedingungen statt, die es nicht erlauben, von einer kausalen Notwendigkeit zu reden. Würde man dies gleichwohl tun – etwa mit dem Hinweis, dass wir nur darum keine Notwendigkeit feststellen oder voraussagen können, weil wir nicht alle Wirkfaktoren kennen –, dann nähme man eine Beweislast auf sich, die nicht einzulösen ist: schon darum nicht, weil es immer der Fall sein wird, dass wir nicht alle Wirkfaktoren – und d. h. eben: nicht alle Randbedingungen – kennen. 9 Vgl. dazu die Darstellung in Holm Tetens, Experimentelle Erfahrung. Eine wissenschaftstheoretische Studie zur Rolle des Experiments in der Begriffs- und Theoriebildung der Physik. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1987. S. hier vor allem die Einleitung und Kap. 1 über „Das physikalische Experiment und die Konzeption der experimentalistischen Kausalität“, S. 1-41. Unter anderem wird hier das Experiment als „Isolation kausal relevanter Umstände“ und als „Begradigung von Verläufen“ charakterisiert. (S. 29-32) Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 19 Wo in den Kausalverhältnissen Notwendigkeit gesucht wurde, haben wir daher die Kontingenz der Kausalitätsverhältnisse zuzugeben. Die Notwendigkeits- oder auch universal Determinismusbehauptung ist also ein Fall für Ockham’s razor, der im Bezug auf die Analyse der realen Prozesse der Welt keinerlei Bedeutung zukommt. 12 Die Klarheit der Traumsprache Kehren wir damit zurück zu Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache. Sowohl der Anspruch, dass die Sprache, was sie sagt, zeigen muss und nicht erst über Bedeutungen erschließen lassen darf, als auch die dazu gehörige Ontologie Wittgensteins erscheinen jedenfalls als ein in sich konsistentes und sich wechselseitig stützendes Ganzes. Nur: Was haben wir, wenn wir dies haben? Wir haben nichts, was wir auch schon vorher hätten haben können. Wittgenstein macht mitteilbar, was wir wahrnehmen. Aber dieses Wahrgenommene ist in die Form binärer Disjunktionen gebracht, die – gleich ob wir von wahr/falsch oder 1/0 reden – nicht mehr zu unserem Reden gehört. Im Grunde haben wir es mit einer Digitalisierung avant la lettre zu tun, die nur noch zeigt und nicht redet. Was eine solche „Sprache“ zeigt, ist nicht aussprechbar. Wir können in dieser „Sprache“ in der Tat nur zeigen und schweigen, weil wir in ihr nicht reden können. Eben dies ist der Traum: ein schweigendes Zeigen jenseits unseres Sprechens. Denn unser Sprechen bildet nicht ab. Es regt an zu Vorstellungen oder Handlungen, bringt uns dazu, uns ein Bild zu machen, oder akzentuiert etwas in einem größeren Zusammenhang. Sprechen ist im Sinne von William James ein Hinführen zu etwas, und sei es zu anderem Gesprochenen oder Geschriebenen.10 Die Sprache ist in diesem Sinne ein Brückenphänomen, das Verbindungen herstellt und so Sinn erzeugt. 10 So stellt William James in seinen Vorträgen zum Pragmatismus immer wieder fest, dass es von unseren Gedanken gilt: „They lead us, namely, through the acts and other ideas which they instigate, into or up to, or towards, other parts of experience with which we feel all the while – such feeling being among our potentialities – that the original ideas remain in agreement. The connexions and transitions come to us from point to point as being progressive, harmonious, satisfactory. The function of agreeable leading is what we mean by an idea’s verification.“ (William James, Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. Cambridge, Mass. / London/England [Harvard University Press 1975, Lecture VI: Pragmatism’s Conception of Truth, S. 97). Und sozusagen abschließend: Oswald Schwemmer, Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache Seite 20 Dieses Hinführen gilt auch für das Bezeichnen. Dabei ist zu sehen, dass das Bezeichnen eine besondere Funktion des Sprechens ist und nur von Namen oder – funktional äquivalenten – Kennzeichnungen übernommen werden kann. Diese Namen bzw. Kennzeichnungen sind über ihre Bezugsleistung zu den entsprechenden „Gegenständen“ hinaus bedeutungslos11 und also durchaus im Wittgensteinschen Sinne zu verstehen. Aber Namen alleine bilden noch keine Sprache. Wittgensteins zeigende „Sprache“ bleibt eine Traumsprache. Wittgensteins eigene Sprache aber ist eine musikalische Aufführung, mit der einer der schönsten, weil klingenden Texte der philosophischen Weltliteratur sich bleibend in die Philosophiegeschichte eingeschrieben hat. Dieser Text wird schon aus diesem Grund seine Faszination behalten und immer neue Interpretationen und Variationen herausfordern. „Primarily, and on the common-sense level, the truth of a state of mind means this function of a leading that is worth while.“ (Ebd., S. 98. Hervorhebung von James) 11 Einen traurigen Beleg für diese interne Bedeutungslosigkeit stellt die immer wieder anzutreffende Praxis dar, für ausgegrenzte Personengruppen wie z. B. Lagerinsassen keine Namen, sondern nur Nummern zu verwenden.