Private Sprache – 1. Zum Begriff. Als «private Sprache» bezeichnet L. Wittgenstein eine vorgestellte Sprache zur Benennung vermeintlich privater Empfindungen, die schlechterdings nur der Sprecher selbst verstehen könnte.1 Anderen wäre eine solche Sprache notwendigerweise unverständlich; es wäre ihnen unmöglich, sie zu erlernen, da ihnen die bezeichneten Empfindungen Dritter notwendig unzugänglich bleiben müssten. Um anzudeuten, dass es sich hier nicht nur um die gewöhnliche, kontingente Privatheit einer Geheimschrift handeln soll (die nach Lage der Dinge nur ich verstehe, die aber andere sehr wohl erlernen könnten), sondern um eine schier unüberwindliche Privatheit, setzt Wittgenstein das Wort ‹privat› zuweilen in emphatische Anführungszeichen.2 Wittgensteins ausführliche Argumentation gegen die Möglichkeit einer solchen ‹privaten› Empfindungssprache3 wird in der angelsächsischen Literatur als ‹private language argument› bezeichnet, was als ‹Privatsprachen-Argument› ins Deutsche übersetzt worden ist.4 Deshalb ist in der dt. Literatur auch das Kompositum ‹Privatsprache› geläufig, das Wittgenstein selber jedoch nicht verwendet hat. 1.1 ‹Private› Empfindungen Das gebräuchliche Etikett ‹Privatsprachen-Argument› ist insofern ein wenig irreführend, als es Wittgenstein nicht eigentlich um die Frage geht, ob es eine notwendig private Sprache geben könne, sondern vielmehr um eine Klärung unserer Begriffe für Empfindungen und psychische Vorkommnisse. Die Erörterung einer ‹privaten› Sprache ergibt sich nur indirekt daraus, dass wir geneigt sind, Empfindungen für ‹private› Vorkommnisse zu halten, so dass auch unsere Empfindungssprache streng genommen ‹privat› sein müsste.5 Die zugrunde liegende Argumentation ist wie folgt: (1) Wörter haben dadurch Bedeutung, dass sie etwas bezeichnen (Referentialismus). (2) Empfindungswörter bezeichnen ganz unabhängig von ihrem Gebrauch psychische Vorkommnisse. (3) Psychische Vorkommnisse sind logisch unabhängig von Ausdrucksverhalten (Dualismus). (4) Psychische Vorkommnisse sind letztlich unbeschreibbar. (5) Empfindungswörter sind jeweils nur dem verständlich, der damit seine eigenen Empfindungen bezeichnet. Die entscheidenden Prämissen der von Wittgenstein angegriffenen Ansicht sind also der Referentialismus (1) und der Leib-Seele-Dualismus (3). 2. Zur Problemgeschichte 2.1 Referentialismus Es ist durchaus natürlich, anzunehmen, dass die Bedeutung eines Wortes daher rühre, dass es für einen Gegenstand steht. Um zu zeigen, dass dies nicht etwa nur eine verstiegene philosophische Position ist, zitiert Wittgenstein eine Passage aus Augustinus’ Confessiones.6 (Deshalb wird der Referentialismus in der Literatur zuweilen auch als «the Augustinian picture» bezeichnet.7) Ausdrücklich referentialistische Positionen vertraten sowohl Frege, als auch Russell und der junge Wittgenstein (in der Logisch-philosophischen Abhandlung).8 2.2 Dualismus Die klassische Formulierung des Leib-Seele-Dualismus stammt von Descartes.9 Im wesentlichen war seine Position (nach der Psychisches nur kontingent mit Ausdrucksverhalten verbunden ist) jedoch bestimmend für fast alle bedeutenden Philosophen nach ihm bis ins 20. Jh. 2.3 Private Sprache Der locus classicus für die Vermutung, dass Teile unserer Sprache aus privaten Idiolekten bestehen könnten, ist Lockes Diskussion des umgekehrten Farbspektrums: Locke erwägt, dass seine Farbwahrnehmungen denen anderer Menschen genau komplementär sein könnten, so dass, was anderen als blau erscheint, ihm gelb erschiene, und umgekehrt. Das Wort ‹blau› hätte für ihn also eine andere Bedeutung, da er damit eine andere private Farbempfindung bezeichnete als andere.10 3. Wittgensteins Diskussion der ‹privaten› Empfindungssprache und ihrer Voraussetzungen Alle fünf Punkte der Argumentation, die zur Annahme einer ‹privaten› Empfindungssprache führen, werden von Wittgenstein mit guten Gründen bestritten. Ad (1): Gegenstandsbezug (Referenz) ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Wort Bedeutung hat.11 Ad (2) und (4): Damit man von einem Wort sagen kann, dass es eine Empfindung bezeichnet, muss es einen passenden Gebrauch haben, der es mit Ausdrucksverhalten und Beschreibungen körperlicher Befindlichkeit in Verbindung setzt.12 Damit hängt zusammen, dass wir nur das eine ‹Empfindung› nennen, was sich in gewissen Hinsichten näher beschreiben lässt.13 Ad (3): In einem berühmten Gedankenexperiment lässt sich Wittgenstein einmal probeweise auf die cartesianische Vorstellung ein, dass Empfindungen ‹private› innere Vorkommnisse seien. Er erwägt, wie jemand einer ‹privaten› Empfindung einen Namen geben und über ihr Vorkommen ein Tagebuch führen könnte. Er gibt dann zu bedenken, dass der Betreffende kein Kriterium für die Richtigkeit seiner Eintragungen hätte. Richtig wäre also offenbar, was immer ihm als richtig erschiene.14 Dieser Einwand ist oft als der Kern des Privatsprachen-Arguments angesehen worden: Wo sich zwischen einer richtigen und einer anscheinend richtigen Anwendung eines Zeichens nicht unterscheiden lässt, habe das Zeichen keine Bedeutung. Das ist jedoch ein Missverständnis. Das Fehlen eines solchen Kriteriums erweist durchaus nicht die Sinnlosigkeit eines Zeichens, da es vielmehr ein wesentliches Merkmal unserer Empfindungsbegriffe ist, dass ihre Anwendung in der ersten Person Singular Präsens auf keinem Kriterium beruht.15 Was mir schmerzhaft vorkommt, das ist mir schmerzhaft. Hier findet keine Unterscheidung zwischen Sein und Schein statt. Wittgensteins Anmerkung zum ‹privaten› Tagebuch16 richtet sich vielmehr gegen die Auffassung, dass Empfindungen innere (und deshalb ‹private›) Vorkommnisse seien, die man wie äußere Vorkommnisse identifizieren und wiedererkennen müsse. Dies ist Wittgenstein zufolge der grundlegende Fehler des cartesianischen Dualismus: dass er das Psychische zu sehr nach Analogie des Physischen auffasst.17 Wenn psychische Vorkommnisse wirklich unabhängig von jedwedem Ausdrucksverhalten wären, so könnten wir sie auch keiner bestimmten Person zuschreiben.18 Mein Begriff des Schmerzes müsste sich dann nämlich in dem erschöpfen, was mir die innere Erfahrung meiner Empfindungen darbietet. In meiner persönlichen Schmerzerfahrung kommen aber keinerlei Besitzverhältnisse vor. «Die Erfahrung des Zahnschmerzgefühls ist nicht die, dass eine Person Ich etwas hat. // In den Schmerzen unterscheide ich eine Intensität, einen Ort, etc., aber keinen Besitzer.»19 Mehr noch, eine Person Ich ist – wie schon David Hume mit einiger Verblüffung entdeckte20 – in meiner inneren Wahrnehmung überhaupt nicht auffindbar. Aus der inneren Erfahrung des Schmerzes allein lässt sich also nicht begreifen, was es heißt, dass ein bestimmter Mensch Schmerzen hat. Die Verbindung zwischen einer Empfindung und einer Person wird erst durch den Begriff des Ausdrucksverhaltens hergestellt: «die leidende Person ist die, welche Schmerz äußert» oder äußern kann.21 Es gehört also durchaus zum Begriff des Schmerzes, dass bestimmte Verhaltensweisen als Schmerzäußerungen gelten, und erst durch diese begriffliche Verbindung von Erfahrung und Ausdruck wird es möglich, eine Empfindung einer bestimmten Person zuzuschreiben. Wenn man dagegen die cartesianische Perspektive einnimmt und konsequent von jedem Ausdrucksverhalten absieht, dann wird selbst die Vermutung, dass ein anderer Empfindungen oder Gedanken haben könnte, unsinnig. Mit anderen Worten: der Leib-Seele-Dualismus führt nicht etwa nur zur Skepsis über Fremdpsychisches, sondern geradezu zum Solipsismus. Das aber ist eine reductio ad absurdum.22 Ad (5): Tatsächlich haben unsere Empfindungswörter (ebenso wie die von Locke diskutierten Farbwörter) einen verständlichen öffentlichen Gebrauch. Ihre Bedeutung kann also gar nicht durch den Bezug auf einen angeblichen ‹privaten› inneren Gegenstand bestimmt sein.23 4. Sprecher ohne Sprachgemeinschaft Einige Autoren haben Wittgenstein die Ansicht zugeschrieben, dass jedes Regelfolgen eine Mehrzahl von Teilnehmern erfordere, weil ein Mensch allein nicht zwischen dem, was richtig ist, und dem, was ihm nur richtig vorkommt, unterscheiden könnte. Für einen einzelnen Menschen gäbe es also keinen objektiven Standard der Korrektheit. Und da Sprache notwendig auf Regeln gegründet sei, so verlange auch jeder Sprachgebrauch eine Sprachgemeinschaft.24 Demnach wäre selbst eine nur zufällig private Sprache (etwa die Sprache eines allein auf einer einsamen Insel lebenden Menschen) unmöglich. Tatsächlich hat Wittgenstein in einem Notizbuch aus den Jahren 1941-1944 einmal die Frage erwogen, ob Regelfolgen — etwa so wie Handel Treiben — mehr als eine Person erfordere.25 Er hat die Frage dann jedoch nicht weiter verfolgt, während andere Manuskriptstellen es für durchaus denkbar erklären, dass jemand in völliger Isolation eine Sprache erwerbe und spreche.26 In den (von Wittgenstein zur Veröffentlichung bestimmten) Philosophischen Untersuchungen findet sich die These, dass Sprechen (oder Regelfolgen) eine Gemeinschaft verlange, jedenfalls nicht27; und dies zu recht; denn diese These ist bei Lichte besehen ausgesprochen unplausibel, und die oben erwähnte Begründung ist keineswegs stichhaltig. Auch für einen einzelnen Menschen ist es möglich, beim Regelfolgen ein objektives Kriterium der Korrektheit zu gebrauchen. Wenn sich beispielsweise jemand bestimmte Zeichen für verschiedene Farben ausdenkt, um damit seine Farbbeobachtungen zu notieren, so kann er die korrekte Verwendung dieser Zeichen in einer Tabelle niederlegen, in der neben jedem Zeichen ein Farbmuster steht. Wenn er dann etwa meint, für Grün müsse er das Zeichen # verwenden, so kann er das anhand seiner Tabelle überprüfen; und möglicherweise findet sich zuweilen, dass, was ihm richtig vorkam, doch nicht richtig ist. (Dass eine Tabelle immer noch verschieden aufgefasst werden kann und also die Verwendung eines Zeichens nicht vollständig bestimmt28, ist an dieser Stelle kein Einwand. Denn dasselbe lässt sich über die Äußerungen anderer Sprecher sagen.) Was also sollte einen Robinson Crusoe (selbst wenn er nie unter anderen Menschen gelebt hätte) daran hindern, sich Zeichen auszudenken und sinnvoll zu verwenden?29 Baker, G.P./ P.M.S. Hacker, 1980, Wittgenstein: Understanding and Meaning. Vol. 1 of an Analytical Commentary on the ‹Philosophical Investigations›, Oxford. – Descartes, R., 1641, Meditationes de prima Philosophia. In: AT. – Fogelin, R.J., 2 1987, Wittgenstein, London. – Frege, G., 1892, Über Sinn und Bedeutung. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. v. G. Patzig, Göttingen 1975. – Hume, D., 1739, A Treatise of Human Nature, ed. L.A. Selby-Bigge, Oxford 1888. – Kripke, S.A., 1982, Wittgenstein on Rules and Private Language. An Elementary Exposition, Cambridge/Mass. – Locke, J., 1689, An Essay Concerning Human Understanding, ed. P.H. Nidditch, Oxford 1975. – Malcolm, N., 1986, Wittgenstein: Nothing is Hidden, Oxford. – von Savigny, E., 199, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins ‹Philosophische Untersuchungen›, München. – Russell, B., 21903. The Principles of Mathematics, London. – Schroeder, S., 1998, Das Privatsprachen-Argument. Wittgenstein über Empfindung und Ausdruck, Paderborn. – Schroeder, S., 2006, Wittgenstein. The Way Out of the Fly-Bottle, Cambridge. – Wittgenstein, L., 1922, Logisch-philosophische Abhandlung [Tractatus LogicoPhilosophicus], London. – Wittgenstein, L., 1953 [= PU]. Philosophische Untersuchungen, hg. v. G.E.M. Anscombe/ R. Rhees/ G.H. von Wright, Oxford. – Wittgenstein, L., 1964. Philosophische Bemerkungen, hg. v. R. Rhees, Oxford. – Wittgenstein, L., 1968 [= NfL]. Notes for Lectures on „Private Experience“ and „Sense Data“. In: Philosophical Occasions, hg. v. J.C. Klagge/ A. Nordmann, Indianapolis 1993. – Wittgenstein, L., 21978. Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, hg. v. G.E.M. Anscombe/ R. Rhees/ G.H. von Wright, Fft./M. Severin Schroeder 1 PU §§ 243, 256, 258-61, 275. PU § 256; vgl. § 202. 3 PU §§ 243-315. 4 Vgl. z.B. Schroeder 1998. 5 PU §§ 243, 246. 6 PU § 1. 7 Baker & Hacker 1980, ch. 1. 8 Frege 1892; Russell 1903, 47; Wittgenstein 1922, 3.203. 9 Descartes 1641. 10 Locke 1689, 2.32.15. 11 PU §§ 1ff.; vgl. Schroeder 2006, 128-134. 12 PU § 270. 13 PU § 261; vgl. Schroeder 2006, 216-219. 14 PU § 258. 15 PU § 290. 2 16 PU § 258. Schroeder 2006, 210-214. 18 PU § 302. 19 Wittgenstein 1964, 94, § 65. 20 Hume 1739, 634. 21 PU § 302.. 22 Schroeder 2006, 202-206. 23 PU § 293; vgl. Schroeder 2006, 206ff. 24 Kripke 1982, 108ff., Malcolm 1986, ch. 9, Fogelin 1987, ch. 12 u. 241-6, von Savigny 1996, 94-125. 25 MS 164; postum veröff. als ‹Teil VI› der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik; 349. 26 MS 124, 213, 221; MS 116, 117; NfL 237c. 27 Für eine kritische Beurteilung gegenteiliger Behauptungen vgl. Schroeder 1998, 84-90. 28 Vgl. PU § 86. 29 Ausführlicher Schroeder 1998, 82f., 89f.; vgl. Schroeder 2006, 200f. 17