Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften

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Prof. Dr. Ernst Engelke
Würzburg, den 8.04.2005
Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften
Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften
- Historische, wissenschaftstheoretische und bildungspolitische Aspekte -
Einführung
„Ist Soziale Arbeit überhaupt eine Wissenschaft?“ Hinter dieser immer wieder in den
unterschiedlichsten Facetten gestellten Frage verbirgt sich in der Regel letztlich die Aussage:
„Soziale Arbeit ist überhaupt keine Wissenschaft!“
Die International Federation of Social Workers (IFSW) hat mit ihren 450 000 Mitgliedern aus
70 Ländern drei Jahre lang über eine neue Definition der Sozialen Arbeit, in der die
Traditionen Sozialer Arbeit aus fünf Kontinenten eingebunden werden sollte, beraten, um die
bisher geltende Definition von 1982 abzulösen. Auf der Vollversammlung der IFSW im Juli
2000 in Montreal, Canada, wurde folgende neue Definition für die Profession beschlossen:
„Die Profession Soziale Arbeit fördert sozialen Wandel, Problemlösungen in
zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Befähigung und Befreiung von
Menschen zur Verbesserung ihres Wohlbefindens. Gestützt auf wissenschaftliche
Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit
dort ein, wo Menschen und ihre Umwelt aufeinander einwirken. Grundlagen der
Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen
Gerechtigkeit.“
Wenn seit mehr als 100 Jahren einerseits der Prozess der Konstituierung und Etablierung
der Sozialen Arbeit als Wissenschaft läuft, andererseits aber bis heute - besonders in
Deutschland - die Soziale Arbeit als Wissenschaft immer wieder in Frage gestellt wird, dann
ist vor allem nach den Interessen der In-Fragesteller zu fragen.
Es ist unergiebig, den Verlauf der Debatte im deutschsprachigen Raum über die Frage, ob
Soziale Arbeit außer Praxis auch Wissenschaft sei, hier wiederzugeben; die vorgebrachten
Argumente sind Ihnen sicher bekannt, sie sind selten originell; die AutorInnen wiederholen
sich häufig und nicht wenige AutorInnen offenbaren in ihren Beiträgen mangelhafte
Sachkenntnisse. (Siehe die Sammelbände Wendt 1994; Merten/Sommerfeld/Koditek 1996;
Puhl 1996; Pfaffenberger/Scherr/Sorg 2000 u.a. sowie die vielen einschlägigen Artikel in den
Fachzeitschriften der letzten Jahrzehnte)
Ähnliche Debatten mit ähnlichen Argumentationen und Polemiken kehren regelmäßig wieder
- übrigens auch bei anderen Wissenschaften - und begleiten den Werdegang der
Wissenschaft Soziale Arbeit.
Mein Interesse heute Abend ist es zu zeigen, dass Soziale Arbeit eine relativ autonome
Wissenschaft ist und als solche in die Menschenwissenschaften eingebunden ist. In
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Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften
diesem Vortrag kann ich allerdings nur wenige der vielen möglichen historischen,
wissenschaftstheoretischen und bildungspolitischen Aspekte berücksichtigen .
(1) Was verstehe ich unter Menschenwissenschaften?
Die Wissenschaft Soziale Arbeit ist nicht nur für mich eine Sozial-, näherhin eine
Handlungswissenschaft. Auch in Deutschland eine mindestens hundertjährige Tradition
dieser Auffassung (Alice Salomon). Soziale Arbeit zählt für mich - wie zum Beispiel auch
Geschichte, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Ethnologie, Anthropologie, Ökonomie und
Medizin - zu den Menschenwissenschaften. Die Menschenwissenschaften versuchen
gemeinsam auf dringende Fragen der Zeit, die die Menschen und ihr Zusammenleben
betreffen, angemessene Antworten zu finden, indem sie sich bei der Suche nach den
Antworten auf fundierte wissenschaftliche Untersuchungen stützen. „Denn es wird des
Nachdenkens vieler Menschen bedürfen und der Kooperation verschiedener
Wissenschaftszweige, die heute oft durch künstliche Schranken getrennt sind, um die
brennenden Fragen der Menschen und ihrer Lebensgemeinschaften nach und nach zu
beantworten.“ (Elias 1978, Über den Prozess der Zivilisation, LXXIXf.)
„Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen
Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte sind unablösbare
Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen.
Sie bestehen und bewegen sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander,
wie es beim heutigen Forschungsbetrieb erscheint. Sie bilden zusammen mit anderen
Strukturen den Gegenstand einer Menschenwissenschaft.“ (Elias, Gesellschaft der
Individuen, 60)
„Die verschiedenen Einzelwissenschaften der Menschenwissenschaften (wie Geschichte,
Psychologie und Soziologie) setzen sich mit verschiedenen Ebenen der
Menschheitsentwicklung bzw. räumlich und zeitlich eingegrenzten Teilbereichen dieses
Entwicklungsprozesses auseinander und benutzen entsprechend ihren spezifischen
Forschungsgegenständen z.T. unterschiedliche Forschungsmethoden.“ (Elias, Engagement
und Distanzierung, 187ff.)
Nach der Theorie der Menschheitsentwicklung von Norbert Elias bilden die Menschen
ein Interdependenzgeflecht, das heißt: Die soziale Wirklichkeit besteht aus der Vielheit der
Menschen, den vielfältigen Graden und Arten ihrer Abhängigkeit und ihrer Angewiesenheit
aufeinander.
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Jeder individuelle Zivilisationsprozess (Objektbereich insbesondere der Spezialdisziplin
Psychologie) wird als Teil des soziogenetischen Zivilisationsprozesses einer spezifischen
Gesellschaft (Objektbereich insbesondere der Spezialdisziplinen Geschichte und Soziologie)
verstanden, der wiederum nur einen Ausschnitt des anfanglosen, ungeplanten
Zivilisationsprozesses der Menschheitsentwicklung repräsentiert (Objektbereich
insbesondere der Spezialdisziplinen Anthropologie, Soziobiologie etc.).
Ein integratives Konzept der Menschenwissenschaften erfordert nach Elias nicht nur
eine Synthese von interdisziplinären, sondern auch von intradisziplinären Perspektiven. So
wie das funktionsteilige, ausdifferenzierte Gefüge der Sozialwissenschaften aufgefächert
werden kann in einzelne Spezialdisziplinen (wie Politik, Ökonomie, Soziologie), die wiederum
aus mannigfaltigen Spezialfeldern bestehen, so lassen sich auch die Spezialdisziplinen
wiederum in ein Kontinuum von Ebenen zerlegen.
Das integrative Konzept der Menschenwissenschaften von Elias richtet sich gegen die
herkömmliche institutionelle Trennung der Spezialdisziplinen, „die die Wahrnehmung der
Untrennbarkeit gemeinsamer sozialer und einzigartiger individueller
Persönlichkeitsstrukturen in einer Menschenperson blockiert.“ Das integrative Konzept richtet
sich nicht gegen die Unterscheidung gemeinsamer sozialer und einzigartiger individueller
Persönlichkeitsstrukturen in einer Menschenperson. (Elias, Was ist Soziologie? 139)
Bei und zur Erforschung spezieller Menschheitsfragen haben sich in den
Menschenwissenschaften spezielle Interdependenzgeflechte aus verschiedenen
Wissenschaftsdisziplinen gebildet. Das heißt mit anderen Worten: Mehrere
Wissenschaftsdisziplinen sind an der Erforschung eines Gegenstandsbereichs, der den
Fokus einer Wissenschaftsdisziplin ausmacht, beteiligt.
Soziologie, Ethik, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Biologie, Medizin,
Ökonomie, Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie gehören zur Gruppe
der Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit, da sie sich alle, aber auf verschiedene
Weise, Konzentration und Intensität mit einer zentralen Menschheitsfrage, nämlich dem
Bewältigen sozialer Probleme, befassen.
Die große Zahl an Bezugswissenschaften ist ein Spezifikum jeder Menschenwissenschaft
und kein Spezifikum der Sozialen Arbeit. Zur Medizin gehören zum Beispiel die
Wissenschaftsdisziplinen Geschichte, Physik, Physiologie, Chemie, Biochemie,
Molekularbiologie, Biologie, Pharmakologie, Radiologie, Rechtsmedizin, Soziologie,
Psychologie, Psychotherapie, Ethik, Gesundheitsökonomie u.a. (Siehe Approbationsordnung
für Ärzte vom 27. Juni 2002)
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(2) Zwei Interdependenzmodelle für die Soziale Arbeit als Menschenwissenschaft
(a) Interdependenzmodell: Soziale Arbeit und andere Menschenwissenschaften
Die Soziale Arbeit ist mit ihren verschiedenen Figurationen eingebettet und eingebunden in
eine Vielzahl von Interdependenzen mit anderen Figurationen, näherhin mit den anderen
Menschenprofessionen und ihren Verwirklichungen in Wissenschaft, Praxis und Ausbildung.
(b) Interdependenzmodell: Profession Soziale Arbeit
Die Wissenschaft steht der menschlichen Lebenswelt, der Praxis, nicht gegenüber, sondern
sie ist in sie einbezogen. „Wissenschaft und Leben bilden eine Einheit, die nicht mehr als
Störfeld, sondern als Wechselbedingung empfunden wird.“ (Rombach 1979, 170)
In der angloamerikanischen Fachliteratur wird die „profession social work“ in die Figurationen
„research“, „practice“ und „education“ unterteilt. (Siehe Thomas/Pierson 1995, 296f.; National
Association of Social Workers 1995a, b, c 1997; Soydan 1999, 21; Kirk/Reid 2001, 49f. u.a.)
Diese Unterteilung von Professionen ist generell in der Wissenschaftswelt üblich. In der
Psychologie, in der Medizin, in der Rechtswissenschaft, in der Physik, in der Chemie usw.
unterscheidet man national und international die Figurationen „research“, „practice“ und
„education“
Für die Darstellung der Wechselbedingungen und -beziehungen der drei Figurationen einer
Profession, ihrem Zusammenspiel und ihrer Ausrichtung auf einen gemeinsamen
Gegenstand bietet sich nach der Theorie von Elias ein Interdependenzmodell an. Im
Mittelpunkt dieses Modells steht der gemeinsame Gegenstandsbereich der Profession, auf
den alle Aktivitäten in den drei Figurationen Praxis, Forschung und Ausbildung in je eigener
Weise gerichtet sind. Wenn man eine Figuration einer Profession erforschen möchte, dann
sind dabei die Eigenart dieser Figuration, ihre Interdependenzen mit den anderen
Figurationen (die gegenseitigen Abhängigkeiten, Beeinflussungen und Wechselwirkungen)
und die Bedeutung des Gegenstands für diese Figuration zu berücksichtigen.
Die Figurationen Wissenschaft, Praxis und Ausbildung und ihr gemeinsamer
Gegenstandsbereich lassen sich bei der Profession Soziale Arbeit genauso wie bei jeder
anderen Profession auch als Interdependenzmodell darstellen. Die einzelnen Figurationen
sind:
•
Der Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit bildet den Mittelpunkt und das
Gemeinsame der Profession und ihrer drei Figurationen und der Menschen, die zu ihnen
gehören. Die Menschen (KlientInnen), um die es hier (als Gegenstandsbereich) geht, stehen
im Fokus der Profession und ihr Wohlbefinden ist das Maß für die Qualität und den Nutzen
der einzelnen Figurationen und der Profession insgesamt.
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•
In der Wissenschaft Soziale Arbeit erforschen WissenschaftlerInnen der Sozialen
Arbeit den Gegenstandsbereich.
•
In der Praxis Soziale Arbeit verfügen die PraktikerInnen über eigene Alltags- und
Berufstheorien. Auf dieser Grundlage befassen sie sich mit wissenschaftlichen Theorien und
Modellen der Sozialen Arbeit, überprüfen sie kritisch hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und
ihrem Nutzen für das professionelle Handeln und wenden sie gegebenenfalls in der Praxis
an.
•
In der Ausbildung Soziale Arbeit vermitteln HochschullehrerInnen wissenschaftliche
Erkenntnisse, Theorien und Modelle Sozialer Arbeit, praktisches Wissen und Fertigkeiten mit
Hilfe von pädagogischen Theorien und Methoden (des Lehrens und Lernens) an die
Studierenden, damit sie in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit (Forschung, Praxis oder
Lehre) kompetent und erfolgreich tätig werden können.
(3) Modelle der Verknüpfung der Sozialen Arbeit mit ihren Bezugswissenschaften
Soziale Arbeit als relativ autonome Wissenschaftsdisziplin arbeitet mit anderen relativ
autonomen Wissenschaftsdisziplinen als gleichwertige Partner zusammen, um der
Entstehung sozialer Probleme vorzubeugen und bestehende soziale Probleme zu
bewältigen. Die Beziehungen zwischen der Sozialen Arbeit und ihren Bezugswissenschaften
können generell mit den Begriffen Multidisziplinarität, Interdisziplinarität und
Intradisziplinarität beschrieben werden.
Folgende Modelle der Zuordnung bzw. Integration lassen sich unterscheiden:
•
Reine Fächerakkumulation
•
Fächerakkumulation mit Ausrichtung auf das zentrale Fach Soziale Arbeit
•
Haupt- und Nebenfächer
•
Bezugswissenschaften werden zu Subdisziplinen
•
Problem- bzw. themenzentrierte Orientierung
•
Fächerverknüpfung durch Personalunion
•
Synthesemodelle
Man denkt sich den Menschen heute gewöhnlich als ein Wesen, das in viele Bereiche und
Funktionen aufgeteilt ist. Norbert Elias sieht darin den Punkt, „von dem unmittelbar ein Weg
zur Niederlegung der künstlichen Grenzpfähle führt, durch die wir heute die Menschen beim
Nachdenken in verschiedene Herrschaftsbereiche zerlegen, etwa in einen Bereich der
Psychologen, einen Bereich der Historiker und einen Bereich der Soziologen. Die Strukturen
der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen
der menschlichen Geschichte, sie sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im
Zusammenhang miteinander zu erforschen. (Interdisziplinarität) Sie bestehen und bewegen
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Die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Menschenwissenschaften
sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander, wie es beim heutigen
Forschungsbetrieb erscheint.“ (Elias 1999, 60)
Die Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit befassen sich mit verschiedenen Ebenen und
Aspekten der Menschheitsentwicklung bzw. mit räumlich und zeitlich eingegrenzten
Teilbereichen des Menschseins und der Menschheit und benutzen entsprechend ihren
eigentlichen Forschungsgegenständen eigene, gegebenenfalls unterschiedliche
Forschungsmethoden. Daraus folgt, dass komplexe Modelle der Perspektivenbündelung der
einzelnen Spezialdisziplinen entwickelt werden müssen, dessen spezifische Synthese
anhand empirisch-theoretischer Untersuchungen widerlegt oder bestätigt werden kann. In
Modellen der sozialen Wirklichkeit sind die Vielheit der Menschen, die vielfältigen Grade und
Arten ihrer Abhängigkeit und ihrer Angewiesenheit aufeinander und auf ihre gemeinsamen
Ressourcen zu erfassen. Die Synthese unterschiedlicher Perspektiven und
Wissenschaftsdisziplinen kann nicht durch eine einfache Addition ihrer Modelle, Methoden
und Theorien erreicht werden. Synthesemodelle der Sozialen Arbeit erfordern
ankopplungsfähige Theorieelemente und Teilmodellvorstellungen. Eine besondere
Herausforderung besteht darin, dass diese Synthesemodelle sowohl erklärungs- als auch
handlungsbezogen sein müssen, denn Soziale Arbeit ist eine Handlungswissenschaft.
Zur Entwicklung der Menschenwissenschaften gehören nach Elias wechselnde
Machtbalancen und -konflikte. Es wird innerhalb einer Menschenwissenschaft und unter den
Menschenwissenschaften um Macht, Anerkennung, Geld usw. konkurriert und gestritten.
Keine Disziplin hat von sich aus die Position einer Königsdisziplin.
(4) Historische Aspekte zur Entwicklung der Sozialen Arbeit als
Menschenwissenschaft
(a) Die Ausgrenzung der Sozialen Arbeit aus dem Wissenschaftsbetrieb
Die Veränderungen in der Wissenschaftswelt im 19. Jahrhundert wirkten sich in der
westlichen Welt auch auf die Theoriebildung zum menschlichen Zusammenleben aus, zuvor
vor allem eine Domäne von Theologie und Sozialphilosophie. An ihre Stelle traten nun
Sozialwissenschaften, die die Zusammenhänge menschlicher Gesellschaften aus
verschiedenen Perspektiven und mit neuen Methoden systematisch erforschten. Die
Interaktionen zwischen Einzelnen und Gruppen, das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesellschaft, die Funktionsweisen gesellschaftlicher Subsysteme und deren
Interdependenzen sowie gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse wurden analysiert
und beschrieben. Die verschiedenen Interessen am und Zugänge zum menschlichen Leben
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führten zu Spezialisierungen und damit zu Teildisziplinen der Sozialwissenschaften, zum
Beispiel zu (Sozial-)Anthropologie, Demographie, Ethnologie, (Sozial-)Psychologie,
Rechtswissenschaft, Soziologie, Soziale Arbeit (Wohlfahrtspflege) und
Wirtschaftswissenschaften. Die damalige Pädagogik gehörte zu den Geisteswissenschaften.
Die VertreterInnen der Teildisziplinen kamen wiederum aus unterschiedlichen
Denktraditionen und philosophischen Richtungen sowie wirtschaftlich-gesellschaftlichen
Kontexten und divergierten zudem in ihren Vorgehensweisen, Terminologien und konkreten
Erkenntniszielen beträchtlich. Daraus entstanden in den Sozialwissenschaften von
Beginn an konkurrierende Schulen und Institutionen. (Mittelstraß 1995c, 860f.)
In allen Industrieländern expandierte mit der Industrialisierung das Schulwesen, weil für die
Arbeit in den Fabriken und auch für das Militär gut ausgebildete junge Männer gebraucht
wurden. Mit der zunehmend durchgesetzten allgemeinen Schulpflicht wuchs der Bedarf an
Lehrern; zur Ausbildung der Lehrer benötigte man wiederum eine Erziehungslehre
(Pädagogik). Diese wurde in der Regel im Rahmen der Philosophie als praktische
Philosophie gelehrt. (Siehe Reble 1999 u.a.)
Allgemein anerkannt ist, dass die Sozialwissenschaften gleichzeitig mit den wichtigsten
Erscheinungsformen des sozialen Wandels, den Großstädten und den Fabriken,
aufkamen. (Lepenies 1981a, b, c, d u.a.) Die sozialen Erschütterungen im Zuge der
Industrialisierung und Verstädterung führten in Europa und in Nordamerika nicht nur zu
Protestbewegungen und sozialreformerischen Bestrebungen, sondern auch zur Forderung,
„Philanthropie (Wohltätigkeit) auf eine wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen. Mit dem Titel
„Wissenschaftliche Wohltätigkeit“ erschien im Jahre 1889 in den USA eine Abhandlung von
Glendower Evans. Darin wurde die Anwendung wissenschaftlicher Maßstäbe auf die
Wohltätigkeit mit der Hinzuziehung des Arztes im Krankheitsfalle verglichen und gefordert,
dass man ebensoviel Intelligenz und wissenschaftliches Denken für das Verständnis und die
Veränderung von sozialen Kräften anwendet wie dies in der Welt der Medizin, die damals
wegen großartiger Erfolge in der Forschung und der Entwicklung neuartiger
Behandlungsmethoden höchst angesehen war, üblich sei. Zur gleichen Zeit forderte Walter
Wilcox eine engere Verbindung zwischen den Universitäten und den
Wohltätigkeitsvereinigungen, um damit ein potenzielles soziales Versuchsfeld zu schaffen;
eine solche Verbindung würde sich positiv auf die Gründlichkeit der Sozialen Arbeit
auswirken und ihr eine wissenschaftliche Grundlage geben. Ein anderer Zeitgenosse, Daniel
Fulcomer, Dozent für Sozialwissenschaften an der Universität von Chicago, war der
Meinung, dass die Nachteile der Wohltätigkeit mit Hilfe vertiefter Kenntnisse in der
Wissenschaft vom Menschen beseitigt werden könnten. Charles D. Kelogg vertrat zeitgleich
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die Auffassung, dass Statistiken die Ursachen, augenblicklichen Umstände und die
sinnvollsten Maßnahmen auf dem Gebiet der Armenfrage erhellen könnten. Und D.O. Kellog
schrieb bereits 1880, dass Wohltätigkeit eine Wissenschaft sei, die Wissenschaft von der
Sozialtherapeutik mit ihren eigenen Gesetzen wie sie andere Wissenschaften auch eigen
seien. (Siehe Germain 1977, 21)
Diese rationalen Argumente für die Wissenschaft Soziale Arbeit gelten heute noch!
In Deutschland muss die „Verzahnung von Sozialwissenschaft und Sozialreform in der Zeit
des Kaiserreichs als Bestandteil eines umfassenden Prozesses der Verweltlichung von
Gesellschaft, von Lebenspraxis und Lebensbestimmung verstanden werden, in dem auch
das überkommene christliche Selbstverständnis und die christliche Motivation von Fürsorge
und Wohltätigkeit zunehmend von säkularen Leitmotiven und Rechtfertigungen verdrängt
wurden.“ (Sachße/Tennstedt 1988, 18) Die Wissenschaftlichkeit von Sozialreform bildete
nach Sachße/Tennstedt dabei eine neue Legitimationsgrundlage, die sich sowohl gegenüber
einer unreflektiert-spontanen, caritativen Hilfsmotivation als auch gegenüber dem traditionell
polizeilich-repressiven Fürsorgeverständnis abgrenzte. Armut und Not der »unteren
Volksschichten« erschienen nicht länger gottgewollt und natürlich, sondern als
gesellschaftliche Probleme, sozial bedingt und daher auch politisch gestalt- und aufhebbar.
Die Wissenschaft sollte Notwendigkeit und Möglichkeit sozialer Reformen aufzeigen. Als
wissenschaftliche Leitdisziplinen kommunaler Sozialreform traten in Deutschland im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts Nationalökonomie und Hygiene in den Mittelpunkt.
Hervorragende Anwälte der Sozialreformen waren der Nationalökonom Gustav von
Schmoller (1838-1917) und der Mediziner und Sozialpolitiker Rudolf Virchow (1821-1902).
Mit „Kathedersozialismus“ hat man die Bemühungen in der Nationalökonomie bezeichnet,
Sozialreform als Sozialwissenschaft zu konzipieren. Diese Bewegungen sind auf heftige
Gegenwehr etablierter Gesellschaftsgruppen gestoßen. „Kathedersozialismus“ war ein
Spottname! (Siehe Sachße/Tennstedt 1988, 19-22; Wendt 1995b, 98-118, 134-149 u.a.)
In den USA wurde die Soziologie zum Ausdruck und Abbild amerikanischer Zivilisation, der
Demokratie und des „way of life“. Man verstand sich in den USA selbst als die
fortschrittlichste, modernste Gesellschaft und die EuropäerInnen haben dem zugestimmt; so
wurde die amerikanische Soziologie zu der Soziologie der modernen Gesellschaft
schlechthin. „Das Erbe der Aufklärung, das die europäische Soziologie in sich trug, konnte
erst in Amerika mit dem Anspruch auf praktische Umsetzung auftreten, konnte erst hier zur
‚angewandten Aufklärung‘ werden.“ (Mikl-Horke 1997, 163)
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Wenigstens vier Gründe sprechen nach Hinkle/Hinkle dafür, dass die amerikanische
Soziologie im Wesentlichen als eine Antwort auf die sozialen Fragen entstand, die mit der
Industrialisierung und Verstädterung auftraten:
Erstens weist die Herkunft der ersten bedeutenden Forscher der Soziologie auf diese
Tatsache hin. Vielfach war die reformerische Einstellung eine säkularisierte Version des
christlichen Gedankens von Erlösung und ewigem Heil und stand in direktem
Zusammenhang mit religiösen Erlebnissen im Lebenslauf der Forscher. Fast alle stammten
aus Pastorenfamilien oder waren selbst Theologen.
Zweitens befanden sich die akademischen Institutionen, in denen die Soziologie Bedeutung
erlangte, in Städte, die besonders stark von sozialen Problemen, die aus der
Industrialisierung und Verstädterung resultierten, betroffen waren, zum Beispiel in Chicago,
der bedeutendsten Stadt des Mittleren Westens der USA.
Drittens stammt der Berufsverband der Soziologen in direkter Linie aus einer allgemein
intellektuellen Bewegung, die sich für verbesserte Lebensbedingungen in den Städten
einsetzte, dem sogenannten „Social Science Movement“. Die Mitglieder dieser Bewegung
beschäftigten sich mit Wissenschaft und Sozialreform und sahen die Wissenschaft als Mittel
zum Zweck, die durch Industrialisierung und Verstädterung entstandenen
Lebensbedingungen zu verbessern.
Viertens befassten sich die Soziologen - als die allgemein sozialwissenschaftlichen
Vorlesungen in soziologische umgewandelt wurden (zwischen 1885-1895) - vornehmlich mit
praktischen Sozialproblemen, die mit der Verelendung der Städte zusammenhingen, mit
Verarmung, Wohltätigkeit, wissenschaftlich gelenkten Wohlfahrtsmaßnahmen, Fürsorge,
Arbeitslosigkeit, Wanderarbeitertum, Kinderarbeit, Berufstätigkeit der Frauen, Jugend- und
Erwachsenenkriminalität, Auflösung der Familien, Alkoholismus, Migranten und Rassismus.
(Hinkle/Hinkle 1960, 28-32)
Das vorrangige Anliegen vieler männlicher Soziologen aber war es, dass ihre Wissenschaft
gesellschaftlich, d.h. von der besitzenden Schicht der Gesellschaft, anerkannt wurde.
Deswegen bemühte man sich um eine kognitive und soziale Identität der Soziologie, die die
gesellschaftlich erwünschten Merkmale einer Wissenschaft erfüllte. Wissenschaftliche
Fächer gewinnen und bewahren ihre Identität aber nicht nur dadurch, „dass sie sich auf
bestimmte Traditionsbestände berufen, sondern auch dadurch, dass sie sich von bestimmten
Traditionsbeständen distanzieren“. (Lepenies 1981a, IX)
Führende Soziologen haben sich deshalb im Zuge der organisatorischen Abgrenzung
erfolgreich dafür eingesetzt, dass sozialer Wandel und Sozialreformen nicht (mehr) zum
Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften bzw. der Soziologie gezählt wurden und
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somit der Weg frei war, dass die Sozialwissenschaften bzw. die Soziologie als „exakte
Wissenschaft“ nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ihr Ziel erreichen konnte. (Siehe
Hinkle/Hinkle 1960; Leitner 1981; Deegan 1988 u.a.)
Für die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft in Deutschland spielen die
Ausgrenzung der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und die Entdeckung der
Sozialen Arbeit als Frauenberuf sowie der Umgang mit dem Sozialen im Dritten Reich die
Nationalsozialisten eine große Rolle.
(b) Der hohe Preis für die Akademisierung der Sozialen Arbeit in Deutschland
In Deutschland musste die Soziale Arbeit für ihre Aufnahme in den tertiären Bildungsbereich
1970 einen hohen Preis bezahlen. Die gesamte Ausbildung lag fortan in den Händen Berufsund Fachfremder. Denn in der Bildungsreform wurde versäumt, für SozialarbeiterInnen
Möglichkeiten zu schaffen, sich selbst über ein universitäres Studium der Sozialen Arbeit für
Forschung und Lehre an Hochschulen zu qualifizieren. In Ländern wie den USA, Kanada
oder Schweden wurde Soziale Arbeit dagegen vollständig in das Wissenschaftssystem und
in den tertiären Bildungsbereich integriert. Dort haben fast alle HochschullehrerInnen, die in
der Sozialen Arbeit forschen und lehren, ein Master- bzw. Doktorstudium in Sozialer Arbeit
absolviert, in Deutschland dagegen hat das kaum jemand. Infolge dessen spielen
SozialarbeiterInnen in Deutschland in Forschung und Lehre der Sozialen Arbeit nur eine
untergeordnete Rolle. Das ist in etwa so, wie wenn ChemikerInnen in der Physik für
Forschung und Lehre zuständig sind und keine PhysikerInnen. Diese strukturelle
Benachteiligung der Sozialen Arbeit hat außerdem zu einem deutschen Unikum geführt:
Soziale Arbeit soll an Fachhochschulen auf wissenschaftlicher Grundlage
anwendungsbezogen gelehrt werden, ohne dass hinreichende Voraussetzungen für eine
wissenschaftliche Grundlegung der Lehre existieren.
Für die universitäre Sozialpädagogik hat die Bildungsreform nicht weniger schwerwiegende
Folgen, sie befindet sich in einem scheinbar unauflösbaren Dilemma: Einerseits verdankt sie
ihren Platz an der Universiät ihrer Integration in die Erziehungswissenschaft, andererseits ist
sie aber historisch und fachlich eng mit der Sozialen Arbeit verbunden. Die Sozialpädagogik
ist eine „deutsche Variante der Pädagogik geblieben“ (siehe Niemeyer 1998, 2003; Thole
2002a; Kornbeck 2002 u.a.), während die Soziale Arbeit eine internationale Wissenschaft
geworden ist. (Siehe Hopps/Collins 1995c; Puhl 1997; Lorenz 2000; Otto/Thiersch 2001,
1605-1648 u.a.) Die deutsche universitäre Sozialpädagogik steht vor weitreichenden
Entscheidungen. Sie kann nicht länger beanspruchen, für Soziale Arbeit insgesamt zu
stehen, ohne die strukturellen, fachlichen, bildungs- und theoriepolitischen Konsequenzen
aus diesem Anspruch zu ziehen, sich zum Beispiel den internationalen Verbänden der
Sozialen Arbeit (IFSW und IASSW) anzuschließen; das würde sich aber kaum mit ihrer
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Mitgliedschaft in erziehungswissenschaftlichen Gesellschaften vereinbaren lassen. Verpasst
sie eine Neuorientierung, dann könnte sie „am Ende“ sein, wie manche vermuten. (Siehe
Reyer 2002 u.a.)
Zum Schluss
Die selbstkritische Reflexion der Interdependenzen, des Austausches und der Kooperation
der Figurationen innerhalb der Profession Soziale Arbeit und der Profession insgesamt mit
ihrer Umwelt ist eine gemeinsame Aufgabe aller Mitglieder der Profession. Die beteiligten
Figurationen und die zu ihnen gehörenden Menschen unterstützen, behindern oder
verhindern mit ihren Aktivitäten, Möglichkeiten, Grenzen und Interessen die Anerkennung
der Sozialen Arbeit als Menschenwissenschaft; zusammen sind sie ebenfalls
mitverantwortlich für den Status, die Wirkung und die Anerkennung der Sozialen Arbeit in der
Gesellschaft und auch dafür auf welcher wissenschaftlichen Grundlage für die AdressatInnen
der Sozialen Arbeit gesorgt wird. Eine neue kritische Phase für die Entwicklung der Sozialen
Arbeit hat jüngst begonnen. Die Internationalisierung und die strukturellen Reformen des
tertiären Bildungsbereichs in Deutschland bieten der Sozialen Arbeit neue Chancen, um ihre
Aufgaben und Anliegen als Menschenwissenschaft besser wahrnehmen zu können. Freilich
setzt das auch voraus, dass die Betriebswirte, Banker, Politiker, Generäle, Finanzmanager,
Wissenschaftsminister, Universitätspräsidenten usw., also die Männer - und auch die
männlichen Frauen - in Deutschland Frauen und das Soziale als gleich berechtigt und
gleichwertig anerkennen.
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