3.2.6.3 Die kritische Phase Die kritische Phase ist die eigentliche Suchtphase. Zu ihrem Beginn steht der einsetzende totale Kontrollverlust. Die bereits in der Prodromalphase beginnende soziale Isolierung und die körperlichen Schädigungen verstärken sich durch den Kontrollverlust erheblich. Wie schon weiter oben ausgeführt 1, bedeutet Kontrollverlust, dass der Betreffende seine Alkoholzufuhr nicht mehr willentlich steuern kann. Dieses Kriterium wird als juristisches Merkmal für das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit in Sinne des Gesetzes (RVO) verstanden. Die Begründung für eine Totalabstinenz nach einer erfolgreichen Behandlung wird darin gesehen, dass dieser Kontrollverlust grundsätzlich nicht mehr heilbar ist. Der alkoholkranke Mensch, der es geschafft hat, vom Alkohol loszukommen, muss deshalb sein Leben lang abstinent bleiben, weil schon kleine Mengen der Droge Alkohol diesen Kontrollverlust wieder auslösen können. Zu Beginn dieser Phase kämpfen die betroffenen Menschen oftmals noch gegen die Alkoholabhängigkeit an. Sie verlieren den Kampf aber immer häufiger und verfallen der Sucht mehr und mehr. Es wird vielfach erfolglos versucht das Trinken zu rechtfertigen. Da dies immer weniger gelingt resignieren die Betroffenen und ihr Desinteresse an Freizeit, Beruf und Familie wächst an. In diesem Zeitraum nehmen die Konflikte und Streitereien in der Familie und am Arbeitsplatz deutlich zu. Es kommt vermehrt zu Arbeitsplatzverlusten und in Einzelfällen auch zu Trennungen der Ehepartner, falls diese nicht co-abhängig sind. Dies führt oft dazu, dass der alkoholkranke Mensch sich weiter isoliert, vielfach schon am Morgen zu trinken beginnt und auch seine Ernährung und seine Wohnung vernachlässigt. Auf die Versuche den Alkohol abzusetzen reagiert nun der Körper des betroffenen Menschen mit Brechreiz, Schweißausbrüchen und Zittern. Dies sind die Entzugserscheinungen, welche die Merkmale einer körperlichen Abhängigkeit2 darstellen. 1 2 Zum Kontrollverlust siehe die Kapitel „psychische Abhängigkeit „ und „Gamma-Alkoholiker“ Siehe Kapitel „Körperliche Abhängigkeit“. 118 In der kritischen Phase versuchen viele Alkoholkranke vom Trinken runter zu kommen und abstinent zu werden. Dies gelingt häufig auch, trotz der massiven Entzugserscheinungen. Dieser Erfolg macht die Betroffenen dann stolz und gibt ihnen das Gefühl doch nicht abhängig zu sein. Die so erreichte Abstinenz kann manchmal über Wochen oder gar Monate andauern. Die meisten alkoholkranken Menschen in dieser Phase kennen solche Abstinenzzeiten. Da sie aber bereits einen Kontrollverlust erlitten haben, können sie nicht mehr zum mäßigen Trinken zurückkehren. Dies wäre in der zweiten Phase, also vor dem totalen Kontrollverlust, grundsätzlich noch möglich. Jetzt aber führen die psychischen Probleme (nicht die körperliche Abhängigkeit) dazu, dass der Betroffene sich „mal wieder einen genehmigen“ will. Dies hat dann in den allermeisten Fällen einen erneuten Kontrollverlust zur Folge, der dann meistens noch massiver ausfällt als vor der Abstinenzphase. Mann kann sagen, dass das Trinkverhalten sich nach jeder Abstinenzphase zu neuen Höhen steigert. Die Abstinenzzeiten während der kritischen Phase tragen also zur weiteren Eskalation des Suchtkreislaufes bei. Ein weiteres Merkmal der kritischen Phase kann darin gesehen werden, dass nun sich die Alkoholmenge die der Kranke zur Erleichterung benötigt und die Menge, bei der er einen Vollrausch hat, angleichen. In der zweiten Phase, der prodromalen, trat das Erleichterungsgefühl bereits auf, lange bevor der Trinker berauscht war. Also, zur Erleichterung benötigt er vielleicht drei bis fünf Gläser Bier, ein sichtbarer Rausch trat aber erst nach etwa zehn bis fünfzehn Gläsern ein. Deshalb wirkte dieser Mensch in der Prodromalphase auch nur selten betrunken und die Umwelt konnte kaum ein Problem erkennen. Jetzt aber, in der kritischen Phase, benötigt der selbe Trinker ein viel höheres Quantum Alkohol, um das Gefühl der Erleichterung zu erreichen, also etwa zehn Gläser Bier. Gleichzeitig beginnt aber nun der Körper des Betreffenden weniger zu vertragen, und er ist schon bei einer geringeren Menge berauscht, also bei etwa acht bis zehn Gläsern Bier 3. So kommt es, dass der Alkoholkranke in dieser Phase seiner Suchtentwicklung immer sichtbar berauscht sein 3 Die Mengenangaben sind nur Beispielswerte, sie können selbstverständlich von Individuum zu Individuum erheblich variieren. 119 muss, um das gesuchte Gefühl der Erleichterung zu finden. Dies sind die ersten Anzeichen des „Toleranzbruches“ der kennzeichnend für die chronische Phase ist und der dazu führt, dass der Alkoholkranke immer geringere Mengen benötigt, um berauscht zu werden. Die gesuchte Erleichterung allerdings tritt dann kaum noch ein. Zusammenfassend können einige Merkmale der kritischen Phase wie folgt beschrieben werden: Kontrollverlust – Selbstvorwürfe und starke Stimmungsschwankungen – zunehmender Interessenverlust – morgendliches Trinken – Versuch ein Trinkschema zu entwickeln (z.B. nicht vor einer bestimmten Uhrzeit mit dem Trinken zu beginnen) – zunehmende soziale Probleme (Arbeitsplatzverlust, Familienkonflikte usw.) erste Entzugserscheinungen (Zittern, Schweißausbrüche, sexuelle Störungen usw.) 3.2.6.4 Die chronische Phase Die chronische Phase ist besonders durch den Toleranzbruch gekennzeichnet. Das bedeutet, dass nun beim Betroffenen die Alkoholverträglichkeit mehr und mehr nachlässt und er schon bei relativ geringen Mengen in einen Rauschzustand gerät. Dabei tritt das gesuchte Erleichterungsgefühl fast überhaut nicht mehr ein, denn die Erleichterungsdosis liegt jetzt weit über der Rauschdosis. Die Betroffenen sind nun vielleicht schon bei drei bis vier Gläsern Bier betrunken, die Erleichterung würde aber erst nach etwa zehn bis zwölf Gläsern einsetzen. Der Toleranzbruch wird darauf zurückgeführt, dass in Folge fortgeschrittener organischen Schädigungen die Alkoholverträglichkeit zusammenbrechen kann. Schließlich kommt es in dieser Phase bereits zu schwerwiegenden Stoffwechselstörungen, zu Schädigungen des Gehirnes und des Nervensystems. Die betroffenen Menschen müssen nun bereits früh morgens trinken, um überhaupt einigermaßen ins Gleichgewicht zu kommen und nicht ihren massiven Entzugserscheinungen ausgeliefert zu sein. Die Schädigungen im Nervensystem führen oftmals dazu, dass die Kranken sich in dieser Phase nicht mehr richtig bewegen können und nur noch durch Alkoholzufuhr in der Lage sind, ohne zu zittern und ohne Gliederschmerzen, sich zu bewegen. Die Betroffenen sind nun 120 unfähig abstinent zu sein, vertragen aber andererseits den Alkohol jetzt immer schlechter. Es kommt nun zu immer häufiger auftretenden Entzugserscheinungen, wie starkes Schwitzen, Zittern, Durchfall, Übelkeit, Übererregbarkeit, Verstimmungs- und Angstzustände, innere Spannungen und Unruhe usw. Diese Entzugserscheinungen verschwinden bei der Zufuhr von Alkohol, wobei es jetzt den betroffenen Menschen auch zunehmend gleichgültig wird, welcher Art der Alkohol ist, den sie zu sich nehmen. Das kann nun auch schon einmal Industriealkohol oder Rasierwasser sein. Nach der Alkoholzufuhr setzt dann schnell wieder der Kontrollverlust ein, dem aber der Toleranzbruch gegenüber steht. Das bedeutet, dass der Alkoholkranke zwar einen Kontrollverlust erleidet, dass er nun aber nach einer relativ geringen Menge schon volltrunken ist und sich dadurch so kaputt fühlt, dass er gar nicht mehr weitertrinken kann. In dieser Phase der Alkoholabhängigkeit muss der Kranke schwere soziale Folgeschäden erleiden. Schon in der kritischen Phase wendete sich seine soziale Umgebung, Freunde und Bekannte zunehmend von ihm ab. Nun aber wird er sogar gesellschaftlich geächtet. Das Trinken wird von den anderen Gesellschaftsmitgliedern jetzt als schwerer Verstoß gegen die allgemein anerkannten Spielregeln des menschlichen Miteinanders gewertet. Der alkoholbedingte Persönlichkeitsabbau ist unübersehbar und die Toleranzgrenze der Mitbürger, der Familienangehörigen und der Kollegen ist überschritten. Vielfach verlieren in diesem Stadium die Betroffenen Arbeitsplatz, Familie und Wohnung. Im weiteren Verlauf treten jetzt auch zunehmend alkoholbedingte geistig-seelische Schäden auf. Diese kommen oftmals in großer Verwahrlosung zum Ausdruck. Der süchtige Mensch vernachlässigt zunehmend seine Körperpflege sucht die Gesellschaft von noch weiter gescheiterten Menschen, lässt möglicherweise seine Wohnung vermüllen, und kotet sogar manchmal ein. In dieser Phase erkennt der Alkoholkranke, dass er total gescheitert ist und dass der Alkohol ihn besiegt hat. Viele der dermaßen betroffenen Menschen resignieren dann völlig und ergeben sich ihrem Schicksal. Sie sind auch nur noch selten in der Lage nach Hilfe zu suchen, weil sie sich von der Gesellschaft weitgehend abgeschoben 121 fühlen. Tatsächlich werden sie auch nicht mehr vom professionellen und ehrenamtlichen Suchthilfesystem erreicht, sie fallen dann eher im psychiatrischen und sozialfürsorgerischen 4 Bereich auf, wo sie minimale Hilfen zum Überleben erhalten. Die auf Abstinenz ausgerichteten Suchthilfeinstitutionen sind lange Zeit davon ausgegangen, dass es einem suchtkranken Menschen erst so richtig dreckig gehen muss, bevor er motivier für eine Veränderung ist. Erst dann wird er nach (therapeutischer) Hilfe suchen. Vielen Menschen in der chronischen Phase geht es aber so dreckig, dass sie resigniert haben und überhaupt nicht mehr um Hilfe suchen können. Für den Personenkreis der chronischen Alkoholkranken musste schließlich ein anderer Arbeitsansatz gesucht werden, um ihnen zu helfen. Die „niederschwellige und nachgehende Hilfe“ für diese Menschen orientiert sich eher an der Hilfe für psychisch kranke Menschen. Die betroffenen chronischen Alkoholiker werden von den Helfern aufgesucht, sei es in ihren Wohnungen oder „auf der Platte“. Die Helfer haben nun nicht mehr das Ziel den Hilfebedürftigen „trocken“ zu bekommen. Es geht ihnen zunächst nur darum das Lebensnotwendige zu sichern und eventuell eine Notfallversorgung zur Verfügung zu stellen. Manchmal wird auch gegen den Willen des Betroffenen eine Krankenhauseinweisung veranlasst, wenn die Selbstgefährdung zu groß wird. Die gesetzliche Grundlage dafür ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, sie ist in den Gesetzen für Psychisch Kranke geregelt 5. In der chronischen Phase erreichen viele alkoholkranke Menschen ein Endstadium des körperlichen, geistigen psychischen und sozialen Verfalls. Viele alkoholbedingte Folgeerkrankungen müssen nun von den Suchtkranken getragen werden. Zusammenfassend ist die chronische Phase durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Tagelange Vollräusche - es wird jede alkoholische Flüssigkeit getrunken – Geistesstörungen mit Delirium (weiße Mäuse werden gesehen) – Alkoholpsychosen – Starke Ängste – Selbstmordgedanken – Toleranzbruch (der Körper verträgt weniger Alkohol) – Der Zusammenbruch wird zugegeben – Resignation. 4 5 Z.B. Wohnungslosenfürsorge, Bahnhofsmission, Sozialamt In NRW ist es das PsychKG 122