Was ist Primary Nursing? Autor: Thomas Fischer, Dipl. - Pflegewirt (FH), Stabsstelle Pflegeforschung am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe – Universität Frankfurt am Main. Primary Nursing ist eine Form der Pflegeorganisation, deren bestimmendes Kennzeichnen ist, daß jeder Patient eine Pflegende als „Primary Nurse“ zugeordnet bekommt, die von der Aufnahme bis zur Entlassung die Verantwortung für seine Pflege und Versorgung trägt. Bisherige Entwicklung Definition Praktische Umsetzung Aufgaben der Primary Nurse Probleme anderer Formen der Pflegeorganisation Die Kernelemente von Primary Nursing Verantwortung Kontinuität Direkte Kommunikation Pflegeplanender ist zugleich Pflegedurchführender PN als Voraussetzung für Qualität Bisherige Entwicklung Primary Nursing (PN) ist eine aus den USA stammende Form der Pflegeorganisation. Es geht zurück auf Marie Manthey, die es am Ende der sechziger Jahre am Universitätskrankenhaus von Minneapolis (Minnesota) entwickelt und eingeführt hat. Von dort aus fand es in den siebziger Jahren weite Verbreitung in den USA und gelangte schließlich in den achtziger Jahren auch nach Großbritannien. Neben den angelsächsische Ländern, wird auch in den skandinavischen Staaten sowie in Afrika und Australien mit Primary Nursing gearbeitet. In Deutschland besteht erst seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein verstärktes Interesse an Primary Nursing. Vorreiter waren dabei einige Krankenhäuser und Rehaeinrichtungen, denen nun andere Krankenhäuser und Anbieter aus der Altenpflege und dem ambulanten Bereich folgen. Definition Manthey (1980) bezeichnet Primary Nursing als "eine Organisationsform der Pflege, die dazu dient 1. die rund - um - die - Uhr - Verantwortung für die Versorgung eines Patienten einer bestimmten Pflegenden zu übertragen und 2. dieser Pflegenden, wenn immer möglich, auch tatsächlich die Pflege des Patienten zu übertragen". Vier Elemente sind für Primary Nursing bestimmend 1. Verantwortung Übertragung und Übernahme individueller Verantwortung für pflegerische Entscheidungen durch eine Pflegende 2. Kontinuität Zuteilung der täglichen pflegerischen Arbeit nach der Fallmethode 3. Direkte Kommunikation 4. Pflegeplanender ist zugleich Pflegedurchführender Ein Person ist operational verantwortlich für die Qualität der für den Patienten geleisteten Pflege, und zwar 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche. (Manthey 1980, Ersser & Tutton 2000, Pontin 1999) Praktische Umsetzung In der praktischen Umsetzung bedeutet dies, dass jeder Patient eine Pflegende fest zugeordnet hat, und zwar für die gesamte Dauer seines Aufenthaltes auf der Station (bzw. während seiner Versorgung im ambulanten Bereich oder in einem Pflegeheim). Anders als in Organisationsformen wie der Zimmer- oder Bereichspflege, wechselt diese Verantwortung für den Patienten nicht mit dem Ende der Schicht oder von Tag zu Tag. Die Primary Nurse ist 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche für die Pflege und Betreuung des Patienten verantwortlich. Allerdings heißt dies nicht, dass sie ununterbrochen im Dienst sein muss oder zuhause angerufen wird, wenn Änderungen der Versorgung des Patienten notwendig werden. Vielmehr bedeutet es, dass sie in der Zeit, in der sie auf der Station anwesend ist, bereits patientenorientiert Planungen und Absprachen für die Zeiten ihrer Abwesenheit trifft. In Ihrer Abwesenheit führen andere dreijährig ausgebildete Pflegende, die sogenannten Associated Nurses (AN), die Pflege des Patienten nach den Vorgaben der PN weiter. Die Rolle als PN oder AN definiert sich aus dem Verhältnis zum einzelnen Patienten und ist somit nicht gegenüber allen Patienten gleich. Eine Pflegende kann z.B. für eine Gruppe von Patienten als Primary Nurse arbeiten und außerdem noch eine weitere Gruppe als AN betreuen. In den Entscheidungen, welche Pflege der Patient erhalten soll, ist die PN weitgehend autonom. Sie muß also ihre Planungen und Vorgaben im Einzelnen nicht etwa durch die Stationsleitung genehmigen lassen, genauso wenig wie andere Pflegende, die nicht PN für diesen spezifischen Patienten sind, das Recht haben, von den Planungen abzuweichen oder diese zu ändern (ausgenommen Notfälle o.Ä.). Aufgaben der Primary Nurse Die Primary Nurse ist diejenige, die den Patienten auf seinem Weg durch die Einrichtung begleitet und dafür Verantwortung trägt. Die Primary Nurse erhebt die pflegerische Anamnese, erstellt die Pflegeplanung, führt die Pflege nach Möglichkeit auch selbst durch und evaluiert sie hat den Überblick über alle den Patienten betreffenden Maßnahmen, auch aus den Bereichen Diagnostik und Therapie handelt mit dem Patienten aus, wie seine Versorgung ausgestaltet werden soll und tritt für die Interessen des Patienten ein ist die Schlüsselperson für die patientenbezogene Kommunikation und Kooperation aller an der Behandlung und Pflege beteiligten Berufsgruppen nimmt maßgeblich Kontakte mit Angehörigen und Bezugspersonen wahr. Probleme anderer Formen der Pflegeorganisation In der Bereichs- oder Zimmerpflege können Informationen verloren gehen, wenn Verantwortlichkeit von Schicht zu Schicht wechselt. Es bleibt oft unklar, wer letztendlich die Durchführung oder auch das Unterbleiben einer bestimmten Maßnahme zu veranlassen und zu verantworten hat. Für den Patienten ist „die eine Pflegende“ nicht greifbar, mit der er abschließende, umfassende und verlässliche Absprachen treffen kann. Unklare Verantwortung kann viele Folgen nach sich ziehen. Zum Beispiel kann unklar sein, in wie weit der Patienten seinen Gesundheitszustand kennt und akzeptiert, Informationen von Angehörigen oder für Angehörige gehen verloren, andere Berufsgruppen haben keine kompetente Ansprechperson, die Anleitung und Beratung des Patienten erfolgt nicht koordiniert und verzögert die Entlassung oder Verlegung, Wartezeiten und Leerlauf entstehen durch mangelnde Koordination von Pflege, Diagnostik, Therapie und den Bedürfnissen des Patienten. Hierfür bietet Primary Nursing den Ansatz zur Verbesserung. Die fallbezogene Begleitung des Patienten ermöglicht die optimale Berücksichtigung der Interessen des Patienten und gleichzeitig die Optimierung der Versorgungsabläufe und der Schnittstellenkommunikation. Die Kernelemente von Primary Nursing Die Kernelemente von Primary Nursing lassen sich wie folgt skizzieren (vgl. Manthey 1980a und b, Ersser & Tutton 2000, Andraschko 1998, Horn & Cowan [Hrsg] 1992]). Verantwortung Die umfassende Übertragung der Verantwortung für die Pflege eines Patienten an die Primary Nurse setzt die Dezentralisierung von Machtstrukturen voraus. Nicht mehr die Stationsleitung oder „das Team“ entscheiden und verantworten die Ausgestaltung der individuellen Pflege, sondern die Primary Nurse. Dies wiederum bedingt, dass ein klarer Rahmen für die Aufgaben der einzelnen Mitglieder des Stationsteams gesteckt sein muss. In Stellenbeschreibungen muss deutlich formuliert werden, für welche Bereiche die Primary Nurse, die Associated Nurse, etwaige Hilfskräfte und die Stationsleitung Sorge tragen. Teil der Stellenbeschreibungen muß auch die Festlegung sein, dass die Verantwortung der Primary Nurse streng patientenbezogen definiert ist. In Bezug auf andere Mitarbeiter wird keine neue Hierarchiestufe errichtet. Ein grundsätzliches Weisungsrecht der PN etwa gegenüber AN besteht nicht. Sie macht lediglich fachlich Vorgaben bezogen auf die ihr zugeordneten Patienten. Wenn eine Krankenschwester also PN für die Patienten A, B, C und D ist, ist sie diejenige, die den Rahmen für die Pflege der Patienten aufstellt. Für die Patienten X, Y und Z ist sie aber Associated Nurse und somit an die Vorgaben einer anderen Primary Nurse gebunden. Während die Primary Nurse die unmittelbare patientenbezogene Verantwortung trägt, hat die Stationsleitung die Verantwortung für Mitarbeiterführung, Organisation der Station und Qualitätsentwicklung auf Stationsebene. Da die Stationsleitung sich auf ihre Führungsaufgaben konzentrieren können muss, kann sie nicht länger auch Expertin für die direkte Pflege sein. Sie wird dementsprechend zumindest reduzierte Aufgaben im direkten Patientenkontakt wahrnehmen. Kontinuität Kontinuität erfordert die Orientierung aller organisatorischen Rahmenbedingungen am Interesse des Patienten. Für Primary Nursing bedeutet dies vor allem die Anpassung der Dienstplanung. Eine Primary Nurse muß kontinuierlich im Dienst sein, wenn sie ihre Aufgaben sinnvoll wahrnehmen soll. Das bedeutet z.B. für Liegezeiten von nur wenigen Tagen, dass die Primary Nurse in dieser Zeit nicht oder nicht länger als einen Tag frei haben kann. Daraus folgt, dass: Dienstpläne an die Struktur der Patienten angepasst (kurze Liegedauer = keine oder wenig Abwesenheit der PN; längere Liegedauer = Abwesenheit der PN möglich) und ggf. flexible Dienstzeiten eingeführt werden müssen (eine PN mit Teilzeitstelle könnte z.B. zwar fünf Tage die Woche anwesend sein, aber mit verkürzten Schichtzeiten.) Direkte Kommunikation Die Primary Nurse übernimmt die Absprachen und Koordination bezüglich der Pflege und Behandlung ihre Patienten. Sie spricht sich sowohl mit den anderen Pflegenden aber auch mit Ärzten und anderen an der Versorgung beteiligten ab, wie zum Beispiel Krankengymnastik, Ergotherapie, Überleitungspflege oder Sozialdienst. Dies erfordert ausgeprägte kommunikative Kompetenzen und die Fähigkeit zur teamorientierten Arbeit und Kommunikation. Primary Nurses können auch AnsprechpartnerInnen für Dienstleister außerhalb der Einrichtung werden, also z.B. ambulante Pflegedienste, stationäre Einrichtungen und niedergelassene Ärzte. Pflegeplanender ist zugleich Pflegedurchführender Die Kompetenz, die die Primary Nurse besitzt, kommt besonders im direkten Kontakt zum Patienten zum tragen. Die Pflegende mit den größten fachlichen Fähigkeiten, muß direkt mit dem Patienten arbeiten und ihre Arbeit auch selbst bestimmen können. Ihre Informationen über den Patienten, die sie zur Koordinierung des Versorgungsverlaufs braucht, muß sie bei der Arbeit mit dem Patienten erwerben. Gleichzeitig kann die Primary Nurse Aufgaben an andere delegieren, die nicht direkt mit der Pflege des Patienten zu tun haben, z.B. Vor- und Nachbereitung von Material, Aufbereitung von Betten, Hol- und Bringedienste, administrative Tätigkeiten usw. Hier ist zu prüfen, in wie weit Hilfskräfte zum Einsatz gebracht werden können. Für diese müssen wieder genaue Stellenbeschreibungen bzw. Tätigkeitskataloge erstellt werden, um die Grenzen ihrer Tätigkeiten abzustecken. Die AN des jeweiligen Patienten erhält durch die PN ebenfalls Vorgaben zur Versorgung des Patienten. Hierbei geht es jedoch selbstverständlich um qualifizierte pflegerische Tätigkeiten. Associated Nurses sind keine Pflegenden zweiter Klasse, sondern werden mit ihren gesamten fachlichen Fähigkeiten gefordert, z.B. in der kritischen Auseinandersetzung mit der Pflegeplanung der PN. PN als Voraussetzung für Qualität Pflege in Form von Primary Nursing zu organisieren schafft die Voraussetzung für die stärkere Orientierung an den Bedürfnissen des Patienten. Kontinuität und klar benannte Verantwortlichkeiten unterstützen den Aufbau einer professionellen Beziehung zum Patienten und bieten den Rahmen für einen möglichst optimalen Ablauf der Pflege. Allerdings ist Primary Nursing nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit guter Pflege: als Organisationssystem steckt es zwar einen Rahmen für die Pflege ab, wie dieser aber ausgefüllt wird, ist eine andere Frage. Primary Nursing kann dazu dienen, Schwachstellen in der pflegerischen Versorgung zu beheben. Seine Einführung sollte also vom Streben nach Qualität geprägt sein. Dagegen ist fraglich, ob mit Primary Nursing unmittelbar Kosten eingespart werden können (vgl. Kellnhauser 1994). Erst durch gesteigerte Qualität, ggf. geringere Personalfluktuation und verminderte Reibungsverluste lassen sich auch betriebswirtschaftlich positive Auswirkungen durch PN erwarten.