Kooperationstheorien 275 Kooperationstheorien 1. Vorbemerkung – Seit Anbeginn ihrer Geschichte mag die Dialektik von Konflikt und Kooperation, → Krieg und Frieden als Bewegungsmoment der internationalen Beziehungen begriffen werden. Dementsprechend bildet die Untersuchung der Gründe, Anlässe, Prozesse, Strukturen, Ziele und Ergebnisse von konflikthaftem wie kooperativem Akteursverhalten einen der Arbeitsschwerpunkte der Lehre von den Internationalen Beziehungen. Und: Eine umfassende → Theorie der internationalen Beziehungen ist ohne Rekurs auf das Ensemble von Konflikt- und Kooperationstheorien nicht formulierbar. Generell liefert die Frage nach – der Beschaffenheit, Qualität und Struktur des Milieus, d.h. des Handlungs(um)feldes internationaler Akteure, – der Beschaffenheit, Qualität und dem Charakter der in diesem Handlungs(um)feld (überwiegend) handelnden Einheiten, d.h. den Akteuren, – den von diesen typischerweise verfolgten Interessen und Zielen sowie den zur Verwirklichung dieser Interessen und Ziele eingesetzten Mittel Kriterien für die Klassifizierung, Systematisierung und vergleichende Bewertung der Reichweite und Erklärungskraft von → Theorien internationaler Beziehungen. In unserem Kontext wären diese Kriterien zu ergänzen durch die Frage nach – dem Stellenwert von Konflikt und/oder Kooperation als unabhängige Variable in der Erklärung des Verhaltens internationaler Akteure, – der postulierten Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) einer die Transformation konfliktiven in kooperatives Akteursverhalten intendierenden gelingenden Konfliktbearbeitung, – den aus konflikthaftem und/oder kooperativem Akteursverhalten resultierenden Interaktionsprozessen und den sich daraus durch Wiederholung über Zeit ausbildenden Strukturen. Eine Durchmusterung des gesamten Theorienuniversums unserer Disziplin unter den eben genannten Gesichtspunkten kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen (Übersicht: Schieder/Spindler 2006; Dunne/Kurki/Smith 2010). Desgleichen sind die Konflikttheorien aus der weiteren Betrachtung auszuschließen (Übersicht bei Bonacker 2005). Schließlich sind Theorien über Kooperation und Verflechtung den Großtheorien/Weltsichten entweder des Rationalismus/Grotianismus (Wight 1991) oder des Liberalen Internationalismus zuzuordnen (Ableitung Meyers 1997: 383ff, 405ff; klassische Diskussion Kegley 1995; nahezu zeitlose Gesamtsicht Hinsley 1967). Der Realismus und seine jüngeren Derivate scheiden wegen ihrer Grundorientierung am nullsummenhaften Spiel der Macht- und Ressourcenkonkurrenz im anarchisch-naturzuständlichen Staatensystem als 276 Kooperationstheorien potentielle Stammväter von Kooperations- und Verflechtungstheorien aus der Betrachtung weitgehend aus. (Übersicht über die Grundpositionen der genannten Großtheorien/Weltsichten in Abb. 1) 2. Kooperationsbegriff – Der Begriff der Kooperation lässt sich am besten antithetisch formulieren, nämlich mit Blick auf die Klasse(n) von Konflikten, die Konkurrenzverhältnisse, die es in Richtung auf eine Zusammenarbeit der Akteure zu transformieren gilt (Müller 1993: 4ff). Aus der Betrachtung ausgeschlossen werden können so a) Fälle von Interessenkongruenz und b) Fälle antagonistischer Konflikte, d.h. Nullsummenspiele, in denen ein Spieler gewinnt, was seine Mitspieler verlieren. Kooperation setzt – bei aller ursprünglichen Interessendivergenz der Akteure – eine Schnittmenge gemeinsamer Interessen voraus. Ihr typisches Bezugsfeld sind Nicht-Nullsummenspiele, in denen die Akteure auf der Basis eines Grundbestands gemeinsamer Interessen – etwa der Systemerhaltung, des Schutzes ihrer Unabhängigkeit und → Souveränität und/oder der Garantie eines zumindest negativen, durch die Abwesenheit organisierter militärischer Gewaltanwendung zwischen gesellschaftlichen Großgruppen charakterisierten Friedens – um die Verteilung von Werten konkurrieren. In Situationen, die eine Mischung konfligierender und komplementärer Interessen der Akteure enthalten, entsteht Kooperation, wenn die Akteure ihr Verhalten an die tatsächlichen oder antizipierten Präferenzen anderer Akteure anpassen (Axelrod/Keohane 1993: 85) – oder anders: wenn sie eine Politik des „Wie du mir, so ich dir“ verfolgen (Axelrod 2000; 2009). Dies kann in einem offenen oder stillschweigenden Verhandlungs-/ Austauschprozess verabredet oder durch die stärkere Partei erzwungen werden. Gelegentlich wird Kooperation als eine Menge von Beziehungen zwischen Akteuren definiert, die weder auf Zwang noch auf Nötigung beruhen, sondern im Kontext → internationaler Organisationen oder Institutionen legitimiert werden: Nämlich als Antwort auf einen aus Interdependenz- und Verflechtungsproblemen resultierenden internationalen Problemlösungsbedarf in zentralen Politikfeldern, dem nur durch wachsende Institutionalisierung der kollektiven Problembearbeitung gerecht zu werden ist (Rittberger/Zangl 2003). Häufiger aber ist der Hinweis darauf, dass Kooperation in einem dezentralisierten internationalen Milieu stattfindet, das einer den Akteuren übergeordneten (Zwangs-)Gewalt entbehrt: Kooperation unter Anarchie (Oye 1986). In einer solchen Situation stellt sich die Frage, warum sich Akteure auf das Wagnis der Kooperation einlassen sollen, wenn keine übergeordnete Macht sie dazu zwingen noch vor Täuschung und Betrug durch ihre Mitakteure schützen kann? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: a) Akteure kooperieren aus Altruismus oder aus einem Gefühl der Verpflichtung auf die Förderung des Gemeinwohls und/oder der Wohlfahrt ihrer gesellschaftlichen oder staatlichen Bezugseinheit; 277 Kooperationstheorien b) Akteure kooperieren Eigeninteresse! aus wohlverstandenem, rational kalkuliertem Mit der auch als Rationalismus bezeichneten Annahme b) gewinnen wir eine handlungstheoretische, d.h. von den Nutzenkalkülen der Akteure ausgehende Erklärung des Zustandekommens wie auch der Institutionalisierung von Kooperation, die zu ihrer Geltung weiterer Hilfsbegründungen nicht bedarf. Sie ist zudem offen für die Bestimmung der Akteure: Staaten, Organisationen, Interessengruppen, Individuen. Und sie betont die Möglichkeit freiwilliger Vereinbarungen zwischen den Akteuren ebenso wie deren Durchsetzung durch Rekurs auf das Prinzip der Erwartungsverlässlichkeit künftigen Akteurshandelns. Dabei ist es eher sekundär, wie dieses Prinzip als gleichsam kategorischer Imperativ der Kooperation begründet wird: Nämlich optimistisch durch die Grundannahme eines Akteurs, dass eigene Kooperations(vor)leistungen in der Gegenwart Kooperationsverhalten anderer Akteure in der Zukunft auslösen, oder eher pessimistisch durch Beschwörung des „Schattens der Zukunft“ (Axelrod 1984) als effektiver Kooperations-Promotor: „The more future payoffs are valued relative to current payoffs, the less the incentive to defect today – since the other side is likely to retaliate tomorrow ...“ (Axelrod/Keohane 1993: 91). In jedem Fall ist die zentrale Frage einer rationalistischen Kooperationstheorie die nach dem Ausmaß, in dem die Aussicht auf oder die tatsächliche Erzielung gegenseitiger Kooperationsgewinne die Vorstellung überwinden kann, aus der Durchsetzung eigener Interessen in der Konkurrenz des Nullsummenspiels sei für den einzelnen Akteur ein höherer Gewinn zu erzielen als aus der Zusammenarbeit mit anderen im Rahmen eines Nicht-Nullsummenspiels. Dieser so beschriebene Begriff von Kooperation stützt sich auf zwei wesentliche Prämissen: 1) Die Annahme, das Verhalten der Akteure sei rational und zielgerichtet (wobei die Akteure durchaus unterschiedliche Ziele verfolgen können). 2) Die Annahme, dass Kooperation den Akteuren Gewinne oder Belohnungen verspricht (wobei die Gewinne oder Belohnungen für jeden Akteur weder gleich groß noch von gleicher Art sein müssen). Jeder Akteur hilft den anderen, ihre Ziele zu erreichen, indem er sein Verhalten in der Antizipation seines eigenen Gewinnes entsprechend verändert. Dabei handelt er nicht aus Altruismus: „ ... it is the anticipation of bettering one’s own situation that leads to the adjustment in one’s policies ...“ (Milner 1992: 468). Damit gewinnen wir einen umfassenderen Kooperationsbegriff: Er bezieht sich auf „... goal-directed behavior that entails mutual policy adjustments so that all sides end up better off than they would otherwise be ...“ (ebd.). 278 Kooperationstheorien 3. Erklärungen von Kooperation – Eine Durchmusterung der neueren kooperationstheoretischen Literatur erbringt mindestens fünf unterschiedliche Hypothesen, die die Genese kooperativen Akteursverhaltens zu erklären suchen: 1) Akteure kooperieren, um absolute Gewinne zu realisieren (Axelrod 1984, 2009). Die Aussichten auf Kooperation schwinden in dem Maß, in dem die Anzahl der Akteure (etwa im internationalen System) ansteigt (Oye 1986: 18). 2) Die Bereitschaft von Akteuren, miteinander zu kooperieren, wird beeinflusst von ihren Zukunftserwartungen: Je größer die Wahrscheinlichkeit und Dauerhaftigkeit kooperativen Akteursverhaltens in der Zukunft ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit von Kooperation in der Gegenwart (Milner 1992: 474f). 3) Kooperation wird angeregt und befördert durch internationale Regime: Sie erhöhen die Kenntnisse der Akteure über das Verhalten anderer ebenso wie die Chancen gegenseitiger Kooperationsgewinne durch regelkonformes Verhalten der Regimemitglieder, damit letztlich aber auch das Maß der Erwartungsverlässlichkeit zukünftigen Akteurshandelns (Keohane 1984: 89ff.). 4) Ausmaß und Dauerhaftigkeit von Kooperation wird beeinflusst durch die (Macht-)Stellung, die die Mitglieder akteursübergreifender sogenannter „epistemic communities“ – Gruppen von Experten, die die gleichen wissenschaftlichen Grundannahmen, Schluss- und Beweisverfahren, wissenschaftlichen Urteilskriterien, Werte, Problemsichten und Lösungsansätze teilen – im Entscheidungsverfahren ihrer jeweiligen Akteure genießen (Haas 1992). 5) Asymmetrien in der Verteilung von Macht und Einfluss unter Akteuren sind zumindest dann kooperationsfördernd, wenn sie mit der Ausbildung hierarchischer Abhängigkeiten zwischen den Akteuren einhergehen und die stärkeren Akteure den schwächeren Gewinne und Belohnungen in Aussicht stellen, um sie zur Zusammenarbeit zu veranlassen. Von den genannten Hypothesen greifen wir jene (Nos. 1, 3) heraus, die uns die zur Erklärung des Zustandekommens von Kooperation gebräuchlichsten Theorieansätze erschließen. 3.1. Neoliberaler Institutionalismus – Die zentrale Frage für die Vertreter des neoliberalen Institutionalismus (Axelrod, Keohane) heißt: „Under what conditions will cooperation emerge in a world of egoists without central authority?“ (Axelrod 1984: 3). Die Analyse des Ausgangsproblems – Verhalten der Akteure unter den Bedingungen internationaler Anarchie – knüpft somit an klassische realistische/ neorealistische Grundannahmen an: Als einheitliche, rationale Akteure sind die Staaten die Haupt-Handlungsträger der internationalen Politik (Grieco 1993: 121). Allerdings: Ihre Rationalität ist Kooperationstheorien 279 nicht die des Realismus, dessen Akteure dem Ziel des je eigenen Überlebens (und sekundär der Verteidigung ihrer relativen Position in der Hierarchie der Staatenwelt) alles andere unterordnen. Ihre Rationalität ist vielmehr die des rationalen Egoisten, der im Spiel der internationalen Politik nach der Maximierung seines Nutzens, nach der Netto-Mehrung seiner Wohlfahrt strebt. Wenn alle Akteure so denken, führt dieser Weg unmittelbar ins Gefangenendilemma – in dessen Kontext eine Maximierung absoluter Gewinne für jeden Mitspieler am ehesten durch eine Strategie der reziproken Kooperation erreicht werden kann. Unter der Prämisse, dass sich das Spiel zwischen den Akteuren unbestimmt oft wiederholt, können auch künftige Spielgewinne in aktuelle Entscheidungskalküle miteinbezogen werden. Auch für rationale Egoisten macht so der Schatten der Zukunft die kooperative Lösung eines Gefangenendilemmas möglich. Aus dieser Überlegung resultiert der Befund, dass die Entstehung und iterative Verfestigung von Kooperation auch unter der Bedingung eigeninteressierten Handelns rationaler Akteure und bei Abwesenheit einer Verhaltensabweichungen und Betrug sanktionierenden Zentralinstanz prinzipiell denkbar wird: „cooperation arises tacitly; it evolves over time as the actors’ expectations converge“ (Milner 1992: 470). In solch einer Situation reziproker Kooperation kommt es für die Akteure darauf an, nicht nur die Erfüllung der Kooperationserwartungen sicherzustellen und Betrugsversuche zu unterbinden; vielmehr müssen auch die Kosten entsprechender Sanktionen geringer sein als der Gewinn, den kooperatives Verhalten verspricht. An dieser Stelle wird die Bedeutung von Institutionen deutlich: Aus gleichförmigem Verhalten über Zeit geronnene Strukturen, Regeln und Normen, die die künftige Iteration des Akteursverhaltens befördern, die Möglichkeiten zur Verifikation kooperativen Akteursverhaltens ebenso verbessern wie die Kosten solcher Verifikation reduzieren, und die Bestrafung von Betrügern erleichtern (Grieco 1993: 124). Oder anders: Je häufiger Akteure in strukturell vergleichbaren Situationen miteinander kooperieren, desto mehr werden sich nicht nur ihre Verhaltenserwartungen und -strategien aneinander anpassen. Sondern desto mehr werden sie auch virtuelle oder reale Gehäuse für ihre Interaktionen ausbilden, die Foren für den Informationsaustausch bieten und Verhandlungsgelegenheiten eröffnen, die die Überwachung abgeschlossener Vereinbarungen erleichtern und die Erfüllung eigener Verpflichtungen ermöglichen, und die den vorherrschenden Erwartungen hinsichtlich der Dauerhaftigkeit von (internationalen wie anderen) Vereinbarungen Ausdruck geben. „... cooperation is possible but depends in part on institutional arrangements ...“ (Keohane 1989: 4). In mancher Hinsicht ließe sich der Prozess der internationalen Institutionenbildung (Martin/Simmons 2001) als eine über Zeit hinweg stabile reziproke Typisierung habitualisierter Routinehandlungen zwischen typisierten Rollenpartnern begreifen. Politische Strukturen wären dementsprechend nicht deduktiv von abstrakten Axiomen (etwa dem Anarchie-Theorem) abzuleiten, 280 Kooperationstheorien sondern aus (beobachtbarem) praktischem Routineverhalten der Akteure zu rekonstruieren. Und: „... the ability of states to communicate and cooperate depends on human-constructed institutions, which vary historically and across issues, in nature (with respect to the policies they incorporate) and in strength (in terms of the degree to which their rules are clearly specified and routinely obeyed) ... . States are at the center of our interpretation of world politics ... but formal and informal rules play a much larger role ...“ (Keohane 1989: 2). Diese Perspektive rekurriert im Übrigen auf den politikwissenschaftlichen Neo-Institutionalismus, wie ihn March und Olsen in den 80er Jahren entwickelt haben (systematisiert in March/ Olsen 1995, 2005). Ihnen zufolge definieren Institutionen die Rahmenbedingungen für das Handeln politischer Akteure und prägen gleichzeitig deren Verhalten – u.a. durch die Konstituierung und Legitimierung politischer Rollen, durch die Festlegung von Verhaltensregeln für die in den Institutionen Handelnden, durch das Setzen von Maßstäben für die Einschätzung und Bewertung der Realität, durch das Vorhalten von Rahmen für affektive Beziehungen, durch die Schaffung von Voraussetzungen für zielgerichtetes Handeln und durch die Setzung von Regeln für den Besitz und die Nutzung politischer Macht. Die Folgen des Neoliberalen Institutionalismus für die Betrachtung der internationalen Beziehungen sind frappant: Nicht der Naturzustand der Anarchie, sondern der geschaffene Kulturzustand der – über Zeit durchaus schwankenden und sich verändernden – Institutionalisierung internationaler Beziehungen produziert die maßgeblichen strukturellen Effekte, die das Verhalten der Akteure beeinflussen. Ihr Handeln orientiert sich nicht nur am Selbstinteresse, sondern auch an der Antizipation der positiven Effekte dauerhafter Kooperation (Keohane 1984: 88ff.): Garantie der Erwartungsverlässlichkeit künftigen Akteurshandelns, Verminderung existentieller Unsicherheit durch die Beschaffung von Informationen über Handlungen und Ziele der anderen, Reduzierung von Transaktionskosten, Behebung kollektiver Defekte („Marktversagen“) usw. Ein Vergleich mit neorealistischen Grundpositionen (vgl. Abb.2 am Beitragsende; knappe Charakteristika des Neoliberalen Institutionalismus in Abb.3) mag die Veränderung der Perspektive besonders drastisch illustrieren (nach Baldwin 1993: 4ff): 1. In der Sicht des Neorealismus verursacht die internationale Anarchie strengere Zwänge für das Verhalten der Akteure als in der Sicht des Neoliberalismus. 2. In der Sicht der Neorealisten ist internationale Kooperation härter zu bewerkstelligen, schwieriger aufrechtzuerhalten, und sehr viel abhängiger von der Machtaustattung der Akteure als in der Sicht der Neoliberalen. 3. Das Interesse des Neoliberalismus gilt den absoluten Kooperationsgewinnen der Akteure, während sich die Neorealisten auf relative Kooperationsgewinne konzentrieren. D.h. sie fragen danach, welcher Akteur im Vergleich zu anderen mehr von Kooperation profitiert, Kooperationstheorien 281 während das Interesse der Neoliberalen auf die Maximierung des Gesamts an Gewinnen für alle Akteure zielt. 4. In der Sicht des Neorealismus zwingt die internationale Anarchie die Staaten dazu, sich vordringlich mit Fragen ihrer Sicherheit und ihres Überlebens zu beschäftigen, während das Interesse der Neoliberalen eher Problemen der internationalen politischen Ökonomie gilt. Damit ergeben sich unterschiedliche Hinsichten auf die Realisierungsmöglichkeiten von Kooperation: Im weltwirtschaftlichen Bereich werden diese als deutlich höher eingeschätzt. 5. Neorealisten widmen ihre Aufmerksamkeit eher der (meist materiellen) Befähigung der Akteure zum Handeln denn ihren Absichten und Zielvorstellungen; Neoliberale betrachten eher die Absichten, Zielvorstellungen, Perzeptionen und Situationsdefinitionen der Akteure denn deren Handlungsbefähigungen. 6. Neorealisten glauben nicht, dass internationale Institutionen die einschränkenden Zwangseffekte der Anarchie auf Kooperation mildern können; Neoliberale betonen demgegenüber ausdrücklich, dass selbst unter Anarchie Institutionen Kooperation erleichtern. 3.2. Internationale Regime – „The ability of states to communicate and cooperate depends on human-constructed institutions ...“ (Keohane 1989: 2) – unter diese Grundprämisse des neoliberalen Institutionalismus lässt sich auch eine Vielzahl jener Beiträge ziehen, die sich mit der Entstehung, Verfestigung, Funktion, Struktur und Wirkung internationaler Regime beschäftigen (Übersicht Müller 1993; Synthese der arg zerfransten Theorieentwicklung Hasenclever/Mayer/Rittberger 1997; informative Übersichten Zangl 2006; Sprinz 2003). Importiert aus dem → Völkerrecht, wo er bereits seit den 1920er Jahren gebräuchlich war, bezeichnet der Begriff „Regime“ Komplexe von Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren, d.h. institutionalisierte Arrangements zur Lösung von Problemen, die gleichzeitig die Interessen mehrerer Staaten – oder besser: mehrerer staatlicher und/oder nichtstaatlicher Akteure – berühren. Als kooperative Institutionen – oder besser: eher informelle Gehäuse des Kooperationsverhaltens internationaler Akteure – entstehen sie aus der gewohnheitsmäßigen Orientierung der Akteure an gemeinsamen Handlungskontexten über Zeit (Kohler-Koch 1989: 52ff). Sie führen zu konvergenten Erwartungen der beteiligten Parteien bezüglich des gegenseitigen Verhaltens, verbessern die Kommunikation unter ihren Mitgliedern und senken deren Transaktionskosten. Ausgangspunkt der Regimebildung ist das Interesse der Akteure an der Entwicklung gemeinsamer Lösungen für gemeinsame (politische, ökonomische, soziale, ökologische oder technische) Probleme. Trotz möglicherweise grundsätzlicher Interessen soll unter Rückgriff auf gleichwohl vorhandene komplementäre Interessenlagen ein Kooperationsergebnis erzielt werden, das in verschiedener Form den individuellen Interessen aller 282 Kooperationstheorien Beteiligten dienen kann (Siedschlag 1997: 176ff). Genauer: Regime eröffnen Möglichkeiten zur Bewältigung der aus Interessenüberschneidungen der Akteure resultierenden Probleme – nämlich durch die Ausarbeitung eines Sortiments von Verfahrensweisen und Verfahrensregeln, die in bestimmten Sachbereichen Zusammenarbeit institutionalisieren und durch die so ermöglichte Regulierung von Interessenkonflikten die Anarchie der Staatenwelt transzendieren. Institutionalisierung der Konfliktbearbeitung und normative Verregelung der zwischenstaatlichen Beziehungen ermöglichen, politische und sozioökonomische Streitfragen und Konflikte in ihre spezifischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technischen Konstituenten aufzubrechen und sich mit ihnen auf einer eher sachbezogenadministrativen Ebene auseinanderzusetzen. Der Prozess der Konfliktlösung wäre dann als kontinuierlicher Prozess des friedlichen Wandels zu begreifen – eines friedlichen Wandels durch Annäherung, Anpassung und Angleichung konflikthafter Positionen über mittelfristige Zeiträume hinweg. In einem solchen Prozess der institutionalisierten Verregelung von Konflikten wird ein spezifisches Moment der wachsenden Verdichtung und spinnwebartigen Verflechtung zwischengesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Austausch- und Kommunikationsbeziehungen greifbar. Er hat insbesondere zwischen den hochindustrialisierten Gesellschaften der OECD-Welt – aber auch auf der gesamtglobalen Ebene – zu einer Vielzahl von Übereinkommen und Regelungen geführt, die der Koordination der Zusammenarbeit internationaler Akteure dienen und in einem bestimmten Sachbereich (issue-area) das Verhalten der in diesem Bereich Kooperierenden im Interesse des größeren Ganzen regeln. Regime können im Sinne der Verfestigung regelmäßig wiederkehrender Verhaltensweisen der Akteure sowohl durch bestimmte soziale Praktiken über Zeit als auch durch Völkergewohnheitsrecht begründet werden, oder das Produkt expliziter vertraglicher Abmachungen oder der multilateralen Konferenzdiplomatie darstellen (lehrreich hier insbes. die Entwicklung der internationalen Streitbeilegung und Schiedsgerichtsbarkeit, vgl. Collier/Lowe 1999; Merrills 2005). Die ohnehin schon relativ dichten Austauschbeziehungen der Akteure sollen sie institutionell derart kanalisieren, dass diese bei nur geringen Reibungsverlusten verhältnismäßig kalkulierbar werden und/ oder bleiben. Ansätze zur multilateralen Regulierung der Weltwirtschaftsbeziehungen, gipfelnd in der organisatorischen Dachkonstruktion der WTO, sind hier ebenso zu nennen wie etwa Abmachungen über die Nichtverbreitung von Atomwaffen oder die Ausbildung einer Konfliktregulierungskultur im Rahmen des KSZE-Prozesses und der OSZE. Auch ein neueres Element globaler Interaktion sowohl staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure gehört in diesen Kontext: Weltkonferenzen und Weltberichte, die insbes. seit der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 das internationale Geschehen bereichern (Übersicht: http://www.rio-10.de/rioprozess/rioprozess.html ) Kooperationstheorien 283 Entscheidendes Merkmal internationaler Regime ist, dass sie – wie die freiwillig eingehaltenen Regeln eines Spiels – das Verhalten der RegimeAkteure binden und an Kriterien einer kollektiven Rationalität orientieren. Sie stellen also keine Instrumente zur Durchsetzung spezifischer Interessen einzelner Akteure dar, sondern können als Ausdruck von Situationen begriffen werden, in denen die Orientierung auf individuelle Rationalitätskriterien des Akteursverhaltens für den einzelnen zu schlechteren Ergebnissen führt als die Orientierung auf das Gesamtinteresse aller Regime-Akteure. Insofern können sie auch bei auftretenden Interessendivergenzen situationsstabilisierend und konfliktregulierend wirken – eben durch Förderung eines kontinuierlichen Prozesses des friedlichen Wandels durch Annäherung, Anpassung und Angleichung konflikthafter Positionen über mittelfristige Zeiträume hinweg. Solche Prozesse können kollektiv durch Prinzipien und Normen geregelt werden, auf die sich die beteiligten Parteien entweder ausdrücklich oder stillschweigend – durch Anerkennung und Nachvollzug bestimmter politischpraktischer Verhaltensweisen – geeinigt haben. Um es zu wiederholen: Lassen sich solche Prinzipien und Normen über Zeit nachweisen, werden sie durch Entscheidungs- und Verhaltensroutinen ergänzt, können sie analytisch zu internationalen Regimen verdichtet werden – d.h. zu norm- und regelgeleiteten Formen der Bearbeitung von Konflikten, die sich in aller Regel auf Konfliktgegenstände innerhalb eines spezifischen Problemfeldes beziehen und die Bereitschaft der beteiligten Akteure voraussetzen, momentane Eigeninteressen um des längerfristigen Vorteils willen den Normen und Regeln des Regimes unterzuordnen. Die Ausgangsprämisse der regimeanalytischen Perspektive lautet, dass internationale Regime den gewaltsamen Austrag von Konflikten unwahrscheinlicher machen, weil ein regelgeleiteter Konfliktaustrag geringere soziale Kosten hervorruft als ein auf Gewalt rekurrierender regelloser. Sind sie einmal begründet, erleichtern und stabilisieren internationale Regime die Zusammenarbeit zwischen verschiedenartigen staatlichen und/oder nichtstaatlichen Akteuren. So tragen sie dazu bei, beidseitige Gewaltanwendung zu verhindern. Und: In gleicher Weise wie beim vom Neoliberalen Institutionalismus postulierten Kooperationsverhalten der Akteure geht auch die Regimeanalyse davon aus, dass das Verhalten der Regimeakteure dem Schatten der Zukunft unterworfen ist: Die Gefahr der Vergeltung von nicht-kooperativem Verhalten in der Zukunft macht kooperatives Verhalten in der Gegenwart wahrscheinlicher. Positiv formuliert: Akteure kooperieren miteinander, weil sie ihren Partnern bei der Definition von Interessen und Zielen ebenso wie auch bei der praktischen Verwirklichung solcher Interessen und Ziele das gleiche Maß an Rationalität unterstellen, das sie auch für sich selbst in Anspruch nehmen. Der Schatten der Zukunft entpuppt sich als das Prinzip der Erwartungsverlässlichkeit des Akteurshandelns. Schließlich: Die Wahrscheinlichkeit der Kooperation wächst, wenn ein Interaktionsrahmen vorhanden ist, der den Interaktionen in 284 Kooperationstheorien einem bestimmten Problemfeld eine gewisse Dauerhaftigkeit verleihen kann. Internationale Regime stellen einen solchen Trans- und Interaktionsrahmen zur Verfügung, der die Kosten der Kooperation senkt, da Kooperation innerhalb eines solchen Rahmens zur Routine wird, und die Kosten der NichtKooperation mit Blick auf den Schatten der Zukunft erhöht. Oder anders: Die Annahme, dass die nullsummenspielartige uneingeschränkte internationale Konkurrenz Ressourcen eher vernichtet denn vermehrt, begründet auch bei objektiver Divergenz der Interessen den Wunsch der Akteure nach „... zumindest bedingt kooperativen Verhaltensweisen und ... nach einer diese fördernden Regelsetzung im internationalen Verkehr, um Reibungsverluste zu minimieren, die Verfügbarkeit von Ressourcen insgesamt zu erhöhen und damit zugleich den Umverteilungsdruck von seiten der weniger privilegierten Staaten (Neuordnung der Weltwirtschaft) abzumildern. Es ist dieses Interesse, das den historischen Prozeß der internationalen Organisation und Integration und die Herausbildung von Prinzipien, Normen und Regeln für die Abwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Abwesenheit eines Monopols legitimer Gewaltsamkeit vorantreibt. Und es ist dieses Interesse, das das Gegeninteresse an einem Verhalten nach individuellen Rationalitätskriterien im Zaum hält.“ (Brock 1989, 76). Prämissen, Ziele und Charakteristika regimetheoretischer Ansätze werden in Abb. 4 am Ende des Beitrags noch einmal zusammengefasst. Die bisherigen Ausführungen sollten nun nicht dazu verleiten, eine einheitliche Regime-Theorie zu erwarten. Tatsächlich hat diese sich einmal im Zuge der Neorealismus-Neoliberalismus-Debatte, zum anderen im Kontext der Rationalismus-Reflexivismus-Debatte in mindestens drei unterschiedliche Schulen aufgespalten, die je differente Antworten auf die Kernfragen der Regimeanalyse geben – nämlich wie und warum internationale Regime entstehen, und welche Faktoren für ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit über Zeit sorgen (Näheres Hasenclever/Mayer/Rittberger 1997). Und: Während gemeinhin die friedens- und stabilitätsfördernden Aspekte internationaler Regime im Vordergrund der Analyse stehen, werden in der jüngeren Literatur (Wolf 2000) doch auch kritische Anmerkungen formuliert, die die Schattenseite der formalisierten, institutionalisierten Kooperation betreffen: Wenn Staaten im Wege der Selbstbindung in immer mehr Politikfeldern miteinander kooperieren und als Ergebnis ein enges, verdichtetes Geflecht von völkerrechtlichen Verträgen und inter- wie supranationalen Institutionen ausbilden, entziehen sie sich zunehmend den Partizipationsansprüchen ihrer Gesellschaften. Die zunehmende Verlagerung von Regierungstätigkeiten in den subnationalen, internationalen, transnationalen Raum jenseits des Staates schafft den Regierungen neue Handlungsspielräume auch und gerade gegenüber ihren eigenen Gesellschaften; diese Handlungsspielräume aber sind der demokratischen Kontrolle schon deshalb in grossem Masse entzogen, weil die in ihnen getroffenen Entscheidungen oftmals als nicht vermeidliche Folgen von Sachzwängen dargestellt werden. Kooperationstheorien Ergänzende Beiträge Theorien der Internationalen Beziehungen 285 286 Kooperationstheorien Abb. 1 „Stammväter“ von Kooperations- und Verflechtungstheorien Realismus (zum Vergleich) Nationalstaaten Rationalismus/ Grotianismus Nationalstaaten Liberaler Internationalismus Akteure individuelle, gesellschaftliche, nationalstaatliche Akteure Prozesse Nullsummenspielartige Kon- Konflikt und Kooperation im internationale Arbeitsteilung kurrenz um Macht, Einfluss Rahmen gemeinschaftlich und funktionale Vernetzung und Ressourcen anerkannter als Ergebnis wie als VorausVerhaltensregeln und setzung wissenschaftlicher, (informeller wie formeller) technischer, ökonomischer Institutionen und politischer Modernisierung StrukturSicherheitsdilemma Regulierte Anarchie Kooperation, prinzip Interdependenz, Verflechtung Milieu Staatenwelt als internationa- Staatenwelt als rechtlich Staaten- und Gesellschaftsler anarchischer verfasste internationale welt als Naturzustand Staatengesellschaft Friedensgemeinschaft liberaler Demokratien Ziel Sicherheit des Akteurs (als Garantie der Fortschreitende Voraussetzung seines Über- Erwartungsverlässlichkeit Verwirklichung von Freiheit, lebens) des Akteurshandelns in der Gerechtigkeit, Wohlfahrt als internationalen (Rechtsmenschliche Existenz)Ordnung (pacta sunt bedingungen plus Intensiservanda) vierung der internationalen Kooperation plus Förderung der Modernisierung als Bedingung moralischer Perfektibilität wie zunehmender Wohlfahrt der Menschheit (Erklä(außengerichtetes) Aktions- Vergesellschaftung/Systemb Politische/soziökonomische rungs-) /Interaktionsverhalten der ildung der Akteure; Binnenstruktur der Akteure AnsatzAkteure (unit-levelPhänomen der governance (inside-out-explanation) ebene explanation) without government Mittel Machtakkumulation, Ausbildung eines Freihandel, Förderung der (gewaltsame) Selbsthilfe zur Konsenses der Akteure über internationalen Organisation Durchsetzung von gemeinschaftliche und kollektiven Sicherheit, Eigeninteressen, Interessen (selbstbindende Demokratisierung der Abschreckung, GleichgeVerhaltens-) Regeln und Akteure im Lichte von wichtspolitik Institutionen; insbesondere Rechtsstaatlichkeit und Anerkennung/Befolgung von MenschenrechtsverwirkliVerhaltensregeln, die die chung, Aufklärung über Gewaltausübung in der gemeinsame (Menschheits-) Staatengesellschaft Interessen und Erziehung einhegen, beschränken, zu kompromisshafter, reduzieren interessenausgleichender Konfliktbearbeitung Schlagwort Konkurrenz Kooperation unter Dauerhafte unter Anarchie regulierter Anarchie Kooperation/Verflechtung unter institutioneller Verfestigung 287 Kooperationstheorien Abb. 2: Perspektivische Differenzen von Neorealismus und Neoliberalem Institutionalismus Neorealismus Neoliberalismus Folgen der internationalen Selbstschutz und ÜberlebensAnarchie interesse als zentrale Motive staatlichen Handelns Vorrang welcher Nationale Sicherheit vor Akteursziele? ökonomischer Wohlfahrt Entstehungsbedingungen Schwierig herzustellen und zu internationaler Koopera- erhalten; letztlich abhängig von der tion Macht der beteiligten Staaten Exemplarischer Intergouvernementalismus Theorieansatz Relative versus absolute Frage nach der relativen Verteilung Kooperationsgewinne von Kooperationsgewinnen unter die Akteure impliziert relatives Gewinndilemma* Bedeutung von Institutionen Kooperation und Verflechtung als Friedensstrategie zur Überwindung der Anarchie Ökonomische Wohlfahrt vor nationaler Sicherheit Folge von funktionalen Sachzwängen oder vernunftbegründeten Entscheidungen Funktionalismus/ Neofunktionalismus Streben nach absolutem Gewinn für jede Konfliktpartei als Voraussetzung der Intensivierung/ Vertiefung/ Erweiterung von Kooperation zweifelhaft; Erfolg bei der Milderung Institutions matter! der Folgen internationaler Anarchie nicht voraussetzbar * Relatives Gewinndilemma: Prämisse: Im Interesse des Überlebens sind Staaten extrem empfindlich gegenüber jedweder Erosion ihrer Handlungsfähigkeiten, die letztlich die Grundlage für ihr Überleben bilden. „The first concern of states is not to maximize power but to maintain their position in the system“ (Waltz 1979: 126). Konklusion I: Das Hauptziel von Staaten in welcher Beziehung auch immer ist nicht die Erzielung des höchsten absoluten Gewinns für sich selbst, sondern „to prevent others from achieving advances in their relative capabilities“ (Grieco 1993: 127). Konklusion II: Staaten sind Positionsverteidiger; dies beeinträchtigt ihren Willen zur Kooperation. Begründung: Staaten fürchten, dass ihre Partner aus einem Kooperationsverhältnis relativ größere Gewinne ziehen als sie selbst; dass, im Ergebnis, ihre Partner sie auch in Bezug auf ihre relativen Handlungsfähigkeiten überholen werden; dass schließlich ihre mächtiger und mächtiger werdenden gegenwärtigen Partner irgendwann in der Zukunft ihre Feinde werden können (Grieco 1993: 128ff). Auch hier handelt es sich um einen „shadow of the future“ – allerdings um einen, dessen Wirkung der des im Abschnitt 1 beschriebenen genau entgegengesetzt ist. 288 Abb. 3: Prämisse: Kooperationstheorien Neoliberaler Institutionalismus In einem durch ständig zunehmende Interdependenz- und Verflechtungsprozesse gekennzeichneten internationalen System, das durch eine sich globalisierende Weltwirtschaft unterfüttert wird, gewinnen Institutionen (und Regime) mehr und mehr an Nutzen für Akteure, die gemeinsame Probleme lösen und komplementäre Ziele verwirklichen wollen. „Institutions matter“ und sind notwendig für die Verwirklichung von Akteurszielen, indem sie den Akteuren Bezugsrahmen für deren Kooperation anbieten. Ziele: Verhinderung und/ oder Überwindung von Interessengegensätzen und Konflikten durch die Schaffung, Unterhaltung und den Ausbau von Kooperationsrahmen, die kollektives Handeln der Akteure ebenso wie Verhandeln zwischen den Akteuren erleichtern Charakteristik Institutionalisierte Kooperationsrahmen gründen nicht auf einer (klassischen a: liberalen) Interessenharmonie, sondern auf einem (aufgeklärten) rationalen Egoismus der Akteure, Kooperation entsteht nicht gleichsam automatisch, sondern erfordert Planung und zielgerichtete Verhandlung. Akteure werden selbst dann Kooperationsbeziehungen aufnehmen, wenn andere Akteure aus dem Kooperationsverhältnis größere Gewinne als sie selbst erzielen; die absoluten Gewinne der Akteure sind wichtiger als ihre relativen. Gemeinsam geteilte Interessen können zur Erschaffung von Institutionen führen, die, wenn sie erst einmal bestehen, weniger schwierig fortzuführen sind. Es gibt vier Gründe, warum institutionalisierte Kooperationsstrukturen überleben können. Institutionen – heben das Informationsniveau (und reduzieren Informationsasymmetrien) zwischen Akteuren, was wiederum die Unsicherheit der Akteure hinsichtlich der Absichten anderer Akteure reduziert – erhöhen die Kosten einer Aufgabe kooperativen Verhaltens, da sie Mechanismen und Prozeduren für die Bestrafung Abtrünniger anbieten – ermutigen die Verknüpfung von Problembereichen, das Angebot von Paketlösungen und die Abwicklung kompensatorischer Tauschgeschäfte zwischen Akteuren, da sie solche Arrangements erleichtern und die Transaktionskosten des Aushandelns von Abmachungen zwischen den Akteuren reduzieren – beeinflussen die Interessendefinition der Akteure ebenso wie die Perzeption der Interessen anderer. Anders formuliert: Institutionen verändern nicht nur den Kontext, in dem Akteure ihre vom rationalen Eigeninteresse affizierten Entscheidungen treffen. Unter bestimmten Umständen sind sie sogar notwendig, um den Akteuren die effektive Umsetzung ihrer Entscheidungen und die Verfolgung darauf basierender Politiken zu ermöglichen. Probleme: – Nongouvernementale Akteure spielen im Vergleich mit gouvernementalen Akteuren in den internationalen Beziehungen eine entschieden nachrangige Rolle – Die Definition des rationalen Eigeninteresses der Akteure ist vorwiegend geprägt von einer utilitaristischen Grundhaltung, die sich im wesentlichen auf wirtschaftliche Kosten/ Nutzen-Kalküle bezieht. Ethisch-normative Ziele und Handlungsanweisungen haben in einem solchen Kontext (fast) keinen Platz – Die anarchische Grundstruktur des internationalen Systems wird als vorgegeben akzeptiert. Das Hauptinteresse gilt der Einleitung und Aufrechterhaltung von Kooperation unter Anarchie, nicht aber der Überwindung der Anarchie selbst. Institutionen regulieren Interessen eher als sie zu verändern. Die vorherrschende Perspektive ist die des Schutzes des status quo, der allenfalls inkrementalem, schrittweisem Wandel ausgesetzt wird. Kooperationstheorien Abb. 4: Regimetheorie Prämisse: Ziele: Charakteristika: Probleme: 289 Die Notwendigkeit, gemeinsame grenzüberschreitende tatsächliche Probleme, die aus internationalen Verflechtungskontexten herrühren, auch gemeinsam zu lösen, führt zur Entwicklung informeller Netzwerke von Übereinkünften, Prinzipien, Regeln, Normen und Entscheidungsverfahren in bestimmten Politikfeldern, die als Regime bezeichnet werden. Sie ergänzen/überwölben/unterlaufen die Kompetenzsphären der klassischen Staatengesellschaft und überlagern als flexible Formen von Kooperation die anarchische Binnenstruktur des internationalen Systems. – Reduzierung von Transaktionskosten – Institutionalisierung von Konfliktbearbeitung/Konfliktmanagement/Konfliktlösung durch Verregelung des Konfliktaustrags – Stabilisierung der Zukunftsverlässlichkeit des (eigenen wie fremden) Akteurshandelns – informelle Netzwerke (Gewebe konsenssuchender und konsensbildender Verständigungsprozesse) stabilisieren/setzen über Zeit fort/formalisieren die gesellschaftliche und/oder politische Regulation von Konflikten – Einhegung von Konflikten durch Verrechtlichung ihrer Bearbeitung und Lösungsmodi („Zivilisierung von Konflikten“) – Einbettung/Einschließung der Kooperation von Akteuren in ein komplexes Multiebenensystem politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Zielsetzungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsverfahren, die die Regulationsinteressen der Akteure in spezifischen Problembereichen und Politikfeldern widerspiegeln – Bereitstellung von Bezugsrahmen, in denen wirtschaftliche Interdependenzprobleme vermittels verhandelter Politikkoordination reguliert werden – der informelle Charakter von Regimen macht ihre „Lebenserwartung“ abhängig von einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung der an ihnen beteiligten Akteure – der informelle Charakter von Regimen lässt die Umsetzung von in ihrem Kontext formulierten politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Handlungsempfehlungen abhängen von der Selbstdefinition ihrer Interessen durch die Akteure; diese wiederum ist abhängig von den Annahmen der Akteure über die Erwartungsverlässlichkeit des künftigen eigenen wie fremden Akteurshandelns – OECD-weltliche Voreingenommenheit: da die Regimetheorie ursprünglich entwickelt worden war, um die politisch-wirtschaftlichen Beziehungen des Westens zu erklären, bleibt offen, ob sie auch auf Kulturkreise anwendbar ist, die das ihr zugrundeliegende, an der individuellen Nutzenmaximierung ausgerichtete Rationalitätsideal nicht teilen Literatur Axelrod, Robert: The Evolution of Cooperation. 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