Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften - Historische, wissenschaftstheoretische und bildungspolitische Aspekte - Einführung „Ist Soziale Arbeit überhaupt eine Wissenschaft?“ Hinter dieser immer wieder in den unterschiedlichsten Facetten gestellten Frage verbirgt sich in der Regel letztlich die Aussage: „Soziale Arbeit ist überhaupt keine Wissenschaft!“ Die International Federation of Social Workers (IFSW) hat mit ihren 450 000 Mitgliedern aus 70 Ländern drei Jahre lang über eine neue Definition der Sozialen Arbeit, in der die Traditionen Sozialer Arbeit aus fünf Kontinenten eingebunden werden sollte, beraten, um die bisher geltende Definition von 1982 abzulösen. Auf der Vollversammlung der IFSW im Juli 2000 in Montreal, Canada, wurde folgende neue Definition für die Profession beschlossen: „Die Profession Soziale Arbeit fördert sozialen Wandel, Problemlösungen in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Befähigung und Befreiung von Menschen zur Verbesserung ihres Wohlbefindens. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen und ihre Umwelt aufeinander einwirken. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ Wenn seit mehr als 100 Jahren einerseits der Prozess der Konstituierung und Etablierung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft läuft, andererseits aber bis heute - besonders in Deutschland - die Soziale Arbeit als Wissenschaft immer wieder in Frage gestellt wird, dann ist vor allem nach den Interessen der In-Fragesteller zu fragen. Es ist unergiebig, den Verlauf der Debatte im deutschsprachigen Raum über die Frage, ob Soziale Arbeit außer Praxis auch Wissenschaft sei, hier wiederzugeben; die vorgebrachten Argumente sind Ihnen sicher bekannt, sie sind selten originell; die AutorInnen wiederholen sich häufig und nicht wenige AutorInnen offenbaren in ihren Beiträgen mangelhafte Sachkenntnisse. (Siehe die Sammelbände Wendt 1994; Merten/Sommerfeld/Koditek 1996; Puhl 1996; Pfaffenberger/Scherr/Sorg 2000 u.a. sowie die vielen einschlägigen Artikel in den Fachzeitschriften der letzten Jahrzehnte) Ähnliche Debatten mit ähnlichen Argumentationen und Polemiken kehren regelmäßig wieder - übrigens auch bei anderen Wissenschaften - und begleiten den Werdegang der Wissenschaft Soziale Arbeit. Mein Interesse heute Abend ist es zu zeigen, dass Soziale Arbeit eine relativ autonome Wissenschaft ist und als solche in die Menschenwissenschaften eingebunden ist. In 1 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften diesem Vortrag kann ich allerdings nur wenige der vielen möglichen historischen, wissenschaftstheoretischen und bildungspolitischen Aspekte berücksichtigen . (1) Was verstehe ich unter Menschenwissenschaften? Die Wissenschaft Soziale Arbeit ist nicht nur für mich eine Sozial-, näherhin eine Handlungswissenschaft. Auch in Deutschland eine mindestens hundertjährige Tradition dieser Auffassung (Alice Salomon). Soziale Arbeit zählt für mich - wie zum Beispiel auch Geschichte, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Ethnologie, Anthropologie, Ökonomie und Medizin - zu den Menschenwissenschaften. Die Menschenwissenschaften versuchen gemeinsam auf dringende Fragen der Zeit, die die Menschen und ihr Zusammenleben betreffen, angemessene Antworten zu finden, indem sie sich bei der Suche nach den Antworten auf fundierte wissenschaftliche Untersuchungen stützen. „Denn es wird des Nachdenkens vieler Menschen bedürfen und der Kooperation verschiedener Wissenschaftszweige, die heute oft durch künstliche Schranken getrennt sind, um die brennenden Fragen der Menschen und ihrer Lebensgemeinschaften nach und nach zu beantworten.“ (Elias 1978, Über den Prozess der Zivilisation, LXXIXf.) „Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. Sie bestehen und bewegen sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander, wie es beim heutigen Forschungsbetrieb erscheint. Sie bilden zusammen mit anderen Strukturen den Gegenstand einer Menschenwissenschaft.“ (Elias, Gesellschaft der Individuen, 60) „Die verschiedenen Einzelwissenschaften der Menschenwissenschaften (wie Geschichte, Psychologie und Soziologie) setzen sich mit verschiedenen Ebenen der Menschheitsentwicklung bzw. räumlich und zeitlich eingegrenzten Teilbereichen dieses Entwicklungsprozesses auseinander und benutzen entsprechend ihren spezifischen Forschungsgegenständen z.T. unterschiedliche Forschungsmethoden.“ (Elias, Engagement und Distanzierung, 187ff.) Nach der Theorie der Menschheitsentwicklung von Norbert Elias bilden die Menschen ein Interdependenzgeflecht, das heißt: Die soziale Wirklichkeit besteht aus der Vielheit der Menschen, den vielfältigen Graden und Arten ihrer Abhängigkeit und ihrer Angewiesenheit aufeinander. 2 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften Jeder individuelle Zivilisationsprozess (Objektbereich insbesondere der Spezialdisziplin Psychologie) wird als Teil des soziogenetischen Zivilisationsprozesses einer spezifischen Gesellschaft (Objektbereich insbesondere der Spezialdisziplinen Geschichte und Soziologie) verstanden, der wiederum nur einen Ausschnitt des anfanglosen, ungeplanten Zivilisationsprozesses der Menschheitsentwicklung repräsentiert (Objektbereich insbesondere der Spezialdisziplinen Anthropologie, Soziobiologie etc.). Ein integratives Konzept der Menschenwissenschaften erfordert nach Elias nicht nur eine Synthese von interdisziplinären, sondern auch von intradisziplinären Perspektiven. So wie das funktionsteilige, ausdifferenzierte Gefüge der Sozialwissenschaften aufgefächert werden kann in einzelne Spezialdisziplinen (wie Politik, Ökonomie, Soziologie), die wiederum aus mannigfaltigen Spezialfeldern bestehen, so lassen sich auch die Spezialdisziplinen wiederum in ein Kontinuum von Ebenen zerlegen. Das integrative Konzept der Menschenwissenschaften von Elias richtet sich gegen die herkömmliche institutionelle Trennung der Spezialdisziplinen, „die die Wahrnehmung der Untrennbarkeit gemeinsamer sozialer und einzigartiger individueller Persönlichkeitsstrukturen in einer Menschenperson blockiert.“ Das integrative Konzept richtet sich nicht gegen die Unterscheidung gemeinsamer sozialer und einzigartiger individueller Persönlichkeitsstrukturen in einer Menschenperson. (Elias, Was ist Soziologie? 139) Bei und zur Erforschung spezieller Menschheitsfragen haben sich in den Menschenwissenschaften spezielle Interdependenzgeflechte aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gebildet. Das heißt mit anderen Worten: Mehrere Wissenschaftsdisziplinen sind an der Erforschung eines Gegenstandsbereichs, der den Fokus einer Wissenschaftsdisziplin ausmacht, beteiligt. Soziologie, Ethik, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Biologie, Medizin, Ökonomie, Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie gehören zur Gruppe der Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit, da sie sich alle, aber auf verschiedene Weise, Konzentration und Intensität mit einer zentralen Menschheitsfrage, nämlich dem Bewältigen sozialer Probleme, befassen. Die große Zahl an Bezugswissenschaften ist ein Spezifikum jeder Menschenwissenschaft und kein Spezifikum der Sozialen Arbeit. Zur Medizin gehören zum Beispiel die Wissenschaftsdisziplinen Geschichte, Physik, Physiologie, Chemie, Biochemie, Molekularbiologie, Biologie, Pharmakologie, Radiologie, Rechtsmedizin, Soziologie, Psychologie, Psychotherapie, Ethik, Gesundheitsökonomie u.a. (Siehe Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002) 3 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften (2) Zwei Interdependenzmodelle für die Soziale Arbeit als Menschenwissenschaft (a) Interdependenzmodell: Soziale Arbeit und andere Menschenwissenschaften Die Soziale Arbeit ist mit ihren verschiedenen Figurationen eingebettet und eingebunden in eine Vielzahl von Interdependenzen mit anderen Figurationen, näherhin mit den anderen Menschenprofessionen und ihren Verwirklichungen in Wissenschaft, Praxis und Ausbildung. (b) Interdependenzmodell: Profession Soziale Arbeit Die Wissenschaft steht der menschlichen Lebenswelt, der Praxis, nicht gegenüber, sondern sie ist in sie einbezogen. „Wissenschaft und Leben bilden eine Einheit, die nicht mehr als Störfeld, sondern als Wechselbedingung empfunden wird.“ (Rombach 1979, 170) In der angloamerikanischen Fachliteratur wird die „profession social work“ in die Figurationen „research“, „practice“ und „education“ unterteilt. (Siehe Thomas/Pierson 1995, 296f.; National Association of Social Workers 1995a, b, c 1997; Soydan 1999, 21; Kirk/Reid 2001, 49f. u.a.) Diese Unterteilung von Professionen ist generell in der Wissenschaftswelt üblich. In der Psychologie, in der Medizin, in der Rechtswissenschaft, in der Physik, in der Chemie usw. unterscheidet man national und international die Figurationen „research“, „practice“ und „education“ Für die Darstellung der Wechselbedingungen und -beziehungen der drei Figurationen einer Profession, ihrem Zusammenspiel und ihrer Ausrichtung auf einen gemeinsamen Gegenstand bietet sich nach der Theorie von Elias ein Interdependenzmodell an. Im Mittelpunkt dieses Modells steht der gemeinsame Gegenstandsbereich der Profession, auf den alle Aktivitäten in den drei Figurationen Praxis, Forschung und Ausbildung in je eigener Weise gerichtet sind. Wenn man eine Figuration einer Profession erforschen möchte, dann sind dabei die Eigenart dieser Figuration, ihre Interdependenzen mit den anderen Figurationen (die gegenseitigen Abhängigkeiten, Beeinflussungen und Wechselwirkungen) und die Bedeutung des Gegenstands für diese Figuration zu berücksichtigen. Die Figurationen Wissenschaft, Praxis und Ausbildung und ihr gemeinsamer Gegenstandsbereich lassen sich bei der Profession Soziale Arbeit genauso wie bei jeder anderen Profession auch als Interdependenzmodell darstellen. Die einzelnen Figurationen sind: • Der Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit bildet den Mittelpunkt und das Gemeinsame der Profession und ihrer drei Figurationen und der Menschen, die zu ihnen gehören. Die Menschen (KlientInnen), um die es hier (als Gegenstandsbereich) geht, stehen im Fokus der Profession und ihr Wohlbefinden ist das Maß für die Qualität und den Nutzen der einzelnen Figurationen und der Profession insgesamt. 4 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften • In der Wissenschaft Soziale Arbeit erforschen WissenschaftlerInnen der Sozialen Arbeit den Gegenstandsbereich. • In der Praxis Soziale Arbeit verfügen die PraktikerInnen über eigene Alltags- und Berufstheorien. Auf dieser Grundlage befassen sie sich mit wissenschaftlichen Theorien und Modellen der Sozialen Arbeit, überprüfen sie kritisch hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und ihrem Nutzen für das professionelle Handeln und wenden sie gegebenenfalls in der Praxis an. • In der Ausbildung Soziale Arbeit vermitteln HochschullehrerInnen wissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien und Modelle Sozialer Arbeit, praktisches Wissen und Fertigkeiten mit Hilfe von pädagogischen Theorien und Methoden (des Lehrens und Lernens) an die Studierenden, damit sie in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit (Forschung, Praxis oder Lehre) kompetent und erfolgreich tätig werden können. (3) Modelle der Verknüpfung der Sozialen Arbeit mit ihren Bezugswissenschaften Soziale Arbeit als relativ autonome Wissenschaftsdisziplin arbeitet mit anderen relativ autonomen Wissenschaftsdisziplinen als gleichwertige Partner zusammen, um der Entstehung sozialer Probleme vorzubeugen und bestehende soziale Probleme zu bewältigen. Die Beziehungen zwischen der Sozialen Arbeit und ihren Bezugswissenschaften können generell mit den Begriffen Multidisziplinarität, Interdisziplinarität und Intradisziplinarität beschrieben werden. Folgende Modelle der Zuordnung bzw. Integration lassen sich unterscheiden: • Reine Fächerakkumulation • Fächerakkumulation mit Ausrichtung auf das zentrale Fach Soziale Arbeit • Haupt- und Nebenfächer • Bezugswissenschaften werden zu Subdisziplinen • Problem- bzw. themenzentrierte Orientierung • Fächerverknüpfung durch Personalunion • Synthesemodelle Man denkt sich den Menschen heute gewöhnlich als ein Wesen, das in viele Bereiche und Funktionen aufgeteilt ist. Norbert Elias sieht darin den Punkt, „von dem unmittelbar ein Weg zur Niederlegung der künstlichen Grenzpfähle führt, durch die wir heute die Menschen beim Nachdenken in verschiedene Herrschaftsbereiche zerlegen, etwa in einen Bereich der Psychologen, einen Bereich der Historiker und einen Bereich der Soziologen. Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte, sie sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. (Interdisziplinarität) Sie bestehen und bewegen 5 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander, wie es beim heutigen Forschungsbetrieb erscheint.“ (Elias 1999, 60) Die Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit befassen sich mit verschiedenen Ebenen und Aspekten der Menschheitsentwicklung bzw. mit räumlich und zeitlich eingegrenzten Teilbereichen des Menschseins und der Menschheit und benutzen entsprechend ihren eigentlichen Forschungsgegenständen eigene, gegebenenfalls unterschiedliche Forschungsmethoden. Daraus folgt, dass komplexe Modelle der Perspektivenbündelung der einzelnen Spezialdisziplinen entwickelt werden müssen, dessen spezifische Synthese anhand empirisch-theoretischer Untersuchungen widerlegt oder bestätigt werden kann. In Modellen der sozialen Wirklichkeit sind die Vielheit der Menschen, die vielfältigen Grade und Arten ihrer Abhängigkeit und ihrer Angewiesenheit aufeinander und auf ihre gemeinsamen Ressourcen zu erfassen. Die Synthese unterschiedlicher Perspektiven und Wissenschaftsdisziplinen kann nicht durch eine einfache Addition ihrer Modelle, Methoden und Theorien erreicht werden. Synthesemodelle der Sozialen Arbeit erfordern ankopplungsfähige Theorieelemente und Teilmodellvorstellungen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass diese Synthesemodelle sowohl erklärungs- als auch handlungsbezogen sein müssen, denn Soziale Arbeit ist eine Handlungswissenschaft. Zur Entwicklung der Menschenwissenschaften gehören nach Elias wechselnde Machtbalancen und -konflikte. Es wird innerhalb einer Menschenwissenschaft und unter den Menschenwissenschaften um Macht, Anerkennung, Geld usw. konkurriert und gestritten. Keine Disziplin hat von sich aus die Position einer Königsdisziplin. (4) Historische Aspekte zur Entwicklung der Sozialen Arbeit als Menschenwissenschaft (a) Die Ausgrenzung der Sozialen Arbeit aus dem Wissenschaftsbetrieb Die Veränderungen in der Wissenschaftswelt im 19. Jahrhundert wirkten sich in der westlichen Welt auch auf die Theoriebildung zum menschlichen Zusammenleben aus, zuvor vor allem eine Domäne von Theologie und Sozialphilosophie. An ihre Stelle traten nun Sozialwissenschaften, die die Zusammenhänge menschlicher Gesellschaften aus verschiedenen Perspektiven und mit neuen Methoden systematisch erforschten. Die Interaktionen zwischen Einzelnen und Gruppen, das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, die Funktionsweisen gesellschaftlicher Subsysteme und deren Interdependenzen sowie gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse wurden analysiert und beschrieben. Die verschiedenen Interessen am und Zugänge zum menschlichen Leben 6 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften führten zu Spezialisierungen und damit zu Teildisziplinen der Sozialwissenschaften, zum Beispiel zu (Sozial-)Anthropologie, Demographie, Ethnologie, (Sozial-)Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Soziale Arbeit (Wohlfahrtspflege) und Wirtschaftswissenschaften. Die damalige Pädagogik gehörte zu den Geisteswissenschaften. Die VertreterInnen der Teildisziplinen kamen wiederum aus unterschiedlichen Denktraditionen und philosophischen Richtungen sowie wirtschaftlich-gesellschaftlichen Kontexten und divergierten zudem in ihren Vorgehensweisen, Terminologien und konkreten Erkenntniszielen beträchtlich. Daraus entstanden in den Sozialwissenschaften von Beginn an konkurrierende Schulen und Institutionen. (Mittelstraß 1995c, 860f.) In allen Industrieländern expandierte mit der Industrialisierung das Schulwesen, weil für die Arbeit in den Fabriken und auch für das Militär gut ausgebildete junge Männer gebraucht wurden. Mit der zunehmend durchgesetzten allgemeinen Schulpflicht wuchs der Bedarf an Lehrern; zur Ausbildung der Lehrer benötigte man wiederum eine Erziehungslehre (Pädagogik). Diese wurde in der Regel im Rahmen der Philosophie als praktische Philosophie gelehrt. (Siehe Reble 1999 u.a.) Allgemein anerkannt ist, dass die Sozialwissenschaften gleichzeitig mit den wichtigsten Erscheinungsformen des sozialen Wandels, den Großstädten und den Fabriken, aufkamen. (Lepenies 1981a, b, c, d u.a.) Die sozialen Erschütterungen im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung führten in Europa und in Nordamerika nicht nur zu Protestbewegungen und sozialreformerischen Bestrebungen, sondern auch zur Forderung, „Philanthropie (Wohltätigkeit) auf eine wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen. Mit dem Titel „Wissenschaftliche Wohltätigkeit“ erschien im Jahre 1889 in den USA eine Abhandlung von Glendower Evans. Darin wurde die Anwendung wissenschaftlicher Maßstäbe auf die Wohltätigkeit mit der Hinzuziehung des Arztes im Krankheitsfalle verglichen und gefordert, dass man ebensoviel Intelligenz und wissenschaftliches Denken für das Verständnis und die Veränderung von sozialen Kräften anwendet wie dies in der Welt der Medizin, die damals wegen großartiger Erfolge in der Forschung und der Entwicklung neuartiger Behandlungsmethoden höchst angesehen war, üblich sei. Zur gleichen Zeit forderte Walter Wilcox eine engere Verbindung zwischen den Universitäten und den Wohltätigkeitsvereinigungen, um damit ein potenzielles soziales Versuchsfeld zu schaffen; eine solche Verbindung würde sich positiv auf die Gründlichkeit der Sozialen Arbeit auswirken und ihr eine wissenschaftliche Grundlage geben. Ein anderer Zeitgenosse, Daniel Fulcomer, Dozent für Sozialwissenschaften an der Universität von Chicago, war der Meinung, dass die Nachteile der Wohltätigkeit mit Hilfe vertiefter Kenntnisse in der Wissenschaft vom Menschen beseitigt werden könnten. Charles D. Kelogg vertrat zeitgleich 7 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften die Auffassung, dass Statistiken die Ursachen, augenblicklichen Umstände und die sinnvollsten Maßnahmen auf dem Gebiet der Armenfrage erhellen könnten. Und D.O. Kellog schrieb bereits 1880, dass Wohltätigkeit eine Wissenschaft sei, die Wissenschaft von der Sozialtherapeutik mit ihren eigenen Gesetzen wie sie andere Wissenschaften auch eigen seien. (Siehe Germain 1977, 21) Diese rationalen Argumente für die Wissenschaft Soziale Arbeit gelten heute noch! In Deutschland muss die „Verzahnung von Sozialwissenschaft und Sozialreform in der Zeit des Kaiserreichs als Bestandteil eines umfassenden Prozesses der Verweltlichung von Gesellschaft, von Lebenspraxis und Lebensbestimmung verstanden werden, in dem auch das überkommene christliche Selbstverständnis und die christliche Motivation von Fürsorge und Wohltätigkeit zunehmend von säkularen Leitmotiven und Rechtfertigungen verdrängt wurden.“ (Sachße/Tennstedt 1988, 18) Die Wissenschaftlichkeit von Sozialreform bildete nach Sachße/Tennstedt dabei eine neue Legitimationsgrundlage, die sich sowohl gegenüber einer unreflektiert-spontanen, caritativen Hilfsmotivation als auch gegenüber dem traditionell polizeilich-repressiven Fürsorgeverständnis abgrenzte. Armut und Not der »unteren Volksschichten« erschienen nicht länger gottgewollt und natürlich, sondern als gesellschaftliche Probleme, sozial bedingt und daher auch politisch gestalt- und aufhebbar. Die Wissenschaft sollte Notwendigkeit und Möglichkeit sozialer Reformen aufzeigen. Als wissenschaftliche Leitdisziplinen kommunaler Sozialreform traten in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Nationalökonomie und Hygiene in den Mittelpunkt. Hervorragende Anwälte der Sozialreformen waren der Nationalökonom Gustav von Schmoller (1838-1917) und der Mediziner und Sozialpolitiker Rudolf Virchow (1821-1902). Mit „Kathedersozialismus“ hat man die Bemühungen in der Nationalökonomie bezeichnet, Sozialreform als Sozialwissenschaft zu konzipieren. Diese Bewegungen sind auf heftige Gegenwehr etablierter Gesellschaftsgruppen gestoßen. „Kathedersozialismus“ war ein Spottname! (Siehe Sachße/Tennstedt 1988, 19-22; Wendt 1995b, 98-118, 134-149 u.a.) In den USA wurde die Soziologie zum Ausdruck und Abbild amerikanischer Zivilisation, der Demokratie und des „way of life“. Man verstand sich in den USA selbst als die fortschrittlichste, modernste Gesellschaft und die EuropäerInnen haben dem zugestimmt; so wurde die amerikanische Soziologie zu der Soziologie der modernen Gesellschaft schlechthin. „Das Erbe der Aufklärung, das die europäische Soziologie in sich trug, konnte erst in Amerika mit dem Anspruch auf praktische Umsetzung auftreten, konnte erst hier zur ‚angewandten Aufklärung‘ werden.“ (Mikl-Horke 1997, 163) 8 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften Wenigstens vier Gründe sprechen nach Hinkle/Hinkle dafür, dass die amerikanische Soziologie im Wesentlichen als eine Antwort auf die sozialen Fragen entstand, die mit der Industrialisierung und Verstädterung auftraten: Erstens weist die Herkunft der ersten bedeutenden Forscher der Soziologie auf diese Tatsache hin. Vielfach war die reformerische Einstellung eine säkularisierte Version des christlichen Gedankens von Erlösung und ewigem Heil und stand in direktem Zusammenhang mit religiösen Erlebnissen im Lebenslauf der Forscher. Fast alle stammten aus Pastorenfamilien oder waren selbst Theologen. Zweitens befanden sich die akademischen Institutionen, in denen die Soziologie Bedeutung erlangte, in Städte, die besonders stark von sozialen Problemen, die aus der Industrialisierung und Verstädterung resultierten, betroffen waren, zum Beispiel in Chicago, der bedeutendsten Stadt des Mittleren Westens der USA. Drittens stammt der Berufsverband der Soziologen in direkter Linie aus einer allgemein intellektuellen Bewegung, die sich für verbesserte Lebensbedingungen in den Städten einsetzte, dem sogenannten „Social Science Movement“. Die Mitglieder dieser Bewegung beschäftigten sich mit Wissenschaft und Sozialreform und sahen die Wissenschaft als Mittel zum Zweck, die durch Industrialisierung und Verstädterung entstandenen Lebensbedingungen zu verbessern. Viertens befassten sich die Soziologen - als die allgemein sozialwissenschaftlichen Vorlesungen in soziologische umgewandelt wurden (zwischen 1885-1895) - vornehmlich mit praktischen Sozialproblemen, die mit der Verelendung der Städte zusammenhingen, mit Verarmung, Wohltätigkeit, wissenschaftlich gelenkten Wohlfahrtsmaßnahmen, Fürsorge, Arbeitslosigkeit, Wanderarbeitertum, Kinderarbeit, Berufstätigkeit der Frauen, Jugend- und Erwachsenenkriminalität, Auflösung der Familien, Alkoholismus, Migranten und Rassismus. (Hinkle/Hinkle 1960, 28-32) Das vorrangige Anliegen vieler männlicher Soziologen aber war es, dass ihre Wissenschaft gesellschaftlich, d.h. von der besitzenden Schicht der Gesellschaft, anerkannt wurde. Deswegen bemühte man sich um eine kognitive und soziale Identität der Soziologie, die die gesellschaftlich erwünschten Merkmale einer Wissenschaft erfüllte. Wissenschaftliche Fächer gewinnen und bewahren ihre Identität aber nicht nur dadurch, „dass sie sich auf bestimmte Traditionsbestände berufen, sondern auch dadurch, dass sie sich von bestimmten Traditionsbeständen distanzieren“. (Lepenies 1981a, IX) Führende Soziologen haben sich deshalb im Zuge der organisatorischen Abgrenzung erfolgreich dafür eingesetzt, dass sozialer Wandel und Sozialreformen nicht (mehr) zum Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften bzw. der Soziologie gezählt wurden und 9 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften somit der Weg frei war, dass die Sozialwissenschaften bzw. die Soziologie als „exakte Wissenschaft“ nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ihr Ziel erreichen konnte. (Siehe Hinkle/Hinkle 1960; Leitner 1981; Deegan 1988 u.a.) Für die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft in Deutschland spielen die Ausgrenzung der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und die Entdeckung der Sozialen Arbeit als Frauenberuf sowie der Umgang mit dem Sozialen im Dritten Reich die Nationalsozialisten eine große Rolle. (b) Der hohe Preis für die Akademisierung der Sozialen Arbeit in Deutschland In Deutschland musste die Soziale Arbeit für ihre Aufnahme in den tertiären Bildungsbereich 1970 einen hohen Preis bezahlen. Die gesamte Ausbildung lag fortan in den Händen Berufsund Fachfremder. Denn in der Bildungsreform wurde versäumt, für SozialarbeiterInnen Möglichkeiten zu schaffen, sich selbst über ein universitäres Studium der Sozialen Arbeit für Forschung und Lehre an Hochschulen zu qualifizieren. In Ländern wie den USA, Kanada oder Schweden wurde Soziale Arbeit dagegen vollständig in das Wissenschaftssystem und in den tertiären Bildungsbereich integriert. Dort haben fast alle HochschullehrerInnen, die in der Sozialen Arbeit forschen und lehren, ein Master- bzw. Doktorstudium in Sozialer Arbeit absolviert, in Deutschland dagegen hat das kaum jemand. Infolge dessen spielen SozialarbeiterInnen in Deutschland in Forschung und Lehre der Sozialen Arbeit nur eine untergeordnete Rolle. Das ist in etwa so, wie wenn ChemikerInnen in der Physik für Forschung und Lehre zuständig sind und keine PhysikerInnen. Diese strukturelle Benachteiligung der Sozialen Arbeit hat außerdem zu einem deutschen Unikum geführt: Soziale Arbeit soll an Fachhochschulen auf wissenschaftlicher Grundlage anwendungsbezogen gelehrt werden, ohne dass hinreichende Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Grundlegung der Lehre existieren. Für die universitäre Sozialpädagogik hat die Bildungsreform nicht weniger schwerwiegende Folgen, sie befindet sich in einem scheinbar unauflösbaren Dilemma: Einerseits verdankt sie ihren Platz an der Universiät ihrer Integration in die Erziehungswissenschaft, andererseits ist sie aber historisch und fachlich eng mit der Sozialen Arbeit verbunden. Die Sozialpädagogik ist eine „deutsche Variante der Pädagogik geblieben“ (siehe Niemeyer 1998, 2003; Thole 2002a; Kornbeck 2002 u.a.), während die Soziale Arbeit eine internationale Wissenschaft geworden ist. (Siehe Hopps/Collins 1995c; Puhl 1997; Lorenz 2000; Otto/Thiersch 2001, 1605-1648 u.a.) Die deutsche universitäre Sozialpädagogik steht vor weitreichenden Entscheidungen. Sie kann nicht länger beanspruchen, für Soziale Arbeit insgesamt zu stehen, ohne die strukturellen, fachlichen, bildungs- und theoriepolitischen Konsequenzen aus diesem Anspruch zu ziehen, sich zum Beispiel den internationalen Verbänden der Sozialen Arbeit (IFSW und IASSW) anzuschließen; das würde sich aber kaum mit ihrer 10 Prof. Dr. Ernst Engelke Würzburg, den 8.04.2005 Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften Mitgliedschaft in erziehungswissenschaftlichen Gesellschaften vereinbaren lassen. Verpasst sie eine Neuorientierung, dann könnte sie „am Ende“ sein, wie manche vermuten. (Siehe Reyer 2002 u.a.) Zum Schluss Die selbstkritische Reflexion der Interdependenzen, des Austausches und der Kooperation der Figurationen innerhalb der Profession Soziale Arbeit und der Profession insgesamt mit ihrer Umwelt ist eine gemeinsame Aufgabe aller Mitglieder der Profession. Die beteiligten Figurationen und die zu ihnen gehörenden Menschen unterstützen, behindern oder verhindern mit ihren Aktivitäten, Möglichkeiten, Grenzen und Interessen die Anerkennung der Sozialen Arbeit als Menschenwissenschaft; zusammen sind sie ebenfalls mitverantwortlich für den Status, die Wirkung und die Anerkennung der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft und auch dafür auf welcher wissenschaftlichen Grundlage für die AdressatInnen der Sozialen Arbeit gesorgt wird. Eine neue kritische Phase für die Entwicklung der Sozialen Arbeit hat jüngst begonnen. Die Internationalisierung und die strukturellen Reformen des tertiären Bildungsbereichs in Deutschland bieten der Sozialen Arbeit neue Chancen, um ihre Aufgaben und Anliegen als Menschenwissenschaft besser wahrnehmen zu können. Freilich setzt das auch voraus, dass die Betriebswirte, Banker, Politiker, Generäle, Finanzmanager, Wissenschaftsminister, Universitätspräsidenten usw., also die Männer - und auch die männlichen Frauen - in Deutschland Frauen und das Soziale als gleich berechtigt und gleichwertig anerkennen. 11